Es war ein groteskes Schlachtfest, wie man es sonst nur aus Überlieferungen seines Clans kannte. Quer verteilt lagen sterbliche, langsam in der Kälte der Nacht abkühlende Überreste und Kadaver von zerrissenen und zerfetzten Soldaten. Dort lagen Gliedmaßen, hier dampften die zuckenden Überreste von Innereien die sich mit dem schlammigen Dreck einer Forststraße vermischten. Der salzige, eiserne und leicht süßliche Gestank von warmen, versickernden Blut war allgegenwärtig. Luciens Augen glühten wie die Strahlarme eines erlöschenden Sternes, als sie sich durch die Schwärze der Finsternis fraßen und sein Gesicht war eine blutverschmierte Fratze aus reiner Mordlust. Neben ihm brüllte ein sterbender Soldat seinen erstickten Schmerz und seine Angst vor dem baldigen Tode in den regenfeuchten Himmel. Aber da waren keine Engel und keine Götter, keine Heiligen und keine Barmherzigkeit die ihm zuteilgeworden wäre. Hier an dieser Weggabelung, regierte nur der ewige Gleichmacher. Und der war offensichtlich gerade im Begriff sich auch Francesca einzuverleiben, wenn man den Unmengen an Blut aus zahlreichen kleinen und größeren, klaffenden Wunden Glauben schenken wollte. Die über zwei Meter hohe Bestie schien davon noch unbeeindruckt; wie auch, dachte der Hauptmann in einem Anflug von düsterer Erkenntnis. Ein Tier in Bedrängnis kämpft ums nackte Überleben, genau wie die Unsterblichen es taten. Wut stieg in ihm auf aber augenblicklich nicht, weil Otto ihnen dieses Empfangskomitee entsandt hatte; damit hatte er ja schon bereits gerechnet. Nein, er war wütend auf sich selbst, weil er Francesca und Heinrich allein gelassen hatte, weil sich der dumme Gaul nicht bewegt hatte und weil er in seinem überheblichen Stolz und seiner glorreichen Herrlichkeit als Monster der Nacht, wertvolle Minuten verschwendet hatte, sich in seinem Selbst zu baden, anstatt an der Seite der Frau zu reiten. Mochte schon sein, dass er für dieses Aufgebot unbezwingbar war. Mochte schon sein, dass er es jederzeit mit diesen Soldaten aufnehmen konnte – andere konnten es nicht. Und diese anderen, waren gerade dabei den Preis für seine egoistische Dummheit zu zahlen. Selbst wenn Wolflinge grausame und beinahe unbezwingbare Feinde waren, so waren sie nach wie vor lebendig. Ihr Herz schlug, ihre Lungen verlangten nach frischer Luft und irgendwann, wenn genug Klingen ihren Leib durchbohrt hatten, würden auch sie sterben wie gewöhnliche Menschen. Francesca raste und wahrscheinlich würde sie, selbst wenn er jetzt noch eingriff alsbald an ihrem Blutverlust sterben; ja vielleicht würde sie ihn in ihrer blanken, unkontrollierten Wut sogar angreifen. Aber das alles zählte im Augenblick nicht. Wer immer sie war, was immer noch geschehen würde, sie waren beide in diesem Kampf. Kampfgefährten ließ man nicht im Stich. Kein Gangrel würde es noch wagen sein Gesicht vor anderen seiner Art zu zeigen, wenn er feige aus einem Kampf floh oder einen Gefährten jämmerlich verrecken ließ. Aut vincere – aut mori. Er raste mit ausgefahrenen, bluttropfenden Klauen auf den Rücken des Mannes zu; schickte dabei ein unmenschliches Grollen durch die Nacht.
Der Soldat hatte keine Möglichkeit mehr auszuweichen. Lucien holte aus, spürte die Bewegung der Blutstropfen der Toten an seinen Fingern als er nach dem Fleisch des Mannes zu greifen schien. Seine Klauen fuhren mühelos durch die Rüstung an dessen Schultern, doch obwohl er mit aller Kraft zugeschlagen hatte, verursachte er keine tödliche Verletzung wie er gehofft hatte. Stattdessen nur eine klaffende Fleischwunde, die den Ritter aufschreien ließ.
