Vampire: Die Maskerade


Eine Welt der Dunkelheit
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BeitragVerfasst: Di 27. Sep 2016, 10:10 
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Ajax schnaubte und schüttelte den Kopf, als Lucien die Zügel nach einer schmalen Kehre wieder straffte und den Blick fragend in Richtung Alida wandte. Sein kritischer Blick offenbarte berechtigte Zweifel an ihrer Aussage Belinkov betreffend; waren die Tzimisce doch für ihre unberechenbare Wandlungsfähigkeit bekannt. Unveränderliche Äußerlichkeiten waren selbst für Kainiten ein kohärentes Stück Identität aber einem Drachen und Fleischformer bedeutete dies irgendwann im Laufe seiner blutigen Existenz nicht mehr besonders viel. Man hatte die ‚Möglichkeiten‘ nicht zuletzt am General des Teufels, Volger gesehen. Und das war nur die Schneeflocke auf der Spitze des Eisberges. Dann begann der Gangrel langsam zu nicken und zu verstehen; versuchte sich an ein Gespräch mit Alida zu erinnern das bereits einige Zeit zurücklag. Damals hatten sie sich über ihre Erzeuger unterhalten. Schließlich huschte ein schmales Lächeln über seine Mundwinkel. „Der russische Händler Sergej Belinkov ist also Emilian Viktorovich, dein kindlicher Erzeuger?“ Kurz sah er nachdenklich zu Boden; hob dann erneut den Blick. „Nun, da scheint er ja ein gutes Stück gewachsen zu sein findest du nicht?“ Zweifelsfrei erübrigte sich dazu jeder Kommentar.

„Das ergibt durchaus Sinn, wenn man bedenkt wozu dein Clan in der Lage ist. Auch deine monatelange Reise in den Osten ist jetzt um einiges einfacher nachzuvollziehen. Ebenso warum er so bereitwillig zur Stelle war, als wir Balduins Antlitz wiederherstellen wollten und warum du dich in letzter Zeit ganz besonders oft in Gent aufhältst.“ Lucien grinste und schüttelte den Kopf, als wollte er eine ganze Menge Fragen und Gedanken vertreiben. „Wir haben es ja immer schwer mit vorbehaltlosem Vertrauen und unseren Erzeugern aber ich glaube dein Emilian hat sich in all dieser Zeit zumindest so viel unseres Vertrauens verdient, als das er zumindest keinen Feind für uns darstellt. Bis jetzt hat er uns zumindest noch nicht verraten, verkauft, ausspioniert und unterwandert.“ Er pausierte kurz; sprach den letzten Satz etwas verhalten. „Du meintest glaube ich seinerzeit, dass du ihn geliebt hast. Ich freue mich für dich.“ Danach dauerte es einige weitere Augenblicke, bevor er die Zügel wieder lockerer ließ und Ajax gemütlich vor sich hin traben ließ.

„Ich gehe nach Aachen, weil sich dort der deutsche Kaiser Friedrich der Zweite aufhält. Ich würde nicht behaupten, dass er ein Freund von mir ist aber immerhin ein flüchtiger Bekannter. Vor einigen Jahren wollte er mich für seine Sicherheitsbelange bei Hofe rekrutieren. Damals lehnte ich ab beziehungsweise war ich unschlüssig diesbezüglich. Jetzt hat er nach mir schicken lassen.“

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Verfasst: Di 27. Sep 2016, 10:10 


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BeitragVerfasst: Mi 28. Sep 2016, 10:33 
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Alida sah Lucien etwas irritiert an. „Der Kaiser will dich zum Tee einladen??? Ja! Ganz sicher. Ich reite eigentlich auch nicht nach Gent, sondern besuche den Erstgeborenen der Toreador in seinem Sommerschlössschen.“ Die Unholdin glaubte ihm anscheinend kein Wort, grinste breit und lachte dann.
Sie zog ihren Mantel enger um die Schultern und klopfte dem Pferd beruhigend auf den Hals.

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„Ich bin dir gegenüber ehrlich. Also kann ich dir auch das sagen: Emilian ist kein Feind von Brügge, aber ich denke, es wäre unvorsichtig ihm blind zu vertrauen. Er hat seine eigenen Vorstellungen von richtig und falsch, gut und böse. Und seine eigenen Mittel und Wege seine Ziele durchzusetzen.“ Sie sog langsam die kühle Nachtluft ein. „Nun ja, das haben wahrscheinlich alle unsere Erzeuger. Mit Ausnahme von demjenigen, der Lilliana in die Nacht geholt hat. Der war sicher ein Heiliger.“ Wieder folgte ein fröhliches Auflachen.
Der Gangrel nickte knapp, dann grinste er besonders hämisch und breit. „Der war kein Heiliger, sondern hatte nur den Verstand verloren. Oder unsere Märtyrerin hatte den Verstand verloren oder alle beide zusammen. Auf jeden Fall ist ihrer Abstammung ein tüchtiger Schuss Wahnsinn zu eigen wo eigentlich Vernunft herrschen sollte. Manchmal frage ich mich ob sie tatsächlich die zarte Rose ist, für die sie sich hält oder doch eher der brennende Dornenbusch.“
Alida gab ihm einen empörten Stoß gegen Schulter, lachte dann aber doch über die Frechheit des Gangrel.
Langsam lehnte dieser sich im Sattel zurück und sah die Tzimisce mit erneut nachdenklichem Blick an. „Ich habe nie behauptet, dass dein Erzeuger Almosen an Bedürftige verteilt oder kleine Kinder auf den Knien schaukelt. Wenn er ein Unhold ist, dann gehe ich bereits davon aus das seine… Vorstellungen nichts mit Weltfrieden und Glückseligkeit zu tun haben, keine Sorge. Solange er nicht schlecht für die Domäne oder dich ist, soll es mir gleich sein wie lange er in Gent bleibt oder wie oft du ihn siehst. Bisher war er eine Hilfe, als wir sie bitter nötig hatten. Hoffen wir, dass er das auch weiterhin zu bleiben gedenkt.“ Mit einer Hand, fischte er einen Apfel aus den Satteltaschen und hielt ihn Ajax von der Seite her hin. Der genügsame Brabanter machte große, gierige Augen und biss etwas unbeholfen die Hälfe ab.
Der Hauptmann tätschelte ihm die Flanken. „Als der Wald von diesem giftigen Geisterwesen heimgesucht wurde, dachten wir nach all den Strapazen ihn besiegt zu haben. Dem war aber nicht der Fall, wie mir eines nachts eine merkwürdige Schamanin meines Clans aus dem fernen Schottland mitteilte. Um das Land zu reinigen, so meinte sie, sei es notwendig die Samen einer bestimmten Pflanze auszusähen, die nicht in Flandern wachsen würde. Sie selbst benötigte ebenfalls ein anderes Kraut, um der Christianisierung auf ihrer Insel entgegen zu wirken.“ Er schmunzelte. „Frag mich nicht, wie das funktionieren soll, aber das waren ihre Worte. Jedenfalls schickte sie mich nach Sizilien, wo in einem prachtvollen Garten genau diese Samen zu finden wären. Ich solle die Samen besorgen, sie würde dafür den Ritus vollziehen, der meinen Wald heilen sollte. Nach einem kurzen Beweis ihrerseits, willigte ich ein und reiste dorthin.“ Wiederum grinste er. „Oh, der Beweis ist übrigens der üppig wuchernde Pfirsichbaum in Lilianes Garten. Ich habe ihn im Winter gepflanzt und in nur vierundzwanzig Stunden, war er schon so hoch wie eine Hecke. Ich werde dir ersparen davon zu erzählen, wie die Schamanin das hinbekommen hat.“ Er räusperte sich. „Auf jeden Fall reiste ich zur Insel und um es kurz zu machen, brach ich in guter alter Manier mit Hilfe eines Einheimischen in diesen Garten ein. Wie sich herausstellte, handelte es sich bei diesen um den Besitzer, Friedrich. Interessanterweise wusste er über unsere Art bestens Bescheid, zeigte sich kein bisschen verwundert über mich. Im Gegenteil, er war beeindruckt wie ich die Sicherheit seines Palastes umging und bot mir eine Stelle als Sicherheitsberater in seinen Diensten an. Ich bat um Bedenkzeit und gab ihm zu verstehen, dass ich mich bei ihm melden würde, sobald ich zu einem Entschluss gekommen wäre. Er ließ mich mit den Samenkörnern ziehen und seitdem haben wir einander nicht mehr gesehen. Offenbar ist er nunmehr in Aachen und möchte im Zuge dieses Besuchs, meine Entscheidung wissen. Immerhin hatte ich nun ein paar Jahre Zeit zu überlegen.“ Er sah sie eindrücklich an und es lag weder Spott noch Belustigung in seiner Miene; der Gangrel sprach offenbar die reine Wahrheit.
Alida machte große Augen. „Ernsthaft?“ Sie wartete während die Pferde weiter trabten darauf, dass auch er laut zu prusten beginnen würde, aber das Auflachen blieb aus. „In Ordnung… Unsere Wege scheinen mitunter durchaus die von anderen zu kreuzen mit denen wir nie gerechnet hätten.“ Leiser, wie zu sich selbst, fügte sie hinzu. „Hm, davon kann ich wohl selbst ein Lied singen…“

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Er gab keine Antwort mehr, sondern nickte lediglich langsam. „Es hat mich dazumal genauso überrascht wie dich jetzt aber es ist die Wahrheit. Noch bin ich mir nicht ganz sicher, ob das eine glückliche oder verhängnisvolle Begegnung war aber ich muss versuchen sie für mich zu nutzen, wenn ich kann. Es passiert nicht jeden Tag, dass wir… in der Gunst eines Kaisers stehen.“ Offenbar war ihm die ganze Situation ebenfalls ein wenig zu viel – zu viel, als dass jemand wie er sie hätte völlig erfassen oder verdauen können. Dann sah sie ihn wieder an. „Du reist also nach Aachen weiter... Willst du in Gent Zwischenstopp einlegen? Die Betten im Hause Belinkov sind weich und fast flohfrei. Und definitiv sind die Zimmer schön dunkel.“ Sie lächelte ihm aufmunternd zu.
Sein Kopf wogte hin und her, schließlich aber nickte er. „Ich will deinem Erzeuger keine Umstände machen oder euch… von wichtigen Geschäftsbeschlüssen abhalten. Ein dunkles Bett in einer lichtleeren Kammer für einen Tag ist völlig ausreichend. Du würdest mir damit sicher sehr helfen.“ Seine Lippen umspielte ein boshaftes Lächeln. „Zu Madame Borluut kann ich ja schlecht ohne meinen Gefährten eilen, was macht das denn für ein Bild, wenn ich plötzlich nur alleine Quartier beziehe?“ Er grinste. „Außerdem habe ich wenig Lust mich mit den Gentern abzugeben. Mag sein, dass sie politisch wichtig sind; mögen muss ich sie deshalb noch lange nicht.“
Alida schmunzelte. „Und nach allem was ich gehört habe, wird die gute Margarethe auf dich höchstwahrscheinlich nicht gut zu sprechen sein, nachdem du ihren Bruder in einem kleinen Freudenfeuer rösten lassen wolltest… Nur so ‚ne Vermutung.“ Sie beobachtete die Regungen im Gesicht des Gangrel.
„Du weißt, dass mir schon immer egal war, was die Leute von mir denken. Das ist auch mein größtes Problem in Sachen Politik. Ich treffe meine Entscheidungen selbst. Die sind nicht hübsch oder ansehnlich, erfreuen nicht die Herzen der lieben Menschen und füllen nicht die Geldbeutel der Reichen oder Einflussreichen. Sie sind manchmal nicht mal besonders klug oder vorausschauend, aber es sind meine Entscheidungen und ich hatte noch nie ein Problem damit, mit ihnen zu leben. In meinen Augen ist ihr Bruder nach wie vor ein schwacher Mitesser; ein weiteres Maul, das wir durchfüttern müssen, nur, weil diese Koalition mit Brügge und Gent regelmäßig mit Schmeicheleien gegossen werden muss. Selbst Kobalt hat wahrscheinlich mehr Eier als Lorenz.“ Er lächelte grimmig. „Aber der Junge hat noch Zeit mich zu überraschen. Vielleicht wird er ja eines Tages tatsächlich ein Gewinn für uns, aber das hat er allein selbst in der Hand. Eine Schwester, die mich zum Nosferatu werden lässt und mich dann in die Kanalisation abschiebt, hat ja anscheinend wenig Skrupel. Wenn er erst mal diese Stufe erreicht hat, bekommt er von mir ein Nicken. Dann ist er so marode wie wir alle, aber stark genug in dieser Welt zu überleben.“
Alida zuckte nur mit den Schultern. Man sah ihr an, dass sie sich kein Urteil über den jungen Nosferatu erlauben wollte.
In einigen Hundert Metern Entfernung hörten sie das Lachen von Jungen und das anschließende laute Fluchen auf Russisch. Anhand des Hufgetrappels konnte man annehmen, dass Konstantin und Hendrik sich dazu entschlossen hatten sich ein Wettrennen zu liefern und der Wiedergänger alles andere als erbaut über diese Gegebenheit schien.
Luciens Augen glitten nach vorne, während sich ein Schmunzeln über seine Lippen stahl. Genügsam verfolgte er das Wettrennen der beiden Jungen; wandte sich dann im Anschluss wieder zu Alida um. „Es könnte sein, dass ich aus Aachen nicht mehr wiederkehren werde. Das Angebot des Kaisers ist sehr verlockend, nicht weil ich die Politik oder den deutschen Hof schätze, sondern aufgrund der Möglichkeiten für uns als Domäne. Ich werde ihm meinen Preis nennen, für meine Dienstbarkeit. Gut möglich, dass ich dann erst mal ein paar Jahre gebunden sein werde. Bis dahin müsst ihr den Laden allein schmeißen, falls notwendig.“
Ihre Augen weiteten sich. „Das wäre eine Sache, die mir natürlich nicht in den Kram passt. Aber so ist das halt mit dem, was wir Leben, oder wie du immer so betonst ‚Unleben‘, nennen, nicht wahr? Wir werden sehen, was Friedrich von dir will. Ich bin gespannt.“
„Es ist die perfekte Möglichkeit Bischof Martin loszuwerden, ohne einen Vergeltungsschlag befürchten zu müssen. Wenn Friedrich einen Sitz in einer großen Diözese freimachen könnte und mit Martin besetzen könnte, wäre er endlich so weit von uns entfernt, dass sein langer Arm uns nicht mehr, oder zumindest nur mehr schwer erreichen könnte. Noch vor den Tremere ist er die größte Gefahr für uns, denn ein Krieg gegen ihn, ist ein Krieg gegen die Kirche und damit die Menschen. Den verlieren wir ohne Wenn und Aber. Genau wie du bin ich gespannt, was der Kaiser von einem Unsterblichen will.“
Sie versetzte ihr Tier in einen leichten Galopp. „Ich geh mal nachschauen, was die Jungs treiben. Ivan eignet sich nicht wirklich zum Kinderhüten. In seiner Familie geht es zwischen Kindern und Erwachsenen ein klein wenig anders zu als bei uns… Da herrschen Zucht und Ordnung“ Sie grinste.
Lucien zog am Zügel und versetzte den gemächlichen Ajax in einen schnelleren Galopp um mit Alida mitzuhalten. Breit erwiderte er ihr Grinsen. „Oh, das kann ich mir vorstellen.“


Die kleine, fünfköpfige Gruppe ritt die Nacht hindurch. Sie kamen in der kühlen, herbstlichen Spätsommernacht gut voran und erkannten bereits zwei Stunden vor der erwarteten Ankunft die hohe Stadtmauer und die breiten Türme der flandrischen Metropole.
Überraschenderweise zeigte Hendrik im Gegensatz zu dem sieben Jahre älteren Konstantin keine Zeichen von Müdigkeit, sondern bestaunte mit großen Augen die Flaggen mit dem Genter Löwen und die wehrhafte Befestigungsanlage. Auch Ivan wirkte munter wie zu Beginn der Nacht.
Die Genter Kanäle schienen, genau wie die Straßen, unverändert durch die Geschehnissen des letzten Winters, als hätte nie ein Tumult oder eine Beinahe Revolte stattgefunden. Wieder einmal war mehr als deutlich, wie wenig die Sterblichen doch vom Treiben der Kainiten mitbekamen.

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Das Anwesen des Tsimiske lag am Rand der Stadt und stand fast ein wenig einsam in dem Stadtviertel. Ein kurzer Blick auf die Umgebung und Lucien wurde klar, dass um das große Haus wahrscheinlich ursprünglich Lagerhallen und andere Gebäude gestanden haben mussten, die man aber ohne lange Überlegung dem Erdboden gleich gemacht hatte. Eine mehr als mannshohe Mauer machte auf den ersten Blick deutlich, dass man hier seine Privatsphäre mehr als schätzte, und es sinnvoll für den einfachen Passanten wäre, mehrmals zu überdenken, ob es wirklich notwendig war sich ungefragt dem Gebäudekomplex zu nähern.

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Das Anwesen selbst erinnerte eher an eine Festung als an ein Stadthaus und wirkte kalt und wenig einladend. Lucien fiel der auffällige Gegensatz zu dem großen, in Gärten gelegenen und mühsam restaurierten Palast in Genua auf.

Ivan bestand darauf Alida aus dem Sattel zu helfen und führte die Tiere der nächtlichen Reisenden anschließend in den Stall. Zwei Knechte waren bereits auf ihn zugeeilt und nahmen die Tiere mit einem lauten russischen Wortschwall, der mit den harten, abgehackten Worten fast bedrohlich klang, entgegen.
Alida deutete auf das breite Eingangsportal, das ungewöhnlicherweise im ersten Stock gelegen war. Sie wechselte einige leise Worte mit Konstantin und trat dann an die Treppe heran, die nach oben führte.

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Lucien stieg ebenfalls aus dem Sattel und übergab die Zügel einem der grollend russisch sprechenden Bediensteten oder Wächtern. Ein letztes Mal an diesem Abend tätschelte er Ajax und fütterte ihn mit einem besonders saftigen Apfel. Den hatte sich das Pferd redlich verdient. Noch während er sich die schweren Handschuhe auszog, wanderten seine Augen über das stattliche Anwesen; überflogen die Giebel und Fenster, die solide mannshohe Mauer mit ebenso breitem Torbogen und musterten im Anschluss die fleißige Dienerschaft. Vom kleinen, verfallenen Palazzo in Genua, hatte sich der Unhold scheinbar in eine, in erster Linie funktionelle Bastion in Gent zurückgezogen. Die Geschäfte mussten gut laufen.
Schmunzelnd sah er zu Alida. „Ihr Drachen habt scheinbar eine Vorliebe für… besondere Anwesen und Domizile. Aber ich hörte ja bereist, dass euch eure Zufluchten heilig sind.“ Unsicher seufzte er und beobachtete die beiden Jungen. „Die Jungs sind hier zumindest soweit sicher.“ Etwas verlegen fragte er dann erneut: „Und es ist wirklich in Ordnung, wenn ich kurzfristig hier unterkomme? Ich habe das Gefühl, dass ihr Unholde vielleicht lieber für euch sein wollt?“
Alida schmunzelte. „Ich bin mir sicher. Wenn du es nicht gerade vorziehst bei Madame Borluut zu nächtigen, empfehle ich dir dieses Haus. Wer weiß, wer sonst mittags zum Putzen und Bett machen vorbeikommt, wenn du woanders den Tag verbringen willst? Hier hast du deine Ruhe. Emilian weiß, dass ich große Stücke auf dich halte. Er wird nichts dagegen haben…“
„Ach, tust du das?“, quittierte er noch kurz grinsend als sie ihm dies offenbarte.
Lucien erkannte aus den Augenwinkeln eine Gestalt am Treppenende.

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Ganz offensichtlich war die Ankunft der Reisenden nicht unbemerkt geblieben. Anhand des makellosen Äußeren und der wellenartigen braunen Locken konnte er den Kainiten, der diesem Haus vorstand, ausmachen. Ein freudiger Ausdruck huschte über das Gesicht des Unholds als er Alida erkannte, der fast ein wenig an das Strahlen erinnerte, das Hendrik an den Tag gelegt hatte, als Lucien ihm mitteilte, dass er ihn gern mitnehmen wollte. Dann erblickte der Mann den Rest der Gruppe und der Ausdruck wandelte sich zu einem beherrschten, überlegten Lächeln. Er trat ihnen einige Schritte entgegen und verharrte schließlich am Fuß der Treppe.
Hendrik schien sich zu freuen und wollte dem Kainiten wohl entgegen gehen, doch Konstantin hielt ihn am Hemd zurück und sah ihn beschwörend an. Der Achtjährige verzog unwillig den Mund, fügte sich aber.
Die Begrüßung der beiden Unholde verlief, wenn man es so ausdrücken wollte, geschäftsmäßig: wie unter Händlern üblich, wurde sich die Hand gereicht, man tauschte ein paar belanglose Floskeln über das Wetter und die Reise aus, bis der Gastgeber ein paar freundliche, höfliche Worte an die anderen Reiseteilnehmer richtete. Ob der Unhold wirklich nichts dagegen hatte, dass Alida geplant hatte ein paar mehr Besucher bei ihm einzuquartieren, konnte man seinem fast regungslosen Gesicht nicht entnehmen. Er nickte jedoch einverstandenermaßen.
Erst als Alida entschuldigend erklärte, sie hätte noch eine Kleinigkeit in Gent zu erledigen und wäre in spätestens einer Stunde wieder zurück, konnte Lucien ein enttäuschtes Zucken um die Mundwinkel des Drachen erkennen. Alida nickte Konstantin aufmunternd zu und forderte auch Hendrik auf sie beide zu begleiten. Kurzzeitig presste der Junge die Lippen aufeinander und es war ihm anzusehen, dass er vieles wollte, aber sicher nicht erneut aufbrechen. Er warf hoffnungsvolle Blicke zu den beiden dunkelhaarigen Männern, ob einer wohl für ihn Partei ergreifen würde.

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Dann schluckte er fast ein wenig wütend seinen Frust hinunter und schloss sich den beiden Brüggern an, die erneut Richtung Ausgang schritten.
Mit Ausnahme der Russen, die in den Stallungen zu schaffen hatten, waren die beiden Männer nun allein.
Lucien verfolgte den Auftritt Sergej Belinkovs mit verhalten-schiefem Lächeln, warfen doch die neuesten Erkenntnisse, die er soeben durch Alida erfahren hatte ein völlig neues Licht auf das Verhältnis der Brügger Tzimisce zu dem russischen Händler, über den man im Grunde bisher nicht allzu viel zu berichten wusste.
Lucien beobachtete die recht formlose Begrüßung zwischen Erzeuger und Kind, die eine interessante Gleichberechtigung anmuten ließ, die tatsächlich eher unter Geschäftsleuten als unter buchstäblichen Blutsverwandten üblich gewesen wäre. Offenbar hatte man bereits großzügig Zeit gehabt sich miteinander auszutauschen und jedes noch so kleine Detail zu klären. Sie wirkten ruhig und respektvoll im Umgang miteinander, etwas, dass die wenigsten Kinder von ihren Erzeugern erwarten durften.
Der Gangrel nickte Belinkov alias Emilian höflich zu. „So sehen wir uns wieder, Sergej Belinkov, oder sollte ich euch wohl mit eurem wahren Namen ansprechen? Emilian?“ Es lag kein Vorwurf, keine unterschwellige Drohung oder Anklage in seinen Worten, lediglich die Feststellung, dass Lucien Bescheid wusste. Mit offenen Karten zu spielen, war ihm in dieser Sache ein persönliches Anliegen. Immerhin handelte es sich um Alidas Erzeuger. „Ihr habt es euch wirklich hübsch eingerichtet in Gent, obgleich ich die Stadt selbst ja nicht besonders bemerkenswert finde. Warum gerade diese Stadt? Wollt ihr eurem Kind nicht näher sein? Ich bin natürlich nicht über die näheren Umstände eures… Verhältnisses und eurer eigenen Situation informiert, aber ich bin davon überzeugt, dass auch Brügge mit einigen soliden Wehrtürmen und dicken Mauern aufwarten kann an denen ihr sicher Gefallen finden dürftet?“ Der Hauptmann sah Belinkov interessiert abwartend an.
Der braunhaarige Mann hatte noch einen Moment in die Richtung gesehen, in die Alida mit den beiden Jungen verschwunden war. Er unterdrückte ein Kopfschütteln und wandte seine Aufmerksamkeit wieder Lucien zu. Ein leichtes Lächeln erschien auf seinen Zügen. „Es freut mich, dass ihr heute Nacht mein Gast sein wollt, Hauptmann. Wann haben sich unsere Wege zuletzt gekreuzt?“ Er überlegte und schien zunächst nicht auf Luciens weitere Fragen einzugehen. „Ja… letzten Winter. In dieser leidlichen Sache, in die der Genter Rat verwickelt war. Euer Heiler, eure Toreador und Ihr, ihr habt ihnen wohl den Kopf gerettet.“ Er nickte anerkennend.
Der Gangrel nickte und verbeugte sich leicht. „Ich sehe es tatsächlich als Ehre von euch in dieser Nacht beherbergt zu werden. Die Gastfreundschaft der Drachen ist allgemein bekannt, aber nur selten wird sie einem gewährt. Ihr werdet meine Anwesenheit allerdings nicht zu lange ertragen müssen.“ Er schmunzelte. „Bereits morgen Nacht breche ich wieder auf; eine längere Reise, die mich weit hinter die Grenzen Flanderns führt.“ Ein ehrliches Lächeln huschte über seine Mundwinkel, als er ebenfalls angestrengt überlegte. Ja, wann war er ihm wirklich zuletzt begegnet? Es mochte wohl tatsächlich während dieser ermüdenden und kraftraubenden Tage und Nächte gewesen sein, da Leifs Ghul John die französischen Höfe, und allen voran Jaques de Camargue, gegen die Brügger Ratsmitglieder auf dem politischen Schlachtfeld von Gent ausspielte. „In der Tat“, glaubte er sich zu erinnern. „In der Tat muss es wohl in diesem Winter gewesen sein. Eine wirklich leidliche Sache, in welche die Stadt damals verwickelt war. Umso mehr freue ich mich nunmehr Wachstum und Frieden in den Straßen und Gassen zu sehen. Und es war eine reine Selbstverständlichkeit, schließlich besteht das starke Bündnis der Städte Gent und Brügge nach wie vor. Ein Pakt, der sicher auch euer Wohlwollen als Händler finden dürfte.“
Emilian sah ihn einen Moment zu lang, mit einem fast skeptischen Ausdruck an. Dann schmunzelte er erneut. „Frieden und Wohlstand können durchaus den Absatz von Waren erhöhen. Ein Krieg dagegen steigert den Verkauf von manchen Gütern um ein Vielfaches. Aber natürlich befürworte ich Ruhe und Frieden. Wohlstand ist auch eine gute Sache.“ Was immer der Unhold über das Städtebündnis denken mochte, er schien Lucien nicht abzunehmen, dass dieser an Wachstum, Friede und ein starkes Städtebündnis glaubte und verkniff sich ein verräterisches Grinsen.
„Da der Rest meines Besuches wohl noch anderen Geschäften nachzugehen hat… Wollt ihr mich ein paar Schritte durch die Stadt begleiten, Hauptmann? Ich selbst habe ebenfalls noch eine Kleinigkeit, die erledigt gehört.“ Er deutete mit der Hand Richtung Stallungen. „Und die Männer haben heute Nacht schon genug geleistet. Ich will sie also nicht mit Kleinkram belästigen.“ Anhand seines Schmunzelns konnte man annehmen, dass wohl noch mehr dahinter steckte.
Der Gangrel war offensichtlich noch weit weniger in den höfischen Umgangsformen, geheuchelten Höflichkeiten und belangloser Kommunikation geübt, als er selbst von sich angenommen hatte, denn offenkundig hatte der russische Händler ihn zweifelsohne vollkommen durschaut. Auf das hochgepriesene Städtebündnis gab er nur insofern etwas, dass es Brügge Truppen und Schwerter zukommen lassen würde, falls sich eine erneute, bewaffnete Bedrohung gegen die Tore der Stadt drängen sollte. Gewiss gab es noch zahlreiche andere Vorteile, die spitzzüngige Aristokraten, geschickte Politiker und wohlwollende Diplomaten hervorgehoben hätten. Ganz sicher in einer üppigen Rede voller geschliffener und wohlgewählter Worte – ihm selbst war es im Grunde jedoch herzlich egal. Und Emilian alias Belinkov wusste das; war aber eloquent und weltmännisch genug ihn nicht damit bloßzustellen. Ein feiner, edler Zug des Unholds. So erwiderte Lucien lediglich das Lächeln des gelockten Mannes vor ihm; stets in dem sicheren Wissen, dass beide Männer vollends über die Wahrheit aufgeklärt waren und in gemeinsamen Stillschweigen darüber einander Respekt zollten. Mit einem knappen Schulterzucken, nickte der Hauptmann erneut. „Es wird mir ein Vergnügen sein euch zu begleiten. Ihr seid ohne Frage um einiges besser über die aktuelle Lage der Stadt informiert als ich und könnt mir wohl auf dem Wege noch das eine oder andere Interessante erzählen.“ Erzeuger hin oder her aber dieser Spaziergang gefiel ihm dennoch nicht. Weigern wäre aber selbstredend ein Affront gewesen. So machte er lediglich eine einladende Handbewegung. „Nach euch.“


Sie verließen das festungsartige Anwesen. Obwohl er vorhin Alida um nur wenige Zentimeter überragt hatte, schritt der Fleischformer nun auf Augenhöhe neben dem hochgewachsenen Hauptmann her. Er hatte die Hände auf den Schwertgurt gelegt und schien zu überlegen. „Den Namen Belinkov braucht ihr nicht zu verwenden. Es sei denn, euch liegt viel daran. Er wurde mir einst von einem Clansbruder verabreicht, den ich am liebsten aus meinem Gedächtnis streichen würde… Nun ja… folglich hänge ich nicht sehr daran. Victorovich… oder Emilian.“ Er hielt einen Moment inne. Die Straßen, durch die sie gingen, waren verlassen und menschenleer. Offensichtlich verirrten sich nur wenige in diese Viertel. „Alida hat euch also eingeweiht? Sie hält viel von euch.“ Er fixierte den Gangrel. „Euren Wert habt ihr damals in Genua bewiesen. Sie vertraut euch.“

