Mi 30. Nov 2016, 12:38
Heinrich seufzte und ließ die Schultern hängen. Luciens Aufforderung sich in sein Schicksal zu fügen, schien es für ihn nicht einfacher zu machen. Schließlich hob er erneut den Blick und sah zu Francesca, um die sich bereits wieder Meister Aleister bemühte, dann zu Lucien. „Könnt ihr mir berichten? Von dem, was ich im Wald gesehen habe. Von der Wolfsgestalt, euren Augen und Klauen?“ Er beugte sich in seinem Sessel weiter nach vorn, stützte die Ellbogen auf die Knie und legte die Finger gespannt ineinander.
Und Lucien begann zu erzählen.
Die Zeit verstrich. Der Hauptmann berichtete und Heinrich hörte gebannt zu. Ab und an unterbrach er ihn mit einem ungläubigen Kopfschütteln, einem zustimmenden Nicken oder einer Frage, die ihm auf der Zunge brannte. Plötzlich hielt er inne und starrte nach vorne. Lucien bemerkte Kerzenlicht und sah schließlich eine einfach gekleidete Gestalt im Türrahmen stehen, die eine Laterne in der Hand hielt und beide beobachtete.
Heinrich erstarrte und schluckte. Ganz offensichtlich war der Mann allein gekommen. Eine Eskorte war nirgendwo zu erblicken. Der Junge sah erneut zu Boden, dann wieder zu dem Neuankömmling, auf dessen Gesicht ein zögerliches Lächeln erschien. Lucien erkannte die Stimme des Kaisers. „Ich bin so froh, dass es dir gut geht, Heinrich.“
Die Worte schienen dem Knaben einen Stein vom Herzen zu nehmen, er sprang auf und warf sich seinem Vater erleichtert in die Arme. „Es tut mir leid… wirklich… ich…“
Friedrich fuhr ihm über den braunen Schopf. „Ist schon gut. Hauptsache, du bist wieder da. Wir reden ein ander Mal über alles. Einverstanden?“ Einige Zeit standen beide einfach nur da, dann murmelte der Kaiser. „Vielleicht solltest du mal nach Francesca sehen?“ Er zog einen Beutel hervor, den er seinem Sohn in die Hand drückte. „Gib das Aleister. Das ist Eisenkraut. Er wird wissen, was zu tun ist.“
Heinrich nickte eifrig, sah noch ein Mal dankbar zu Friedrich und zu Lucien und schritt dann mit sichtbarer Leichtigkeit zurück zum Krankenlager.
Friedrich ließ sich erschöpft in den Sessel fallen in dem Heinrich zuvor gesessen hatte. „Ich bin froh, dass er unbeschadet wieder zu Hause ist. Er bedeutet mit unsagbar viel. Er ist ein guter Junge. Für Francesca und euch war es ein harter Kampf nach allem, was ich von Meister Aleisters Schüler gehört habe. Ich stehe tief in eurer Schuld.“ Er fixierte Lucien und nickte zu seinen eigenen Worten. „Oh ja. Habt Dank.“
Der Gangrel winkte leicht ab und schüttelte gleichzeitig den Kopf. „Zuviel der freundlichen Worte, euer Majestät. Heinrich ist wieder wohlbehalten bei euch angekommen und allein das zählt. Sowohl Francesca als auch ich wussten, auf was wir uns einließen, obgleich die Konfrontation härter ausfiel als ursprünglich angenommen.“ Seine grauen Augen glitten nachdenklich zu Boden, bevor sie sich wieder auf den deutschen Kaiser richteten. „Ein neuer, alter Feind ist zurückgekehrt. Möglicherweise hat euch Helmut auch bereits darüber berichtet. Otto trachtet danach euch, eurem Bündnis und darüber nicht zuletzt auch seinem Erzfeind Hardestadt möglichst empfindlich zu schaden. Noch hatten wir Glück im Unglück, da wir jetzt wissen, mit wem wir es zu tun haben. Ihr solltet die entsprechenden Schritte in Erwägung ziehen und besondere Vorsicht walten lassen.“ Mit den Fingern fuhr er sich über die Bartstoppeln. „Und… in eigener Sache euer Majestät: Ich weiß nicht viel von Politik und es steht mir auch nicht zu euch Ratschläge zu geben, aber vielleicht solltet ihr, selbst wenn Heinrich einmal in eure Fußstapfen treten wird, gelegentlich die Zügel etwas lockerer lassen. Je älter er wird, desto weniger Zeit wird er ohnehin haben für sich selbst und nicht permanent für das Reich zu leben und zu entscheiden. Ein klein wenig mehr Luft schadet eurem Bestreben als Vater und Kaiser nicht, aber für Heinrich bedeutet es sehr viel.“