Der Soldat biss die Zähne zusammen. Es war eindeutig an seinem Gesichtsausdruck zu lesen, dass er seine letzte Drohung wahr werden lassen wollte. Wenn er schon sterben sollte, würde er zumindest eine der Bestien mit sich in den Tod reißen. Er hieb mit dem Schwert auf den Werwolf ein, der nur mit Mühe ausweichen konnte.
Da hatte wohl der Teufel, oder in diesem Fall wohl einfach Otto seine Hand im Spiel. Dieser Leutnant, mit seinem im Mondlicht besonders hell funkelnden Schwert und seiner geradezu meisterlichen Rüstung und einer äußerst gesegneten Zähigkeit, war weitaus schwieriger zu Fall zu bringen, als seine jämmerlichen Untergebenen. Entweder er war ein jahrelang geschulter und indoktrinierter Ghul oder gar ein junger Kainit; möglicherweise sogar noch etwas gänzlich anderes. Sein Mut und seine Unerbittlichkeit, nach wie vor seinen Schwur wahrmachen zu wollen Francesca mit in den Tod zu nehmen, hielten den harten Burschen selbst nach Luciens ersten Satz klauenbewährter Schläge auf den Beinen. Das müsste sich ändern – jetzt. Ansonsten gab es gar keine Rettung mehr für seine Kampfgefährtin. Er rammte ihn erneut die Klauen zwischen die Rippen und brüllte vor Zorn und Blutgier.
Der Mann überdrehte keuchend die Augen, die leicht anschwollen und stechend aus den Höhlen traten, als ihm der Gangrel die Lungenflüge zerfetzte. Ein hartes Ausatmen von Luft, dann fiel der tote Leichnam in sich zusammen und klatschte auf den erdigen Waldboden. Luciens Klauen und Finger waren rot, wie in Farbe getunkt und seine Rüstung und sein Wams waren von unzähligen Blutflecken und Spritzern gesäumt.
Die Bestie in seinem inneren zurückhaltend, hob er den Blick in Richtung des schwer verletzten Werwolfes. Seine Klauen zogen sich allmählich zurück und er fixierte das Ungetüm. „Francesca…“, brüllte er laut. „Francesca… sie sind alle tot… du kannst jetzt aufhören!“ Es brachte nichts sich mit kleinen Bitten und geflüsterten Wünschen an das Ungetüm zu richten; der Gangrel musste zu ihr durchdringen irgendwie. Denn ansonsten, wäre dieser Sieg nur ein erneuter Auftakt zu einem Blutbad. Ein Blutbad das ohne Frage ihn als Sieger hervorgebracht hätte. Völlig undenkbar, lieber würde er solange vor ihr fliehen, bis sie zusammengebrochen war. Aber das fraß mehr von ihrer kostbaren Zeit und sie brauchte unverzüglich einen Medicus. „Francesca… wir müssen dich sofort zu einem Heiler bringen! Hörst du? Sofort!“
Lucien konnte den Hass und die Wut in der zusammengekrümmten Bestie vor sich erkennen, die gegen einen Anflug von Vernunft ankämpften. Er selbst kannte das rasende Tier in sich, das es liebte frei gelassen zu werden und danach fast unvorstellbar schwer zu bändigen war. Was auch immer von Francesca Besitz ergriffen hatte, es war nicht weniger stark. Für verwundetes, ein in die Enge getriebenes Tier gab es nicht viele Auswege, aber Lucien erkannte es in den hellen Augen des Werwolfes: Es kostete die Bestie alle Mühe zu verharren. Plötzlich fletschte sie die Zähne und ein Ruck ging durch den massigen, muskelgestählten Leib. Sie würde ihn angreifen. Sie öffnete die Klauen, holte nach ihm aus und schloss sie im letzten Moment zu Fäusten.