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Der Hauptmann schritt an der Seite des Unholds, ließ diesen jedoch den Weg durch die nächtlichen Straßen finden. Allein schon aus dem Grunde, weil nur dieser sein Ziel kannte, wenn es denn überhaupt eines gab und zum anderen durfte sich der Drache trotz allem um einiges besser in Gent zurechtfinden als er selbst. Als er angesprochen wurde, nickte er langsam. „Sie hat mir dereinst von ihrem Erzeuger erzählt, der sie verließ und der gen Osten wanderte. Viel mehr weiß ich nicht über euch, seid ganz beruhigt. Es erschien mir nur merkwürdig, dass sich unsere blonde Händlerin seit neuestem so für Gent zu interessieren schien und für einen darin lebenden Tzimisce des Ostens. Bedenkt man den Angriff Volgars auf unsere Stadt, dürfte sich die Freude für andere Drachen, noch dazu aus dem Osten, eigentlich in Grenzen halten. Tja, schlussendlich fragte ich sie ganz einfach und sie gab mir Antwort; nahm mir jedoch das Versprechen ab es nicht weiter zu erzählen. Das Bild ist jetzt um einiges klarer für mich.“ Erneut nickte er abschließend. „Ein Bild, dass niemand anderes zu sehen bekommen wird, darauf könnt ihr euch verlassen.“ Seine Augen wanderten nun ebenfalls ein wenig suchend die Umgebung ab. „Und ja, ich denke, dass sie mir soweit vertraut. Ich vertraue ihr ebenfalls.“ Lucien grinste und warf einen Seitenblick zu Emilian. „Aktuell interessanterweise sogar mehr als einigen anderen in unserer Stadt.“
Emilian lachte kaum hörbar. „Vertrauen ist seltsame Sache: gefährlich und kostbar.“ Er zuckte mit den Schultern als gäbe es dazu nichts mehr zu sagen. „Die Vergangenheit scheint einen immer wieder einzuholen. Man kann versuchen vor dem Osten, seinem Blut, seiner Familie davon zu laufen, aber zu guter Letzt findet man sich, ob man will oder nicht, im Herzland der Unholde wieder, umringt von grimmigen, schwerstbewaffneten Tsimiske. Alida und ich, wir sind Drachen. Auch wenn man diese Tatsache, so wie Alida all die Jahre, auszublenden versucht, sie lässt sich auf Dauer nicht verdrängen.“ Er stieg, ohne wirklich nach unten zu sehen, über ein paar Latten, die jemand wohl zum Verrotten auf die Mitte der Straße geworfen hatte. „Ihr habt vorhin eine interessante Frage aufgeworfen: Gent oder Brügge? In der Tat interessiert mich diese Stadt hier, auch wenn sie eindrucksvoll, wehrhaft und reich ist, nur in Bezug auf ihre Produktionskraft und den hier vorhandenen Absatzmarkt.“ Er lächelte schief. „Bei Brügge ist das aus vielen Gründen anders… Allerdings gibt es Leute, die mich nicht gern in Brügge sehen wollen. Es würde in der sterblichen und kainitischen Welt Fragen aufwerfen, wenn ich meinen Hauptsitz dorthin verlegen würde. Und würde der Rat einen weiteren Unhold in der geliebten Stadt aushalten können? Wohl kaum.“ Er lachte, wie um auszudrücken, wie unsinnig die Frage eigentlich war, dann schwieg er einige Sekunden. „Ich denke, es ist kein schlechter Anfang hier in Gent zu beginnen…“

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Der Weg zum Ziel beginnt an dem Tag, an dem du die hundertprozentige Verantwortung für dein Tun übernimms.
Dante Alighieri


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BeitragVerfasst: Mi 28. Sep 2016, 21:35 
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Der Gangrel schritt neben ihm, musterte die wenig geläufige Umgebung und wich allgegenwärtigen Hindernissen wie Unrat, verrottendem Holz und öligen Regenfässern aus. „Ich gehöre zu den sogenannten ‚niederen‘ Clans, eine Bezeichnung, die manch einer als Herabwürdigung verstehen möchte. Mittlerweile habe ich die erfreuliche Erfahrung gemacht, dass dieser Status einem ungeahnte Freiheiten offenbart. Die hohen Herrschaften sind viel eher darauf erpicht als geeinte Front in Erscheinung zu treten, auch wenn die Wahrheit ganz anders aussehen mag.“ Er lächelte den Unhold an. „Ich habe ihr auch gesagt, dass sie sich nicht vor ihrem Erbe verstecken kann. Es bringt nichts so zu tun, als wäre man jemand anders und wir haben schon früh gelernt, dass ein paar schöne Wörter und ein eifriges Nicken oft mehr wert sind als vehementer Widerstand. Das nennen die hier für gewöhnlich Politik.“ Seine Mundwinkel zogen sich ein gutes Stück nach oben um sein Amüsement zu unterstreichen. Dann hoben sich die Schultern, als er einem stinkenden Haufen Rattenkot auswich, um den sich Mücken und Fliegen sammelten. „Das Geheimnis an Brügge ist, dass niemand mehr wirklich fragt. Wir haben allein durch unseren lustigen Rat die gängigen Herrschaftssysteme in Frage gestellt. Was bei uns so ein und ausgeht, wird anderswo nicht einmal eines Blickes gewürdigt. Insofern denke ich nicht, dass euer Umzug besonders viel Aufsehen erregen würde, obgleich Gent sicher für einen Händler ein guter Basisposten sein mag.“ Seine Augen hoben sich in den Nachthimmel. „Und vielleicht werdet ihr mit missbilligen Blicken bedacht werden, gerade deswegen, weil niemand um eure wahre Verbindung zu Alida weiß und auch nicht wissen soll. Trotzdem glaube ich, dass wir eine solide und verlässliche Verstärkung wie euch brauchen könnten. Momentan beginnen alle langsam zu verweichlichen und die alte Leier vom ‚Guten‘ im Menschen herunterzubeten. Eine Diskussion um grundsätzliche Werte und Einstellungen, in der Stimmen laut werden die zuvor ganz andere Meinungen vertraten. Andere sogenannte ‚Weise‘ suhlen sich währenddessen in Selbstmitleid. Es hat einen Grund, warum wir die Meister des Argwohns sind: Vertrauen gewährt man nicht einfach so, man muss es sich verdienen.“
Der ehemalige Belinkov schmunzelte bei Luciens Worten und musste dann tatsächlich lachen. „Mich als verlässliche Verstärkung in Brügge? Ihr wollt euch einen Drachen in eure Domäne holen? Wer sagt euch, dass ich nicht dazu tendiere, innerhalb von kürzester Zeit mittels angeheuerter Assamiten, blutdurstiger Voydz und loyalen Küken die Herrschaft über die Stadt an mich zu reißen und sie meinen östlichen Vettern vor die Füße zu legen?“ Er sah den Gangrel verschmitzt an. Ganz offensichtlich waren die angedrohten Absichten tatsächlich nicht im Interesse des Tsimiske. Er nickte Lucien zu und es sah fast wie eine angedeutete Verbeugung aus. „Das Vertrauen, das ihr in mich setzten wollt, Hauptmann, ehrt mich sehr.“ Kurz kaute er überlegend auf seiner Unterlippe bevor er Lucien erneut ansprach. „Ich tendiere dazu, soweit ich kann, neutral zu bleiben. Ab und an ein kleiner Gefallen an den Osten, eine unterstützende Warenlieferung, zur Not mal ein Slachta, wenn wirklich Not am Mann ist und die Tremere eine unserer Festungen belagern, aber mehr versuche ich, soweit es mir möglich ist, zu vermeiden. Auf diese Weise habe ich einige Jahrzehnte recht gut überlebt.“ Kurz schien er seinen eigenen Gedanken nachzuhängen. „Wer weiß, was sich in Zukunft ändern wird…“ Er ging weiter und deutete schließlich auf ein verwittertes, kaum lesbares Schild, das über einer Tür angebracht war.

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„Oh, wir sind da.“

Lucien nickte gemächlich und sichtlich erheitert vom Sarkasmus des Drachen. „Oh ich bin überzeugt davon das könntet ihr alles in die Wege leiten, aber meiner Erfahrung nach, gehen sich Drachen zunächst einmal selbst an die Gurgel, bevor entschieden ist, wer sich dem Feind entgegenstellen darf. Und bis ihr und Alida euch darauf geeinigt habt, dürften selbst die dümmsten Mitglieder unserer Stadt den offensichtlichen Braten gerochen haben. Madame van de Burse hat einen Schädel aus mehreren Lagen Granit.“ Er bleckte grinsend die Zähne, bevor er den Blick in Richtung des Schildes hob. „Was sich in Zukunft ändern wird, kann ich euch schon jetzt sagen, Meister Belinkov.“ Der Gangrel sah ihn lange an. „Wenn man dieses Spiel spielt, muss man sich zwangsläufig für eine Seite entscheiden. Die Sicherheit einer Domäne, deren Schutz und Pflichten man sich unterwirft wird die eigene Spielwiese. Entweder man beugt sich dem oder man hält sich vollkommen aus dem ganzen Wahnsinn heraus. Über kurz oder lang wird es niemanden geben der neutral ist, mit Ausnahme der Mächtigsten unter uns. Alles andere wird zum Spielball des Jihad.“ Kurz pausierte er, dann endete er knapp. „Zumindest ist das meine knappe Erfahrung in all den Jahren des Brügger Rates, und wenn ich euch einen Rat geben darf: Zögert nicht zu lange mit euren Entscheidungen. Sie mögen falsch sein aber immerhin dürft ihr sie noch selbst treffen.“ Dann wechselte er kurzerhand das Thema. „Wo sind wir?“
Emilian trat näher an die Eingangspforte heran. Er ließ sich Luciens Worte offensichtlich durch den Kopf gehen. Dann deutete er erneut auf den Eingang. „Das hier ist eine Schmiede. Der Meister ist ein Mann aus Russland, der sich als Deserteur zu Recht nicht zurück in die Heimat traut. Er ist ein formidabler Handwerker, spricht aber leider noch kein einziges Wort Flämisch. Aus diesem Grund sind seine Preise niedrig und seine Waren hervorragend. Ich habe vor wenigen Tagen etwas bei ihm in Auftrag gegeben.“ Er klopfte zwei Mal bestimmt an die Tür und wartete. Es dauerte wohl an die zwei Minuten bis ein verschlafen aussehender Mann, der sich notdürftig Hemd und Hose übergeworfen hatte, in der Tür erschien. Beim Anblick des Russen fiel er sofort in eine tiefe Verbeugung, aus der er sich scheinbar gar nicht mehr erheben wollte. Erst als Emilian ihn in zunächst freundlichen, dann, als der Ladenbesitzer nach wie vor nicht daran dachte sich zu erheben, in heftigerem Ton in Russisch ansprach, kam der Mann wieder auf die Füße. Auch vor Lucien wurde sich heftig verbeugt.
Er führte sie, sich immer wieder kurz während dem Laufen verneigend, in den hinteren Teil des Ladens, an den die Schmiede angegliedert war. Einige Zeit wühlte er in Kisten und Schränken herum bis er einen länglichen in Stoff eingewickelten Gegenstand hervor zog, den er an den Unhold weiter reichte.
Emilian zog das Tuch zur Seite und betrachtete die Klinge von allen Seiten. Langsam ließ er das Schwert im Licht des Mondes aufblitzen. Lucien erkannte ein scharfes, leichtes Schwert.

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Der Gangrel warf einen interessierten, vielleicht sogar leicht kritischen Blick in Richtung des Unholds bevor er die Arme verschränkte und der Dinge harrten, die da kommen mochten. Die ehrwürdige Verneigung, aus die der Mann sich gar nicht mehr erheben wollte, kommentierte er nicht weiter; folgte Emilian lediglich in die Räumlichkeiten der kleinen Schmiede. Nachdem dieser ein schlankes, frisch poliertes Schwert überreicht bekam, zog er leicht eine Augenbraue nach oben. „Mir scheint es hat eine besondere Bewandtnis mit dieser Klinge, sonst hättet ihr jeden anderen formidablen Handwerker in der der Stadt aufsuchen können? Offenbar musste es aber ein Russe sein, warum?“
Emilian nickte Lucien anerkennend zu, lachte dann ein Mal auf. „Ihr habt gut kombiniert, Hauptmann. Dies ist eine russische Klinge, vor wohl zwei Jahrhunderten geschmiedet. Sie wurde Alida im Osten für den Kampf zur Verfügung gestellt und hat ihr gute Dienste geleistet, darunter aber so gelitten, dass sie ausgebessert werden musste. Das Schwert gehörte meinem Vater, also hat sie es mir zurück gegeben. Ich gedenke, es ihr zu schenken. Es war die Klinge mit der er in seiner Jugend trainierte und ist hervorragend geeignet, wenn man weniger auf Kraft, sondern auf Geschick und Schnelligkeit kämpft. Bei ihr ist sie besser aufgehoben und ich denke mein Vater hätte nichts dagegen.“ Er überreichte dem Schmied einen kleinen Lederbeutel, dessen Klingeln den Mann sofort wieder in eine Verbeugung versinken ließ. Dann machte er sich daran das Gebäude zu verlassen.
Lucien nickte respektabel und beobachtete wie Emilian die Arbeit des Handwerkers im Schein der flackernden Kerzen prüfte und inspizierte. Das matt-metallische Funkeln der frisch geschliffenen Schneide, die knappe Fehlschärfe und die filigranen Gravuren machten augenscheinlich deutlich, dass dieses Schwert ein meisterliches Einzelstück war. „Geschwärzter Stahl und eine leicht gebogene Form.“ Der Gangrel lächelte grimmig. „Schnelligkeit und Geschick sind gewiss vonnöten um eine solche Waffe zu führen; ein doppelt gehärtetes Reiterschwert dem Schwung nach. Ich glaube, es ist ein würdiges und kostbares Geschenk, das ihr eurem Kind zu machen gedenkt. Und immerhin bleibt es in der Familie, solange der Träger es zu führen weiß. Mittlerweile wird Alida dazu zweifelsfrei in der Lage sein, wir haben hoffentlich lange genug geübt.“ Gemeinsam mit dem Unhold verließ er die Schmiede; nickte dem Russen, der ihn ohnehin nicht verstehen würde, lediglich knapp zu.
Emilian verstaute die Klinge in der mit farbigen Bändern umwickelten Scheide rechts an seinem Schwertgehänge. „Alida hat viel mit euch geübt. Ihr habt sie während des Trainings hart gefordert, hat sie erzählt. Um ehrlich zu sein: Ihre Fähigkeiten im Schwertkampf überragen die meinen bei weitem.“ Er lachte. „Ich bin kein wirklich guter Krieger.“
„Ihr müsst es vielleicht auch gar nicht sein. Ivan und eure Wachen wissen euch sehr gut zu verteidigen und solange ihr die Anzahl eurer Feinde klein haltet, dürftet ihr auch, ohne ein großer Schwertkämpfer zu werden, gut über die Runden kommen. Liliane von Erzhausen kann nicht einmal einen Dolch richtig halten. Dennoch…“ Er pausiert kurz. „… ist es sicher nicht verkehrt zumindest die Grundzüge der Selbstverteidigung mit der Klinge zu beherrschen. Nur für den Fall.“
Als sie ein paar Schritte gegangen waren und wieder in dem Gewirr aus dunklen Gässchen und Straßen verloren, räusperte er sich. „Ich werde euch vielleicht in einigen Jahren um einen kleinen Gefallen bitten müssen, falls Alida mir meine Bitte abschlagen sollte. Eure exzellenten Fähigkeiten in der Kunst eures Clans sind hierbei gefragt.“
Bei Luciens Anfrage zog er interessiert eine Augenbraue in die Höhe. „Worum geht es?“
Lucien blieb abrupt stehen und drehte sich in Richtung des Unholds. „Irgendwann muss man die Maskerade zu Ende führen, die man begonnen hat. Spielt man einen Sterblichen, kommt unweigerlich der Moment, wo einem genau das zum Verhängnis wird, was dieses Theater auszeichnet: der Tod. Ich sterbe nicht aber der Hauptmann von Brügge tut es. Noch einige Jahre und ich muss diese Komödie erneuern. Dazu werden diverse Schriftstücke und wohlplatzierte Lügen notwendig sein, aber auch ein neues Gesicht. Eben letzteres hatte ich mir von Alida erhofft, aber ich weiß, dass sie nicht besonders stolz auf ihre Fähigkeiten des Fleischformens ist. Euch habe ich bereits bei der Arbeit gesehen bzw. das Endergebnis an Balduin.“
„Ein neues Gesicht zu einer neuen Identität?“ Er nickte. „Davon verstehe ich ein wenig. Ich denke, darüber lässt sich, wenn ihr das wünscht, reden.“ Lucien spürte sofort dieses mulmige Gefühl im Nacken. Irgendwas war nicht in Ordnung. Sie liefen durch diese dunkle Gasse und weit und breit war kein Geräusch zu hören. Oder doch? War da nicht ein plötzliches Rascheln, wie von feinem Kies? Er sah sich um und auch der Tsimiske neben ihm sah mit einem Mal mit den Pupillen die dunkle Umgebung ab als würde er nach etwas suchen. Der Fleischformer sah zu Lucien und es war dem Hauptmann klar, dass beide in diesem Moment genau das selbe dachten.
Lucien räusperte sich kurz und tat so, als würde er die Konversation weiter aufrechterhalten; ging ein paar langsame Schritte und lächelte weiter sinnierend. „Ausgezeichnet. Ich wusste ihr wäret der richtige Ansprechpartner.“ Im Gedanken ging er schon seine Bewegungen durch. Sobald er die Richtung präzise ausgemacht hätte, würde er darauf warten bis der nächtliche Lauscher näher käme, um dann in einer flüssigen Bewegung sein Schwert zu ziehen und diesen zu stellen. Dazu brauchte es aber einen Grund für den ungebetenen Gast näher zu kommen. Erneut räusperte er sich. „Da gibt es noch ein anderes Anliegen…“ Mit einer Hand deutete er dem Tzimisce näher zu kommen und flüsterte unverständliches.
Auch Emilian hatte die Hand auf den Knauf seines eigenen Schwertes gelegt und war näher zu Lucien heran getreten. Noch während der Hauptmann zu tuscheln begann, schälten sich zwei Männer aus der Dunkelheit vor ihnen. Beide hatten Tücher über Mund und Nase gezogen, die ihre Gesichter verbargen und Kapuzen tief ins Gesicht gezogen. Nichtsdestotrotz erkannte Lucien, dass die beiden schwer bewaffnet waren und unter ihrer Kleidung Rüstungen trugen. Die Geräusche hinter ihm machten ihm auf Anhieb klar, dass auch dort zwei Männer erschienen sein mussten. Der Unhold neben ihm zog das Schwert.

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Die dunkle Stimme war aufgrund der Tücher schlecht zu verstehen, doch wahrscheinlich handelte es sich um einen Engländer. „So, ihr Lieben. Nächtliche Wanderer… in diesem beschaulichen Viertel… wie schön.“ Er trat näher heran und Lucien erkannte die Klinge in seiner behandschuhten Faust. „Uns ist ein kleines Gerücht zu Ohren gekommen. Ein Bote hat sich auf den weiten Weg hierher nach Flandern gemacht und eine Nachricht hinterlassen. Leider ist es uns nicht gelungen dem flinken Wicht über den Weg zu laufen. Er war geschickter, als wir angenommen haben. Tja. Da wir hier den Empfänger haben: Was hat euch der Bote für wichtige Kunde überbracht?“
Lucien zog ebenfalls sein Schwert und kniff die Augen zusammen. Aus der munter-lockeren Plauderei war wie so oft ein unverhoffter Kampf geworden. Er hatte zwar nicht den Eindruck, dass die beiden Engländer ein einziges Wort Flämisch sprachen aber dennoch sehr genau wussten, wer der Empfänger der Nachricht, bei der es sich wohl nur um jene des deutschen Kaisers handeln konnte war. Immerhin hielten sie ihm bereits voller Mordlust ihre Schwerter entgegen. Er richtete die Spitze seines Schwertes in ihre Richtung und sprach sie seinerseits auf Latein an. „Oh ich will euch sagen, was der Bote mir zutrug. Er meinte ihr sollt beide zur Hölle fahren.“ Ein grimmiges Grinsen legte sich auf seine Lippen. „Das oder zurück nach England; die Wahl liegt bei euch.“
Die Männer vor ihnen begannen lau und bedrohlich zu lachen während die beiden hinter ihnen einstimmten. Der Mann trat wieder einen Schritt nach vorne. „Hör mal zu, du Siegfriedimitat. Es kann ja sein, dass dir hier die Eier schwellen und du der Meinung bist den Starken raus hängen lassen zu müssen. Aber davon würd‘ ich dir dringend abraten. Man hat uns vier nicht umsonst losgeschickt. Wir kriegen die Antworten, die wir wollen. Es dauert nur manchmal etwas länger und mag um so vieles schmerzvoller sein. Also?“
Die Spitze seines Schwertes war nach wie vor auf den Anführer gerichtet. Funkelnd hefteten sich seine Augen ebenso auf diesen; wandten sich aber gelegentlich auch in Richtung der drei anderen Spießgesellen. Er wollte die englische Gegenspionage tunlichst nicht unterschätzen, selbst wenn es sich nur um Sterbliche handeln sollte. Vier gut gerüstete, kampferprobte Soldaten waren allein schon wegen ihrer Anzahl ein ernst zu nehmender Gegner und Emilian an seiner Seite war zwar mit übernatürlichen Kräften gesegnet; diese ließen sich aber so direkt nicht in einer kämpferischen Auseinandersetzung verwerten. Einzig die Bestie in ihm würde die Soldaten in Fetzen reißen, dafür aber waren sie mit dem Bruch der Stille des Blutes konfrontiert. Es war nicht Brügge, aber er malte sich schon aus, was Madame Borluut sagen würde, sollte gerade er, der ihren Bruder am Scheiterhaufen verbrennen lassen wollte, hier die Traditionen ihrer Art brechen. Es musste ohne Kampf funktionieren oder zumindest mit so wenig Blutvergießen wie möglich. „Ich kann mir vorstellen, dass die edlen Herren ganz fantastische Gesprächspartner sind, aber ich enttäusche euch nur ungern. Der Bote hat mir kein großartiges Geheimnis berichtet, für das es sich zu sterben lohnen würde.“ Sein Blick glitt zu Emilian und ohne den Kopf zu drehen flüsterte er knapp: „Ihr holt die Stadtwache, und ich lasse sie mich durch die Gassen verfolgen.“ Dann wieder an die Bande gewandt: „Wenn ihr mir nicht glaubt, so fürchte ich werdet ihr einen recht blutigen Kampf über euch ergehen lassen müssen, nur um im Nachhinein dennoch enttäuscht zu werden.“ Einladend hob er die Klinge an.
Emilian zischte ihm kaum hörbar zu. „Du glaubst ernsthaft, die ließen mich vorbei um mich mit der Stadtwache auszutauschen? Schön wär’s…“ Lauter sprach er zu dem Anführer. „Ich hab‘ keine Ahnung wer euch schickt. Einer der Barone von Hardestadt? Aber vielleicht gibt es Gründe, dass der Bote seine Nachrichten nicht offen in den Straßen der Stadt verbreitet…?“ Der braunhaarige Unhold schüttelte leicht den Kopf. „Ich beabsichtige nicht mein Wissen mit euch zu teilen, aber wie mein Begleiter hier, schließe ich mich seiner Ansicht an: Wenn ihr hier lebend raus kommen wollt, dann geht ihr jetzt! Darauf habt ihr mein Wort.“
Lucien begab sich in Kampfstellung und hob das Schwert leicht an. „Ihr habt das sicher schon von vielen Gegnern gehört, aber in diesem Falle entspricht es tatsächlich der Wahrheit. Ihr werdet hier alle sterben, solltet ihr etwas Dummes versuchen. Ihr mögt euch für tapfere und gestählte Soldaten halten, aber ihr habt keine Ahnung gegen wen ihr hier antretet. Ein letztes Mal: Verschwindet oder zahlt den Preis für eure Vermessenheit.“
Der Anführer vertrete die Augen.

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„Nun denn. Wir sind Anwärter der Ritter des schwarzen Kreuzes. Ihr habt lang genug Zeit gehabt zur Besinnung zu kommen. Männer?“ Wie siamesische Zwillinge zogen alle gleichzeitig die Waffen. Jeweils einer von vorne und einer von hinten näherten sich.

"Rücken an Rücken", brüllte Lucien Emilian zu. Er konnte spüren, wie der Unhold hinter ihm Stellung bezog und hörte die Parade, die dieser wohl gerade erfolgreich abwehren konnte.
Luciens erster Gegner grinste hämisch, während der zweite abwartete. Der Krieger ging langsam auf ihn zu, raste plötzlich von rechts kommend heran und schmetterte seine Klinge gegen die des Franzosen. Die Überraschung war ihm ins Gesicht geschrieben, als es ihm nicht mit diesem einen gekonnten Hieb gelang, Lucien zu entwaffnen. Stattdessen musste er einem Gegenangriff von Lucine ausweichen, dem er nur knapp entging.
Wütend fuhr er den Hauptmann an. „Na, warte, Gauner. Dir geb‘ ich’s!“ Lucien wusste mittlerweile über das Geschick, das sein Gegner an den Tag legen konnte und ging in Verteidigungsposition. Schon prallte der nächste Angriff auf ihn hernieder, der diesmal nicht auf seine Waffe, sondern zum Entwaffnen auf seinen Schwertarm gerichtet war. Haarscharf verfehlte ihn die Attacke, doch auch sein Luciens Angriff wurde mühelos von dem Fremden abgewehrt. Mehrere Minuten kämpften sie gegeneinander. Lucien vernahm das Klirren von Klingen in seinem Rücken, hörte immer wieder ein kurzes unterdrücktes Aufstöhnen wenn erneut ein Hieb den Tsimiske traf und das Lachen der Gegner in seinem Rücken. Offensichtlich gingen beide Gegner gemeinsam auf den Händler los.
Schließlich gelang es Lucien unter einer der Attacken seines Feindes hindurch zu tauchen und ihm sein Schwert von hinten in die Seite zu rammen. Die Wucht des Angriffs schleuderte den Gegner gegen die Wand einer Lagerhalle und er sank bewusstlos zusammen. Der zweite zückte bereits seine Waffe um die Position seines Kameraden einzunehmen. Dann erschien jedoch ein entsetzter Ausdruck auf seinen Zügen. Panik schien in ihm aufzusteigen. Er fasste mit völlig verkrampften Händen seine Waffe fester, machte auf dem Absatz kehrt und rannte davon.
Ein Blick über seine Schulter machte Lucien sofort bewusst, was hinter ihm geschah. Der Unhold hatte seine normale menschliche Gestalt abgelegt und die Kriegergestalt des Clans angenommen. Das über zwei Meter große Monstrum hatte gerade die beiden Schädel seiner Gegner gegeneinander geschmettert, so dass Lucien das laute Bersten der Knochen hören konnte und eine helle, fast wässrige Flüssigkeit aus den Ohren und der Nase des einen rann. Der Zulo riss den anderen näher zu sich heran und vergrub gierig seine Fänge in dessen Kehle. Der Hauptmann hörte das kontinuierliche durstige Saugen und sah wie sich eine der klaffenden Fleischwunde nach der nächsten an dessen Körper schloss.

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Sein Blick ging zu seinem ersten Gegner, der mittlerweile wieder zu sich gekommen war und vor ihm davon humpelte und zu dem anderen, der die Beine in die Hand genommen hatte um zu fliehen. Er rief dem Zulo zu: „Ich übernehm‘ den hier, kümmer‘ du dich um den anderen.“ Es war ein Bruch der Traditionen sollte einer entkommen und von den Gegebenheiten berichten. Es kostete den Unhold einige Mühe von der verheißungsvollen, erquickenden Vita abzulassen, dann stieß er den leblosen Körper jedoch voller Wut in den Straßenstaub und nahm die Verfolgung auf. Lucien hörte erneut das Geklirre von Waffen und das anschließende Reißen von Muskeln und Bersten von Knochen. Dann war es aus dieser Richtung still.
Es dauerte nur einige Minuten bis die monströse Gestalt wieder neben ihm erschien. Noch während sie mit ausladenden Schritten auf den Hauptmann zutrat, schrumpfte sie mitten in der Bewegung zusammen. Muskelberge verschwanden, die grünlich verdorbene Haut nahm eine blasse jedoch rosane Färbung an und die Gesichtszüge verliefen so ebenmäßig wie zuvor. Die Rüstung des Händlers hatte seltsamerweise den Kampf und die Verformung überstanden, der größte Teil der Kleidung jedoch war komplett zerrissen und nicht mehr brauchbar. Emilian griff nach seinem im Schlamm der Straße liegenden Mantel, den er während dem Gemetzel verloren haben musste, und legte ihn sich um die Schultern. Ein grimmiger Ausdruck lag auf dem ebenmäßigen Gesicht. „Ich hab‘ ja gesagt, ich bin nicht unbedingt ein Meister im Schwertkampf.“ Er trat neben Lucien und sah zu dem letzten verbliebenen Gegner.