Friedrich seufzte, lachte dann freudlos auf. „Ja, Heinrich hat es nicht leicht. Sowohl an ihm als auch an mir ziehen so viele verschiedene Parteien, dass es mehr als schwer ist dabei in einem Stück zu bleiben. Der Papst, Sizilien, Deutschland, dieser vermaledeite Kreuzzug, den ich leisten muss, Barone, zig Adelige, die mich nach dem Tod meiner Frau Konstanze wieder verheiratet sehen wollen, Kainiten, Magi, Wolflinge und nicht zu vergessen die umliegenden Länder und Königreiche. Heinrich war mein Pfand an das Deutsche Reich und die Kirche. Seine Anwesenheit hier und seine bereits erlangte Königswürde halten Sizilien und Deutschland zusammen. Wäre das nicht gegeben, würde das Reich auseinanderbrechen.
Heinrich ist ein guter Junge, er hat ein gutes Herz, aber er ist zu jung für dieses Spiel um Macht, Intrigen, Verbündete. Er vertraut, tut das, was er für richtig hält, stellt die Fragen, die ihm richtig erscheinen. Viel für einen Jungen von 12 Jahren. Zu viel. Ich bange schon jetzt um ihn, wenn ich daran denke, dass ich nach Jerusalem ziehen muss und ihn hier zurück lassen muss. Die meisten deutschen Fürsten sind in meinen Augen nicht vertrauenswürdig, wieder anderen Lehnsmännern zu Treue verpflichtet oder in einem Bluteid gebunden, und ich wüsste nicht, wem ich Heinrich anvertrauen sollte. Manchmal denke ich, ich sollte seinem Wunsch nachkommen, ihn ein paar Jahre unerkannt als Knappe an den Hof eines niederen Adeligen schicken bis er alt genug für die Verantwortung ist.“
Lucien nickte kurz und lächelte schwach. „Nun, euer Majestät, es ist ganz offensichtlich, dass ihr eine beachtliche Menge an Neidern, Feinden und intriganten Speichelleckern um euch habt, die ihr umsichtig gegeneinander ausspielen und dabei möglichst ruhig halten müsst. Das sieht sogar jemand, der nur ein einziges Mal die Ehre hatte an einer eurer Versammlungen teilzunehmen. Dazu kommt auch noch die Welt hinter dem Vorhang. Ich gebe freimütig zu, euch nicht besonders zu beneiden, euer Gnaden.“ Ein leichtes Schmunzeln umspielte seine Lippen. „… aber ich habe den allergrößten Respekt vor euch.“ Dann wurde der Gangrel für einen Moment schweigsam und grüblerisch und bevor er überhaupt wirklich vollends überlegt hatte, was er da sagte, kamen die Worte auch schon aus seinem Mund. „Würdet ihr Heinrich in meine Obhut geben? Ich habe… sagen wir einfach sterbliche ‚Verwandtschaft‘ in Flandern. Einen verheirateten Mann von großem Anstand und Tugendhaftigkeit; mein Neffe. Er ist Hauptmann der Tagwache in Brügge und ist jemand, dem ich ohne zu Zögern meine Existenz anvertrauen würde.“
Friedrich vergrub das Kinn in beiden Händen und stützte es nachdenklich darauf ab. „In Flandern wäre Heinrich wahrscheinlich sicherer als hier. Das Herzogtum ist erstaunlicherweise auch nach all dieser Zeit unabhängig und geht seinen eigenen geschickten Weg. Und dabei seid ihr Flamen erstaunlich erfolgreich: verhältnismäßig wenig Armut, blühende Städte, meist volle Kornkammern, viele ehrenhafte Adelsleute und tüchtige Kaufleute. Man hört fast nur gutes von Flandern und seinen Bewohnern.“ Nachdenklich ließ er die Zeit verstreichen. „Euer Angebot ehrt euch und wahrscheinlich wäre er bei euch sicherer als bei einem dieser Vasallen hier… vor allem, wenn die teuersten und treusten an meiner Seite in einen unnötigen Kreuzzug ziehen. Aber Heinrich muss in die Obhut eines Adeligen gegeben werden. Er muss den Schwertkampf lernen, Tjosten, Lesen, Schreiben, Sprachen, höfische Sitten und Gebräuche…“