Er ließ es passieren; fing die nach vorne gerichtete Kraft mit seinem Körper ab. Was immer da auf ihn herabregnen würde, zumindest waren es keine Muskel- und Sehnendurchtrennenden Klauen groß wie Schlachtermesser. Vielleicht musste sich das unbändige, wütende Tier noch einmal abreagieren. Hoffentlich würde es nicht zu heftig werden, dachte er noch bei sich, als ihre zur Faust geballte Hand schon auf seine Rüstung trommelte. Es hatte den Anschein, als wäre gerade die zwölfköpfe Belagerungsmannschaft am Rammbock gegen das Burgtor angelaufen. Der Druck presste ruckartig die Luft aus seinen toten Lungen und er wurde beinahe aus den Stiefeln gehoben; taumelte ein paar Meter zurück. Was für ein unheimlicher Schlag…. Mühsam saugte er scharf die Luft ein und versuchte den stechenden Schmerz zu ignorieren. „Francesca…“, kam es erneut gepresst. „Francesca… hör auf damit! Wir haben gewonnen… du musst versorgt werden…. Zum Teufel, es geht um dein Leben! Reißen sie sich zusammen, Soldat!“
Wieder erkannte Lucien das Zaudern in dem fratzenhaften Werwolfgesicht. Es bleckte die Zähne, spannte jeden einzelnen Muskel an, setzte zum Sprung an um dann doch wieder zu verharren. Der Gangrel sah, welchen Kampf Mensch gegen Tier in dem massigen Körper des Garou ausfochten. Dann brach der Werwolf auf die Knie und der Körper sackte zusammen. Das Fell zog sich zurück, die Muskeln zogen sich zu normalen Proportionen zurück und die Knochen verschoben sich so dass nichts als der Körper einer gewöhnlichen Frau zurück blieb. Von der ehemals perfekt sitzenden Rüstung waren nur Fetzen geblieben und Blut rann aus klaffenden Wunden, die sich von der Schulter bis zum Oberschenkel zogen. Kein gewöhnlicher Mensch wäre in der Lage in einem solchen Zustand überhaupt noch zu laufen. Mühsam hob Francesca mit trüben Augen den Blick. „Es tut mir leid, Lucien.“
Der Gangrel zögerte keinen Augenblick lang und rannte über den dreckigen Erdboden zu der vermutlich schwer, wenn nicht gar tödlich verwundeten Francesca. Was für ein Kampf und was für eine Zähigkeit. Stillschweigend zollte er den grotesk-fleischigen Wunden Respekt und schüttelte nur den Kopf. „Wer so etwas aushält und noch weitermacht, der darf mich windelweich schlagen“, versuchte er sich an ein paar aufmunternden Worten und rang sich selbst ein Lächeln ab. Fieberhaft sah er sich nach den Pferden, als auch den toten Soldaten um. Er würde sauberes Verbandsmaterial brauchen, vermutlich Alkohol um die Wunde zu desinfizieren und selbstverständlich Nadel und Faden. Was ihm aber am allermeisten fehlte, waren Zeit und das Wissen um die Heilkunst. Früher als Verbrecher hatten sie kleinere und größere Wunden auch selbst versorgt, da hatte er gelernt sich nicht zu übergeben, aber trotzdem hatten das stets andere aus der Räuberbande erledigt. Lucien hatte nur ab und an zugesehen. In diesen Nächten war es Leif, auf den in solchen Momenten stets Verlass war aber der Salubri war meilenweit von ihm entfernt. Das hier würden sie so gut es ging überstehen müssen. Er strich ihr behutsam über die Stirn.
„Es war meine Schuld, mein Plan war dumm und arrogant; hätte lieber bei euch bleiben sollen. Du wirst mir hier nicht sterben, verstanden? Wir machen das, versprochen. Ich flick dich so gut es geht zusammen und dann reiten wir entweder ins Kloster oder nach Aachen, je nachdem was näherliegt. Beiß die Zähne zusammen und bleib bei Bewusstsein, ich werde versuchen die Blutung zu stoppen.“ Seine Augen wanderten über das Schlachtfeld; suchten nach dem jungen Heinrich. Sohn des Kaisers hin oder her, er würde ihm zur Hand gehen so viel stand fest.
Der junge Kaisersohn, stand für einige Augenblicke wie erstarrt da zwischen den Toten und Sterbenden, den aufgeschlitzten Bäuchen und dahinplätschernden Blutlachen. All dieses Hauen und Stechen, morden und verstümmeln; dazu noch die hochoffizielle Leibgarde seines Vaters als bestialisches Ungetüm und der völlig fremde Lucien mit seinen leuchtenden Augen und scharfen Klauen, waren kurz gesagt zu viel für den Jungen. Die Stimme des Hauptmanns riss ihn wieder zurück in die Realität und es war gut, dass dieser ihm schnelle und bündige, einfach zu verstehende Anweisungen gab. Zu mehr wäre er auch gar nicht fähig gewesen. Er huschte zwischen den Leichen hin und her und durchforstete die Satteltaschen der übrig gebliebenen Pferde, die man unlängst einer kleinen Buchenansammlung angebunden hatte. Nur die straffen Seile und Zügel hatten überhaupt verhindert, dass die völlig verstörten Tiere nicht gleich durchgegangen waren.