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Der Weg zum Ziel beginnt an dem Tag, an dem du die hundertprozentige Verantwortung für dein Tun übernimms.
Dante Alighieri


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BeitragVerfasst: Fr 30. Sep 2016, 20:34 
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Der Hauptmann wirkte unzufrieden, während er das Schauspiel der monströsen Verwandlung und Rückverwandlung von Emilian verfolgte. Faszination und Verärgerung hielten sich die Waage. Schlussendlich aber blickte er über die Schulter des Unholds und sah in einigen Metern Entfernung schon die nächste Leiche eines Ritters liegen und stieß ruckartig die Luft aus seiner Nase. Es klang wie ein Schnauben. „Das war mir schon bewusst“, quittierte er den Kommentar des Russen. „Allerdings hätte ich es vorgezogen mitten in der Stadt weniger blutig aufzutreten. Und wenn es schon notwendig ist, dann zumindest so, dass hier allem Anschein nach nichts als ein gewöhnlicher Schwertkampf stattgefunden hat. Keine Spuren, keine Zeugen. Eure Kampfgestalt mag beeindruckend und mächtig sein, aber es reicht nur ein offenes Fenster und ihr habt ein Problem.“ Er deutete auf die Leiche in der Gasse, dann auf den verbliebenen Ritter. „Ich selbst werde mich um den hier kümmern.“ Sein Blick glitt zu dem besiegten Ritter zu seinen Füßen, als er das Blut an seiner Klinge an dessen Wams abstreifte und das spitze Ende in Richtung Kehle des Mannes führte. „Also… wo waren wir? Ach ja, es stellte sich gerade die Frage ob es England oder die Hölle werden soll. Eine dumme Entscheidung eurerseits. Jetzt habe ich auch eine Frage an dich: Wer seid ihr? Wer schickt euch und was wollt ihr von mir? Und ich würde dir im Anbetracht deiner Lage raten hurtig zu antworten und nicht zu lügen, Herr Ritter.“
Der Krieger rutschte am Boden noch etwas weiter zu einer der Hauswände und hielt sich die blutige Seite. „Von mir erfahrt ihr nichts, ihr Ausgeburten der Hölle.“ Er reckte trotzig das Kinn in die Höhe.
Der Gangrel seufzte und blickte einen Moment lang kopfschüttelnd in den Nachthimmel. „Wenn ich dir erzählen würde, wie oft ich diesen gleichen Wortlaut immer und immer wieder in unterschiedlichen Situationen und aus unterschiedlichen Mündern gehört habe, würdest auch du dir ein Grinsen nicht verkneifen können. Der Witz wird langsam alt.“ Er räusperte sich. „Nun denn, deine Tapferkeit und Loyalität in allen Ehren, aber du wirst reden, keine Sorge. Nicht wegen mir, sondern wegen dem Herren hier.“ Er deutete nach hinten in Richtung Emilian. „Ich mag ja schon ab und an furchterregend sein, das gebe ich zu, aber der da… hilft dem Teufel beim Kohle nachschaufeln, wenn du verstehst? Also, wie willst du’s halten Ritter?“
Emilian war näher heran getreten und beobachtete den Kämpfer mit unbewegter Miene. Dieser schluckte schwer. „Niemals! Ich halte stand! Tötet mich wenn ihr wollt.“
Der Gangrel schüttelte den Kopf. „Töten? Ich glaube, ihr versteht nicht recht. Der Tod ist die Erlösung von all dem, was ihr euch jetzt eingehandelt habt.“ Er blickte zu Emilian. „Er gehört euch, aber geht es nicht zu grob an, vielleicht möchte er zwischendrin ja doch die Beichte ablegen. Und da sollte er noch so komplett sein, dass wenn wir ihn laufen lassen, er nach wie vor den ehrenhaften Ritter spielen kann.“
Der Mann faltete die Bände und begann zu zittern. „Oh, mein Gott. Nein, überlasst mich nicht ihm. Ich sage, was ihr wissen wollt. Nur, bitte, nein.“ Er jammerte als hätte sein letztes Stündchen geschlagen. Was wahrscheinlich auch so war.
Lucien sah zunächst zu Emilian, dann erneut zu dem Mann. „Eure letzte Chance in dieser Welt: Wer seid ihr? Wer hat euch geschickt und was wollt ihr von mir? Ihr seid euer eigenes Schicksal Schmied, Herr Ritter.“
„Egis von Braunschweig, Ritter in den Diensten von Graf Achim von Helmstedt. Wir hatten den Auftrag den Boten abzufangen und seine Nachricht an unseren Herrn zu überbringen. Wir haben ihn nirgendwo auffinden können. Er wählte nicht die gängigen Wege nach Flandern. Um nicht erfolglos zu unserem Herren zurück zu kehren, entschieden wir uns dazu den Empfänger ausfindig zu machen und zu befragen… Oh Gott, das war ein Fehler… Verzeiht mir, Herr!“
Lucien nickte langsam und bedächtig, ließ sein Schwert in die Scheide gleiten. „Ihr habt eine gute Wahl getroffen, Egis, und so sei euch euer Leben gelassen. Kehrt zu eurem Herrn zurück und berichtet ihm, dass euer Trupp aufgerieben wurde. Die Strafe, die ihr zu erwarten habt, dürfte weit geringer ausfallen als das, was hier mit euch geschehen könnte und so behaltet ihr eure Ritterehre.“ Er wandte sich langsam um; richtete dann aber doch noch ein paar abschließende Worte an den Mann. „Ihr werdet vergessen, was hier geschehen ist, denn niemand wird euch glauben, und solltet ihr irgendjemandem davon berichten, so wird man euch den Verstand absprechen. Das war es dann mit eurer Würde und eurem Stand, also überlegt euch gut, wie ihr es halten wollt. Jetzt schert euch aus meinen Augen.“ Damit drehte er sich um und ging.
Emilian stand noch einige Momente schweigend neben dem schwer verletzen Krieger und betrachtete die Wunden des Mannes. Er wandte sich zu Lucien um, drehte jedoch just in dem Moment, in dem sich der Soldat zu entspannen begann, wieder zurück und riss ihn ein Stück in die Höhe. Der Verletzte hatte keine Möglichkeit zu verhindern, dass der Kainit die Fangzähne in seinen Hals bohrte und mit fatalen, langsamen Zügen die Lebensessenz aus seinem Körper entzog. Mit einem seligen Lächeln auf den Zügen starb er.
Emilian erhob sich und wischte sich mit Handrücken und Mantel die blutigen Spuren aus dem Gesicht. Ohne Lucien anzusehen, fügte er hinzu. „Der Mann wäre, wenn nicht innerhalb kürzester Zeit von einem erfahrenen Heiler versorgt, elendig krepiert. Sehen wir es als Erlösung an.“ Es schien als würde er die Worte eher zu Lucien sagen, um die Tat zu rechtfertigen und weniger als wäre ihm der Akt der Erlösung wirklich von Belang. Das Leben dieses Feindes schien ihm nichts zu bedeuten und so war es auch keine Verwunderung, dass er es einfach nahm.
Der Former trat zu den Leichen der anderen und richtete innerhalb kürzester Zeit die Körper so her, dass man von einem tödlichen Kampf ausgehen konnte. An den Unterarmen der Männer schuf er mit den Fingerspitzen zarte Vernarbungen. Auf Luciens fragenden Blick hin, fügte der Fleischformer hinzu: „Hier in Gent sind das die Zeichen von zwei verfeindeten Banden, die sie sich als Erkennung in die Haut brennen. So wird man von einem Scharmützel ausgehen und sich über vier Wegelagerer weniger freuen.“ Er erhob sich. „Hier in diesem Viertel gibt es nur Lagerhallen, keine Bewohner. Und falls doch, kümmere ich mich darum. Lieber räume ich hinterher auf als mich von zwei kampferprobten Ritter gleichzeitig aufschlitzen und zu Asche verarbeiten zu lassen.“ Er sog tief die Luft ein und atmete langsam aus. Irgendwie schien ihn diese Situation wohl doch zu tangieren. Emilian schob sich mit beiden Händen die feuchten, blutigen Haare aus der Stirn und schloss zu Lucien auf.
Der Hauptmann hatte es schon zu Beginn gewusst. Es war ihm völlig klar gewesen, dass Emilian niemanden dieser angeblichen Ritter auch nur im Ansatz verschonen würde. Und natürlich war es die einzig logische und sinnvolle Möglichkeit die Stille des Blutes zu gewährleisten; eine simple Notwendigkeit. Trotzdem hatte er dieses Mal sein Wort nicht gebrochen, er hatte den Mann in dem Wissen, dass sein Begleiter ihn kurzerhand töten würde am Leben gelassen. Mochte man ihm auch eine fragwürdige Moral vorwerfen, er empfand seine Ehre als unangetastet. Viele schreckliche Geschichten begannen damit, dass man jemanden das Leben schenken wollte und dann doch dem Tod überantwortete. Es wurde Zeit mit alten Sitten zu brechen, schon um seiner selbst willen. „Er hätte es ohne Zweifel zu einem Heiler geschafft, aber ich habe ihm eine Bauchwunde zugefügt; ein langsamer und grausamer Tod. Ihr wart gnädig zu jemandem dessen Dahinscheiden unwiderruflich feststand.“ Aus den Augenwinkeln verfolgte er wie Emilian die Leichen entsprechend drapierte und platzierte; nickte ihm bekräftigend zu als er über verfeindete Banden und die Beschaffenheit des Viertels sprach. „Ihr solltet ein wenig euren Schwertkampf verbessern. Heute mögen wir in dunklen Gassen stehen, morgen findet ihr euch vielleicht auf dem Hauptplatz wieder.“ Schweigend ging er ein Stück, der Unhold neben ihm, bevor er seufzend an ihn gewandt meinte: „Vielleicht bin ich euch eine knappe Erklärung schuldig. Die Reise die ich antrete, scheint offenbar auch andere zu interessieren. Derjenige den ich am Ende besuchen werde, hat offenbar Feinde von denen ich selbst nichts wusste. Verzeiht, dass ihr kurzfristig Teil dieses Disputs wurdet. Sobald ich morgen Nacht die Stadt verlassen habe, sollte ihr nichts mehr zu befürchten haben.“
Emilian sah ihn fragend und nachdenklich an. „Ihr vermutet, dass diese Männer es auf euch abgesehen hatten?“ Fast lag so etwas wie Zweifel in seiner Stimme.
Er schüttelte den Kopf. „Lediglich auf den Boten, der mich aufgesucht hat, aber den sie nicht mehr erhaschen konnten. Wie uns Egis bereits mitgeteilt hat, beschlossen sie daraufhin den Empfänger der Nachricht aufzusuchen – meine Wenigkeit. Ich hoffe, dass der Zweck meiner Reise nicht ein gänzlich anderer ist, als ich bisher angenommen hatte.“ Grübelnd versank der Gangrel in finsteren Gedanken. Vielleicht war seine Anstellung am Hoffe nicht der wahre Grund dafür, dass Friedrich ihn zu sprechen wünschte. Vielleicht ging es um ganz andere, bedeutendere und komplexere Dinge. Um was immer es sich auch handeln mochte, Politik spielte gewiss eine nicht zu verachtende Rolle darin. Oh wie er das liebte.
„Diese Männer standen in den Diensten dieses Grafen von Helmstedt. Wenn mich meine Kenntnisse der Deutschen Lande nicht trügen, dann liegt dieses Helmstedt in der direkten Umgebung von Magdeburg. Damit muss dieser Graf ein Untergebener und wahrscheinlich Ghul von Jürgen von Verden, dem Fürsten von Magdeburg, sein. Und dieser wiederum ist Kind und Vasall von Hardestadt persönlich.“ Emilian presste voll unterdrückter Wut die Lippen aufeinander.
Lucien schmunzelte. „Und ich hatte auf einen gemütlichen Ausritt gehofft, aber es soll wohl nicht soweit kommen. Es ist mir wohl nicht beschieden mich von dem Schachbrett der nächtlichen Spieler davonstehlen zu können. Gut, dass ihr solche Dinge wisst, das hilft mir mich vorzubereiten und Zusammenhänge leichter zu erkennen. Offenbar muss ich mehr auf der Hut sein als ich zuvor annahm.“
Emilien seufzte nachdenklich. „Ich weiß nicht, ob diese Männer wirklich euch aufgelauert haben…“ Er machte eine bedeutungsschwere Pause. „… oder auf mich. Ich selbst habe vor zwei Tagen einen Boten empfangen. Daraufhin habe ich ein Mitglied meiner Wiedergänger nach Brügge gesandt um Alida hier her zu bitten.“
Der Gangrel hob eine Augenbraue. „Ihr meint dieser Angriff galt euch? Wollt ihr mir das erklären? Welche Nachricht hatte der Bote für euch und von wem ward er gesandt?“
Der Unhold schmunzelte leicht. „Ihr wünscht ganz schön viele Informationen… Dafür haben diese vier wohl ihr Leben gelassen.“ Er überlegte, ob er weiter sprechen sollte, entschied sich dann aber dafür. „Wie viel wisst ihr über den Kampf zwischen dem Osten und den Lehen des schwarzen Kreuzes, der gerade stattfindet?“
„Ich weiß, dass die Ventrue nicht dumm sind und die Gelegenheit nutzen, Territorien für sich zu gewinnen, jetzt da die Unholde durch den zermürbenden Kampf gegen die Tremere geschwächt sind. Niemand würde offizielle zugeben, dass die Blaublütigen hochoffiziell die geheimen Gönner der Hexer sind, aber man muss schon sehr blind sein, um diesen perfiden Schachzug nicht zu erkennen.“ Lucien lächelte sachte. „Aber um ehrlich zu sein, findet dieser Konflikt so weit weg von uns statt, dass es uns nicht besonders beeinflusst. Am ehesten noch bekommen wir die Auswirkungen über Deutschland zu spüren, mit dem wir wiederum aber nur lose Kontakte pflegen.“ Seine Lippen wanderten nach oben. „Mir scheint ihr wisst da bedeutend mehr.“
Emilian schüttelte leicht den Kopf. „Ich weiß wahrscheinlich immer noch zu wenig.“ Er deutete auf das Gebäude, das sich langsam aus den Schatten vor ihnen schälte. Lucien erkannte den festungsartigen Aufbau. „Wir sind fast da.“ Dennoch fuhr er fort. „Der deutsche Hof befindet sich noch immer fest in den Händen von Hardestadt, dem schwarzen Monarchen, aber sein Vasall, Graf Jürgen, hat sich bereits fest etabliert. Jürgen zeichnet sich vor allem durch seinen steten Kampf und seine Scharmützel mit dem Osten aus. Er betreibt einen Feldzug um die Lande der Tsimiske zu erobern. Allerdings hat er bei der Schlacht von Tuzföld gegen den Voivoden der Voivoden, Rustovich, eine herbe Niederlage erlitten und sich zurückziehen müssen. Außerdem macht ihm Shaagra, eine Ahnin meines Clans, von Böhmen her das Unleben schwer.“ Er sah den Gangrel aus seltsam rot-braunen Augen an. „Um es zusammen zu fassen: Derzeit steht mein Clan im Kampf gegen seine Feinde durch einige gewonnene Schlachten recht gut dar. Ein Mitglied meiner Familie hat sich an den Hof des schwarzen Kreuzes begeben um Verhandlungen mit den Deutschen Gegnern aufzunehmen und mich über seine Ankunft informiert. Das war die Botschaft.“
Der Gangrel nickte langsam und nachdenklich, während sich die dickgemauerte, festungsähnliche Anlage von Emilians Domizil aus den schweren Schatten der Nacht schälte. „Dann scheint es sich wohl nur um das unweigerliche politische Manöver eines eifrigen und ehrgeizigen Kriegsherrn der Ventrue zu handeln. Ganz eindeutig hatte er sich wohl weitaus informativere und delikatere Kunde in der Nachricht eures Boten erhofft. Was wir wohl daraus lernen mögen, ist, dass Jürgen von Magdeburg jedes Mittel recht ist sich einen Vorteil gegenüber den Unholden zu verschaffen. Selbst wenn das eventuelle Verhandlungen gefährden sollte. Unterschätzen wir ihn besser nicht, denn euer Sieg ist seine Niederlage, die er sich nur ungern eingestehen mag.“ Langsamen Schrittes trat der Hauptmann auf das große Eingangsportal der mannshohen Wände zu. „Ich wusste nicht, dass ihr derart involviert seid in den Omenkrieg. Für mich wart ihr immer in erster Linie ein gewiefter Händler, kein Diplomat oder Spion.“
Emilian lachte amüsiert. „Wo denkt ihr hin, Hauptmann? Ich bin weder Spion noch Diplomat. Wie ich bereits sagte, ich versuche mich aus allem soweit als möglich heraus zu halten. Das erscheint mir der sinnvollste Weg, sich als Drache in den westlichen Ländern halbwegs sicher bewegen zu können.“ Er schmunzelte. „Ihr könnt euch vorstellen, dass ich diese Sicherheit für nicht sehr zuverlässig halte.“ Das Tor an dem bereits mehrere Wachmänner positioniert waren, die bei der Stimme ihres Herren emsig bemüht waren dieses zu öffnen, unterstrich die Worte in Bezug auf Sicherheit um ein Vielfaches. „In manchen Momenten meines Unleben jedoch bin auch ich gezwungen Partei zu ergreifen und Loyalität zu zeigen.“ Das Tor wurde bereits wieder verschlossen und Emilian schritt auf die breite Außentreppe, die in den ersten Stock führte, zu. Seine Männer sahen mit besorgten Mienen die blutige Gestalt ihres Herren und die zerfetzen Kleider, die man unter dem Mantel vermuten konnte, an. Einer rannte bereits voraus ins Haus. „Ich beabsichtige morgen nach Aachen zu reisen. Derzeit hält sich dort sowohl der kainitische als auch der sterbliche Königshof auf.“
Lucien folgte ihm schweigend durch das steinerne Portal und kümmerte sich nicht um die dienstbeflissenen Wächter und Diener, die lange genug in den Diensten ihres Herren standen um zu erkennen, warum ihr Gebieter dringend neue Kleidung benötigte. Der Unhold musste sich nicht weiter erklären. Als der Tzimisce Aachen erwähnte, verengten sich die Augen des Gangrel. „Ich dachte der Bote hätte euch darüber in Kenntnis gesetzt, dass bereits ein anderer eures Clans als Vertreter nach Aachen entsandt wurde, oder von sich aus den Weg dorthin gefunden hat? Was wollt ihr dann also noch dort? Gewiss mag es für den einen oder anderen interessant sein dem höfischen Treiben von Sterblichen und Unsterblichen beizuwohnen, aber ihr habt doch sicher einen weitaus besseren Grund?“ In seinem Blick lag Unsicherheit und Zweifel.
Wieder lag ein leichtes Lächeln um die Mundwinkel des Unholds. Er stieß ruckartig das breite Eingangsportal auf und betrat das Innere des Anwesens. Obwohl überall das steinerne Mauerwerk dominierte, verströmte das Mobiliar und die Teppiche ein gewisses Maß an Gemütlichkeit. Emilian zog sich den Mantel von den Schultern und warf ihm neben dem Eingang auf den Boden. Sicherlich würde innerhalb der nächsten Minuten jemand zur Stelle sein um die Kleidung wegzuräumen, zu waschen und zu flicken. Stattdessen griff er nach einem Stück Stoff, das an einer Geraderobe hing und rieb sich die blutigen Spuren soweit als möglich vom Körper. Er führte Lucien in ein Zimmer und nahm an dem dunklen Eichenholztisch Platz.

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Der Hauptmann schritt immer noch etwas unschlüssig, was er von der ganzen Situation halten sollte, an der Seite des Unholds und kümmerte sich währenddessen kaum um den Einrichtungsgeschmack des Hausherrn. Es gab bei weitem Wichtigeres, das seine Gedanken beherrschte.
„Das Mitglied meines Clans hat sich an den Hof des Lehens des schwarzen Kreuzes begeben um dort Verhandlungen mit dem Schwarzen Monarch zu führen… Die große Frage ist nur: Kommt er dort in einem Stück wieder hinaus. Er selbst gibt sich fest davon überzeugt, aber ich hege meine Zweifel.“
Etwas ungelenk nahm er am Tisch gegenüber dem Russen Platz und fuhr sich durch den stoppeligen Bart. „Ihr glaubt, dass wenn schon nicht Hardestadt selbst, dann doch zumindest Jürgen ein Attentat auf euren Landsmann plant? Nun, was wir von den Rittern des Schwarzen Kreuzes gesehen haben, ist ihm dies tatsächlich zuzutrauen, obgleich…“ Lucien sah den Russen fester an. „Würde er denn nicht ein ganz besonders großes, politisches Debakel heraufbeschwören, wenn er einen offiziellen, russischen Gesandten ermorden ließe? Egal wie gut er es tarnt, jeder wüsste um den wahren Mörder Bescheid? Das würde Deutschland den ewigen Hass und die Verachtung des Ostens bringen, nicht, dass es nicht ohnehin schon so wäre. Und rechnet euer Freund denn nicht damit? Die aktuelle Lage im Krieg muss ihn doch selbstredend zu besonderer Vorsicht gezwungen haben?“ Der Gangrel war kein Politiker und kein Stratege. Alles, was er tat war spekulieren, aber dennoch kam ihm die Situation zu einfach, zu offensichtlich vor, als das ein Tzimisce sich davon würde so einfach blenden lassen. Noch dazu einer, der vermutlich an den kainitischen und sterblichen Höfen bisweilen ein und aus ging.
Emilian zuckte mit den Schultern. „Ich weiß es nicht. Aber hier im beschaulichen Gent zu sitzen, abzuwarten und der Dinge, die da kommen, zu harren, ist nicht unbedingt meine Art.“ Das Gesicht einer mittelalten Frau mit Kopftuch erschien in der Tür. Sie hielt den Kopf gesenkt, hob kurz die Augen um die beiden Männer zu mustern und sagte dann ergeben einige Wort auf Russisch. Der Tsimiske wandte sich an seinen Begleiter. „Irina hat mich darüber informiert, das alles für ein Bad bereitsteht. Wenn ihr wollt, könnt ihr euch den Straßenstaub abwaschen.“ Ein schiefes Lächeln erschien auf seinen Lippen. Straßenstaub war wohl das kleinste Problem der beiden Kainiten nach diesem Kampf. „Wenn ihr erlaubt, werde ich mich zurück ziehen. Ich habe ein Bad noch um einiges dringender nötig als ihr. Die Nacht ist schon weiter fortgeschritten und ich muss mich noch mit Alida besprechen.“ Der Unhold verbeugte sich leicht nachdem er sich erhoben hatte.
Lucien nickte ihm wohlwollend zu, ein Zeichen, dass er selbstredend nichts dagegen hatte, dass der Hausherr sich höflich zurückzog. Der Abend war ohnehin bei weitem abenteuerlicher und zugleich informativer geworden, als er zunächst angenommen hatte. Aus einem angedachten, unbedeutenden Besuch und einem kleinen Plausch mit dem deutschen Kaiser, war wieder eine diplomatische Auslandsreise mit hohem Risiko und weitreichenden Konsequenzen geworden. Er musste sorgsam darauf achtgeben, nicht allzu sehr in diese Ereignisse und Machtkämpfe hineingezogen und verstrickt zu werden, obgleich er schon ahnte, dass er genau aus jenem Grund an den deutschen Hof gerufen worden war. ‚Verflucht seist du Friedrich‘, dachte er mürrisch bei sich selbst. An den Unhold gewandt meinte er lediglich: „Dann wird es euch freuen, das ihr nicht alleine reist. Ich werde euch begleiten, denn auch ich habe Aachen und den deutschen Königshof als Ziel. Wenn auch aus gänzlich anderen Gründen. Bis morgen Nacht.“ Dann erhob er sich und würde sich von den Bediensteten zu den ihn zugewiesenen Gemächern führen lassen. Das nachfolgend angebotene Bad, nahm er jedoch tatsächlich noch an. Wer wusste schon auf was er in nächster Zeit wieder würde verzichten müssen.


Es war wohl ungefähr eine Viertelstunde vor Sonnenaufgang als es an Luciens Tür klopfte. Der Gangrel spürte die Müdigkeit in seinen Knochen und war bereits in das ausladende Bett gestiegen, das man ihm zur Verfügung gestellt hatte.

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Als Lucien sich erhob um zu öffnen erkannte er Hendrik, der etwas verloren vor seiner Tür stand. Der Junge trat etwas unschlüssig von einem Bein aufs andere. Dann rückte er schließlich mit seinem Anliegen heraus. „Kann ich bei dir schlafen? Alida hat gesagt, dass sie noch wichtige Sachen mit… Herrn Belinkov besprechen muss und ich bin in ein Zimmer mit vielen anderen Kindern gebracht worden. Die sind aber alle schon wach und reden nur eine andere Sprache, die ich nicht kann. Wahrscheinlich Russisch. Außerdem lachen die über mich und wollen, dass ich mit aufstehe. Ich bin so müde…“
Er konnte kaum die Augen offenhalten, als der Junge plötzlich vor seiner Tür stand. Im Grunde war er kurz davor zu kollabieren und allein diese Tatsache sagte ihm, dass der Morgen und damit ebenso der tödliche Sonnenschein nur noch wenige Augenblicke auf sich warten ließ. Lucien hatte keine Zeit lange Reden oder gutgemeinte Erklärungen zu schwingen und so nickte er schließlich nur müde und erschöpft. „Eine einzige Bedingung: Du lässt nicht einen einzigen Sonnenstrahl in dieses Zimmer in Ordnung? Kein bisschen Licht. Wenn du dir den Weg hinaus leuchten musst, nimm eine Kerze.“ Mehr sagte er auch nicht und ließ Hendrik einfach durch die Tür herein und deutete auf das große Bett. Zweimal sperrte er hinter ihm ab und warf sich mit einem Ächzen zurück in die Laken wo er, wie kaum verwunderlich, die Augen schloss und versuchte zu schlafen wie die Leiche, die er war.
Der Junge hüpfte in das große Bett und ließ sich ganz an dessen Rand nieder. Auch wenn er behauptete müde zu sein, konnte man ihm das in diesem Augenblick nicht ansehen.
„Du?“ Er sah den Gangrel fragend an. „Alida hat gesagt, sie muss weiter reisen. Mit Meister Belinkov. Und die müssen auch nach Aachen. Sie hat gemeint, dass sie mich nicht mitnehmen kann, weil sie nicht weiß, ob sie Zeit haben wird. Aber wenn du einverstanden bist, dann darf ich mit. Sie würd‘ uns Anja mitgeben, die tagsüber, wenn du schläfst, da sein kann…“ Hoffnungsvoll sah er zu dem Onkel seines Ziehvaters und strich mit den Fingern über das weiche Muster der Steppdecke. „Ich würd‘ ganz sicher keinen Ärger machen und ich kann dir bestimmt helfen.“

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Mit einem einzigen, trägen Auge offen sah der Gangrel in Richtung des Jungen und nickte so schwach, dass man es kaum sehen konnte. „Du suchst dir wirklich den perfekten Zeitpunkt für sowas aus. Aber wenn Alida sagt es geht in Ordnung, dann darfst du meinetwegen mitkommen.“ Er lächelte hauchdünn. „Aber jetzt wird geschlafen. Kein Licht!“, Ermahnte er den Jungen ein weiteres Mal.
Der Junge strahlte übers ganze Gesicht. Dann vergrub er sich eifrig nickend unter der Bettdecke und schloss die Augen. „Nein, ganz sicher kein Licht.“ Dann schwieg auch er.

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Der Weg zum Ziel beginnt an dem Tag, an dem du die hundertprozentige Verantwortung für dein Tun übernimms.
Dante Alighieri


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BeitragVerfasst: Sa 1. Okt 2016, 17:52 
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In der folgenden Nacht begann man sich auf den Weg nach Aachen zu machen. Die kleine Gruppe war überschaubar. Fünf Wiedergänger, angeführt von Ivan, die braunhaarige Anja, Emilian, Alida, Hendrik und Lucien. In der übernächsten Nacht erreichten sie die Tore der alten Kaiserstadt Aachen. Während der russische Teil der Reisegruppe bei einem Geschäftspartner des Fleischformers Unterkunft finden wollte, begab sich Lucien direkt zu Kaiserpfalz, in der, so wusste jeder Aachener Bürger, der Kaiser derzeit residierte. Die meisten Bürger verständigten sich mit einem Mischmasch aus Flämisch und Deutsch und Lucien hatte keine Kommunikationsschwierigkeiten. Hendrik würde, sobald der Gangrel eine passende Zuflucht gefunden hätte, gegebenfalls nachreisen.
Schließlich hatte er das mächtige, alte Gebäude erreicht.



Er hatte sich ja zu anfangs gar nicht zu fragen getraut, warum Alida nunmehr ebenfalls mit nach Aachen aufgebrochen war. Aber im Grunde musste er das wohl auch nicht mehr. In dem Wissen um ihre Verwandtschaft, sah er in ihrer Begleitung etwas schon beinahe Selbstverständliches. Nicht nur, weil sie das Kind Emilians, sondern umso mehr noch, weil sie stur wie ein flandrischer Esel war. Wenn der Fleischformer ihr von seinem Vorhaben erzählt haben sollte und auch den Grund seiner Reise, gäbe es nichts was sie noch in Gent hielt. So fragte er nicht, und sie musste nicht erzählen. Dass Hendrik bis auf Weiteres noch bei der Reisegruppe der Russen und bei Anja blieb, war ihm nur sehr recht. Zum einen wollte er sich noch um eine geeignete Zuflucht umsehen, zum anderen war es auch ganz gut, dass Anja und der Junge schon etwas Zeit bekamen sich ein wenig kennenzulernen. Mit zum Kaiser, konnte er ihn ohnehin nicht nehmen; da mochte er noch so viel Verständnis für die Abenteuerlust des Jungen aufbringen. Vor dem eindrucksvollen Gebäude, das gut bewacht und schwer gesichert schien, hielt er am Torposten und verlangte seinen Namen nennend Einlass.
Der Torwächter war wie so viele andere Männer mit der gleichen Tätigkeit ein griesgrämiger, bärtiger Kauz mit einer Unmenge an Muskelmasse, die man in eine etwas zu enge dafür umso dickere Rüstung gepackt hatte. Er verbeugte sich vor Lucien als dieser sich vorstellte. „Hauptmann Sabatier. Es tut mir sehr leid, aber der Kaiser empfängt in der Regel kein niederes Volk wie unsereins. Leider ist mir nichts mitgeteilt worden, dass er nach euch geschickt hat. Folglich ist es mir nicht möglich euch passieren zu lassen. So sehr ich den Vorfall bedauere.“

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Lucien führte Ajax am Zügel; war mittlerweile abgestiegen und ärgerte sich gerade über sich selbst. Der gute Franz hatte ihm noch einen Namen genannt, an den er sich bei seiner Ankunft wenden bzw. welchen er nennen sollte, aber er wollte ihm gerade in einer Situation wie dieser partout nicht einfallen. Er seufzte und sprach den Torwächter erneut an. „Guter Mann, mir ist schon bewusst, dass der Kaiser keine einfachen Bittsteller empfängt, aber ich erhielt die Nachricht von einem seiner Boten persönlich. Er wünscht mich tatsächlich zu sprechen und es wurde mir noch ein anderer Mann genannt, an den ich mich bei meiner Ankunft wenden sollte und ob ihr es glaubt oder nicht, der Name desselbigen ist mir gerade entfallen. Könntet ihr Ausnahmsweise trotzdem einmal nachfragen; ich werde ganz bestimmt erwartet?“
Die Augen des Wächters verengten sich während er vor sich hin grübelte und die Stirn legte sich in solche Falten, dass man sich fast schon fragen konnte, ob der Gesichtsausdruck wohl morgen noch der gleiche sein würde. „Hm, ihr werdet also von einem der Gefolgsleute des Kaisers erwartet… ein Mann, sagt ihr? Hm, Hermann von Salza? Petrus di Vinea? Ein weiterer Fürst, Jürgen von Magdeburg, ist, seit der Kaiser eingetroffen ist, ständig in seiner Nähe. Kommt euch einer der Namen bekannt vor?“
Er machte die Augen weit auf und schlug sich gegen die Stirn. „Verzeiht, nein. Es handelt sich um keinen Mann, sondern um eine Dame. Di Valle, Francesca di Valle erwartet meine Ankunft.“ Gerade noch so war ihm der Name irgendwie eingefallen. Vermutlich wegen Petrus di Vinea.
„Frau di Valle???“ Der Wachmann sah ihn mit großen Augen an und sein Mund verzog sich zu einem abfälligen Strich. Er verharrte einen Moment wie versteinert. „Dann sollte ich wohl mal nachschauen wo diese… wo die Herrin di Valle sich derzeit aufhält. Joachim?“ Er rief einen knapp zehnjährigen Buben herbei und beorderte ihn damit der Dame die Ankunft von ‚Lucien Sabatier‘ zu melden. Während der Junge fortrannte versteifte sich der Wächter und umfasste seine Hellebarde.
Lucien zog eine Augenbraue nach oben und sah den Wachmann verwundert an. Ging es lediglich darum, dass er nach einer Frau verlangte und man dieser offensichtlich bei Hofe eher mit Geringschätzung begegnete oder verbarg sich mehr dahinter? Er erhoffte sich nicht viel als er erneut das Wort an den griesgrämigen Mann richtete aber er musste es zumindest versuchen. Die Neugier und auch die Vorsicht gebot es ihm. „Ihr scheint nicht viel von der Dame zu halten mein Herr. Gibt es dafür einen… bestimmten Grund? Seht, mir wurde nur dieser Name genannt, mehr nicht. Habt ihr gar ein Wort der Warnung für mich bereit? Wer ist die betreffende Dame?“
Der Wachmann sah sich nach potentiellen Zuhörern um und als er sich sicher war, dass niemand zuhören konnte, beugte er sich näher zu Lucien. „Ich weiß nicht… Ich will nicht ungut über diese Frau reden, aber sie ist wider der Natur. Sie kleidet sich in Rüstung, schmettert Befehle und erwartet, dass man diese auch befolgt… Dennoch lässt der Kaiser ihr das durchgehen. Ich vermute, dass sie seine Geliebte ist. Seit dem Tod seiner Frau, der Kaiserin Konstanze im letzten Winter, Gott hab sie selig, soll er sich ja immer wieder mit Geliebten umgeben.“ Der Mann schnaubte verächtlich.
Der Hauptmann vermochte nur schwerlich ein breites Grinsen zu unterdrücken. „Ein Mannsweib also? Ungeheuerlich!“, konstatierte er gespielt ungehalten und aus irgendeinem Grunde hatte er plötzlich Alida vor Augen. Alida und auch Vanya. Er hüstelte verlegen und schüttelte den Kopf; flüsternd nickte er. „Da habt ihr wohl recht, guter Mann, wahrscheinlich eine Geliebte, die er sich hält. Aber macht euch nichts daraus. Wir wissen ja wie Könige sind; im nächsten Monat hat er sie schon wieder fallen gelassen. Die Herrscher sind oft wankelmütig.“ Er klopfte dem Mann beruhigend auf die Schulter. Das einfach Volk musste schon viele Launen über sich ergehen lassen.
Der Wachmann klopfte dem Jungen auf die Schulter, als dieser, ganz außer Atem, angerannt kam und erst mal tief durchatmen musste. „Ja, die Dame würd‘ den Hauptmann empfangen, hat‘s mir gesagt.“ Der Wächter nickte in Luciens Richtung und öffnete das Haupttor. „So, der Zugang sei Euch gewährt, Herr Hauptmann. Ich wünsche euch einen guten Tag. Möge Gott mit euch sein. Joachim? Bring den guten Mann doch an sein Ziel, ja?“ Der Junge nickte diensteifrig und ging mit hüpfenden Schritten vor Lucien her in Richtung Hauptgebäude der Burg.