Lucien grinste in sich hinein und nickte erneut. Ob das alles eine gute Idee war? Wirklich nachgedacht hatte er darüber nicht, aber es schien fast, als würden sich die einzelnen Teile des Bildes langsam von selbst ineinander fügen. Irgendetwas sagte ihm, dass es die richtige Entscheidung war. "Ich glaube da fiele mir gerade der richtige Adelige ein. Balduin von Flandern, Fürst von Seebrügge. Interessanterweise nennt man ihn einen Bastard, obwohl er es nicht ist. Wir hatten leider nie mehr die Möglichkeit, seine wahrhaftige und anstandslose Abstammung zu beweisen - eine lange Geschichte. Balduin selbst hat gelernt damit zu leben und stört sich nicht mehr groß daran. Ein guter Schwertkämpfer und Taktiker, Herr über große Ländereien und mit guten Beziehungen in die umliegenden Baronien und Herzogtümer; ja selbst zum König. An Lehrern, Ausbildern und guten, ehrlichen Ratgebern wird es ihm dort nicht mangeln." Der Gangrel lachte kurz auf und seufzte, sich über sich selbst wundernd. Unglaublich, aber er trug dem deutschen Kaiser gerade Balduin von Flandern, als Lehrmeister für seinen Sohn, den zukünftigen Herrscher Deutschlands an. "Er ist ein guter Freund vom Brügger Rat und insbesondere von mir. Wäre das ein gangbarer Weg, Hoheit?"
Friedrich sah erstaunt aus und grübelte noch immer. „Eine interessante Idee… Balduin von Zeebrügge, sagt ihr? Irgendwann müsst ihr mir die Geschichte eines Bastards, der eigentlich keiner ist, erzählen. Ich habe damals, als ich noch ein Kind war, einige seltsame Geschichten und Gerüchte gehört. Der damalige flandrische Thronfolger ist nur einige Jahre älter als ich selbst. Ich werde über alles nachdenken und die nötigen Erkundigungen einziehen. Das ist eine Entscheidung, die gut durchdacht werden muss… Und Heinrich muss einverstanden sein.“
Er erhob sich halb. „Ich denke, es wäre ein Gutes eine Sitzung mit Hardestadt einzuberaumen. Otto, sein alter Gefolgsmann, war immer schon sein Problem und gleichzeitig durch seinen Einfluss auch das meiner Familie. Welfen und Staufer- ein ewiger Konflikt“ Er seufzte.
„Gewiss, euer Gnaden“, meinte Lucien sich dabei leicht angedeutet verbeugend. Als der deutsche Kaiser sich erhob, tat er es ihm ebenfalls gleich. „Es handelt sich lediglich um ein Angebot, und ihr müsst dieses selbstredend sorgfältig abwägen, das kann ich vollkommen verstehen. Vielleicht würde es euer Majestät auch zusagen, Francesca mit dem Jungen mitzuschicken, aber das sind alles Details, die jetzt noch nicht von Belang sind.“ Der Gangrel hob die Schultern und seufzte. Friedrich käme wohl nicht umhin, sich auch im großen Rat in Hardestadts Anwesenheit diesem brandaktuellen Thema zu widmen. „Wenn es euch beliebt, dann begleitet ich euch einstweilen, Majestät. Francesca ist soweit ja in guten Händen.“
„Es wäre mir eine Ehre, wenn ihr mich begleiten würdet. Ich habe den jungen Magus, ich glaube Helmut ist sein Name, zu einem Untergebenen von Hardestadt geschickt, damit er Bericht abliefert. Aber soweit ich weiß, steckt der schwarze Monarch in wichtigen Verhandlungen mit einem Kainiten aus Russland. Ich hoffe, er kann seine Zwistigkeiten mit den Kainiten im Osten beilegen. Weitere Kriege wären unserem Reich mit der Aussicht auf den Kreuzzug derzeit nicht zuträglich.“ Er murmelte mehr zu sich selbst. „Ungefähr zur zweiten Stunde nach Mitternacht sollten er und seine Treuen für eine Unterredung bereit sein. Das ist ein kainitisches Problem.“