Mit stolpernden Schritten rannte er mit einigen sauberen Tüchern und Decken, einem kleinen Holzkästchen mit Nadel und Faden, Angelhaken und Ködern, sowie ein, zwei Flaschen Schnaps zu der im Sterben liegenden Francesca. Gemeinsam mit dem Hauptmann bereitete er der nackten, blutüberströmten Frau ein halbwegs bequemes Lager und deckte vorsichtig die Körperteile ab, die keine oder kaum Wunden davongetragen hatten. Sie durfte nicht viel mehr Körperwärme verlieren.
Die immer noch leuchtenden Augen des Gangrel kratzten das wenige bisschen, das er wusste in seinem Kopf zusammen und als er sich über das Ausmaß der beigefügten Schnitte im Klaren war, begann er von der Schulter abwärts die Wunden mit in Schnaps getauchten Tüchern zu reinigen. Francesca hatte er ein Stück Holz ohne zu fragen, einfach in den Mund gedrückt. „Draufbeißen“, befahl er harsch. Den kleinen Heinrich ließ er so gut es ging assistieren. Wunden zusammendrücken, nachtupfen und säubern, Gewebe spannen, während er mit Nadel und Faden so gut als das es ihm möglich war, nähte. Ab und an stöhnte oder brüllte Francesca schwächelnd, einerseits aufgrund des Alkohols in den Wunden, andererseits wegen der Nadel. Das Holz wurde direkt abgenagt und drohte fast unter ihren Kiefern zu brechen. Immer wieder drückte er sie gegen den Boden. „Stillhalten, wenn das nichts wird, war es das, Mädchen…“, grollte er und nähte die Wunden eilig zusammen. Nein, es war keine sorgfältige oder kunstfertige Arbeit, jeder nur mittelmäßig kompetente Heiler wäre aschfahl geworden; Leif hätte entsetzt mit den Armen gerudert. Aber weder war er Heiler noch unglaublich geschickt in derlei Dingen. Es musste vorerst genügen, bis ihr richtige Hilfe zuteilwurde. Zusammen mit Heinrich, hievte er die in einige Lagen, Decken und Tüchern gewickelte Francesca auf ihr Pferd, nachdem er sie notdürftig verbunden hatte. Heinrich erklärte ihm, dass der Weg zum Kloster der Schnellste wäre und kaum jemand anders würde in dieser Umgebung besser helfen können, wenn überhaupt. Der Plan stand also bereits fest, als der Hauptmann den Kaisersohn ebenfalls aufsitzen ließ und neben ihm reitend, zügig die Pferde herumriss, sodass diese laut aufschnauften. „Dann ist es entschieden. Das Kloster… ansonsten bleibt uns nicht mehr viel übrig.“ Francesca vor sich im Sattel haltend, ritten sie von dannen; hielten lediglich ein kurzes weiteres Mal um Ajax abzuholen und am Zügel hinter sich her galoppieren zu lassen. Der Gangrel hoffte auf die Ortskenntnis des Jungen, der sie allesamt wohl problemlos zu den Mönchen führen würde. Allein die Zeit, arbeitete gegen sie.
Heinrich hatte die Satteltasche von Francesca durchwühlt und ein Stück Stoff, dass sich als einfaches Kleid entpuppte herausgezerrt und es der Sizilianerin mehr übergeworfen als sie eingekleidet. Er war puterrot und versuchte in jede Richtung außer auf die halbnackte Frau zu starren was sein Unterfangen eher schwierig gestaltete. Erst als Francesca auf den Rücken des Pferdes gehievt wurde, protestierte sie schwach. „Nein, nicht ins Kloster. Da gibt es nur einige Nonnen…“ Es fiel ihr schwer weiter zu reden und sie fuhr sich über die aufgesprungenen, trockenen Lippen. „Bring mich zu Aleister. Der wird wissen, was…“ Ihr fehlte die Luft zum Sprechen.