Die Gänge waren schön angelegt. Lucien spazierte unter Kreuzgewölbe dahin und Säulenarkarden ließen das klare Mondlicht hineinscheinen. Beeits nach wenigen Minuten klopfte der Bengel für Lucien an der Tür eines kleineren Turmes und öffnete, nachdem von drinnen ein „Herein“ zu vernehmen war.

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Der Raum, in den Lucien geführt wurde, bevor der Junge mit einer Verbeugung und einem Stück Zuckerwerk, das ihm eine Gestalt aus der Dunkelheit zugeworfen hatte, verschwand, war prächtig eingerichtet. Stoffe in Grün- und Brauntönen verhüllten die steinernen Wände, ein mächtiger Schreibtisch bildete das Zeentrum.

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Lucien erkannte Landkarten sowie ein Stundenglas. Dann konnte er auch die Gestalt ausmachen, die hinter dem Schreibtisch saß.

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Die dunkelblonde Frau war tatsächlich in eine Rüstung gekleidet und legte gerade eine Schreibfeder zur Seite mit der sie ein Dokument unterzeichnet hatte. Ihr Gesicht, obwohl eigentlich recht hübsch anzusehen, war hart und streng. Sie zog eine Augenbraue in die Höhe als sie Lucien ausgiebig von Kopf bis Fuß musterte nachdem der kleine Joachim die Tür hinter sich geschlossen hatte.
Der Gangrel verneigte sich vor der Dame und offenbarte dabei eine nicht zu unterschätzende Heiterkeit, die sich in der leicht neckenden Verbeugung wiederspiegelte. Ganz offenbar war mehr der höfische Pomp und Glamour das Ziel seines Spotts, als eine Dame in Rüstung und mit strengem Blick. „Lucien Sabatier aus Brügge. Seine Majestät hat nach mir schicken lassen. Der Bote gab mir zu verstehen, dass ich mich zunächst an euch wenden sollte Madame di Valle.“ Leicht schmunzelte er. „Am Torweg wollte mir fast euer Name nicht einfallen aber jetzt bemerke ich eine interessante Ähnlichkeit mit einer anderen mir bekannten Dame. Sagt, seid ihr zufällig mit einer Madame Lavalle aus Paris verwandt?“
Die Frau sah ihn zunächst irritiert, dann verärgert an. Sie schien schon etwas sagen zu wollen, schwieg dann jedoch, sammelte sich und antwortete dann. „Es erfreut mich zu hören, dass euch zu guter Letzt, am Torweg, doch noch mein Name eingefallen ist. Sonst hätte ihr wohl draußen bleiben dürfen!“ Sie legte die Arme auf den Tisch und verschränkte die Finger ineinander. Auf diese Art hatte ihr Auftreten etwas von einem gestrengen Offizier. „So… Nachdem ihr es ja bis hier, zu mir, geschafft habt: Herzlichen Glückwunsch! Und nein, ich bin nicht mit eurer Pariser Freundin verwandt“ Ein solcher Sarkasmus war nun doch etwas Ungewöhnliches für eine Frau.

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„Der Kaiser hat mich darüber informiert, dass er euch eingeladen hat. Was ihn dazu bewogen hat, eine solche Dummheit zu begehen, weiß ich auch nicht. Ich habe ihm dringend davon abgeraten.“
Lucien blieb ruhig und näherte sich langsam dem vollbeladenen Tisch. Ganz eindeutig schien die Dame nicht besonders viel von ihm zu halten oder überhaupt der Idee ihn an den Hof einzuladen. Er selbst hätte ihr grundsätzlich beigepflichtet und alles hätte sich in Wohlgefallen aufgelöst, wäre da nicht die Tatsache gewesen, dass er sich durch dieses Treffen etwas für seine Domäne Brügge erhoffte. Andernfalls hätte ihm das alles hier, genauso wie ihre schroffe und gebieterische, überlegene Art herzlich egal sein können. Er legte beide Hände auf das hübsch bearbeitete Stück Holz vor sich und sah die Dame eindringlich an. Dabei kam er nicht umhin festzustellen, wie schön der Handwerker das Möbelstück doch bearbeitet hatte. Seine Mundwinkel senkten sich und er wurde ernst. „Ich habe ja eine Schwäche dafür, mich ein wenig mit Damen und Herren zu streiten, und ihr könnt davon ausgehen, dass ich nichts lieber täte als euch und mich mit ein wenig versteckter Galanterie und unterschwelligen Charme zu verwöhnen. Allerdings will ich genau wie ihr schnell zur Sache kommen. Eure Fähigkeiten sind gewiss unverzichtbar für seine Majestät, die meinen sind es nicht. Ihr könnt euch sicher sein, dass ich nicht weiß, warum mich Friedrich zu sich gebeten hat. Also tut uns beiden einen Gefallen und lasst dieses höfische Spiel aus Hierarchie und Stolz und führt mich zum Kaiser. Vielleicht werdet ihr mich dann noch heute Nacht los Madmoiselle di Valle.“
Sie starrte ihn unnachgiebig mit ihren hellen Augen an. Lucien konnte den schwachen italienischen Akzent in ihrer Stimme vernehmen. „Wenn es nach mir geht, dann wäre dem so. Aber nicht, wenn es nach dem Kaiser geht und Friedrichs Wort ist für mich Gesetz, Blutsauger.“ Sie lehnte sich nach hinten.
Über seine Lippen legte sich ein leichtes Schmunzeln. „Ihr wart gerade sehr ehrlich zu mir, deshalb will ich auch ehrlich zu euch sein: Es gefällt mir ganz und gar nicht, wie viele Getreuen, Diener und noch der Kaiser selbst um meine Art Bescheid wissen. Ganz und gar nicht. Erneut habt ihr mein Wort darauf, dass es mir sehr recht wäre, dass ihr euch nicht mit mir ‚abgeben‘ müsstet. Aber für euch ist das Wort eures Kaisers Gesetz und ich kann jemanden mit seinem Einfluss und seiner Macht auch so schnell nichts abschlagen. Wir sind also beide Gefangene des Schicksals.“ Er trat einen Schritt zurück. „Ihr könnt es euch also angenehm machen oder jede Sekunde dagegen sträuben.“
Francesca di Valle seufzte abfällig und erhob sich. „Ihr habt Recht! Ich sollte es so schnell als möglich hinter uns bringen.“ Sie wandte sich mir einer raschen Bewegung zu ihm um. „Nur eines: Falls ihr in diesen Mauern nicht in der Lage sein solltet, euch zu beherrschen, wenn ihr nur ein einziges Kind oder einen Alten anfallt… Dann sorge ich persönlich dafür, dass ihr dafür bezahlt. Unterschätzt mich nicht: Ich bin gut.“ Ihr hartes Lächeln ließ keinen Zweifel daran, dass die Frau von ihren Worten überzeugt war.
Seine Augen funkelten sie an und er nickte gefasst. „Offenbar wisst ihr doch nicht so viel über uns, wie ich ursprünglich dachte. Gebt mir keinen Grund jemanden zu töten, und es wird niemand sterben. Weder durch Zähne, Klauen, noch Klinge. Ganz nebenbei müsstet ihr mich für sehr dumm halten, wenn ich mein Wesen im Palast des deutschen Kaisers offenbaren würde. Es bleibt unser kleines Geheimnis, versprochen.“ Er machte eine einladende Geste. „Geht voran und weist uns den Weg.“ Etwas in ihm drängte noch zu erwähnen, dass egal wie gut sie sein mochte, einem Unsterblichen nicht auf die gewöhnliche Art beizukommen wäre aber Madame beharrte unweigerlich auf ihren Stolz, den er ihr nicht unnötig nehmen wollte.

Francesca verließ, ohne sich nach Lucien umzusehen, das Zimmer und trat strammen Schritts durch die Gänge. Sie bog wahllos nach links und rechts ab, so dass er irgendwann den Eindruck gewann, dass sie absichtlich Umwege in Kauf nahm um ihn zusätzlich zu verwirren. Schließlich hielt sie an einer Tür aus hellem Ahornholz, das prächtig mit Intarsien verziert war. Ohne weiteren Kommentar folgte er der selbstüberzeugten Dame durch scheinbar zufällig gewählte Gänge, Kreuzwege, Abzweigungen, Tunnel und Stiegenaufgänge bis sie vor der Tür mit hellem Ahornholz ankamen. Natürlich wollte sie ihn verwirren und er ließ es ohne Klage über sich ergehen; was hätte es ihm auch gebracht? Der Kaiser war der Kaiser und es war unwahrscheinlich, dass er sich selbst einen direkteren Weg in diesem Anwesen auf Anhieb gemerkt hätte. Erneut bemerkte er die schönen Holzarbeiten. Vermutlich war er letztens zulange mit Liliane unterwegs gewesen, aber beschämt musste er zugeben, dass die kunstvollen Arbeiten etwas Erhabenes in sich trugen, dass ihn inspirierte.
Sie klopfte zwei Mal an, wartete wenige Sekunden und öffnete dann.
Während sie eintrat, beugte sie das Knie und senkte den Kopf. „Herr? Lucien Sabatier, Hauptmann der Brügger Nachtwache. Wie ihr gewünscht habt…“
Lucien konnte in das Zimmer blicken. Es war nicht allzu groß, dafür aber reich verziert und gemütlich eingerichtet. In jedem Möbelstück, an jeder Wandmalerei jeder Vase erkannte man den südländischen Einfluss.

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Der Kaiser erhob sich von seinem Schreibtisch und trat mit einem erfreuten Lächeln auf Lucien zu. „Kommt doch herein, Sabatier. Es freut mich, dass ihr meiner Bitte Folge leistet.“ Ein kurzer Blick ging zu der dunkelblonden Frau und er sprach etwas auf Italienisch zu ihr. Obwohl Lucien diese Sprache nicht beherrschte, konnte er mit Mühe ausmachen, dass es wohl eine Aufforderung an sie war zu bleiben.

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Friedrich deutete auf die weich gepolsterten, hellbraunen Möbel. „Setzt euch, Sabatier.“ Er selbst nahm am Ende des Sofas Platz. Francesca ließ sich nach argwöhnischem Zögern und mit wachsamem Blick auf den hölzernen Stuhl sinken.
Als sie eingetreten waren, umgab ihn prunkvoll-südländischer Stil, der geradezu energisch versuchte den eher schlichten, nüchtern-deutschen Stil zu übertünchen. Nach wie vor residierte der deutsche Kaiser wohl lieber in Sizilien, als auf dem Stammsitz seiner Familie in Deutschland. Selbstredend fiel auch er auf die Knie, senkte den Kopf und murmelte ein paar knappe Worte der Höflichkeit. „Es ist mir eine Ehre, eure Majestät“, klang es verhalten auf Latein. Nein, das hier war ganz sicher nicht die Umgebung, in der er sich wohlfühlte, aber stand für alle Anwesenden nicht längst außer Frage, dass jemand wie er nicht in gewohnten Bahnen einzuordnen war? Ein geheimer und abschreibbarer Aktivposten. Betont dankbar und ehrfürchtig, nahm er langsam auf den gepolsterten Möbeln Platz und bewunderte ein weiteres Mal die Einrichtung. „Es ist schon eine Zeit lang her, da wir uns sahen eure Majestät und doch scheint euch die Liebe zu Italien erhalten geblieben zu sein.“ Lucien wusste nicht ob belangloser Plausch gefordert oder erwünscht war aber er hatte noch im Gedächtnis, das schwierige Gespräche immer damit anfingen. Irgendwie.
Der Kaiser lachte. „Ihr seid ein in Flandern lebender Franzose, nicht wahr?“
Der Gangrel nickte knapp und verzog ein wenig die Lippen. „Frankreich ja. Ein wunderschönes Land voller gutbetuchter Adeliger und noch dekadenterer Könige. Ich glaube nirgendwo sonst habe ich den Unterschied zwischen Arm und Reich, Satt und Hungernd so eindrücklich gesehen wie in den Straßen von Paris.“ Kurz pausierte er nachdenklich und gedankenverloren. „Ich war lange nicht mehr dort aber ich verwette meine rechte Hand, dass sich das bis heute nicht geändert haben wird.“
Der Kaiser nickte. „Ich verrate euch ein Geheimnis: Dies hier sind die Stammlande meines Vaters, aber meine Heimat ist das Königreich Sizilien.“ Für einen Moment wurde er nachdenklich. „Es ist für mich mittlerweile einfach über Sizilien zu herrschen: Ich habe Gesetze erlassen, die Gerechtigkeit und Wohlstand garantieren werden, meine Feinde fürchten und meine Freunde schätzen mich dort. Universitäten wurden gegründet und wenn mich nicht der Papst ständig an das Kreuzzugsversprechen erinnern würde, das ich noch zu leisten habe, könnte das Leben fast zu schön sein… Hier in Deutschland jedoch kocht jeder Fürst sein eigenes Süppchen, jeder schmiedet eigene Ränke, möchte hofiert bekommen. Jeder stellt seine eigenen Armeen auf, die er gegen Feinde oder wenn daran gerade Mangel herrscht, einfach das Nachbarkönigreich marschieren lässt.“ Er verschränkte die Finger ineinander. „Es ist eine Herausforderung dieses Konstrukt, das das Heilige Römische Reich deutscher Nation genannt wird, zu regieren. Vor allem da es ein Reich von so gewaltigen Ausmaßen ist.“
Francesca nickte und erhob die Stimme. „Vor allem, wenn man bedenkt, dass Euch nicht nur sterbliche, größenwahnsinnige Monarchen und Gegenkaiser das Leben schwer machen wollen, sondern auch Magi, Wolflinge und Blutsauger… Wir haben schon genug von seiner Seite hier am Hof.“
Friedrich seufzte, widersprach der Kriegerin jedoch nicht. „Verzeiht Francesca bitte, Sabatier. Sie hält mit ihrer Meinung nicht hinterm Berg und ich schätze ihren Ratschlag. Auch wenn ich in dieser Hinsicht anderer Ansicht bin als sie.“
Gelegentlich zustimmend nickend, verfolgte er interessiert und konzentriert die Ausführungen des Kaisers über Heimat, Regentschaftssitz, politischer Lage und die alltäglichen und nächtlichen Probleme, die ein solch hohes Amt mit sich brachte. Der bissige Einwurf von Francesca, ließ ihn dabei nur müde lächeln. „Es gibt nichts zu verzeihen, Majestät. Eure Madame di Valle, hat meines Erachtens nach vollkommen recht. Ihr habt zahlreiche Feinde, Widersacher, Speichellecker und Günstlinge und zu allem Überfluss noch die Kirche, mit der ihr zu hadern scheint. Mir wäre das für ein Leben genug Herausforderung und Gefahr. Warum sich noch einer gänzlich anderen, dunkleren und um einiges blutigeren Welt zuwenden? Sind euch eure derzeitigen Probleme und Anliegen nicht genug?“ Er hob die Schultern. „Ich will euch nicht sagen, was ihr tun und lassen sollt, das würde ich mir nie erlauben, euer Majestät, aber ich und andere meiner Art, verkomplizieren eure Lage nur zusätzlich. Ihr werdet nie den Preis für die Unterstützung meiner räuberischen Art abschätzen können. Mag sein das es eines Tages zu viel wird.“
Wieder folgte ein Nicken von Friedrich. „Es wäre angenehm die Augen vor weiteren Problemen zu verschließen, aber zugleich ignorant und nicht sehr zielführend. Nur weil man gewisse Gegebenheiten nicht sehen möchte, heißt das noch lange nicht, dass sie nicht existieren, oder?“ Er blickte von Lucien zu Francesca und schenkte ihr ein zweideutiges Lächeln.“ Sie schnaubte nur.

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Dann sah er wieder zum Hauptmann. „Außerdem… bin ich nicht nur König über die Sterblichen. Ich bin Kaiser des Heiligen Reichs Deutscher Nation und damit aller Geschöpfe, die darin leben.“ Er sah einen kurzen Augenblick zur Decke als suche er dort nach Antworten. „Diese Begebenheiten sind komplizierterer Natur und sollten euch nicht weiter beschäftigen… Ich habe euch damals ein Angebot unterbreitet. Erinnert ihr euch daran?“
Der Hauptmann schloss für einen Augenblick die Augen und nickte. In seinen Gedanken formte sich Brügge mit seinen sterblichen und unsterblichen Bewohnern, der Krieg im Osten, der Krieg gegen den Osten, die Bündnisse mit Gent und Antwerpen, die Übernahme Brüssels, der Tod von Oriundus. Schließlich öffnete er die Augen wieder und nickte ein weiteres Mal. „Ich erinnere mich. Ich erinnere mich sogar recht gut daran. Ihr habt mir das Angebot unterbreitet, in eure Dienste zu treten und an eurer Seite für eure Sicherheit zu sorgen. Soweit ich es noch im Gedächtnis habe, war ich unschlüssig bezüglich meiner Entscheidung. Es gibt viele Gründe euer Angebot anzunehmen, aber genauso viele es abzulehnen, euer Majestät. Um was für eine Art Dienst würde es sich denn im Detail handeln?“
Er sah zu Francesca und legte den Kopf mit einer wissenden Geste leicht schief. „Ihr fragt zunächst nach. Das ist ein Zeichen von Klugheit und Weitsicht. Es ehrt euch.“ Wieder fixierte er Lucien. „Ihr kennt mein Anliegen, das ich euch damals unterbreitet habe. Ich hätte euch gerne an meinem Hof gewusst um mit euch die Belange der Sicherheit der Bewohner, der Befestigung und meiner eigenen Person mit euch zu erörtern. Dieses Angebot steht nach wie vor, falls ihr es annehmen wollt.“ Er zögerte kurz. „Allerdings habe ich ein weiteres Anliegen, bei dem ich eure Fähigkeiten sehr schätzen würde.“
Francesca sah demonstrativ aus dem Fenster. Es war Lucien klar, dass sie nicht wollte, dass er weiter sprach. Der Kaiser tat es dennoch. „Mein Sohn Heinrich ist vor einigen Tagen verschwunden. Der Junge ist offiziell König des Heiligen Römischen Reiches und ich nur sein Vormund bis zu seiner Volljährigkeit. Natürlich nur eine bürokratische Sache, die ich dem vorletzten Papst versprechen musste.“
Lucien kniff die Augen zusammen. Das war um ehrlich zu sein ein wenig sehr hohe Politik für einen ehemaligen Wegelagerer, Banditen, Räuber und Tunichtgut. Er räusperte sich und lachte knapp und verhalten, als ob er es nicht ganz glauben wollte. „Ihr wollt, dass ich euren Sohn Heinrich für euch finde und sicher und wohlbehalten wieder zu euch zurückbringe? Mit Verlaub, euer Majestät, werde ich da nicht in ziemlich komplexe und von langer Hang geplante Pläne und Intrigen verwickelt? Meint ihr nicht, dass mein Auftreten in dieser Sache alles womöglich noch schwieriger und gefährlicher werden lässt?“ Er seufzte. „Wo und wann wurde der Junge das letzte Mal gesehen und wen habt ihr im Verdacht?“
Friedrich seufzte. „Ich vermute eine Entführung, aber die Sache ist insgesamt nicht ganz einfach.“ Der ungefähr Dreißigjährige, der ihm gegenübersaß wirkte bedrückt. „Da Heinrich den Titel des Deutschen Königs trägt, ist er seit seinem fünften Lebensjahr hier in Deutschland aufgewachsen. Der Erzbischof von Köln, dem ich bisher vertraut habe, ist derjenige, der die Geschäfte für ihn übernimmt. Ich selbst habe mich nur sporadisch in Deutschland aufgehalten. Vor ein paar Tagen kam es zu einem Zerwürfnis zwischen uns. Heinrich war eigentlich einer böhmischen Königstochter, Agnes, versprochen, die er noch nie gesehen hat. Ich habe jedoch dazu gedrängt die Verlobung auflösen zu lassen, damit eine Hochzeit mit Margarethe von Habsburg möglich ist. Das Mädchen ist neunzehn und soll sehr schön sein. Das hat meinem Sohn jedoch nicht gefallen und er ist wütend davon gestürmt. Als ich erneut das Gespräch suchte war er sowie die für ihn wichtigsten Gegenstände, verschwunden.
Es erklang an langgezogenes, schweres und ganz und gar mutloses Seufzen, als der unrasierte Hauptmann die knappe aber durchaus verworrene Geschichte des Verschwindens von Heinrich, dem Sohn des Kaisers vernommen hatte. Allein durch die politischen Verstrickungen und Verflechtungen, Beziehungen, verschiedenen Gruppierungen von Staaten, Kirche und Lehnstreue, gestaltete sich ein mannigfaltiges Bild, das unzählige Möglichkeiten offenließ und dabei keine bevorzugte. Selbst das was am wahrscheinlichsten anmuten mochte, war nicht zwangsweise die primäre Spur, die es zu verfolgen galt oder die von Erfolg gekrönt sein mochte. Zaghaft schüttelte er den Kopf und murmelte verhalten: „Na wunderbar…“. Dann raffte er sich auf und schüttelte seine Lethargie ab. Was half es sich darüber zu beschweren, wie die Dinge nun einmal standen? Der Kaiser vermisste seinen Sohn, der bereits zur Hälfte die Erbfolge angetreten hatte; lediglich dabei vom Erzbischof von Köln unterstützt wurde. „Ich würde euch meinem Bauchgefühl nach recht geben, eure Majestät. Der Konflikt zwischen euch und eurem Sohn wegen der aufgelösten Heirat mag nach außen hin die perfekte Tarnung sein um das Verschwinden zu erklären. Wutentbrannte, adelige Kinder die sich den Wünschen ihrer Väter nicht fügen und davonlaufen. Aber es sind niemals die einfachen Erklärungen, die solche Rätsel lösen, daher müssen wir uns fragen: Wer profitiert am meisten davon wenn euer Sohn auf ewig verschwunden bleibt?“
Friedrich lachte freudlos auf. „Jeder, der hier in diesen Landen sein eigenes Süppchen kochen will und dem dabei die Gesetze und Anordnungen, die ich erlasse, ein Dorn im Auge sind, profitiert. Der Papst in Rom, jeder, der sich Einfluss auf den jungen König verspricht. Kinder sind nun einmal meist leicht zu beeinflussen.“
Die dunkelblonde Frau meldete sich wieder zu Wort. „Ich habe eine Spur und ich werde euren Sohn finden. Aber ihr könnt nicht von mir verlangen, dass ich mich diesen Blutsauger dabei mitnehme!“ Ihre Stimme war voll unterdrückter Wut.
„Francesca… das…“ Ein heftiges Klopfen an der Tür ließ den Kaiser verstummen. „Herein!“
Lucien erkannte einen Mann in einfacher, jedoch teurer Gewandung. „Friedrich? Verzeiht, dass ich störe, aber…“ Er sah zu dem Kainiten, den er nicht kannte, doch ein Nicken des Kaisers ließ ihn weitersprechen. „Die… die Personen, mit denen ihr euch heute um Mitternacht besprechen wolltet, sind bereits eingetroffen und haben die Versammlung ohne euch begonnen.“
„Sie haben was?“ Friedrich war mit einem heftigen Satz aus den Kissen gesprungen und kam wutentbrannt auf den Verkünder der Botschaft zu. „Das ist wohl ein Scherz. Was erdreistet sich dieser Hardestadt?“ Er sammelte sich und ballte die Hände zu Fäusten. „Danke, Hermann, dass du mich informiert hast.“ Er sah zu der jungen Frau und dem Gangrel. „Francesca? Gib unserem Gast eine Weste, die er sich überziehen kann, damit er in dem Gewust aus blaublütigen und weniger blaublütigen Mächtigen nicht so auffällt. Ich möchte, dass er dabei ist.“ Der Mann klopfte dem anderen, den er mit Hermann angeredet hatte, aufmunternd auf die Schulter; dann verließ er das Zimmer.
Francesca sah zu Lucien, verdrehte die Augen und seufzte.
Was sollte der Gangrel noch darauf antworten? Der Kaiser hatte es selbst gesagt: Jeder noch so kleine Adelige, Kirchenmann oder gierige Speichellecker der seine große Chance aus dem Verschwinden von Heinrich zu profitieren gekommen sah, würde sich mit eitler Wonne und wachsender Motivation für jede noch so boshafte Intrige oder Entführung begeistern lassen. Die Suche entsprach tatsächlich der berühmten Nadel im Heuhaufen. Einem Heuhaufen der die Ausmaße des Heiligen römischen Reiches deutscher Nation anzunehmen drohte. Umso interessierter und hoffnungsvoller wurde sein Blick, als dann Francesca zu verstehen gab bereits erste glaubhafte Hinweise und Spuren bemerkt zu haben. Das würde dieses aussichtslose Unterfangen um einiges einfacher gestalten. „Dieser Blutsauger ist nur so gut wie die Informationen die er bekommt. Diese Odyssee kann nur erfolgreich beendet werden, wenn…“ Auch er hielt inne, als es an der Tür klopfte und verfolgte misstrauisch die unliebsame Nachricht, welche man dem Kaiser überbrachte. Hardestadt also. Er wollte schon die Aufmerksamkeit auf sich lenken, um den Kaiser zu verstehen zu geben das es sich bei eben genannten Adeligen keineswegs nur um einen gewöhnlichen, gierigen Menschen handelte aber da hatte Friedrich bereits seine Anweisungen gegeben und war durch die Tür verschwunden. Lucien klappte den Mund wieder zu und sah seufzend zu Francesca. Eine politische Versammlung der größten, deutschen Adeligen und Machthabern, mitsamt Kaiser und vermutlich noch kirchlicher Abgesandter. Und er mittendrin in einem Brokatwams und Schärpe. Das waren ja heitere Aussichten. Die Vertraute des Kaisers dachte wohl dasselbe. Schlussendlich erhob er sich dennoch schwerfällig und atmete langsam aus. „Nein mir gefällt das genauso wenig wie euch aber ihr werdet verstehen, das der Kaiser seine Chancen maximieren will. Zwei Leute finden mehr heraus als nur eine Person und zwei sind im Anbetracht der Situation wohl auch genug. Wir wollen ja das Reich nicht verunsichern und einen großen Skandal daraus machen.“ Suchend blickte er sich um. „Ich bin kein Mann der höfischen Sitten und Gebräuche. Gebt mir etwas passendes aber unauffälliges. Ich werde mich ganz sicher nur im Hintergrund aufhalten. Seid jedoch gewarnt, Hardestadt ist sozusagen der Heerführer einer ganzen Sippe meiner Art und versucht sicher nicht nur seine weltlichen, sondern auch unsterblichen Pläne voranzutreiben.“
Francesca nickte. „… Ich weiß… der schwarze Monarch. Eure Kriege im Osten machen so ziemlich jedem hier in diesem Reich das Leben schwer. Ich frage mich ob es ohne euch Kainiten wohl Frieden gäbe oder ob die Menschen dann von ganz alleine auf die Idee kämen sich in regelmäßigen Abständen die Köpfe einzuschlagen. Ich gehe mal stark von Zweitem aus.“ Sie sah ihn misstrauisch an. „Wie steht ihr zu Hardestadt? Friedrich meinte ihr kämet aus Flandern und wäret unabhängig, keinem der edlen Blutsauger Gefolgschaft schuldig. Das ist einer der Gründe, warum er euch gern bei sich hätte.“
Lucien zögerte bevor er ihr eine Antwort gab; kommentierte noch knapp ihre vorhergehenden Worte. „Ich pflichte euch bei was die Menschen und Untoten betrifft: Mit oder ohne uns würde Krieg und Leid herrschen. Manchmal bedingen wir die Umstände, manchmal gehen die Auseinandersetzungen von Sterblichen aus. Am Ende kann, glaube ich, niemand mehr sagen, wer den ersten Streich geführt hat.“ Er räusperte sich und begann tatsächlich etwas auf und ab zu gehen. „Ich weihe normalerweise niemanden in unsere Politik ein, aber in diesem Falle werde ich euch das notwendigste mitteilen. Genau wie bei euch, gibt es große Reiche und Fürstentümer, die von den mächtigsten unserer Art regiert werden. Im Grunde haben diese Landstriche das Vasallentum und die Lehnstreue einfach nur übernommen. Die uralten bekommt man dabei nie zu Gesicht aber Leute wie Hardestadt, sind noch jung genug um sich um die Belange der Welt zu kümmern und alt genug um für jeden anderen eine angemessene und gefährliche Herausforderung darzustellen. Brügge hat einen anderen Weg gewählt: Wir haben keinen Fürsten, dem wir Lehnstreue schuldig wären und regieren unsere Stadt, als eine Art Stadtstaat in einem Gremium mehrerer Ratsmitglieder.“ Abermals seufzte er. „Hardestadt ist kein Freund oder Verbündeter von uns, aber noch ist er auch weit davon entfernt ein offener Feind zu werden. Es wäre mir ganz lieb, wenn das auch so bliebe. Wir haben mit Frankreich und England und diversen anderen Kleinigkeiten wie Kirche und allen möglichen Verrückten genug zu tun in diesen Nächten. So gesehen hat Friedrich also recht, ich bin in gewisser Weise unabhängig.“
Sie sah ihn abwägend an. „Ich kenne mich ein wenig in euren Belangen aus. Soviel wie notwendig ist. Aber normalerweise gehe ich euch Blutsaugern lieber aus dem Weg. Sowohl Friedrich als auch einige wenige seiner Vertrauten wissen Bescheid. Höfe der Liebe… Mithras… Was auch immer. Aber damit muss sich unser Kaiser glücklicherweise nicht herumschlagen.“ Sie erhob sich. „Nun gut, suchen wir euch was Passendes heraus. Kommt mit!“
Er folgte der Frau wo immer sie ihn auch hinführen würde; schwer mit eigenen Gedanken beschäftigt. War das wirklich eine gute Idee gewesen?
Sie ging mit ihm durch mehrere Gänge und legte diesmal ein langsameres Tempo ein. In einem Schlafgemach mit breitem Schrank hielt sie an und durchsuchte das Möbelstück. Beim dritten Griff hatte sie gefunden, was sie suchte und reichte Lucien eine schwarze Samtweste mit winzigen roten Stickereien und einen Paradesäbel. „Vielleicht pass euch das?“ Danach hielt sie ihm einen Kamm hin. „Ich glaub, das könnt ihr auch gebrauchen. Ich wart‘ draußen auf euch.“