Er erhob sich endgültig und schmunzelte schließlich. „Tut mir einen Gefallen. Lasst die vielen Titel weg! Wir sind hier nicht am Hofe und zu viel Beachtung schätze ich nur dann wenn es wirklich erforderlich ist. Hier, außerhalb solcher Mauern, wirklich nicht.“ Er lachte. „Meine Eltern hielten den Namen Friedrich für passend. Nach meinem Großvater, dem Rotbart.“
Der Hauptmann lachte und dann tat er etwas, das er zwar für gewagt hielt, aber auf die abschließende Worte Friedrichs doch für vertretbar hielt. Nickend klopfte er dem deutschen Kaiser auf die Schulter und lächelte beinahe erleichtert. „Ihr wisst nicht, Friedrich, wie es mich erleichtert das aus dem Munde des deutschen Kaisers zu hören.“ Grinsend fügte er hinzu. „Das und die Tatsache, dass es euch eine Ehre ist mich um euch zu haben. Vermutlich seid ihr der erste, der es als etwas Derartiges bezeichnen würde. Bedauerlicherweise weiß ich keine spannende oder witzige Geschichte zu meinem Namen zu erzählen, da ich lediglich ein ungewolltes Kind aus der Gosse war, aber es würde mich dennoch freuen, wenn ihr mich ebenfalls einfach Lucien nennen würdet. Alles andere, würde mich beschämen.“ Er griff nach den dicken Lederhandschuhen, streifte diese über und raffte das Wams. „Ja die Uhrzeiten sind etwas, an das man sich erst gewöhnen muss, vor allem als Sterblicher. Meine lebende Verwandtschaft, kann ein Lied davon singen. Leider wird das wohl eines der sehr bedauerlichen Probleme unserer Existenz bleiben, fürchte ich.“
Beim Durchschreiten der Stube, nickte er Aleister noch einmal anerkennend zu. „Ihr habt großes geleistet, Meister.“ Sein Blick fiel auf die mittlerweile wieder einigermaßen stabil wirkende Francesca. „Kümmert euch einstweilen noch gut um sie, wir stehen beide in eurer Schuld.“ Dann wandte er sich der Eingangstür zu und wartete dort auf den Kaiser und seinen Sohn, die er zurück in die sicheren vier Wände des hoheitlichen Anwesens geleiten würde.
Der Alte grummelte etwas in seinen zerzausten Bart, das Lucien nicht verstehen konnte und machte eine wegwerfende Handbewegung. „Ach, nicht der Rede wert.“ Komplimente schienen ihm nicht so recht zuzusagen und er wechselte rasch das Thema. „Wird Zeit, dass Helmut wieder nach Hause kommt. Dass der Junge auch immer so trödeln muss. Ich frage mich wirklich, wo der manchmal seinen Kopf vergessen hat.“
Auch Friedrich war an das Bett von Francesca getreten. „Danke, Meister Aleister.“ Er legte der Kranken kurz die Hand auf die Schulter, dann streifte sein Blick die beiden Erwachsenen und blieb schließlich bei seinem Sohn hängen.
„Danke, euch dreien. Ohne euch hätte sie wohl keine Chance gehabt.“ Der Junge, der noch immer ein wenig elend aussah als erwarte er eine baldige Strafe, wagte ein zögerliches Lächeln.
Friedrich deutete zur Tür. „Warte dort kurz mit Lucien auf mich. Ich muss etwas mit Meister Aleister besprechen.“ Heinrich sprang von dem mit weißem Bettzeug bezogenen Lager auf und ging mit Lucien zum Eingang, wo er tatsächlich ausharrte bis das kurze Gespräch zwischen Magus und Kaiser beendet war. Lucien konnte zwar nichts verstehen, aber Aleister schien dem Kaiser mehrmals zu widersprechen, äußerte Einwände, schien zu überlegen und nickte schließlich.
Dann trat auch Friedrich näher und zog die Kapuze seines dunklen Mantels tief in die Stirn. „Auf nach Hause.“