Lucien ließ die Pferde möglichst wenig abrupt anhalten und die Frau vor sich sachte zurück an seine Schulter gleiten, sodass er ihre schwache Stimme deutlich an seinem Ohr vernehmen konnte. „Aleister?“, wiederholte Lucien irritiert. „Francesca… wer ist das? Wo finden wir ihn?“ Sein Blick heftete sich auf den jungen Heinrich. „Weißt du von wem sie spricht?“
Heinrich ließ sein Pferd ebenfalls langsamer werden. Obwohl er weiß war, als würde er sich jeden Moment übergeben müssen, nickte er. „Das ist ein Berater meines Vaters.“ Man sah ihm an dass er wohl noch andere Worte auf der Zunge hatte, die er aber für sich behielt.
Der Hauptmann nickte und ignorierte die mehr als offensichtliche Blässe des Jungen. Es gab nichts das er hätte tun oder sagen können, um das, was geschehen war rückgängig zu machen. Zwar bedauerte er es, dass Heinrich bereits in diesem zarten Alter mit einem derartigen Blutbad und der Welt hinter dem Vorhang konfrontiert wurde aber in seiner Stellung ließ sich das wohl einfach nicht vermeiden. Er war Friedrichs Sohn und dieser hatte es vorgezogen, nicht nur die sterbliche, sondern auch die unsterbliche Welt in seine politischen Ränkespiele, Pläne und Vorhaben miteinzubeziehen. Das hier war wohl nur ein verschwindend geringer Teil dessen, was er, sollte er es je auf den Thron schaffen, zu sehen und hören bekäme. „Ein Berater?“, hakte er prüfend nach ohne auf die Auslassungen des Jungen näher einzugehen. Werwolf, Vampir, Magier oder der Teufel höchstpersönlich; wer immer der Mann war, Francesca wollte zu ihm und das hatte wohl einen guten Grund. „Dann müssen wir nach Aachen?“, fragte er eilig und sichtlich ungeduldig. Sie hatten keine Zeit für diese geheimnistuerischen Kindereien.
Heinrich sah sich unschlüssig um. „Ich kenne nur den Weg zurück zum Schloss Schönforst. Aber das ist ein Umweg. Ich denke, nach Aachen geht es dort lang, aber ich weiß es nicht.“ Lucien sah zu einem Stück Himmel, das er zwischen den Zweigen der Bäume ausmachen konnte und entschied, dass der Junge wohl mit seiner Richtungsangabe Recht haben musste. Er sah sich alle sgenau an: Die Art der Bäume, das Gestrüpp. Es war eine Option querfeldein zu reiten, die gewagt war. Das Dickicht konnte so dicht werden, dass ein Vorrankommen unmöglich werden würde. Anhand der Pflanzenarten war jedoch eher zu vermuten, dass man sich irgendwo in der Nähe von bewirtschaftetem Gebiet aufhalten mochte. Und dort würde es Äcker geben, die man schnell überqueren konnte. Wenn er nur den Weg finden konnte…
Lucien witterte und entschied sich schließlich für einen kleinen Pfad direkt nach Süden. Seine Sinne hatten ihn nicht getrogen. Bereits fünfzehn Minuten später erreichten sie abgeerntete Felder und einzelne palisadenumzäunte Dörfer. Sie konnten es schaffen…
Wäre er noch ein kleines bisschen religiös gewesen, so hätte er wohl dem Herrn für seine Gnade gedankt. Aber so wie er sich nun einmal selbst mit der Welt um sich herum arrangiert hatte, dankte er niemandem außer sich selbst für seinen akkuraten, raubtierhaften Instinkt, der ihn ungleich vieler anderer Dinge, fast niemals im Stich ließ. Die Felder konnten ihre Rettung werden; eine möglichst gerade Line über flache, bestenfalls leicht hügelige Landschaft. Er trieb die Pferde zu äußerster Eile an. „Schneller“, rief der Henrich zu und spürt den dampfenden Schweiß seines Reittiers unter sich. Sie kamen zügig voran und Stunde um Stunde verstrich. Ab und an versicherte sich Lucien, dass Francesca vor ihm im Sattel noch atmete.
Lucien spürte bereits die Sonne, die sich hinter dem Horizont daran machte aufzusteigen. Der zwölfjährige König ritt neben ihm her und schwieg. Ein kurzer Blick in die Richtung des Jungen bestätigtem ihm, dass der Knabe still vor sich hin weinte. Erst als er bemerkte, dass man ihn von der Seite beobachtete wischte er sich die Tränen von den Wangen und biss die Zähne fest aufeinander. Für ihn galt wohl wie für alle anderen auch: Jungen weinen nicht! Oder vielleicht auch: Könige weinen nicht?