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Er bedankte sich knapp und nüchtern bei ihr und machte sich daran die unliebsame Kleidung anzuprobieren. Glücklicher- oder aber bedauerlicherweise passte sie ihm sogar und als er einen missmutigen Blick in den Spiegel warf, hätte man ihn tatsächlich für einen merkwürdigen Adeligen oder seltsamen Günstling bei Hofe halten können. Mit festen, ungewohnten Bewegungen kämmte er sich das Haar streng nach hinten, sodass es glatt auflag und band die doch eher wenig gepflegte Haarpracht mit einem schmalen Haarband zu einem Pferdeschwanz. Mit dem Paradesäbel an der Hüfte sah er aus wie einer dieser leicht in Ungnade gefallenen, schmierigen und arg verwöhnten, französischen Adeligen. Ein Comte oder Marquis womöglich. Solchen Leuten hatte er früher die Nase gebrochen bevor er sich um ihre Münzen erleichterte. Kopfschüttelnd rief er nach Francesca. „Adelig genug?“, fragte er sich sichtlich unwohl fühlend. „Habe ich euer Wort, das meine Sachen hier nicht abhandenkommen? Gerade mein Schwert ist ein Unikat und hat einen hohen persönlichen Wert für mich.“
Sie hatte die Arme vor der Brust verschränkt und wirkte fast etwas gelangweilt. Dann jedoch zeigte sich ein winziges Grinsen um ihre Mundwinkel. „Ja, sehr dekadent. Ihr habt was von einem französischen Grafen. Keine Angst, die Mägde werden sich an euren Kleidern ganz sicher nicht die Finger dreckig machen.“ Sie verzog spöttisch und herausfordernd das Gesicht. „Sie haben was gegen Flöhe“ Dann schlug sie sich gespielt an die Stirn. „Ich vergaß: Die überleben bei euch ja gar nicht mehr… Verflixt!“ Diesmal begann sie wirklich breit zu grinsen und wandte dann den Blick ab.
Lucien lächelte schmal. „Genauso wie mich kein Hunger mehr plagt, kein Durst und keine Krankheit. Ich werde nie alt und gebrechlich werden, das Augenlicht und mein Hörvermögen verlieren. Und während ihr hier als Frau immer noch um die Anerkennung unter Männern kämpfen werdet, bis ihr eines Tages ehrenvoll und kinderlos aus dem Dienst entlassen werdet, werde ich immer noch da sein.“ Er ging schmal grinsend an ihr vorbei. „Und wenn Friedrich längst Asche ist, werde ich immer noch da sein. Und wenn man all die Namen dieser großen Herrschaften am Hofe irgendwann in den Büchern der Geschichte lesen wird, um zu versuchen sich mehr schlecht als recht an sie zu erinnern werde ich immer noch da sein. Da nehme ich ein paar stinkende und dreckige Kleidungsstücke und das Fernbleiben von Flöhen doch gerne in Kauf. Euch bleiben ein paar Jahrzehnte, wenn ihr Glück habt. Mich erwartet die Ewigkeit.“
Sie verlor das Grinsen nicht, reckte die Nase jedoch etwas höher. „Großkotzig, wie alle überheblichen Blutsauger. Ich kontere mit Sonnenstrahlen auf moosigen Waldboden, die Wärme des Tages auf der Haut, ein kräftiger Schluck Bier, ein Stück frisch gebackenes, knuspriges Brot, der Geruch des Geliebten?“ Sie zuckte mit den Schultern. „Lassen wir die Kindereien!“
Er hielt das Grinsen ebenso aufrecht. „Vergänglichkeit ist schon ein schweres Los, aber ihr habt recht, wir sollten uns auf unsere Aufgabe konzentrieren. Und diese lautet derzeit wohl so ungern ich es zugebe einer Versammlung von Adeligen und Würdenträgern beizuwohnen.“ Mit einer Hand machte er eine Geste, die ihr zu verstehen geben sollte, dass sie sich nun aufmachen müssten. Man würde gewiss nicht auf sie warten.

Sie gingen einige Stockwerke hinauf und hinunter. Schließlich erreichten sie eine winzige, unscheinbare Tür. Francesca zog einen Schlüssle hervor und öffnete. In dem schmalen Gang, der folgte, war es stockfinster. „Verfügt ihr über die Möglichkeit im Dunkeln zu sehen? Ansonsten haltet euch an meinem Ärmel fest. Es sind nur vier Meter.“ Sie schritt weiter und schob einen schweren Samtvorhang ein wenig zur Seite um hindurchschlüpfen zu können. Als Lucien es ihr nachtat, trat er in einen großen vom Licht dutzender Kerzen hell erleuchteten Raum

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Knapp schüttelte er den Kopf und folgte ihr durch die kurze Dunkelheit. Für so etwas wollte er seine Augen gar nicht bemühen. Ganz nebenbei wusste er nicht, ob sie am Ende des Durchganges bereits in der Ratshalle angekommen wären oder nicht. Und er wollte es auf jeden Fall vermeiden seine rötlich Glimmenden Augen auch nur durch einen dummen Zufall irgendjemandem zu offenbaren. Wenige Sekunden später sollte er recht behalten; im hellen Kerzenschein lag vor ihnen der weitläufige Raum in welchem Politik gemacht wurde. Was für Politik; nun das würde er wohl oder übel gleich erfahren.
Keiner hatte die Neuhinzugekommenen bemerkt, denn jeder sah gebannt auf die beiden Männer, sich in der Mitte des Raumes gegenüberstanden. Der eine, das war eindeutig, war Friedrich. Der Mann, der ihm gegenüberstand war hoch gewachsen und schlank, fast ein wenig dürr. Der breite Pelzmantel, den er sich über die Schultern gelegt hatte, sollte wohl darüber hinwegtäuschen. Eine Krone prangte im Gegensatz zu Friedrich auf dessen Haupt.

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Im Thronsaal waren einige Personen versammelt: Lucien konnte den Mann ausmachen, den Friedrich mit Hermann angesprochen hatte, neben dem Mann im Pelzmantel waren zwei Männer und eine Frau zu erkennen, die allein durch die blasse Hautfarbe den Verdacht erregten kainitischer Natur zu sein. Neben dem Eingang waren zwei Männer positioniert, die so aussahen als würden sie am liebsten den Raum beim kleinsten Anzeichen von Gefahr verlassen. Ein Mann in der Nähe von Friedrich wirkte sehr alt und trug die Gewänder der Gelehrten. Dann waren da noch zwei Männer in der marchialischen Rüstung des Ostens, von denen er den einen sofort erkannte.

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Andrej. Ein Name wie vergiftete Glasscherben in einem randvoll gefüllten Weinbecher, den der Teufel eingeschenkt hatte. Fest biss er die Zähne zusammen und versuchte sich nichts anmerken zu lassen. Fünfzig Jahre war er mit einem Bann belegt worden und selbst das erschien dem Gangrel noch zu wenig. Er hätte es ja erahnen können, schließlich hatte Emilian ja von einem Freund gesprochen, der mit Hardestadt verhandeln wollte. Dass es dann ausgerechnet Andrej sein musste, kam allerdings überraschend, da er den Erzeuger Alidas doch mittlerweile tatsächlich eher neutral und weniger dem Osten zugewandt erlebt hatte. Sollte er sich dermaßen geirrt haben? Leider blieb ihm nicht allzu viel Zeit sich darüber Gedanken zu machen, denn neben dem verhassten Unhold stand in dicke Pelze gehüllt der Heerführer und Gebieter des Lehens des Schwarzen Kreuzes selbst. Ihm gegenüber der sterbliche Friedrich. Zwar musste er nicht mehr atmen,, aber er hätte für einen Moment doch gerne die Luft angehalten. So viele Feinde und machtvolle Kainiten an einem Ort, zusammen mit den höchsten Würdenträgern dieser Lande; schrecklich. Langsam drängte er von seiner offenen Position in die Nähe der Schatten, welche die hohen Säulen im Saal warfen, stets darauf bedacht keine Aufmerksamkeit zu erregen und möglichst nicht gesehen zu werden. Was hatte er sich bei diesem Unsinn eigentlich gedacht? Das war eine Aufgabe für Leif, denn der wusste sicher wie man sich jetzt am besten verhielte. Oder für Liliane, die würde alles verdrängen und schönreden und sich damit selbst beruhigen können. Sogar Alida wäre hierfür besser geeignet, aber er als Gangrel und Brügger Ratsmitglied? Schweigend verharrte er wie eine Statue und rührte sich nicht. Sollte es zu Handgreiflichkeiten kommen… nicht auszudenken.

Friedrich sprach denjenigen im Pelzmantel mit der Krone an. Offensichtlich waren beide in eine Diskussion verwickelt „Hardestadt? Auch wenn ich euch nur ungern daran erinnere: Dies hier ist die Kaiserpfalz. Auf eurem eigenen Sitz mag das geschehen, was ihr wünscht, aber hier bestimme ich. Die Versammlung war für Mitternacht einberufen. Es müssen Vorbereitungen getroffen werden und mit Ausnahme von Casimir von Stege und Ulfgard von Anroge sind die anderen Teilnehmer noch nicht eingetroffen.“
Der majestätisch wirkende Mann im Mantel hob eine Hand in die Höhe um Friedrich zum Einhalten aufzufordern und der harsche Befehl „Schweig!“ kam im gleichen Moment.

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Lucien kannte den bestimmten, unnachgiebigen Tonfall in dem die Befehle durch Beherrschung verstärkt wurden.
Friedrich jedoch sah Hardestadt fest an, ohne ein Anzeichen an den Tag zu legen, der Disziplin gehorchen zu müssen. „Ich würde euch und eure Gäste aus dem Osten bitten noch die verbleibende Zeit zu warten. Ein kleiner Spaziergang auf den Dachterrassen, eine Erfrischung in den Gärten? Es gibt hier mehr als genug Zerstreuungen. In zehn Minute werden die Diener auf meine Anordnung hin beginnen in diesen Räumlichkeiten alles vorzubereiten.“
„Friedrich?“ Hardestadts Stimme war volltonend und tief. Es war eine Stimme, die auch im hintersten Winkel einer Kathedrale zu hören gewesen wäre, wenn man sie auch nur geflüstert hätte. Seine Körperhaltung verriet die selbstbewusste Macht, die er in Händen hielt. Es war klar, dass er absichtlich auf die gebührende Anrede des Kaisers verzichtete. „Bevor ich nun demnächst mein Gespräch mit meinen östlichen Gästen fortführen werde: Wie ist es mit der Suche nach unserem geliebten, jungen König? Der Junge ist nach wie vor nicht aufgetaucht. Adäquate Suchtrupps sollten entsandt werden, nicht diese einfachen sterblichen Wachleute, die den linken nicht vom rechten Stiefel unterschieden können. Jeder wünscht, dir endlich deinen geliebten Sohn zurück zu bringen. Ich kann mir vorstellen, deine Dankbarkeit kennt keine Grenzen…“
Friedrich gab sich Mühe seiner Stimme einen festen Klang zu verleihen. „Es werden noch in dieser Nacht Suchtrupps entsandt werden.“
Der ältere Mann in den Gewändern der Geleerten meldete sich zu Wort.

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„Ich selbst werde aufbrechen. Mohn wird mich begleiten.“
Francesca an Luciens Seite sprach laut und mit einem Mal drehten sich die Augen der Teilnehmer zu ihr um. „Ich bin ebenfalls dabei und finde den Jungen.“
Hardestadt fixierte erneut den Kaiser. „Nun denn, Friedrich. Du schickst also Magi, Wolflinge, Wechselbälger aus?“ Er schwieg einige schwere Sekunden. „Natürlich ist es dann nur selbstverständlich auch einen aus unseren Reihen mitzuschicken… Jürgen hier…“
Seine volltönende Stimme wurde just unterbrochen. Francesca war einen Schritt nach vorne getreten. „Fürst Hardestadt? Wir haben bereits jemanden aus euren Reihen, einen Kainit mit Erfahrung und ausreichenden Fähigkeiten, den Besten, den man nur bekommen kann. Ich reise mit ihm.“ Sie deutete auf den Mann, der neben ihr, halb verborgen im Schatten einer Säule stand: Lucien.

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Der Weg zum Ziel beginnt an dem Tag, an dem du die hundertprozentige Verantwortung für dein Tun übernimms.
Dante Alighieri


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BeitragVerfasst: Mi 5. Okt 2016, 20:30 
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Irgendwann zwischen den Gesprächen hatte er aufgegeben sich noch einen Reim darauf machen zu wollen. Warum wusste hier jeder über Kainiten und schlimmer noch, Magi, Werwölfe und allen anderen möglichen Bewohnern hinter dem Vorhang Bescheid? Zum Teufel, nicht einmal er hatte mehr als ein paar dieser Kreaturen in all den Jahrhunderten seiner Existenz gesehen, geschweige denn auch nur ein Wort mit ihnen gewechselt. Außerdem war die merkwürdige Vertrautheit, die Hardestadt mit dem Kaiser und allen anderen hier an den Tag legte, geradezu überdimensional vermessen. Gewiss mochte es sein, dass völlig von sich selbst eingenommene Monarchen und Heerführer eine überhobene Dekadenz und überbordenden Stolz vor sich hertrugen wie andere Leute einen prall gefüllten Schubkarren, aber dieser Auftritt war in jeder nur erdenklichen Weise inadäquat.
Es musste irgendjemandem immense Vorteile bringen sich auf diese Art diesen bestimmten Sterblichen zu offenbaren, aber was wusste er schon von der Politik? Nun, zumindest von der unsterblichen dachte er, einst etwas verstanden zu haben, wenigstens in den Grundzügen, aber jetzt… jetzt war alles anders. Francesca di Valle oder der Kaiser selbst würden ihm einiges erklären müssen.
Als dann sein Name fiel und sich das versammelte Aufgebot in seine Richtung drehte, wäre er am allerliebsten im Boden versunken. Buchstäblich. Er war als Kainit für alle Augen enttarnt und zudem würde ihn zumindest der eine oder andere ganz zweifelsohne erkennen, selbst wenn es nur Beschreibungen von ihm gab. Lucien Sabatier hatte die Politik der sterblichen und Unsterblichen immer gemieden, aber jetzt war er der zentrale Mittelpunkt eben dieser. In Ermangelung einer besseren Alternative auf diese Situation angemessen zu reagieren, verbeugte er sich leicht und schwieg. Was hätte er auch schon groß sagen sollen?
Jeder sah zu Lucien und der Gangrel erkannte, dass der Unhold aus dem Osten die Finger wie zum Gruß an die Stirn legte. Da er am Ende des Raumes stand, bemerkte es außer der Gestalt, die neben ihm stand, niemand.
Lucien erwiderte den Gruß nicht, funkelte lediglich wissend und kalt in die Richtung des Unholds. Wer immer ihn auch für diese Aufmerksamkeit im Rampenlicht beneidete, konnte sie gerne haben. Ihm war das alles um einiges zu viel geworden. Zu viele Untote, zu viel Politik und Macht auf einem Haufen.
Lucien bemerkte wie einer der Kainiten aufstehen und Protest einlegen wollte.

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Friedrich nickte Hardestadt zu und sprach, ehe der kainitische Fürst etwas erwidern konnte. „Nun, denn. Eurem Wunsch ist genüge getan. Ein Untoter in diesen Reihen. Sie werden bald aufbrechen.“ Er sah zu dem gerade Aufgestandenen. „So könnt auch ihr, Jürgen, euch wichtigeren Dingen widmen… nicht wahr? Ich begebe mich nun in meine Gemächer. Ich erwarte euch alle, mit Ausnahme der Suchenden, um Mitternacht. Gehabt euch wohl!“ Er nickte allen Anwesenden ein letztes Mal zu, dann verschwand er aus dem Haupteingang.
Dass die protestierende Gestalt in der Nähe von Hardestadt sich als Jürgen von Magdeburg entpuppte, war da schon fast wieder vernachlässigbar im Anbetracht des heutigen Abends. Worauf hatte er sich da nur eingelassen? Teufel auch. Noch bevor irgendjemand weitere Blicke in seine Richtung werfen oder ihn gar ansprechen konnte, zog er Francesca näher an sich heran und führte sie noch im Umdrehen mit sich in die hinterste Ecke der Halle. Sein Griff war bestimmt, aber nicht unnötig grob. Zwischen zusammengepressten Zähnen, bemüht einen würdevollen Schritt einzuhalten, zischte er verärgert und unsicher: „Ihr werdet mir einiges erklären müssen! Dass Hardestadt hier ist und sein kleiner Bückling Jürgen verstehe ich ja noch. Auch, dass der Osten für Verhandlungen mit eben jenen angetreten ist, stellt keine Auffälligkeit dar, obgleich ich es nicht gerade begrüße Andrej wiederzusehen.“ Sein Blick streifte fordernd den ihren. „Aber warum, in Gottes Namen, weiß hier jeder über die Unsterblichen Bescheid, als ob ein Jahrmarktsschreier unsere Existenz jeden Morgen am Dorfplatz verkünden würde? Und warum wird hier von Magi, Wolfingen und anderen Kreaturen geredet, als ob es das Normalste auf der Welt wäre? Schlimmer noch, warum glaubt auch nur irgendjemand diese Gruppierungen ließen sich vereinen?“
Francesca griff nach Luciens Hand und befreite sich energisch daraus. „Es gibt viele Fragen und viele Antworten. Aber ob ausgerechnet ich diejenige bin, die euch Auskunft geben wird? Nun…“ Sie machte eine Pause. „… ich mag’s bezweifeln.“ Ganz offensichtlich gefiel es der sturen Kämpferin nicht, von Lucien durch die Gegend gezerrt zu werden.
„Auf jeden Fall hab‘ ich lieber euch an meiner Seite als Jürgen von Verdek. Wollt ihr mitkommen?“ Sie nickte in Richtung Geheimgang.
Lucien funkelte sie nur weiterhin an. „Mitkommen? Wohin? An einen ungestörten Ort, wo meine Fragen beantwortet werden oder auf die Suche nach dem Sohn des Kaisers? Letzteres wird sich wohl nicht vermeiden lassen, ersteres aber auch nicht.“ Er blieb mitten im Gang stehen. „Denn irgendjemand wird mir das Spektakel von vorhin trotz alledem erklären müssen, sonst sieht sich der herausragende Kainit leider außer Stande diese Unternehmung zu unterstützen.“
Francesca zuckte mit den Schultern. „Könnt ihr mir das schriftlich geben? Nicht, dass es später heißt, ich hätte euch vergrault. Friedrich wäre untröstlich.“ Die leichte Ironie in ihrer Stimme war unverkennbar. Sie war längst wieder hinter den Vorhang getreten, der in den Geheimgang führte. „Ihr könnt natürlich auch hierbleiben und Hardestadt erklären, dass ihr doch nicht so gut seid, wie man behauptet und danach wieder brav nach Hause reisen. Dann weiß der schwarze Monarch jedenfalls, dass aus Flandern nichts kommt, das ihm das Wasser reichen könnte.“ Sie war in den Schatten vor ihm im Geheimgang verschwunden.
Lucien bemühte sich mit ihr Schritt zu halten. „Das wäre vermutlich gar nicht so schlecht, Fräulein di Valle. Wenn aus Flandern nichts Anständiges kommt, dann ist dort auch nichts zu holen und somit sind wir für den großen Hardestadt völlig uninteressant.“ Er verkniff sich weitere Bemerkungen und mahlte unablässig mit den Zähnen. „Lassen wir das. Ich nehme an, der Kaiser kann mir freundlicherweise Antwort auf all meine Fragen geben. Werden wir ihn jetzt noch sprechen können oder ist er gleich im Anschluss mit anderen Aufgaben betraut?“
Sie war wieder aus der Dunkelheit in den Gang getreten. „Ich schätze, der Kaiser wird sich nach diesem Scharmützel mit Hardestadt mit einigen wichtigen Leuten beraten müssen. Normalerweise fordert keiner der beiden den anderen heraus.“ Sie seufzte. „Wie ich diese arroganten Blutsauger hasse…“ Sie sah zu Lucien. „Ich mache euch einen Vorschlag: Ich werde euch die Fragen beantworten, die ihr habt und dafür sind wir in einer Stunde aus dieser Stadt raus. Einverstanden?“
Der Gangrel nickte sachte. „Und macht euch über Arroganz keine Gedanken. Man kann sich so etwas nur leisten, wenn man die notwendige Macht und boshafte Verschlagenheit besitzt, um diese auch im Zweifelsfall tatkräftig zu untermauern. Und Hardestadt kann das, darauf könnt ihr euch verlassen. Es ist sowohl für euch, als auch für mich besser, nicht einmal annähernd in die Schusslinie dieses Alten zu gelangen. Denn dann ist Arroganz unser geringstes Problem.“ Zügig ging er neben ihr her. „Erzählt mir, was ihr berichten könnt und dann sehen wir zu, dass wir die Stadt, eurem Wunsch gemäß, so schnell wie möglich verlassen. Ehrlich gesagt, seid ihr mit diesem Bedürfnis da nämlich nicht allein.“
Sie ging nun neben, nicht wie zuvor vor, ihm. „Was wollt ihr wissen?“
„Wie ich bereits sagte: Warum weiß hier jeder über die Unsterblichen Bescheid? Und warum scheint es fast so, als würden sie zum normalen Bild eines deutschen Königshofs gehören?“ Er schüttelte ungläubig den Kopf. „Und was hat es mit diesen Magi und Werwölfen auf sich? Wie kann es sein das sich all diese Geschöpfe hier versammeln? Gar vielleicht noch als Suchtrupp für den deutschen Kaiser zusammenschließen?“ Verhalten lachte er kurz auf. „Versteht mich nicht falsch, ich mag kleine Märchengeschichten aber in der Realität versucht jeder die Existenz unserer Art geheim zu halten und ich verwette meine Existenz darauf, die anderen Kreaturen da draußen halten es ähnlich.“
Die beiden waren vor einer breiten Tür angekommen und Francesca öffnete diese. Darin befand sich allerlei. Man fand getrockneten Schinken, Karaffen mit alkoholisch riechenden Flüssigkeiten, Säcke voll Brot und Nüssen. Aber es gab auch Kleidung, Mäntel, Waffen, einfache Rüstungen, Decken und allerlei Anderes. Ganz offensichtlich war dieser Lagerraum dazu gedacht in Kürze mit allem Notwendigen auszurüsten. „Bedient euch, Blutsauger.“ Die dunkelblonde Kriegerin griff nach einem Sack und füllte ihn mit Nahrungsmitteln, stopfte sich selbst noch eine Dörrbirne in den Mund. Kauend ging sie in hinteren Teil in dem in Tiegeln und Flaschen Heilkräuter und Tinkturen gelagert wurden. „Verdammt! Wo ist es nur?“ hörte er sie fluchen. Sie griff nach einigen grauen getrockneten Blütenblättern und verstaute sie in einem Lederbeutel. „Zu wenig…“
Der Gangrel sah sich wenig interessiert in der geräumigen Vorratskammer um. Was immer es hier auch geben mochte, es war nichts dabei, das er auch nur in Erwägung gezogen hätte auf die Suche mitzunehmen. Vielleicht ein wenig Lampenöl und ein paar Pechfackeln; das war es dann aber auch. Zögerlich suchte er danach und als er gefunden hatte, wonach er suchte, schnappte er sich auch noch einen kleinen Sack voller Äpfel, der ihm ins Auge stach. Für Ajax wohlgemerkt; er selbst hätte sie nicht einmal als Wurfgeschosse verwenden wollen. „Ich glaube im Grunde habe ich bereits alles. Meine Rüstung und meine Waffen sind alles was ich für gewöhnlich benötige. Die werde ich mir vor unserem Aufbruch auch noch holen gehen. Ach ja, tut mir noch bitte einen Gefallen.“ Er pausierte und sah sie eindringlich an. „Nennt mich Hauptmann, Gangrel, Wolf oder Lucien. Blutsauger ist ein abfälliger und wenig präziser Ausdruck.“
Sie zuckte mit den Schultern, hatte offensichtlich alles, was sie benötigte, gefunden. „Friedrich ist… puh… das ist schwierig. Wo fang ich da an?“ Sie überlegte. „In Flandern ist es bestimmt, wie überall auf der Welt ähnlich: Blutsauger, Garou, Magi, Wandelwesen… Sie alle können sich nicht ausstehen. Vor allem die Garou und die Blutsauger kämpfen ums erbittertste gegeneinander. Unterschiedliche Interessen, würd‘ ich mal sagen.“ Sie lachte wenig amüsiert auf. „Seit Hardestadt die Schwierigkeiten mit dem Osten, mit seinesgleichen, hat, sind die Scharmützel, die er sich mit den anderen Wesen liefern darf, zu kräfteraubend. Aus diesem Grund wurde vor Jahrzehnten ein Waffenstillstand unter den Mächtigsten geschlossen. Da keiner sich damit einverstanden erklärte, sich von einem der anderen beherrschen zu lassen, entschied man sich dafür einen Sterblichen, Friedrich, als Fürsten einzusetzen. So lange Friedrich lebt, ist er der Garant für den Frieden und der Waffenstillstand bleibt bestehen“
Nachdenklich ließ er sie dann von der seltsamen Lage und Position, in der sich der deutsche Kaiser momentan befand berichten und unterbrach sie dabei kein einziges Mal. Schlussendlich nickte er etwas unschlüssig. „Hm, es stimmt schon, dass meine Art und die Wolflinge sich nicht besonders vertragen. Allerdings gehen wir einander eher aus dem Weg, als dass wir in offenen Schlachten gegeneinander antreten. Wenn es einmal so weit kommt, dass unser beidseitiges Interesse an etwas tatsächlich so hoch ist, dass ein Kampf unausweichlich ist, dann ist es umso merkwürdiger einen Sterblichen zwischenzuschalten. Zumindest so direkt. Hardestadt muss diese seltene Variante aus einem ganz bestimmten Grund gewählt haben, anders kann ich mir das nicht erklären. Was der Rest der nächtlichen Wesenheiten mit euren Landen zu schaffen hat bleibt weiterhin ein Rätsel.“
Francesca sah ihn etwas abfällig an. „Sie leben vielleicht darin? Das ist ihr Land, genauso wie das von euch Vampiren. Für euch gibt es nur euch und eure Interessen, nicht wahr? Ihr maßt euch an, die einzigen zu sein und über alles bestimmen zu wollen. Menschen, Tiere, Politik… die Mächtigen. Ihr liebt es zu herrschen, zu beherrschen und beherrscht zu werden.“
Seine Lippen verzogen sich zu einem Schmunzeln. „Ich weiß nur, dass ich nicht hier sein will, wenn dieses Kartenhaus einmal in sich zusammenfallen wird. Denn das wird es über kurz oder lang. Ich danke euch dennoch für diese Information und eure Offenheit. Wenn ihr mir einen Augenblick gebt meine Ausrüstung zu holen, können wir auch schon wieder verschwinden.“
Sie nickte und sah finster aus. „Oh, das Kartenhaus, ja, da habt ihr recht! Sobald Friedrich ums Leben kommt, bricht der Krieg wieder aus. Hier in diesen Landen gehen sich Garou und Blutsauger nicht aus dem Weg. Genauso wenig wie im Osten, nach allem, was ich gehört habe. Dort wird so lange abgeschlachtet, bis die eine Seite vernichtet wurde. Hardestadt ist ein Meister im Abschlachten der Garou gewesen… Bis ihm der Osten zugesetzt hat. Wenn’s nach mir ginge, könntet ihr euch auf ewig gegenseitig ausspielen.“ Sie schulterte ihren Rucksack. „Eine Kleinigkeit solltet ihr wissen: Friedrich ist nicht irgendein Sterblicher. Dafür haben seine Eltern gesorgt. Sie haben Mittel und Wege gesucht und schließlich gefunden, um Friedrich gegen Übersinnliches immun zu machen. Man munkelt, es war ein Ritual mit einem Dämon, dass schließlich innerhalb kürzester Zeit beiden das Leben kostete. Der Preis für einen Pakt mit einem Dämon ist immer höher als man annimmt… Ihr habt es vielleicht gesehen, Blutsau…“ Sie hielt inne, schien nach der ihr in diesem Moment passend erscheinenden Anrede zu suchen und fuhr dann einfach fort. „Hardestadt wollte ihn in die Knie zwingen… Das misslingt ihm und missfällt ihm selbstredend. Wie ich schon sagte: Ihr wollt die Herrscher über alles und jeden sein und Hardestadt? Nun, der stellt sich wohl an die Spitze von allen“
Lucien hob abwehrend die Hände. „Oh ich glaube, ich habe bereits genug gehört. Nehmt es mir nicht übel, aber jetzt noch die unheiligen Geheimnisse des deutschen Kaisers und seiner Immunität gegen kainitische Einflussnahme in Erfahrung zu bringen, würde den Rahmen dieses für mich ohnehin schon verworrenen Abend gänzlich sprengen. Es genügt zu wissen, dass irgendjemand wohl dafür gesorgt hat, dass der kleine Friedrich auch die volle Amtszeit als Kaiser ausschöpfen darf ohne jemanden schon aufgrund eines uralten Fluches oder einer Wolfsgestalt fürchten zu müssen.“ Der Gangrel seufzte lange und schwer. So hatte er sich den Besuch beim deutschen Kaiser wirklich nicht vorgestellt. Aus einer kleinen Reise mit Hendrik, war ein politischer Zwischenfall geworden, den jemand mit einer ordentlichen Prise Übernatürlichen nachgewürzt hatte. Besser nicht zu viel darüber nachdenken.
Er kniff die Augen zusammen. „Lasst uns gehen. Je eher wir den Jungen finden, desto schneller werdet ihr mich los und ich kann mich um meine kleine Dorfgemeinde kümmern. Dort haben wir Probleme, die ich noch halbwegs überblicken kann. Wo beginnen wir also mit unserer Suche? Welche Spuren habt ihr bereits entdeckt?“