Schließlich erkannte er die Silhouette von Aachen vor sich und eine halbe Stunde später durchritten sie das östliche Stadttor.
Endlich nach so scheinbar unendlich langer Zeit, hatten sie das Osttor erreicht. Francesca war am Leben, auch wenn der sich träge und vorsichtig ankündigende Morgen, dem Gangrel die Erschöpfung und Müdigkeit bereits wie ein langsam dahinschwelendes Gift in die Gliedmaßen trieb. Das war es mehr als wert gewesen. Jeden Ritt und jedes Hindernis hätte er ungefragt auf sich genommen; immerhin gab er sich selbst die Schuld am Zustand der italienischen Werwöflin. Sie preschten durch das Tor und hielten auf die Kaiserpfalz zu, wo Lucien nicht nur den Kaiser, sondern auch dessen Berater Aleister vermutete. An den Wachtoren angekommen, fuhr er die dort postierten Torwächter harsch an. „Francesca di Valle wurde lebensgefährlich verwundet, lasst sofort nach Aleister schicken! Mobilisiert die Heiler, unverzüglich! Es geht um Leben und Tod, jede Minute die ihr verschwendet kann ihre letzte sein! Hurtig!“ Sein Bellen hallte laut über die Köpfe der behelmten Soldaten.
Die Männer sahen sich unschlüssig an, schienen nicht zu wissen, von wem die Rede war. Ein Hauptmann wurde herbei geholt, der ihm nur versicherte, dass sich der Mann namens Aleister nicht in diesen Mauern befinden würde. Er käme immer nur, wenn er gerufen würde.
Heinrich, der sich eine Kapuze tief ins Gesicht gezogen hatte, zog Lucien am Ärmel. „Ich denke, ich weiß, wo sich der Berater vielleicht aufhält.“ Seine Stimme war ein kaum vernehmbares Flüstern. Ganz offensichtlich wollte er nicht erkannt werden.
Über die dringliche Beschäftigung mit all diesen Problemen, Sorgen und Notsituationen, hatte der Hauptmann tatsächlich fast schon wieder vergessen, dass das Verschwinden des Kaisersohns ja eigentlich möglichst geheim hätte bleiben sollen. Zum Glück war Heinrich noch geistesgegenwärtig genug gewesen und hatte sich eilig eine Kapuze ins Gesicht gezogen. Die ohnehin eher mehr verwirrten als aufmerksamen Wachleute, schienen ihn nicht zu erkennen. Guter Junge, dachte der Gangrel bei sich und nickte unauffällig in dessen Richtung, als er die geflüsterten Worte vernahm. An selbigen gewandt meinte er nur knapp: „Gut, dann reite voraus und zeig uns den Weg. Der Mann scheint es ja genauso zu halten wie der Rest des Hofes; niemand kennt ihn außer ein paar wenigen Eingeweihten. Aber beeil dich, ich bin weder Heiler noch Heiliger und Francesca braucht unverzüglich Hilfe.“ Sein Pferd wendend, würdigte er die Soldaten keines weiteren Blickes mehr. In erster Linie musste die Frau gerettet werden; alles andere war nebensächlich.
Der junge König schüttelte den Kopf. „Kommt mit! Das dauert zu lang.“ Er zog an den Zügeln seines Pferdes und bahnte sich einen Weg durch die Straßen Aachens. Langsam füllten sich die Gassen mit den ersten Handwerkern, die noch vor Sonnenaufgang ihre Werkstätten aufsuchen mussten, und das Durchkommen wurde schwieriger. Ab und an hielt ein Passant, der die verwundete Frau entdeckt hatte, im Laufen inne und starrte sie an, doch die meisten hielten die Köpfe gesenkt und gingen ihrer Wege. Mühevoll die Augen offenhaltend, versuchte Lucien sich seine Müdigkeit nicht anmerken zu lassen. Beinahe wäre er aus dem Sattel gefallen, als einer der früh aufgestandenen Handwerker ihn passiert hatte. Doch eisern biss er die Zähne zusammen und schlug sich gelegentlich selbst ins Gesicht; feuerte sich selbst an durchzuhalten. „Mach schon…. Du kannst das…“, zischte er mit sich selbst unzufrieden. Eine Hand drückte Francesca vorsichtig, aber doch bestimmt näher an sich, sodass sie ebenfalls nicht stürzen würde, ganz egal wie schlecht gepflastert die Straßen waren oder wie viele Leute sich vorbreidrängen würden. Heinrich durchquerte ein eher heruntergekommenes Viertel und hielt schließlich vor einem einsamen, in das Wasser des Flusses gebauten Haus
Angespannt trabte er neben dem Jungen her, bis sie das Haus erreichten, wo Lucien sich aus dem Sattel gleiten ließ und Francesca in beiden Armen hielt. Kurz starrte er die Umgebung an und merkte, wie das allmählich immer heller werdende Tageslicht in seinen Augen schmerzte. „Wenn er da drin ist, dann muss es rasch gehen, Junge. Ich kann bei Tag nicht umherwandeln und meine Beinen versagen mir gleich den Dienst. Klopf an und hol ihn aus dem Bett, wir brauchen jede Hilfe, die wir kriegen können.“ Mit ungleichmäßigen, torkelnden Schritten, hielt er auf die Eingangstür zu.
Auf das Klopfen öffnete sich nach wenigen Minuten eine schmale Tür und das Gesicht eines Jungen von vielleicht siebzehn Jahren blickte die seltsamen, abgerissenen Gestalten an.
Seine Stimme war überrascht und ein wenig misstrauisch. „Was wollt ihr denn hier?“ Dann fiel ihm die schwerst verwundete Frau auf. „Oh mein Gott!“ Sein Schrei gellte durch die Räumlichkeiten. „Meister! Kommt schnell!“
Eine entrüstete Stimme von oben war zu vernehmen. Tief und dunkel, wie eine große Glocke war sie deutlich zu hören. „Helmut? Was ist denn los? Mit dem Lärm weckst du ja Tote auf!“
Der Hauptmann hielt sich nicht mit langen Reden auf, sondern stieß mit einem Fuß die Tür weiter auf und verlangte für sich und die verwundete Francesca in seinen Armen den ihnen gebührenden Platz; drängte den erschrockenen Jungen unaufhaltsam weiter in den Raum. „Francesca di Valle, die persönliche Leibwächterin des Kaisers“, führte der Gangrel eilig und laut aus. „Sie wurde schwer im Kampf verwundet und es ist bei meinen Heilkünsten gar ein Wunder, das sie überhaupt noch lebt. Bevor sie ohnmächtig wurde, brachte sie noch den Namen eines Mannes hervor, zu dem wir sie bringen sollten: Aleister. Der Junge hat mich geführt.“ Ein knappes Nicken in Richtung von Heinrich, das ihm gleichzeitig bedeutete die Tür hinter ihnen zu schließen. „Ich hoffe ihr könnt helfen, denn ich fürchte, es ist fast schon zu spät.“
Eine Gestalt mit misstrauisch verengten Augen erschien auf einer Balustrade im ersten Stock.
Innerhalb eines Wimpernschlages erkannte er die Situation. Seine Stirn legte sich in Falten und er grummelte unverständliche Flüche in seinen Bart. Mit hastigen Schritten stieg er eine Treppe hinunter.
„Helmut? Die Kiste in der hintersten Schublade und Buch 21 des Zyklus „De corporis“. Und eile dich!“ Zu Lucien gewandt fügte er hinzu. „Folgt mir!“
Er trat durch mehrere edeleingerichtete Räume und stieß schließlich eine Tür auf, die in ein Zimmer mit mehreren weiß bezogenen Betten führte. Offensichtlich war der Raum für die Pflege Kranker gedacht. Er deutete auf eines der Betten. „Legt sie hier an!“
Er unterstützte den Gangrel und seine Arme waren für den alten Mann ungewöhnlich kräftig. „Was um alles in der Welt ist geschehen?“ Er ließ sich rasch den Kampfhergang schildern und tastete den Körper der jungen Frau ab. „Silber also? Das ist schlecht…“ Mittlerweile war der blonde Junge, offensichtlich der Schüler des Alten, wieder hereingekommen und war bereits dabei die Kiste zu öffnen. „Meister?“
Ohne ihn anzusehen, brummelte er. „Die Kristalle aus Kaanda. Und Wasser. Viel Wasser. Nimm den Knaben hier mit. Der soll dir helfen. Mach es heiß!“ Er deutete, ohne den Jungen näher anzusehen, auf Heinrich, und der Jüngling, den er Helmut gennant hatte, packte den kindlichen König an der Schulter und verschwand mit ihm so rasch wie er gekommen war.