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Sie öffnete eine kleine Tür, und plötzlich befanden sie sich direkt neben den Stallungen. Die junge Frau hielt auf eine breite Stalltür zu, zog diese auf und trat ein. Sie nickte dem jungen Joachim, der in einer Ecke herumlungerte, auf einem Grashalm kaute und wie von der Hornisse gestochen aufsprang um sofort behilflich zu sein, zu. „Schon in Ordnung, Joachim. Ich schnapp mir nur die gute ‚Stella‘ und bin schon weg. Das Pferd ist bereits gesattelt.“ Sie strich dem Buben über den verwuschelten Haarschopf. „Pass mir gut auf den ganzen Laden hier auf, ja?“
Der Junge nickte diensteifrig und stand etwas unschlüssig, was er jetzt zu tun hatte, herum.
Francesca griff nach Zügeln einer vollständig vorbereiteten schwarzen Stute mit heller Mähne, flüsterte einige beruhigende, kaum verständliche Worte in Italienisch und tätschelte dem Tier den Hals. Dann führte sie es, begleitet von Lucien, aus den Mauern der Kaiserpfalz. „Ich habe in den Gemächern des jungen Königs ein verbranntes Pergament gefunden. Das noch warme Dokument war nicht mehr lesbar, aber das Siegel war das von Schönforst, einem niederen Adelsgeschlecht der Gegend. Allerdings habe ich keine Ahnung, ob uns diese Spur weiterhilft. Es ist nicht leicht, sich in den Kopf eines Knaben hinein zu denken. Zumindest für mich.“

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BeitragVerfasst: Do 6. Okt 2016, 19:09 
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Der Gangrel folgte ihr in die Stallungen, wo die persönliche Gesandte des Kaisers ihr bereits fertig gesatteltes und gezäumtes Pferd in Empfang nahm. Den Stalljungen beachtete er nicht weiter; machte sich stattdessen selbst daran Ajax ebenfalls aus der Koppel zu befreien und mit einem der gerade eben mitgebrachten Äpfel zu füttern. Der Hengst fraß genügsam sein heiß geliebtes Obst und trottete der italienischen Stute langsam hinterher, als sein Besitzer ihn am Zügel aus dem Stall lenkte. Erst vor dem Eingangsverschlag, schwang sich der Hauptmann in den Sattel. „Es ist zumindest eine mögliche Spur der wir folgen können. Falls wir einfach nur aufs Geratewohl ausreiten, müsstet ihr ebenfalls die Unsterblichkeit erlangen, ansonsten wärt ihr tot, bevor wir den Jungen auch nur ansatzweise gefunden hätten. Zu viele Möglichkeiten, zu viele Variablen, die wir unmöglich alle in ein paar Tagen und Nächten durchspielen könnten. Wenn er dann überhaupt noch am Leben ist.“ Er ließ Ajax in einen leichten Trab verfallen. „Während wir zum Anwesen dieser Familie reiten, könnt ihr mir ja ein wenig über diese berichten? Unser Heinrich hat scheinbar ein Schreiben der Familie Schönforst verbrannt, das heißt was immer da geschrieben stand, sollte kein anderer mehr lesen können. Könnt ihr euch da vielleicht schon einen anfänglichen Reim darauf machen? Irgendwelche Ideen?“

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BeitragVerfasst: Mi 19. Okt 2016, 20:54 
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Francesca war ebenfalls aufgestiegen und ritt neben ihm.

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Sie schüttelte den Kopf. „Ich weiß nicht viel über diese Familie. Niederer Adel. Ich war selbst viel zu selten in diesen Landen um wirklich all die Machenschaften zu verstehen, die sich hier abspielen. Die einzelnen Fürsten besitzen eine ungemeine Macht, die sie dazu nutzen in die eigene Tasche zu wirtschaften. Ich weiß, dass mehr als genug Adelige um die Gunst des jungen Königs gebuhlt haben. Heinrich ist ein Knabe, und wie Kinder seines Alters halt sind, leicht beeinflussbar. Wer sich jetzt einen Platz an seiner Seite sichert, der kann sich später einiger Privilegien sicher sein.“ Sie zog nachdenklich die Stirn kraus. „Irgendwas hab ich mit den Habsburgern und Schönforst gehört, aber ich hab’s wieder vergessen. Keine Ahnung, ob es von Belang war… Habt ihr noch etwas zu erledigen bevor wir Aachen verlassen?“ Vor ihnen konnte Lucien in der Ferne, am Ende der Straße, die hohen Mauern der Befestigungsanlage ausmachen.
Der Gangrel nickte. „So ist das mit jungen Königen. Jetzt sind sie noch leichte Ziele, bei denen man sich einschmeicheln kann. Später werden sie paranoide, egoistische und verbitterte Monarchen, die überall Verrat und Intrige vermuten. Wenn wundert es da noch?“ Er räusperte sich knapp. „Bevor wir uns aufmachen, gibt es noch die eine oder andere Person, welche ich über meinen weiteren Reiseverlauf informieren muss. Es war eigentlich nicht geplant, dass ich nach Aachen noch besonders lange weiterreise oder mich an einer Suche wie dieser beteilige.“ Seine Lippen hoben sich zu einem Schmunzeln. „Aber vermutlich hätte ich es besser wissen müssen; Fürsten und Könige belieben für gewöhnlich nicht einfach nur lapidare Einladungen auszusprechen, um einen kleinen Plausch zu halten. Schon gar nicht, wenn sie jemanden wie mich einladen.“ Er schlug den Weg zum Händler ein, bei dem Alida mit Emilian als auch Hendrik und der anderen Belegschaft untergekommen waren. Dem Jungen würde es zwar nicht gefallen jetzt in Aachen alleingelassen zu werden, aber allein die Tatsache sich jetzt dort umsehen zu dürfen und endlich einmal bei einer längeren Reise dabei sein zu dürfen, würde ihn höchstwahrscheinlich doch gnädiger stimmen. Mitnehmen konnte er ihn einfach nicht. Ajax galoppierte merkwürdig munter davon; vermutlich wegen der Aussicht auf weiterer Äpfel. „Gebt mir eine halbe Stunde, mehr sollte ich nicht brauchen.“
Francesca schien nicht erbaut, nickte aber. „Ich warte am Stadttor. Ich hoffe, ihr macht keine Dummheiten und kommt zum Beispiel auf die Idee unser Ziel an Hardestadt weiter zu verraten…“ Sie funkelte ihn bedrohlich an, schien aber selbst zu merken, dass sie zu viel Misstrauen an den Tag legte und wandte hastig den Blick ab. „Bis später.“
Er grinste. „Wenn ich das tun sollte, dürft ihr mir persönlich den Kopf abschlagen; versprochen.“ Mit einer knappen Bewegung trieb er sein Pferd weiter an. „Dann in einer halben, maximal einer Stunde am Stadttor.“

Lucien gelang es recht souverän den Weg zu dem Händler zu finden. Große Städte waren doch irgendwie immer ähnlich aufgebaut. Der Kern mit den reichsten Gebäuden und Villen im Inneren, die Handwerker weiter draußen und die richtig ekelerregenden Betriebe vor den Toren der Stadt. Händler waren in der Regel in der Nähe des Zentrums angesiedelt, verfügten aber meist nicht über so viel Vermögen sich direkt ein Anwesen dort zu unterhalten. Einige wenige Fragen später fand er sich vor dem großen Tor des Kaufmannes. Er musste gar nicht klopfen; die Tür wurde bereits geöffnet als er die Hand ausstreckte.

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In der Türschwelle stand Hendrik, der ihn mit nachdenklicher und zugleich erwartungsvoller Mine ansah. Ein Lächeln huschte über sein Gesicht. „Du bist wieder da. Das ist gut.“
Kaum hatte er Ajax angebunden und war auf die Tür zugeschritten, da war ihm diese bereits geöffnet worden. Es wunderte ihn aus einem unbestimmten Grund gar nicht so sehr, dass es Hendrik war, der ihm bereits zuvorgekommen war. Knapp nickte er und betrat das fremde Gebäude. „Ja, leider hat es ein wenig gedauert. Länger zumindest als ich beabsichtigt hatte und so wie es aussieht, werde ich jetzt wohl noch eine ganze weitere Weile lang fort sein. Es gibt da ein paar Dinge, die ich erledigen muss, auch wenn ich gar nicht recht möchte.“ Sein Blick ruhte etwas entschuldigend-unschlüssige auf dem Jungen, dann fuhr er fort. „Ich weiß du bist ein kluger Junge und würdest mich bei dieser Sache gerne begleiten. Ich habe dir auch versprochen, dass ich dich überall hin mitnehme aber leider kann ich dieses Versprechen nicht halten. Die Angelegenheit ist für mich schwer überschaubar und komplex; viel schwieriger und gefährlicher als ich es selbst gerne hätte. Deshalb muss ich dich leider bei Alida und Belinkov lassen.“ Er fixierte den Jungen mit ernstem Blick. „Wenn es anders wäre, würde ich dich sofort mitnehmen.“ Mit einer Hand fuhr er ihm durchs Haar. „Das nächste Mal, ganz sicher ja?“
Hendrik sah ihn einen Moment lang unschlüssig an. Er war wohl nicht glücklich über diese Nachricht, aber er schien sie schlussendlich zu akzeptieren. Er griff nach dem Ärmel des Hauptmannes und zog ihn ohne einen Ton zu sagen zu einem kleinen Schuppen. Er hielt die Tür auf und ließ den Hauptmann eintreten. Lucien und der Junge befanden sich, das erkannte er am Geruch von Federn und Vogelkot, im Hühnerstall des Anwesens. Hendrik setzte sich auf eine Kiste und ließ die Beine in der Luft baumeln. „Alida und Belinkov sind, denk ich mal, nicht mehr da. Und Anja auch nicht. Sie hat das ganze Haus nach Belinkov abgesucht und war total aufgeregt als sie ihn nicht gefunden hat… weil sie wohl extra der Wache gesagt hat, dass man sie informieren soll, wenn er geht.“ Hendrik sah Lucien zögernd an bevor er leise fortfuhr. „Ich glaub nicht, dass er so aussehen muss, wie er aussieht, wenn er nicht muss… oder? Dann kommt er doch sehr leicht hier raus. Anja ist weggegangen um ihn zu suchen und ich soll hier bleiben.“ Der Junge zuckte mit den Schultern als wäre das nicht weiter für Belang für ihn. „Wo gehst du hin?“
Lucien war ebenfalls nicht glücklich über diese Nachricht. Einerseits wollte er Hendrik nicht enttäuschen, andererseits sollte eigentlich Anja auf den Jungen aufpassen. Dafür, dass man der wohl fleischgeformten, durchgeschulten, eingespielten und völlig loyalen Entourage des Unhold-Händlers normalerweise vertrauen können sollte, erwies sich die Dame als völlig inkompetent und unverlässlich. Anstatt sich um das zu kümmern, was ihr aufgetragen worden war, zog sie es vor ihrem Herrn nachzulaufen. Nun mochte das diverse Gründe haben und er wollte der Frau nichts Unzüchtiges unterstellen; vermutlich war sie nur wie viele andere Ghule völlig auf ihren Dormitor eingestellt. Trotzdem hatte sie einen Befehl erhalten, einen Befehl den sie ignorierte.
Seufzend ließ der Gangrel sich gegenüber des Jungen auf eine Kiste sinken und nickte. „Ja, ich glaube Belinkov kann tatsächlich nach freiem belieben so aussehen wie er will. Alles was es dazu braucht ist eine kleine Anstrengung und dann würden ihn wohl nicht einmal seine Vertrauten mehr so leicht erkennen.“ Er schmunzelte verhalten. „Das ist sein kleines Geheimnis und eines so denke ich, dass du bereits kennst, nicht wahr?“ Ohne darauf eine Antwort zu erwarten, fuhr er fort. „Es tut mir wirklich leid, die Dinge haben sich unverhofft anders entwickelt Hendrik und es gefällt mir überhaupt nicht, dass dich Anja hier allein mit ein paar einfältigen Wachen sitzen gelassen hat. Doch du bist schlau, aufgeweckt und stärker als die meisten deines Alters; ich bin überzeugt, dass du auch allein zurechtkommst, mein Junge. Du wirst es müssen, denn ich kann dich so sehr ich es möchte nicht mitnehmen. Versprich mir das du vorsichtig bist und nicht davonläufst oder zu viel Unsinn anstellst ja?“ Er selbst machte sich eine geistige Notiz: Anja mochte ihm nicht gehören und ein Ghul von Belinkov sein, aber mit dieser Insubordination würde sie nicht ungeschoren davonkommen. Er war kein Unterdrücker oder Beherrscher von Menschen, schwang sich nicht als unheiliger Meister der Nacht auf. Und dennoch gab es Prinzipien: Man lässt kein kleines Kind allein, wenn einem aufgetragen wurde darüber zu wachen.
Erst als Hendrik ihm zugesichert hatte, dass er sich auch während der Abwesenheit der anderen Erwachsenen zu benehmen wusste, fuhr er fort. „Das bleibt unter uns, aber ich hatte eine Audienz bzw. Verabredung mit dem deutschen Kaiser. Eigentlich sollte es um Kleinigkeiten gehen; nichts allzu Besonderes aber leider ist dieser mit einem Anliegen an mich herangetreten, dass ich nicht ignorieren kann. Sein Sohn Heinrich wird vermisst und er hat mich gebeten ihn suchen zu gehen. Wie lange ich fort bin oder wohin ich überall hin reiten muss, kann ich dir so nicht sagen. Momentan stehe ich noch am Anfang meiner Suche.“ Prüfend sah er den Jungen an. „Das bleibt aber bitte unter uns ja? Selbst deine Tante Alida hat mir schon nicht geglaubt, als ich meinte ich würde den Kaiser kennen. Falls sie zurückkommt und fragt, sag ihr das ich offiziell im Namen der Stadt zu tun habe; politische Angelegenheiten.“
Hendrik nickte mit der Ernsthaftigkeit, die er immer an den Tag legte, wenn es um Dinge ging, die seinem Gegenüber, sofern er diesen mochte, wichtig waren. „Das ist nicht gut, wenn er weg ist… Du findest ihn bestimmt.“ Er zögerte. „Ist er entführt worden? Oder weggelaufen?“
Der Hauptmann hob die Schultern. „Offen gestanden wissen wir das noch nicht so genau. Auf den ersten Blick scheint es so, als ob er einfach nur fortgelaufen ist, weil er mit einer Vermählung nicht einverstanden war; möglicherweise hat er sich sogar in ein gänzlich anderes Mädchen verguckt und hat sich gegen die Entscheidung seines Vaters gewandt.“ Erneut seufzte er. „Aber wie so häufig wollen Entführer und intrigante Gegenspieler nur, dass man an solche Dinge glaubt, weil sie plausibel erscheinen. Demnach kann es auch eine zeitlich wohl abgestimmte Entführung sein, die von ein paar Ehestreitigkeiten überdeckt oder passend getarnt wird. Dass es viele andere Adelige, Speichellecker und Bücklinge gibt die nach außen hin für, aber in Wahrheit gegen den Kaiser arbeiten, muss ich einem aufgeweckten Jungen wie dir sicher nicht erklären. Wie ich bereits meinte, die Sache ist äußerst schwierig und undurchsichtig und bis jetzt haben wir auch nur eine einzige, kümmerliche Spur, der wir nachgehen können.“
Hendrik sah Lucien mit seinen hellen Augen an. „Wie alt ist er denn?“
Lucien griff an die Seite seiner schweren Rüstung an die Dolchscheide. „Der Junge dürfte im Übrigen so zwischen acht und vierzehn Jahre alt sein; offen gestanden habe ich vergessen zu fragen. Du hast mich erst darauf gebracht, dass ich das wohl schleunigst nachholen sollte. Es könnte wichtig sein; danke.“ Dann zog er den von Brunhild gefertigten, nordischen Wikingerdolch mit den fein gearbeiteten Runen und hielt ihn Hendrik hin. „Da du allein bist und wir uns nicht auf Anja, Alida oder Belinkov verlassen können und ich diesen Wachleuten nicht traue, leihe ich dir, bis ich zurück bin diesen Dolch. Wir haben doch ein wenig Schwertkampf geübt, wenn du dich erinnerst? Mit dem hier ist es ein wenig anders, du kannst nicht direkt kämpfen aber das Überraschungsmoment nutzen, sollte es notwendig sein.“ Prüfend sah er den Jungen erneut an. „Aber es ist kein Spielzeug, du kannst jemanden damit ernsthaft verletzen, vielleicht sogar töten, mach dir das bewusst. Dennoch denke ich, dass die Zeit dafür reif ist, genauso wie für viele andere Dinge, die dir Alida und andere in Brügge vorenthalten. Dazu kommen wir aber erst, wenn ich wieder zurück bin.“
Der Knabe nahm mit andächtig zitternden Fingern die Waffe in die Hand und wog sie ab, drehte sie mehrmals mit ernstem Gesicht dicht vor sich.

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Ein Leuchten legte sich schließlich auf seine Züge. „Der ist von Brunhild… Schau hier!“ Er deutete auf eine winzige Markierung, die wie ein schlecht gearbeitetes Kreuz erschien, jedoch, beim eingeweihten Auge keinen Zweifel ließ, dass es sich um das Symbol des nordischen Donnergottes handelte, den Thorshammer. „Dann ist es eine gute Waffe.“ Mit Stolz brachte er den Dolch an seinem linken Gürtel an und bemerkte nicht, dass er dabei die bei einem Angriff nötige Zugrichtung der Waffe völlig außer acht ließ.
„Ich denke, es ist besser, wenn der Sohn vom Kaiser wieder nach Hause kommt. Manchmal ist es gut wegzulaufen und man will einfach seine Ruhe. Das versteht zwar niemand, aber es macht alles manchmal einfacher, weißt du?“ Zögernd sah er zu Lucien hoch. „Aber jeder braucht ein Zuhause wo er hingehört… und sein Vater macht sich bestimmt Sorgen.“ Dem Hauptmann war klar, dass der Junge zumindest diese Lektion im Laufe der Zeit gelernt haben musste. Ob ihn das jedoch von nächtlichen Streifzügen abhalten mochte, stand auf einem anderen Stück Pergament.
Für einen kurzen Moment, war er sich unsicher in seiner Entscheidung dem Jungen eine solche Waffe zu überlassen. Natürlich hatten sie gelegentlich miteinander geübt, allerdings waren dabei selbstredend nur Holzschwerter zum Einsatz gekommen. An und für sich würden ihm diverse Personen gerade grobe Fahrlässigkeit zur Last legen aber was war dann das, was diese Anja hier tat, indem sie den Knaben völlig alleine ließ? Es war ein großes Haus, von dem die meisten wohl wussten wem es gehört und dementsprechend, waren unliebsame Begegnungen eher unwahrscheinlich, zumal es noch ein paar eigens installierte Bewacherketten in und rings um das Anwesen gab. Solange Hendrik einfach auf die Rückkehr der Drachen wartete, sollte sich größerer Schaden in Grenzen halten. „Tatsächlich ist es eine von Brunnhilds Arbeiten, vortrefflich erkannt“, meinte er anerkennend und doch ein wenig verblüfft. Vermutlich war der Junge hie und da bei ihrer Schmiede vorbeigekommen und hatte ihr bei der Arbeit zugesehen; das nordische Symbol auf der Klinge, war ja nun doch recht einprägsam und für den eingeweihten auch recht eindeutig zuzuordnen. „Und es ist darüber hinaus auch tatsächlich eine der besten, die ich bisher gesehen habe. Also ruf dir noch einmal in Erinnerung, dass dieser Dolch kein Spielzeug ist und du ihn nur im äußersten Notfall einsetzen solltest. Ansonsten bleibt er bitte genau dort wo er ist.“ Sein Blick, der auf den falsch eingesteckten Dolch fiel war vielsagend aber jetzt war es bereits zu spät ihn wieder zurückzuverlangen. Hendrik müsste zeigen, dass er verantwortungsvoll damit umgehen würde und das war jemandem, dessen Leben stetig schwieriger und komplizierter werden würde, auch jetzt schon abzuverlangen.
„Sein Vater macht sich gewiss Sorgen um ihn, auch das hast du gut erkannt.“ Und vermutlich ein Dutzend anderer zwielichtiger, unlauterer Gestalten und politischen Parteien angefangen von der Kirche bis hin zu Gestaltwandlern und konkurrierenden Fürsten. Aber das zu erwähnen, ergab in der Anwesenheit des Jungen wenig Sinn, da diese Situation ja beinahe ihn selbst zu überfordern drohte. Er strich ihm lächelnd durch die Haare. „Aber ich verstehe sehr gut, dass Jungs in deinem Alter auch einfach mal ihre Ruhe haben wollen und allein sein wollen, mir ging es da nicht anders. Doch irgendwann sollte auch der abenteuerlustigste Ausreißer wieder nach Hause kommen und deshalb werde ich ihn jetzt suchen gehen.“ Langsam drehte er sich in Richtung der Tür und warf einen letzten Blick auf Hendrik. „Wenn Alida kommt, bitte richte ihr aus was ich im Begriff bin zu tun. Sollte das ganze länger dauern, so werden wir uns allesamt in Brügge wiedersehen. Ansonsten wird dieses Haus unser Treffpunkt. Sei artig.“ Er schmunzelte. „Soweit du kannst.“

Dann verließ er das Anwesen des Unholds und schwang sich auf Ajax, um den vereinbarten Treffpunkt mit Francesca zu erreichen.

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BeitragVerfasst: So 23. Okt 2016, 15:56 
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Die Frau blickte bereits zu den Kirchturmglocken, als Lucine auf dem verschwitzten Ajax die lange Kopfsteinpflasterstraße entlang galoppiert kam. Der Klang war leise und trotzdem war dem Gangrel bewusst, dass er sich wohl etwas verspätet haben musste.
Francesca schwang sich in den Sattel und reckte das Kinn nach vorne. „Na, dann können wir wohl aufbrechen… Oder beliebt es euch doch noch, die weiteren Tage lieber in den geschützten Mauern dieser alten Stadt zu verbringen?“ Ihr Ton war spöttisch und ein wenig herablassend, aber das war der Hauptmann von dieser Frau ja mittlerweile gewöhnt.
Der Gangrel schüttelte nur müde den Kopf. Selbst wenn er sich tatsächlich ein wenig verspätet haben sollte, so hatte das triftige Gründe die er Francesca ganz sicher nicht auf die Nase binden würde. Ganz abgesehen davon, dass sie ihn ohnehin sehr geringschätzte, ging es sie schlicht und ergreifend auch gar nichts an. Er hatte zu tun gehabt, er war am vereinbarten Treffpunkt erschienen. Mehr zählte nicht und er würde sich auch auf keine Diskussion einlassen. Nicht mit dieser Frau. „Ihr seid anstrengend und lasst keine Gelegenheit aus mir zu zeigen was ihr von mir haltet. Das mag ja eine Zeit lang ganz originell und charmant sein aber schön langsam verliert es seinen Reiz und ich meine Geduld. Spart euch also bitte unnötige Kommentare.“
Sie ritten in raschem Tempo durch die Bezirke, die sich außerhalb der Stadtmauer wie Treibgut an einer Insel angelagert hatten, durch Handwerksbetriebe, die mit der Zeit immer schäbiger und armseliger wurden und schließlich Gehöfte und kleine Ortschaften.
Sie hatten die alte Reichsstadt Aachen verlassen.
Zusammen ritten sie durch den Stadtkern hinaus in die langsam lichter und immer schäbigerer werdenden Außenbezirke Aachens, bis sie das Umland mit seinen Gehöften und kleinen Siedlungen erreicht hatten. Stunde um Stunde verstrich. Die Kämpferin trieb ihr Tier zu einer Geschwindigkeit an, die bereits nach kurzer Zeit zur Erschöpfung führen musste, doch das Tier war zäh und wendig und trug seine durchaus geschickte Reiterin trittsicher durch die dunkle Nacht. Lucien an ihrer Seite, trieb Ajax ebenso zu großer Eile an und hielt das vorgelegte Tempo. Er kam nicht umhin zu bemerken, wie ausdauernd und kräftig ihr Ross zu sein schien. Dieser Gaul war kein simples Ackerpferd, nein. Offenkundig handelte es sich um ein gut eingerittenes Kriegspferd, das zu jeder Tageszeit trittsicher unterwegs war und sich leicht führen ließ.

Irgendwann verringerte sie die Geschwindigkeit und ließ das Tier traben. „Die Nacht ist weit fortgeschritten. Ich freu mich ja auf den Sonnenaufgang, aber ich könnt mir vorstellen, dass ihr darauf nicht ganz so erpicht seid…“ Sie musterte ihn mit einem herausfordernden Lächeln. „Ich könnt aber auch ein wenig Schlaf gebrauchen. Also, Bluts…“ Sie hielt inne. „… Lucien. Wie sollen wir vorgehen?“
Lucien wagte einen Blick in Richtung langsam heller werdenden Horizont. Unmissverständlich war ihm als auch ihr klar, dass man sich auf eine Lösung einigen müsste. „Nein, die Sonne soweit wisst ihr schon Bescheid, ist mein Tod. Demnach muss ich mich vor ihren Strahlen verbergen, bis es wieder Nacht geworden ist. Ein kleiner Nachteil, wenn ihr mit mir unterwegs seid.“ Erneut sah er sich um. „Gibt es in der Nähe eine Wirtsstube oder ein Gasthaus, in dem ihr euch ein wenig ausruhen könnt? Ich brauche kein sonnendichtes Bett dort, da ich andere Wege kenne mich zu verstecken aber für euch wäre es angenehmer. Außerdem müssen die Pferde versorgt werden, denn auch wenn ich nur Blut trinken mag, der hier…“, er tätschelte Ajax die Flanke, „… bevorzugt definitiv Hafer und saftige Äpfel.“
Die Art und Weise wie der Kainit freundlich mit dem Tier umging schien sie zu verwundern. Offensichtlich hatte sie das von einem seines Naturells nicht erwartet. Dennoch sparte sie sich diesbezüglich eine Bemerkung und fuhr stattdessen fort. „Ihr benötigt keine dunklen Zimmer? Die meisten von euch, so hab ich mir sagen lassen, legen sich zusätzlich in eine dunkle Kiste, mache gar in einen Sarg…“ Sie zuckte mit den Schultern. „Ich benötige definitiv kein Gasthaus. Dort wo ich herkomme war es bis vor kurzem sicherer auf freiem Feld zu übernachten als in einer Wirtsstube, in der einem sobald man die Augen geschlossen hatte, die Kehle aufgeschlitzt wurde. Ich bin lieber draußen unterwegs und Hafer für die Pferde hab ich dabei.“ Fragend sah sie ihn an.
Seine Schultern hoben sich ein Stück; ein sichtbares Zeichen dafür, dass es ihm als Gangrel völlig gleich war, wo sie nächtigen würden. Sollte sie kein Problem damit haben unter freiem Himmel zu übernachten, dann würde er sich gewiss auch nicht daran stören. „Es reicht zu wissen, dass uns die Sonne vernichtet. Wie wir uns vor dieser verbergen, mag jeder anders halten wobei…“ Er lächelte leicht schief. „Der obligatorische Sarg, ihr möchtet es vielleiht nicht glauben, da eher nicht die bevorzugte Wahl darstellt.“ Mit einer Hand deutete er auf ein kleines Waldstück am Horizont. „Dann schätze ich, das wir dort unser Lager aufschlagen sollten. Wie es in den vier Wänden eines Wirtshauses in Aachen gefährlicher sein kann als hier, verstehe ich nicht aber das muss ich wohl auch nicht. In eurer Position mag diese Aussage sogar zutreffend sein aber ehrlich gesagt fühle ich mich hier draußen auch bei weitem wohler.“ Lucien raffte die Zügel und trieb Ajax ein wenig schneller an. „Sammelt ein wenig Feuerholz und macht euch ein Lager, ich werde kurz vor Sonnenaufgang verschwinden und dann in der Nacht zurückkehren.“
Sie nickte und schwang sich aus dem Sattel. „Ich bin nicht aus dem deutschen Reich. Ich stamme aus Sizilien und ihr wollt nicht wissen, wie es dort bis vor kurzem zuging. Sarazenen, Deutsche Ritter, größenwahnsinnige Landadelige- jeder hat sich sein großes Stück vom Kuchen abgeschnitten und nur Blut und Asche zurück gelassen. Aber das ist dank Friedrich vorbei.“

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Sie ging durch das Dickicht des Buschwerks und blieb an einer kleinen Lichtung stehen. Sie sah sich um, schnupperte im Wind als wären dort potentiell gefährliche Gerüche auszumachen und entschied dann, dass es sicher wäre.

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Francesca sattelte ihr Pferd ab und rieb es trocken. Dann begann sie Reisig und dünne Äste zu sammeln und sie zu einem geschickt konstruierten Haufen aufzuschichten. Diese Frau, dass sah Lucien, verstand etwas vom Feuermachen. Wenige Minuten später prasselte das rotglühende Feuer in einigen Metern Entfernung und verströmte eine angenehme Wärme.
Nun war er ja nicht gerade jemand, den man als feinen Herren oder Kavalier bezeichnen würde; in Anbetracht der Tatsache, dass er sich auch keiner vornehmen Dame gegenübersah, wäre das auch umso unpassender gewesen, aber dennoch half er ihr beim Sammeln von trockenen Ästen und Zweigen, bis das glühende Leuchten und die wohlige Wärme des Lagerfeuers die unmittelbare Umgebung erhellten. Er zog einen leicht morschen Baumstamm heran, der ihnen als Sitzgelegenheit dienen würde. Offenbar hatte man vor kurzem ein wenig ausgeforstet und ein wenig Holz am Waldrand gestapelt. Mit einem schiefen Grinsen, pflückte er sich ein kleines Stück davon und begann auf dem Baumstamm sitzend zu schnitzen, während das Feuer vor sich hin knisterte. Gelegentlich warf er einen vorsichtigen Blick zum warmen Schein, um sicher zu gehen, dass alles noch in Ordnung war. Wahrscheinlich auch um festzustellen, ob die Distanz zur todbringenden Flamme nicht plötzlich weniger wurde. Konzentriert schälte er Rinde ab und wirkte sehr in seine Arbeit vertieft. „Ich habe Sizilien erst zur Zeit Friedrichs besucht, da war es recht ruhig muss ich sagen. Wie es dort zuvor ausgesehen haben mag, kann ich nicht sagen aber es stimmt schon: Als großer Umschlagplatz und Treffpunkt von Ost und West sowie diverser religiöser Strömungen, wird es sicher auch heiß hergegangen sein. Früher habe ich nie verstanden, was der deutsche Kaiser da unten überhaupt macht aber, wenn ich mir so ansehe was zuhause auf ihn wartet, würde ich mich auch lieber in mein Sommerschlösschen im Süden zurückziehen. Ihr seid schon lange in seinen Diensten?“
Sie hatte eine kleine tönerne Karaffe aus einer der Satteltaschen geholt, in die sie Wasser goss und sie in die Flammen stellte. Als das Wasser kochte warf sie silbrige Blätter hinein und sofort stieg ein metallener Geruch auf. Dennoch sah die junge Frau ein wenig missmutig drein als sie das Gebräu in einen anderen Becher goss und daran zu nippen begann. „Einige Jahre. Seit der ‚Pakt‘ zwischen den wahrhaft Mächtigen geschlossen wurde. Friedrich gilt als toleranter Herrscher. Wohl etwas zu tolerant, wenn man sich so Gestalten wie euch oder mich anschaut.“ Ein breites Grinsen legte sich auf ihre Züge, dann holte sie ein paar getrocknete Wurzeln und saftigen Speck heraus und warf beides in die Karaffe, wo es sofort zu brutzeln begann.
Lucien schnitzte weiter, hörte ihr aufmerksam zu und hob immer wieder den Blick nickend in ihre Richtung an. Zu seinen Füßen sammelten sich kleinere und größere Holzspäne, während das kleine unscheinbare Ding in seinen Händen langsam Form annahm. „Nun, ich kenne mich mit Politik nicht wirklich aus, das war nie mein Feld. Allerdings habe ich jetzt selbst einen kleinen Schweinestall den ich hüten muss und auch wenn die Entscheidungen und Probleme sich dort momentan noch auf einen sehr kleinen Rahmen beschränken, merke ich bereits jetzt wie schwierig es ist gute und richtige Entscheidungen zu treffen. Der Grat zwischen vollkommen falsch und unnachahmlich brillant ist äußerst schmal und man droht immer in die Grube abzustürzen, in der die Löwen und anschließend die Geier schon auf dich warten. Politik ist schwierig und kompliziert, vor allem, wenn man große Reiche regiert. Ich beneide ihn nicht und werde seine Entscheidungen nicht mehr in Frage stellen, zumindest nicht solche, die sein Land betreffen. Ich weiß, wie das ist und wie schnell man Kompromisse eingehen muss, auch wenn es einem absolut missfällt.“ Er pustete kurz über sein Werkstück. „Was trinkt ihr da? Es kommt mir nicht sonderlich bekannt vor?“
Francesca sah zu dem Gebräu in ihren Händen, blickte in die schimmernde Oberfläche als suche sie etwas anderes als ihr Spiegelbild darin und stellte es dann neben sich ins Gras. „Eisenkraut… Aber im kaiserlichen Heil- und Kräuterlager gab’s nur noch diesen kleinen Rest. Schmeckt scheußlich.“ Sie lachte und griff dann nach einem Wetzstein und ihrem Schwert und begann die Klinge mit gekonnter Präzision zu schärfen. „Wofür kämpft ein Unsterblicher wie ihr?“ Sie hielt einen Moment inne und sah Lucien nachdenklich an.
Der bartgestoppelte Mann neben ihr verzog ein wenig nachdenklich das Gesicht, kommentierte ihre Getränkewahl aber vorerst nicht weiter. Was ihm so zu Eisenkraut in den Sinn kam, deckte sich mit nichts, dass er ihr auf den ersten Blick unterstellt hätte, mit Ausnahme dem Anspruch etwas Gesundes konsumieren zu wollen, wenn schon der eigene König ein begeisterter Pflanzen- und Kräuterkundler war. „Hm“, brummelte er etwas abgelenkt und verfolgte den Weg des Schleifsteins über das blanke Metall. Ein hübsches Schwert, dachte er, bevor seine Schultern erneut nach oben schnellten. „Viel spannender ist die Frage, wofür ihr kämpft Francesca? Als Frau in Rüstung, seid ihr eher in der Minderheit und damit auch eine Besonderheit am Hofe. Ich habe Wachen eher herablassend über euch sprechen hören; es hat den Anschein ihr müsstet männliches Gehabe besonders in den Vordergrund stellen, um euch beweisen zu können.“ Er lächelte. „Aber ich glaube, dass müsst ihr gar nicht, denn ihr wisst sehr wohl mit dem Schwert umzugehen. Das sieht man an der Art, wie ihr euch um eure Waffe kümmert. Außerdem schenkt euch Friedrich sein vollstes Vertrauen.“ Ein weiteres Mal pustete er über seine Werkarbeit und betrachtete sie prüfend. „Was mich angeht… so ist das schwierig zu beantworten. Ich glaube, wir haben unsere großen Ziele nach Jahrzehnten der Existenz über Bord geworfen; jetzt geht es nur noch ums Überleben. Früher waren wir zeitlich begrenzt, hatten nur ein paar Jahre um unsere Träume und Ideen zu verwirklichen, jetzt haben wir keinen zeitlichen Rahmen mehr. Damit wird alles ein wenig…. weniger wichtig, wenn ihr versteht und man sucht sich etwas, das einem krampfhaft am Weitermachen hält. Für mich ist das seit längerem mein Knochen: Brügge, auf dem ich herumkaue und den ich mir nicht wegnehmen lasse. Brügge gibt mir eine Aufgabe, solange ich die Stadt als solche ansehe und wo wären wir ohne eine solche?“
Ihre Augen verengten sich nachdenklich. „Euer Knochen? Ich habe ja schon viel von euresgleichen gehört, ‚meine Domäne‘, ‚mein eigen‘, irgendwann an der östlichen Grenze mal was, das wie ‚Woioat‘ klang, aber Knochen?“ Sie lachte. „Demnach seht ihr euch als Wolf? Seid ihr das denn? Alles, was ich von euch und euresgleichen gehört habe, ist, dass ihr überwiegend Einzelgänger seid und nur dann zusammen kommt, wenn es darum geht euren Einfluss und eure Macht zu mehren und dem anderen seinen Platz am Ende der Nahrungskette zu zeigen… oder um euch zusammen zu rotten um zu vernichten und zu zerstören… eigentlich eher zerstören lassen.“ Sie seufzte. „Bis vor wenigen Jahren wäre ich auch davon ausgegangen, dass ich einem Blutsauger, der mir mal des Nachts auf einer Waldlichtung begegnet eher den Kopf von den Schultern trenne als mit ihm Tee zu trinken.“ Wieder folgte ein Lachen. „Ich dachte mir vor einigen Jahren, bei all den seltsamen Wesen von denen Friedrich umgeben ist, Blutsauger, Magi, die meisten nichts als ihr eigenes Wohl im Sinn haben, wäre es gut, wenn er jemanden um sich hätte, der in der Lage wäre im Notfall für sein Leben zu kämpfen. Den meisten da draußen ist das Gleichgewicht der Welt scheiß egal. Jeder bereichert sich nach eigenem Ermessen und was dabei raus kommt… darum mögen sich andere kümmern.“ Wütend ballte sie die Fäuste. „Wie ich das hasse!“ Sie sog die Luft ein und schien sich wieder zu beruhigen. „Ich habe meine Leute verlassen und mich an den Hof begeben. Nun bin ich Einzelgänger. Kein erstrebenswertes Schicksal für mich, aber jeder hat die Möglichkeit den Weg zu gehen, der ihm richtig erscheint.“
Er reichte ihr das kleine, bearbeitete Stück Holz.

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"Er erinnert mich an euch. Ihr seid ein Raubtier und doch pflichtbewusst und besitzt eine gewisse, kühl majestätische Anmut." Sein Lächeln wurde eine Spur schiefer. "Die wird selbstverständlich nur überboten wird von eurem Stolz aber grämt euch nicht, ihr seid nicht die einzige deren Schwäche im Stolz begraben liegt. Behaltet es als Andenken an einen Blutsauger, wenn ihr wollt." Das kleine, unscheinbare Ding hatte mittlerweile die Form eines flachen Adler oder Habichtkopfes angenommen; auf jeden Fall zeigte es einen Raubvogel.
Sie sah ihn verwundert an, überprüfte mit ungläubigem Blick das hölzerne Schnitzwerk als wäre darin eine geheime Waffe verborgen und griff schließlich danach. „Das ist schön.“ Ihre Stimme war leise.
„Voivodat“, berichtigte er Francesca etwas träge ohne sie schulmeistern zu wollen. „Die Reiche im Osten nennt man gern Voivodat aber ein Name ändert nichts an der Wahrheit, die ihr bereits ausgesprochen und erkannt habt. Das mit der Zerstörung hält sich allerdings in Grenzen wie ich finde, dazu müssen wir nicht viel beitragen, denn das können die Fürsten und Herrscher dieser Lande auch ganz gut ohne uns. Wenn ihr so wollt, sind wir die kleinen Parasiten, die sich am Puls der Zeit festgebissen haben und träge mitschwimmen. Jeder spielt sein eigenes kleines Spiel, das so klein sein kann wie der Wunsch seine Regentonne behalten zu dürfen um einen sicheren Platz vor der Sonne zu haben oder den Kardinal zu bestechen, um sich damit Vorteile in der Kirche zu sichern. Im Grunde machen wir nichts Anderes als alle anderen auch, nur machen wir es bösartiger, listenreicher und werden ausnehmend gut darin. Kein Wunder, hat unsere Art doch ausreichend Zeit diese Kunst jahrhundertelang zu perfektionieren. Und seid ihr in der Tat wohl tatsächlich besser beraten, einem Blutsauger den Kopf von den Schultern zu schlagen, anstatt mit ihm Tee zu trinken, was eindeutig daran liegt, dass wir uns für gewöhnlich nicht auf diesem neutralen Boden begegnen. Ihr seid lebendig, wir sind tot. Tod und Leben haben nicht viel miteinander zu schaffen, aber falls doch…“ Er sah sie lächelnd an. „Kann man immer wieder mal etwas voneinander lernen. Ich kenne einige Sterbliche, die ich verblüffender Weise zu meinen guten und loyalen Freunden zähle und die ich auf mannigfaltige Art und Weise schätze. Ihr werdet lachen aber nur, weil ich Blut saufe, heißt das nicht das ich nicht Karten spiele oder spazieren gehe oder lese… oder das Gleichgewicht dieser Welt mich nicht interessiert.“ Langsam verstaute er sein Schnitzwerkzeug wieder an Ort und Stelle. „Euch macht die Pflicht zur Einzelgängerin und mich mein Fluch. Das macht uns nicht zu Freunden, aber auch nicht zu besonders erbitterten Feinden, gerade weil ich, ob ihr das glauben wollt oder nicht, kein Interesse daran habe Heere aus Sterblichen und Untoten, zusammen mit Lakaien und Günstlingen in einem politischen Konflikt dieses Ausmaßes zu erleben.“
Sie schloss für einen Moment müde die Augen, steckte dann das Schwert weg. „Ein großer Teil der Kainiten, die ich kennenlernen durfte, verschiebt Menschen wie Schachfiguren, bindet die mächtigsten Herrscher in Sklavenbande, verspricht Unsterblichkeit und alles, wovon ein Mensch zu träumen wagt, ohne auch nur im entferntesten nur eines der Versprechungen halten zu können. Sie schicken Heere durch die Lande, erobern und doch machen sie sich selbst in keinster Weise die Finger schmutzig. Ich liebe diese Gestalten.“ Sie seufzte. Es war offensichtlich, was sie dachte: In dieser Nacht würde sie ganz sicher nichts daran ändern können. Und wahrscheinlich auch in keiner anderen. „Ihr habt gute Waffen. Meisterliche Schmiedearbeiten…“ Sie sah interessiert zu ihm hinüber.
Er nickte und sah ein weiteres Mal Richtung Horizont. Viel Zeit blieb ihnen nicht mehr sich miteinander zu unterhalten, zumindest nicht mehr heute. Schmunzelnd hob er die Schultern. „Das tun sie alle miteinander und dennoch würde ich nicht alles davon für bare Münze nehmen. Nicht einmal die Ältesten unter uns können mit einem simplen Fingerzeig Armeen gegeneinanderhetzen; vielmehr sind es Intrigen, vorsichtig platzierter Einfluss und Gefallen, die zahnradartig ineinandergreifen und dann nach und nach das gewünschte Ergebnis liefern. Das braucht schon einmal seine Zeit, aber passiert dann meistens so gut getarnt und versteckt, dass wir es nicht einmal mitbekommen, bis es schlussendlich zu spät ist.“ Lucien grinste. „Aber, wenn wir einmal ganz ehrlich zueinander sind: Diese Herangehensweise ist kein typisches Markenzeichen der Untoten. Dieses Spiel spielen alle Mächtigen, von alten verstaubten Ahnen meiner Art, bis hin zu Fürsten und Königen diverser Adelsgeschlechter aller Lande.“ Als er ihr Interesse an seinen Waffen bemerkte, zog er sein Schwert aus der Scheide und reichte es ihr ohne zu zögern. „Es ist ein einzigartiges Schwert, geschmiedet aus Mondeisen, Blut und Damaszenerstahl nach einer hoch geschätzten Schmiedetechnik aus dem alten Orient. Wenn man so will, waren an seiner Erschaffung Vampire, Werwölfe, Menschen und Zauberer beteiligt. Bis heute konnte ich noch nicht alle seine Geheimnisse ergründe aber es heißt, dass dieses Schwert eine besondere Verbindung zu mir hat, was immer damit gemeint sein mag. Ich für meinen Teil weiß nur, dass es eine exzellente Waffe ist, auf die ich mich stets verlassen kann.“ Er lächelte leicht. „Und es wäre gelogen, wenn ich behaupten würde ich wäre nicht auch ein klein wenig stolz darauf.“
Sie wog die Klinge in beiden Händen. Die Waffe war schwer, mit zwei Händen zu führen und von einer Frau, auch einer kriegserfahrenen wie Francesca, nur mit Mühe zu handhaben. „Eine meisterliche Arbeit und von so perfekter Präzision, dass da Magie mit im Spiel gewesen sein muss. Die Schmiede müssen Garou gewesen sein. Das hier,“ sie deutete auf ein kleines Zeichen unter einer Einkerbung, „ist das Symbol der Eisenmeister, einer Werwolffamilie, wenn ihr so wollt.“ Sie reichte die Waffe zurück und nickte anerkennend. „Meisterlich.“
„Meisterlich gewiss aber ob sie tatsächlich von einem Werwolf stammt?“ Prüfend besah er sich die Symbolik unlängst der kleinen Einkerbung an der Fehlschärfe. „Die ganze Wahrheit wird sich mir wohl niemals offenbaren aber ich denke, das muss sie auch gar nicht sein. Ich bin ein einfacher Mann und schätze einfache Dinge wie eine gute Klinge.“ Lächelnd nahm er das scharfe Stück Metall wieder an sich und schob es zurück in die Scheide auf seinem Rücken.
Sie kämpfte sich aus der Rüstung. Dann rutschte sie am Baumstamm herab, lehnte den Kopf an das Holz und griff nach einer dicken Wolldecke, die sie sich um den Körper schlang. „So, dann bin ich mal gespannt, wie ihr das anstellen wollt mit der lieben Sonne. Ich genieße eure Gesellschaft mehr als ich es mir zu Beginn der Nacht vorgestellt hätte, aber es wäre mir doch lieber, wenn ihr euch in Sicherheit begeben und zur Nacht wieder hier sein könntet.“ Sie schmunzelte schläfrig.
Mit einer ruckartigen Bewegung, erhob sich der Gangrel vom Baumstamm und stapfte ein paar Meter auf das dunkle Unterholz zu, das die Flammen des Lagerfeuers nicht mehr zu erhellen vermochten. „Um mich müsst ihr euch keine Sorgen machen, ich bin es gewohnt im Freien zu schlafen; damals wie heute. Allerdings kann ich euch nicht helfen, solange die Sonne am Himmel steht; behaltet das im Hinterkopf. Tut mir also einen Gefallen und passt auf euch auf, solange ich fort bin. Wir sehen uns morgen Nacht, schlaft gut Francesca.“ Damit stapfte er aus dem Lichtkegel tiefer in das schwarze, dichte Gestrüpp wo er in der Nähe einer betagten Birke in die Erde versank.

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Der Weg zum Ziel beginnt an dem Tag, an dem du die hundertprozentige Verantwortung für dein Tun übernimms.
Dante Alighieri


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BeitragVerfasst: So 30. Okt 2016, 21:16 
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Lucien spürte es in seinen untoten Knochen: Die Sonne war hinter den Gipfeln des Waldes versunken und die Schatten nahmen den Platz ein, der zuvor durch helles Licht erfüllt gewesen war. Die Nacht senkte sich herab.
Wie von selbst entstieg er der Erde, klopfte sich das feuchte Braun von den Kleidern. Ganz, das wusste er, gelang es nie. Er würde immer, wenn er seine erdene Zuflucht verlassen hatte aussehen als hätte er einen Tag härteste Feldarbeit hinter sich.
Er sah die Lichtung vor sich und konnte Ajax sowie das andere Tier ausmachen. Beide waren bereits gesattelt und wie Lucien an dem Beutel, den jemand an einem Ast befestigt hatte und der offensichtlich Hafer enthielt, bestens versorgt. Der Gangrel erkannte die dunkelblonde Frau an einem kleinen Feuer. Sie musste sich im Laufe des Tages ein Kaninchen sowie einige Wachteln erlegt haben, die nun über den Flammen vor sich hin brieten und köstlich rochen. Sie biss gerade in das weiße Fleisch und leckte sich das Fett ab, das ihr von den Fingern lief. Als sie ihn erkannte, nickte sie ihm zu. Wieder war in ihrer Stimme der gewohnte leichte Spott zu hören, aber sie grinste dabei. „Guten Abend, der Herr.“
Etwas ungelenk trat er aus dem Schatten der Bäume auf die kleine Lichtung, auf der mittlerweile wieder die Feuerstelle entfacht worden war, während er sich immer noch ein wenig Dreck von der Kleidung zu klopfen versuchte. Es war sinnlos zu glauben, diese lächerlichen Versuche würden je etwas daran ändern können, dass er nach so einer Rast unter der Erde aussah wie direkt aus dem Bergwerk entstiegen. Trotzdem gab es einen Unterschied zwischen dem Grubenarbeiter, der es zumindest versuchte und dem, der es mittlerweile schon vollends aufgegeben hatte. Mit einem knappen Nicken, begutachtete er ihr schmackhaft wirkendes Abendmahl und grinste schief. „Guten Abend. Na, wie es scheint, habt ihr die Zeit für eine ausgedehnte Jagd genutzt. Gibt es irgendwelche Besonderheiten zu vermelden? Oder war alles wie zu erwarten ruhig und unspektakulär?“, fragte er während er sich neben ihr auf den Baumstamm fallen ließ und einen beinahe wehmütigen Blick auf die Wachteln warf. Er könnte einfach zugreifen und… sich im Anschluss übergeben. Manchmal gab es immer noch Dinge, die er fast schon schmerhaft vermisste.
Sie schüttelte den Kopf. „Unspektakulär. Ein schöner sonniger Herbsttag, eine gute Jagd. Wobei sie hätte besser sein können. Ihr solltet mal Friedrich bei der Falkenjagd erleben. Seine Vögel erlegen manchmal mehr Geflügel in einer Stunde als eine ganze Jagdgesellschaft an einem Tag.“ Sie deutete zu Ajax. „Ich habe euer Pferd fertig gemacht. Ein gutes Tier. Ich dachte immer, Tiere würden den Wyrm in euch Kainiten wittern und Reisaus nehmen, aber das einzige, was dieser Hengst wittert sind Äpfel.“ Sie lachte.
Sein Blick fiel in Richtung des leicht träge wirkenden Pferdes, das den Gangrel schon seit unzähligen Jahren quer durch die Welt und wieder zurück nach Hause trug. Begleitet von einem sachten Nicken, stimmte er in ihr Lachen mit ein. „Oh, Ajax ist ein guter Junge und er hat sich mittlerweile schon so sehr an mich gewöhnt, dass er sich nicht weiter an meiner Art stört. Äpfel, wie ihr aber bereits schon so treffend bemerkt habt… das ist natürlich wieder eine ganz andere Geschichte.“ Kurz streiften seine Augen die nähere Umgebung, dann ein neuerliches Nicken. „Ihr habt ihn gut versorgt, danke. Und euch selbst auch, wie ich feststelle. Ihr solltet euer Licht nicht so unter den Scheffel stellen, Francesca. So viele Leute gibt es dann auch wieder nicht, die sich in der Wildnis selbst ernähren können.“ Schmunzelnd fügte er hinzu. „Und Geflügel mag man mit Falken jagen, wenn man Hirsch oder Wildschwein will, dann helfen einem nur ein guter Bogen und die eigene Treffsicherheit.“ Mit der linken klopfte er sich noch etwas Erde von der Schulter. „Esst in Ruhe fertig, dann brechen wir allmählich auf. Meine Zeit ist ja, wie ihr wisst immer nur auf ein paar lächerliche Stunden begrenzt.“
„Ich würde euch ja gerne was von meinem Nachtmahl anbieten, aber es wird euch wohl nicht so munden wie mir.“ Sie sah ihn grübelnd an. „Wie sieht es aus mit Vita? Ich hab‘ nur meine eigene anzubieten, da wir sowas im Schloss leider nicht vorrätig haben.“ Sie deutete auf einen leeren Becher. „Mir würd‘ es nicht weh tun, euch, so schätz ich mal, für heute nähren. Wer weiß, was noch kommt.“
Der Gangrel kniff die Augen zusammen. Dafür, dass sie ihn als auch seine Art als Ganzes so sehr hasste und geringschätzte, war sie ziemlich schnell bereit ihm ihre Vitae ohne großes Aufheben oder Widerstreben zur Verfügung zu stellen. „Das überrascht mich jetzt ein bisschen, Francesca. Ihr bietet einem der blutsaugenden Teufel euer Blut an? Freiwillig?“ Er unterdrückte ein breites Grinsen. „Habt ihr eure Meinung plötzlich doch geändert?“
Sie grinste und schob sich einen weiteren Bissen in den Mund. „Hm, ich lasse mich mitunter davon überzeugen, dass es nicht gut ist, alle unter einen Kamm zu scheren. Ich kenne einige Kainiten und unter uns: Vielen von ihnen würde ich mitunter wirklich nur zu gern den Kopf von den Schultern trennen. Vor allem, wenn man erfährt, was vor dem Waffenstillstand alles geschehen ist… Und mein Misstrauen bewahre ich mir gerne ein wenig: Aber in dieser Nacht muss ich mich auf euch verlassen können. Ich brauche einen fähigen Kämpfer an meiner Seite. Und dafür sollte man sorgen. Mit diesem köstlichen Rebhuhn hier…“ Sie deutete auf das geröstete Fleisch. „… oder mit Vita.“
Mit einem Schulterzucken stimmte er ihr zu. „Ihr seid jemand, der weiß, worauf es ankommt und der Prioritäten setzen kann. Eine gute und wichtige Eigenschaft für eine stolze Frau, die im Kriegshandwerk geschult scheint. Ihr mögt mich nicht sonderlich schätzen, aber wir sind in dieser Sache aufeinander angewiesen.“ Schlussendlich schüttelte er sachte den Kopf. „Vielen Dank für euer ehrenvolles Angebot, aber ich werde, glaube ich in dieser Nacht darauf verzichten. Die Reise an unser Ziel sollte nicht mehr allzu lange dauern und so dringend muss ich noch nicht auf die Jagd gehen. Im Notfall ergibt sich schon das eine oder andere; da bin ich guter Dinge.“
Sie nickte. „Ich schätze, ihr seid ein Jäger und verdient euch eure Beute lieber als Geschenke anzunehmen. Das verstehe ich nur zu gut. Geht mir ähnlich.“ Francesca wischte sich die Finger an der Hose ab, trieb ihren Stiefel in die weiche Erde um ein Loch zu graben und verscharrte die Essensreste darin. Dann löschte sie das Feuer. „Wir sollten aufbrechen.“
Er nickte und half ihr die Essensreste zu verscharren. Das Löschen des Feuers aber überließ er notgedrungen völlig der ihm langsam aber sicher ein wenig sympathischer werdenden Italienerin. Nachdem er die dicken Handschuhe übergestreift hatte, zog er einen Apfel aus den Satteltaschen und hielt ihm Ajax vor die Nüstern, der sich nicht zweimal bitten ließ, sondern genussvoll schmatzend abbiss. „Das reicht erstmal fürs erste, sonst kommst du gar nicht mehr in die Gänge“, meinte der Hauptmann schmunzelnd und tätschelte ihm die Flanke, bevor er sich in den Sattel schwang und die Zügel straffte.
Sie trat zu ihrem Pferd, streichelte ihm sacht über die Nüstern und schwang sich dann in den Sattel. Sie sah zum Himmel an dem die Sterne langsam zu erkennen waren und sich die Scheibe des Mondes über den Baumwipfeln aufstieg. „Ich denke, es wird nicht mehr allzu lang dauern. Vielleicht ein oder zwei Stunden…“
„Ein oder zwei Stunden hören sich nach einem vertretbaren Ritt an. Dann lasst uns keine Zeit verlieren. Reitet voran, ich folge euch.“

Der Weg, der durch den Wald führte war breit genug für einen Wagen und so war es auch problemlos möglich nebeneinander her durch den Forst zu reiten. Das Dickicht war dunkel und fast undurchdringlich. Ungefähr zwei Stunden später veränderte sich die Umgebung jedoch und er bekam den Eindruck, sich eher in einem Garten als in einem Wald aufzuhalten.
Francesca sah zu ihm hinüber. „Schönforst, nehme ich mal an. Ich war noch nie hier und eigentlich ist diese Burg auch am Hof selbst nicht wirklich weiterer Erwähnung wert gewesen.“

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„Zu viel Licht und ausgedünntes Blattwerk…“, konstatierte der Gangrel etwas grummelnd. Es mochte ja das verwöhnte und nach kunstvollen Eindrücken gierende Herz erfreuen, einen derart schön angelegten und gepflegten Wald durchreiten zu dürfen, aber der eher nüchternen Räuberseele war dieser Anblick ein entmutigender Gräuel. „Auch, wenn die Burg hier am Hofe nicht weiter von Belang scheint; immerhin macht der Landsitz dem Namen seiner adeligen Inhaber alle Ehre. Wenn sie ihre Töchter genauso pflegen wie diese Buchen, kann ich mir schon denken warum es Heinrich hierher verschlagen hat. Schade nur, dass solche Geschichten nie reine Liebeleien bleiben.“ Er warf während des getragenen Rittes einen Blick zu Francesca. „Es gibt immer in paar listenreiche Verwandte, die mehr daraus machen wollen. Vor allem für sich selbst.“
Sie lachte bei seinen Worten und nickte zustimmend. „Oh ja, jeder ist sich selbst der nächste. Dass sie vielleicht alle ihren Vorteil daraus ziehen würden, wenn sie ihre eigenen Ziele ein wenig hinten an stehen lassen würden, wird ihnen nie in den Sinn kommen.“ Sie stieß einen leisen Fluch in Italienisch aus. „ich verstehe nicht, was Heinrich hier sollte. Vielleicht wurde er wirklich entführt. Ich wüsste nicht, was ihn freiwillig hierher verschlagen würde.“
Lucien konnte am Ende des gepflegten Waldweges breite steinerne Mauern ausmachen.

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Er schmunzelte leicht, als sie ihren energischen Fluch ausstieß. Irgendwie gefiel es ihm sie so derbe Wortfetzen ausspucken zu hören; es erinnerte ihn viel zu sehr an die jungen Mädchen in Nîmes und Marseille, die den Streichen der vorlauten Bengel, wie er selber einer gewesen war, mit Inbrunst und lautem Organ entgegengetreten waren. Gelegentlich gab es auch zünftige Ohrfeigen. „Wir können nur spekulieren…“, gab er schulterzuckend zu bedenken, während er die Mauer näher auf sich zukommen sah. „… aber es ist unsere einzige Spur, Francesca. Vielleicht habe ich mit meiner Vorstellung von jugendlicher Liebe auch gar nicht so falsch gelegen? Immer können wir wohl davon ausgehen, das sich Heinrich aufgrund dieser geplanten Hochzeit auf und davon gemacht hat.“ Seine Augen zuckten kurz. „Wie wollen wir hier eigentlich auftreten? Wer ihr seid, wird den Herrschaften bekannt sein, aber was soll ich über mich erzählen? Und vor allem: Was wollen wir denen erzählen, das wir hier zu tun gedenken? Wir können ja so oder so schlecht mit der Wahrheit herausrücken?“
Sie funkelte ihn grinsend von der Seite an. „Was würde denn ein Unsterblicher wie ihr vorschlagen. Mit welchem Konzept, seid ihr in den letzten Jahrhunderten am besten voran gekommen?“
Der Gangrel zog am Zügel; gebot seinem braven Reittier das Tempo scharf zu reduzieren und in einen äußerst gemütlichen Trapp zu verfallen. „Ho ho…“, flüsterte ihm sein unsterblicher Besitzer zu. Es würde nichts bringen, wenn sie beide wie die bewaffnete Kavallerie nur auf Verdacht hin in irgendwelche Burgen eindrangen und aufs Geratewohl Adelige verdächtigten nur, weil auf irgendeinem halb verbrannten Schreiben ‚Schönforst‘ gestanden hatte. „Lügen…“, meinte Lucien dann ganz unverblümt und nachdenklich; als gäbe es nichts wofür er sich schämen müsste oder sollte. Vielleicht hatte er das bereits auch ein wenig verlernt. „Die meiste Zeit haben wir uns mit irgendwelchen ausgekochten Lügengeschichten Zutritt verschafft, falls es tatsächlich nötig gewesen wäre. Wir brauchen also demnach einen plausiblen Grund, warum wir hier sind und im meinem Fall darüber hinaus, wer wir sind.“ Er strich sich durch den Bart und besah sich seine Kleidung. „Als Adeliger gehe ich nicht mehr durch, dafür sehe ich zu sehr nach Söldner aus, aber vielleicht klappt gerade das. Fällt euch kein Grund ein, warum ihr als offizielle Gesandte von Friedrich heute noch einen Besuch mit soldatischer Begleitung bei den Schönforsts absolvieren könntet? Vielleicht sprecht ihr ein wenig mit den Anwesenden und euer tumber Söldner sieht sich das Haus und die Anlage einstweilen ein wenig genauer an?“
Sie nickte. „Prinzipiell könnte das klappen und die Idee ist gut, aber ihr würdet den jungen König nicht erkennen, selbst wenn er direkt vor euch stünde, oder? Wir müssen beide in der Lage sein unseren Weg zu finden… Und Lügen, da bin ich ganz ehrlich, ist nicht meine Stärke.“ Sie strich ihrem Tier über den Hals und es wurde langsamer. „Einen Grund haben wir ja: Das Verschwinden von Heinrich…“
Er nickte und machte eine beschwichtigende Handbewegung. „Schon, da mögt ihr recht haben, aber es ist ja unter anderem eine unserer Hypothesen, dass die Familie Schönforst in das Verschwinden von Heinrich auf die eine oder andere Weise verwickelt ist. Meint ihr nicht auch, wir würden einen Vorteil verschenken, wenn wir diese Tatsache in diesem Fall so einfach offenbaren?“ Er sah sie fragend an. „Zudem dachte ich, dass der Umstand seines Verschwindens doch so geheim wie möglich gehalten werden sollte, oder liege ich da falsch?“ Ein weiteres Mal glitten seine Schultern nach oben. „Aber, wenn ihr der Auffassung seid, mit der offenen Wahrheit kommen wir weiter, so können wir auch ganz einfach hochoffiziell auftreten und Erkundigungen einholen. Ganz wie es euch beliebt.“ Als er die hohe Mauer erreichte, zog er den Zügel straff und ließ Ajax halten, um sich im Anschluss aus dem Sattel zu schwingen und den treuen Brabanter hinter sich her zu führen. „Ihr kennt die Schönforsts besser als ich. Womit würden wir eures Erachtens nach mehr Erfolg haben?“
Sie schüttelte den Kopf. „Ich kenne keinen dieser Familie direkt. Sie sind eine kleine, unbedeutende Adelslinie und ich weiß nicht mal, wem sie derzeit Treue schuldig sind.“ Sie sah etwas unglücklich aus, ihren Fehler eingestehen zu müssen. „Ja, ihr habt schon recht, es sollte nicht an die große Glocke gehängt werden, dass der junge König verschwunden ist. Ich werde versuchen mich an den Hausherren weiter verweisen zu lassen. Vielleicht gelingt mir das. Ich kann mir irgendeine Geschichte ausdenken… Der König wünscht einen Jagdausflug… Sowas belangloses bekomm vielleicht ich sogar noch hin. Wenn ihr Heinrich sucht: Der Junge ist ungefähr so groß.“ Sie deutete an ihre Nasenspitze, hat dunkelbraune , halblange Haare und dunkle Augen.“

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Belustig sah er sie an, als sie versuchte ihm den Sohn des deutschen Kaisers zu beschreiben. „Ich nehme an, falls er mir über den Weg läuft, werde ich ihn aufgrund seiner beispiellosen Einzigartigkeit in diesem Land einwandfrei erkennen können“, witzelte er herausfordernd. Dann seufzte er unschlüssig. „Mir kam nur eben dieser Gedanke, dass diese ganze Angelegenheit ja offiziell gar nicht stattfindet, nicht wahr? Weder wird Heinrich vermisst, noch sind wir auf dem Weg ihn zu suchen? So hätten wir es doch halten sollen, wenn ich den Kaiser recht verstanden habe?“ Er hob die Schultern. „Ich will euch aber nicht zum Lügen zwingen; das müsst ihr keinesfalls. Vielleicht reicht es schon seinen Namen zu erwähnen und an der Reaktion des Familienvorstandes, erkennen wir woran wir sind. Ihr meintet ja, das diese Schönforst Linie sich eher bedeckt und aus der Politik heraushält, damit wird sie auch weniger Übung im Lügen, betrügen und intrigieren haben oder salopp gesagt: Die Feinheiten der gehobenen Gesellschaft sind ihnen nicht vollends vertraut. Das könnte unser Vorteil werden, also lasst es uns doch einfach offiziell versuchen. Wenn wir abgewiesen werden oder das Gespräch nicht so verläuft, wie wir uns das wünschen, können wir uns immer noch etwas Anderes überlegen.“ Er machte ein paar Schritte auf den Durchgang in der Mauer, der Richtung Anwesen führte zu.
Auf ihr Klopfen hin wurde die breite, ausladende Tür des Anwesens geöffnet. Lucien erkannte metallene Verstrebungen an den Innen- und Außenseiten der Türen. Wollte man hier Eindringlinge drin oder draußen behalten?
Ein Diener sah die beiden Fremden misstrauisch an. Auch als Francesca sich als Abgesandte des Kaisers und ihn als ihren Begleiter Jan vorstellte, wurde der Gesichtsausdruck des Angestellten nicht freundlicher. Er schien sich nicht erweichen lassen zu wollen, ihnen Zutritt zu gewähren. Erst als Francesca forderte, zum Hausherren vorgelassen zu werden und ein kaiserliches Siegel vorzeigte, musste er sich den Gegebenheiten fügen und sie beide hinein lassen. „Der Herr hat keine Zeit, Frau Walle. Aber das kann er euch ja auch selbst sagen.“ Er begann vor ihnen her zu schlurfen und trottete lustlos die dunklen, kalten Gänge entlang. Wo auch immer sich die Bewohner dieser Festung versteckten: Hier definitiv nicht.“ Irgendwann ließ sich Francesca leicht zurück fallen und wartete auf Lucien. Sie sah beunruhigt aus. Ihre Stimme war nur der Hauch eines Flüsterns als sie sich zu seinem Ohr beugte. „Dieser Geruch, der in der Luft liegt. Ich kenne ihn vom Hofe… Aber ich hab im Moment keine Ahnung zu wem er gehört.“
Lucien war schon beim Öffnen der Tür misstrauisch geworden. Gut, hier draußen in der Abgeschiedenheit musste ein adeliger Mann von Stand und Vermögen dafür sorgen, das sein Hab und Gut geschützt war und er sich nicht sonderlich um die Unversehrtheit von Leib und Leben kümmern müsste. Da mochten gut ausgebildete Wachen und hohe Mauern einen gewissen Schutz bieten, genauso wie verstärkte Türen aber eine derartige Verstrebungskonstruktion, hatte er bis jetzt noch nirgendwo gesehen. Zumindest nicht an einer Haustür. Ähnlich verhielt es sich beim eher gelangweilten und nicht gerade dienstbeflissenen Diener, der wohl eher aufgrund seiner eigenen Lustlosigkeit und weniger aufgrund der Uhrzeit jeden Moment einzuschlafen drohte. Das Ganze versprach jetzt schon ein ganz besonderes Vergnügen zu werden, wenn man sich lediglich dem Hausherrn vorstellte um danach sogleich wieder gehen zu dürfen. Er würde sich gewiss nicht so einfach hinauskommandieren lassen; nicht bevor er auf die eine oder andere Art Antworten bekommen hatte. An Francesca gewandt flüsterte er leise: „Das mag ein Hinweis sein. Ein äußerst penetrantes Duftwasser, das zudem sicher sehr kostspielig gewesen sein dürfte und damit nicht für jeden erschwinglich. Vielleicht fällt es euch später ja wieder ein, aber ich schätze, so falsch sind wir damit an diesem Ort offenbar nicht.“ Er sah zu dem nach vorne davontrottenden Diener. „Auch wenn der da anderer Meinung sein mag.“
Francesca unterdrückte ein Lachen als ihr Blick, dem von Lucien folgend, an dem dahinschlurfenden Diener hängen blieb. Dann wurde sie gezwungenermaßen wieder ernst und holte zu dem Diener auf, der anscheinend nichts von ihrem leisen Gespräch verfolgt hatte.
Er blieb schließlich an einer schweren, dicken Holztür stehen. „Der Herr von Schönforst ist hier drin. Wartet einen Moment.“ Er klopfte an, trat sobald er die Erlaubnis erhalten hatte, ein und man konnte seine etwas gedämpfte Stimme hören. „Mein Herr? Eine Botin des Kaisers, Frau di Valle, erbittet eine Audienz.“
Francesca verzog das Gesicht. „Aha, der nette Kerl hat meinen Namen anscheinend doch richtig verstanden. Idiot!“
Drinnen folgte eine nicht hörbare Antwort, dann erschien der Diener erneut. „Frau Walsche? Der Herr hat gerade noch eine wichtige Unterredung. Er wird euch sogleich empfangen. In ein paar Minuten geht sein Gast, dann habt ihr seine vollste Aufmerksamkeit.“
Er sah sich die beiden Gestalten noch einmal an, eine Frau in Rüstung und ein von Erde starrender Kerl, eher Räuber als Söldner und schlurfte dann wieder davon. Ganz offensichtlich waren die beiden seine Aufmerksamkeit nicht weiter wert, egal ob vom Kaiser oder Gott persönlich geschickt.
Lucien schüttelte nur grinsend den Kopf und ließ den Diener in trostloser Manier, seine ebenso trostlose und langweilige Arbeit tun. Niemand verlangte, dass er mit begeistertem Enthusiasmus seiner Tätigkeit nachging, aber das hier war beinahe schon eine Farce. Zudem gefiel es dem Herrn offenbar ganz besonders gut den Namen seiner Begleiterin in verschiedensten Varianten zum Besten zu geben, obwohl er das kleine bisschen französischer oder italienischer Sprachmelodie sicher zusammengebracht hätte. Wieviel man hier auf den Kaiser oder seine Gesandten gab, machte allein dieser Umgang mit Francesca deutlich. Sich selbst schloss er damit allerdings nicht ein; er sah wirklich nicht gerade ansehnlich aus und hätte sich wohl unter Berücksichtigung des Standes der hier Anwesenden, wohl Spott und Häme verdient. Francesca jedoch… irgendwie störte es ihn sogar, dass der Diener so dermaßen unfähig war. Einen Namen richtig auszusprechen, war das mindeste an Höflichkeit. „Vielen Dank“, meinte Lucien knapp in Richtung des Dieners und hielt ihn dann aber noch im Gehen am Arm fest. „… und es heißt di Valle… Francesca di Valle. Es wäre mir sehr lieb, wenn ihr einer Gesandten des Kaisers zumindest diesen Respekt erweisen könntet.“ Das bedrohliche Funkeln in seinen Augen, war dabei vollauf beabsichtigt. Erst als er das Gefühl hatte, der Diener hatte verstanden, was er damit tatsächlich ausdrücken wollte, ließ er ihn ziehen. An seine Begleiterin gewandt, meinte er mit bekräftigendem Nicken. „Ihr habt euch wohl nicht getäuscht und sofern dieser späte Besuch des Hausherrn, sich nicht durch eine Nebentür verabschiedet, dürften wir gleich erfahren um wen es sich handelt. Ich gebe zu, ich bin schon ein wenig neugierig.“
Francesca verschränkte die Arme vor der Brust. „Ich könnte wetten, genau das, wird er tun: Durch eine Nebentür verschwinden.“ Sie sah zu ihm. „Danke. Das war freundlich.“ Sie lächelte kaum merklich. „Aber ich glaub, der Kerl hat diese Aufmerksamkeit überhaupt nicht verdient.“ Sie schien zu überlegen. „Ich könnte mich sehr täuschen, aber ich glaube, dieser Mangel an Respekt ist beabsichtigt… Und er richtet sich mit Gewissheit auch an mich, keine Frage. Aber er gilt uns als Abgesandten des Kaisers. Und das finde ich mehr als beunruhigend… Was, um alles in der Welt, geht hier vor, dass selbst ein einfacher Diener so selbstsicher ist, es sich mit einem Gesandten des Kaisers verscherzen zu können?“ Sie wirkte beunruhigt. Sie trat ein wenig näher an die Tür. „Der Geruch dieses Duftwassers kommt von dort drin. Ich könnt wetten, sein Träger hält sich dort auf… Was machen wir? Gehst du dich ein paar Minuten umschauen während ich hier warte. Der Abort ist sicher sehr, sehr gut versteckt und ab und an hat man ja gewisse Bedürfnisse, wenn jemand fragen sollte oder so…“ Sie grinste zweideutig.
Der Gangrel nickte. „Der mangelnde Respekt ist gewiss beabsichtigt und ich stimme dir vollkommen zu. Wenn uns schon ein einfacher Diener die kalte Schulter zeigt und uns damit unmissverständlich zu verstehen gibt, wo der Kaiser und seine Getreuen in diesem Haus stehen, bin ich ja schon unheimlich gespannt darauf, was uns der Hausherr zu sagen hat.“ Seine Augen wanderten zurück in die Richtung, aus der sie gekommen waren und in die vor wenigen Augenblicken auch der Diener wieder verschwunden war. „Er hat die Aufmerksamkeit gewiss nicht verdient, aber ihr.“ Vorsichtig hielt auch er die Nase gegen die schwere Tür und nickte. „Der Geruch lässt sich kaum verbergen; ganz eindeutig trennt uns nur diese letzte Hürde seine Identität festzustellen.“ Mit einem leicht schiefen Grinsen, nickte er und zog die Handschuhe fester an. „Eine ausgezeichnete Idee. Der viele Wein und das Bier… wer kann es da einem schon verdenken? Ich sehe zu, dass ich mehr herausfinde, halte du einstweilen die Stellung.“ Gesagt, getan. Der Hauptmann machte auf dem Absatz kehrt und ging zurück zu den Korridoren, die in den Vorraum zu den Privatgemächern des Hausherrn führten. Er überlegte eine Zeitlang, bevor er sich weiter in Bewegung setzte. Hier müsste das Zimmer des Hausherrn liegen und im Grunde konnte der mysteriöse Besuch nur durch drei Seiten unbemerkt den Raum verlassen. Es sei denn, man hatte eine geheime Klappe im Boden oder der Decke installiert aber das wagte er zu bezweifeln. Vorsichtig dahinschleichend, sah er sich um.
Lucien konnte anhand der Erinnerung an das Äußere der Anlage ungefähr ausmachen, wo die Privatgemächer der Herrschaft sein musste und der langsam reicher werdende Schmuck an den Wänden hab ihm recht. Nichtsdestotrotz erschienen die Gänge weiterhin ungemütlich, kalt und wenig einladend. Es gab ein paar Wachmänner, die aber so in ein lautes Gespräch über die sexuellen Vorzüge ihrer jeweiligen Mädchen vertieft waren, dass es ein leichtes für Lucien war unbemerkt an ihnen vorbei zu schleichen.
Er hatte die Zimmer erreicht und wusste, wenn es einen Gang aus dem Zimmer vor dem Francesca wartete, gab, dann musste er hier irgendwo sein. Während er voranschlich fiel ihm mit einem Male eine angelehnte Zimmertür auf. Drinnen war es warm und die letzten Scheite eines wohl zu Beginn des Tages entzündeten Feuers brannten langsam nieder. Im Inneren war es still.
Die Einladung war zu offensichtlich, als dass er sie hätte ausschlagen können. Zwar war er nicht wirklich der Meinung, man würde ihn bereits erwarten, aber falls doch, hätte es ihn auch nicht weiter gewundert, wenn man bedachte, wer alles am Hofe von Friedrich verkehrte. Kainiten konnten auch Duftwasser tragen, wenn sie das nötige Kleingeld dafür aufbringen konnten und wollten. Jemand mit den scharfen Sinnen einer Lilliane oder eines Leif, hätte womöglich schon von seiner Anwesenheit gewusst, noch bevor er einen einzigen Schritt in das Gebäude gesetzt hätte. Ganz vorsichtig und langsam, lugte er durch den schmalen Spalt und veränderte seine Position, sodass er den Raum so gut es ihm nur möglich war in Augenschein nehmen konnte, bevor er das tat, worum er ohnehin nicht umhinkonnte. Nachdem er sich fest vergewisserte hatte, dass er niemanden in die Arme laufen würde, öffnete er die Tür ein wenig weiter und betrat den beheizten Raum.
Es war ein einfaches Zimmer mit gewöhnlichem Bett, steinernen Wänden und Kamin. Überall lagen Felle toter Tiere herum: Bär, Fuchs, Luchskatze. Mehrere Geweihe waren an den Wänden angebracht worden. Neben dem Bett war eine große Reisetasche zu sehen aus der Kleidung heraus quoll. Auf dem Nachttisch war ein Buch zu erkennen- ein seltener und teurer Schatz zu damaliger Zeit. Ansonsten waren mehrere Tische und Stühle auszumachen.

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Insgesamt erweckte der Raum den Eindruck normalerweise als Versammlungsraum zu dienen in den man das Bett notgedrungen hinein gestellt hatte.
Und gerade weil das Bett zusammen mit der überdimensionalen Reisetasche und dem Berg aus Kleidung so ganz und gar nicht in diesen über und über mit Jagdtrophäen übersäten Herrensalon passen wollte, wurde der Gangrel unweigerlich misstrauisch. Hier hatte jemand Quartier bezogen, den man wohl aus unerklärlichen Gründen nicht einfach ein Gästezimmer zur Verfügung stellen konnte. Deshalb war offensichtlich auch der Kamin entfacht worden; ein Sterblicher demnach. Trug denn ein kleiner Junge schon in diesem Alter Duftwasser? Konnte es sein, dass er Heinrich bereits gefunden hatte? Er besah sich die Kleidung in der Reisetasche genauer um festzustellen, wem sie wohl gehören mochten.
Ein kurzes Schnuppern in der Luft versicherte Lucien, dass es hier in keinster Weise nach Duftwsser roch. Nur der Geruch von verbranntem Holz aus dem Kamin war zu erkennen. Die Kleidung, die er langsam aus der Tasche zog war fein gearbeitet, mit Stickereien versehen und von edler Machart. Das hier waren weder Samt noch Brokat, aber durchaus, allein aufgrund der Qualität, teure Kleidung. Die Größe, das erkannte er rasch, konnte zu einem wohl zwölfjährigen Jungen passen. In den tiefsten Tiefen des Rucksackes versteckt, konnte er, dick in ein wollenes Wams gewickelt, ein blaues Pferd aus Stoff mit großen schwarzen Knopfaugen ausmachen.
Wer hätte gedacht, dass es so einfach werden würde den Jungen zu finden? Das heißt, ganz so einfach war es dann wohl doch nicht, denn weder war geklärt, was der Junge hier wollte und in welcher Beziehung er zu den Schönforsts oder sie zu ihm standen, noch warum er überhaupt erst weggelaufen war, obgleich man da bereits wild zu spekulieren begonnen hatte. Die einfachste und logischste Herangehensweise wäre es, den Jungen selbst zu fragen. Alle anderen würden ihm ohnehin nur Lügengeschichten und Märchen auftischen. Jetzt stellte sich nur noch die Frage, ob er hier darauf warten sollte bis Heinrich zurückkommen würde oder sich lieber auf zu Francesca machen sollte, die ja nach wie vor ein Gespräch mit dem Hausherrn suchte? Immerhin hatte er jetzt etwas, womit er Herrn Schönforst konfrontieren könnte. Trotzdem hatte er, wenn er es recht bedachte, noch nicht gefunden wonach er eigentlich gesucht hatte: Dem Träger oder der Trägerin dieses markanten Duftwassers. Angestrengt blickte er sich um. War die fremde Person schon hier vorbeigekommen? Nein, da würde er den Duft riechen, ganz ohne Frage. Also war sie noch im Gespräch mit dem Hausherrn und bot ihm damit nach wie vor die Chance, einen Blick auf sie zu erhaschen. Er ging das Zimmer vorsichtig ab und sah sich nach Möglichkeiten um, wie er noch näher an die Privatgemächer des Hausherrn gelangen konnte. Er musste den oder die Fremde lokalisieren und möglichst identifizieren.
Lucien war schon dabei gewesen das Zimmer endgültig zu verlassen als ihm plötzlich dieses Buch wieder einfiel. Bücher waren teure Kostbarkeiten und es war nicht alltäglich, dass man ein solches einfach achtlos auf einem Nachttisch liegen ließ. Es sei denn man war es gewohnt, solche Dinge um sich zu haben.
Er schlug es auf und erkannte, dass es sich um ein Orginal handelte. Reich bebildert wurde darin die Jagd mit Raubvögeln beschrieben. Kostbare Zeichnungen untermalten das Wissen, das man darin gesammelt und festgehalten hatte.
Auf der ersten Seite war eine Widmung. „Für meinen Sohn.“

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Als er eine weitere Seite aufschlug fiel mit einem Mal ein Papier heraus. Er hob es auf und erkannte eine saubere Handschrift, die wohl einem jungen Mädchen gehören musste, wie er an den geschwungenen, verzierten Buchstaben erraten konnte.
Mein teuerster zukünftiger Kaiser.
Sehnsüchtig sehe ich unserem Treffen entgegen.
Widrigkeiten werden zu nichts, wenn wir zusammen herrschen werden.
In seliger Erwartung und tiefer Liebe
Agnes

Na, wenn das mal nicht der eindeutige und unbestreitbare Beweis dafür war, dass der kleine, verbrannte Hinweis des jungen Heinrich sie doch noch auf die richtige Spur geführt hatte. Die kostbare, reich bebilderte Originalausgabe dieses Buches war ganz offensichtlich ein Geschenk von Friedrich an seinen Sohn. Was aber bei weitem interessanter auffiel, war das kleine Stück Pergament, das sich zwischen den Seiten verborgen hatte. Ein knapper Liebesbrief an Heinrich, verfasst von einer gewissen Agnes, deren filigrane und unverkennbar feminine Handschrift nur allzu gut ihr sehnsüchtiges Warten und ihre unbändige Liebe auszudrücken vermochte. Also war der gute Heinrich tatsächlich einer kleinen Liebelei anheimgefallen, die sein Vater nicht für gutgeheißen hatte, da seine Hochzeitsarrangements bereits anders abgesprochen waren. Die böhmische Agnes womöglich, welcher der Junge ja zunächst versprochen gewesen war. Eine Flucht hierher um sich gar im Geheimen mit seiner Liebe zu treffen und mit ihr gemeinsam den Anforderungen des Daseins als Thronfolger zu entkommen? Eine Geschichte wie in Lillianes Märchenbüchern. Aber war es nicht möglich, dass dieses Duftwasser tatsächlich Agnes gehörte? Und wie war die Familie Schönforst in diese ganze Sache verwickelt? Er musste die Zusammenhänge verstehen, um weitere Fakten als wahr anerkennen zu können. Fakt war auf jeden Fall, dass der Junge hier war und wohl noch immer in Agnes verliebt war; mit hoher Wahrscheinlichkeit deshalb von zu Hause weggelaufen war. Lucien brauchte Gewissheit und so machte er sich auf um eine Möglichkeit zu finden den oder die mysteriöse Fremde endlich sehen zu können. Vielleicht würde die Lösung dieses Rätsels sogar weitere Puzzleteile zusammenfügen.
Lucien verließ den Raum wieder und ging den Gang, statt wieder zurück zu gehen, weiter. Und tatsächlich: Dort fand er die Tür, die ganz offensichtlich einen zweiten Zugang zu dem Zimmer in dem sich der Herr von Schönforst gerade aufhielt, ermöglichte. Sie war etwas weniger stabil als die meisten der seltsam verstärkten Türen in diesem Gebäude aber dennoch aus massiven, dicken Eichenholzbretttern gezimmert.
Lucien konnte Stimmen von drinnen erkennen. Eine männliche sowie eine weibliche, die, da war er sich sicher, Francesca gehören musste. Sie klang aufgebracht.
„Wie könnt ihr es wagen, Euch erneut hier in diesen Landen aufzuhalten? Ihr seid verbannt und dieser Bann währt weitere 70 Jahre. Damit, dass ihr hier seid, brecht ihr diese Vereinbarung.“
Die Stimme, die folgte war, um es einfach auszudrücken: glatt. Sie klang geschmeidig, gütig, mitunter zum besonderen Betonen einzelner Silben auch scharf. „Aber, aber meine teuerste Francesca, wer wird denn gleich. Die Ländereien der Familie Schönforst befinden sich seit einem Monat in meinem Besitz. Somit befinde ich mich nach wie vor in meinen eigenen Ländereien. Es liegt also in keinster Weise ein Vertragsbruch vor.“
„Ihr seid ein miserabler Lügner und Intrigant, Otto. Ihr habt durch euer Handeln zigtausende in den Tod geführt und ihr werdet immer weitermachen. So wie jeder von eurer arroganten Art, Blutsauger!“
Der Mann fuhr sie in härtestem Ton an. „Du wagst es, tadelnde Worte über Morde an mich zu richten, Francesca. Wie viele hast du wohl abgeschlachtet? Wie viele wohl deine geliebte Art? Bist du mittlerweile geheilt oder wirst du es erneut tun, Wolf? Hm? Ich könnte wetten, du genießt es deine Opfer abzuschlachten, oder? Du bist nichts weiter als ein etwas intelligenteres Tier! Geh zurück in deine sizilianischen Wälder, wo du hingehörst, und verschwinde aus Deutschland. Und ja: Deinen geliebten Kaiser kannst du gleich mitnehmen. Das hier ist unser Land“
„Hast du Hardestadt diesmal mit eingespannt oder kämpft ihr nach wie vor gegeneinander?“
„Liebe Francesca: Ein kleines Geheimnis, dass wohl jeder außer dir kennt: solange Hardestadt auch nur einen einzigen Fuß im deutschen Reich hat und sich als den schwarzen Monarchen feiern lässt, werde ich nicht ruhen ohne zu Donar zu beten, dass er einen Blitz auf ihn niedergehen lässt. Da das bisher nicht geschehen ist, werde ich wohl das Werkzeug der Götter spielen müssen.“ Er lachte.
Was er da so an Gesprächen durch die dicke Holztür des hinteren Zugangs vernahm, irritierte ihn auf mehrfache Art und Weise. Einerseits war da die simple Tatsache, dass Schönforst gar kein von Schönforst war, sondern offenbar seine Ländereien mitsamt Anwesen an einen deutschen Kainiten mit Namen Otto abgetreten hatte. Ein Kainit, der zum einen verbannt worden war und zum anderen mit Hardestadt in Konkurrenz zu stehen schien. Wobei Konkurrenz wohl ein wenig untertrieben schien, sonst wäre er wohl kaum in die Verbannung geschickt worden. Hass und Abscheu trafen es da wohl eher, und wo sich diese altbekannten Freunde tummelten, waren Neid, Missgunst und Intrige auch nicht fern. Es passte demnach wieder einmal alles hervorragend zusammen. Selbst das Parfüm schien von diesem, ihm noch völlig unbekannten Otto zu stammen. Das zweite Rätsel dieses Abends war die wahre Natur von Francesca di Valle, die der fremde Untote soeben enthüllt hatte. Obschon er sie nicht direkt als Wolfling oder Werwolf bezeichnet hatte, wurde durch seine Andeutungen und Spitzfindigkeiten schnell klar worauf er hinauswollte. Wie hatte er das übersehen können? War er schon so blind geworden oder hatte die Zeichen falsch gedeutet? Konnte man ihn derart in die Irre führen? Er befand sich mitsamt einer Wolflingsfrau, auf Geheiß des deutschen Kaisers im Anwesen eines für siebzig Jahre verbannten Kainiten, um das Verschwinden des deutschen Thronfolgers zu klären. Allmählich klang die Geschichte selbst in seinen Ohren nur noch unglaubwürdig, wäre da nicht die Tatsache, dass sie sich genauso zutrug. Immerhin hatte ihn Francesca noch nicht gefressen und nachdem der restliche, deutsche Hof ohnehin voll war mit allerlei merkwürdigen unheiligen Wesenheiten, versuchte er zwanghaft nicht mehr darüber nachzudenken. Sie und er waren hier um Heinrich zurückzubringen; mehr zählte nicht. Trotzdem würde er in einer ruhigen Minute das Gespräch mit seiner Begleiterin suchen; man hätte ihn ja wenigstens der Höflichkeit halber informieren können. Aber bis es soweit war, sah er sich mit den aktuellen Problemen und Möglichkeiten konfrontiert. Sollte er einfach eintreten und seine Anwesenheit verraten auch wenn er damit eine fürchterliche Rüge riskierte? Oder sollte er warten und sehen wohin sich dieses Gespräch entwickelte? Er zögerte für einen Augenblick; blieb dann aber sicher hinter der dünnen Tür verborgen. Wenn Francesca sich anschickte den Raum zu verlassen ohne dass der weitere Gesprächsverlauf besonders ergiebig hinsichtlich Heinrichs Verbleib wäre, dann konnte er immer noch einschreiten und diesen Otto mit den von ihm soeben entdeckten Tatsachen konfrontieren.

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Der Weg zum Ziel beginnt an dem Tag, an dem du die hundertprozentige Verantwortung für dein Tun übernimms.
Dante Alighieri


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