Text ebenfalls unter Familienangelegenheiten gepostet
Alida trat durch den geheimen Hintereingang des Anwesens des russischen Händlers, mit dem ihr Erzeuger befreundet war und der ihnen derzeit Unterkunft gewährte. Im kleinen Hinterhof, in dem sie herauskam, bot sich ihr ein seltsames Schauspiel. Zwei Frauen standen um ein wohl zwanzigjähriges Mädchen, das sich ängstlich gegen eine Hauswand presste, in dem sie schließlich Anja erkannte.
Die eine hielt mehrere Handtücher, die andere eine Schale heißes Wasser in den Händen. Beide sahen sie zu Boden und mieden jeden Blickkontakt mit dem Mädchen oder sonst jemanden. Ihnen gegenüber befand sich Girland, der begann mehrere lange, dünne Weidenruten zu einem straffen Bündel zusammen zu binden. Mit einem Schlucken biss Anja die Zähne aufeinander, wandte sich um und entblößte einen Teil ihres Rückens, den sie dem Major Domus entgegenstreckte. In ihrem Blick lagen unterdrückte Panik und der Wunsch wegzulaufen.
Alida sog scharf die Luft ein und trat mit raschen Schritten hinzu. Sie konnte sich ohne langes Nachdenken sofort zusammen reimen, dass das hier eine Bestrafung werden würde für irgendeine Nachlässigkeit, die Anja wohl begangen hatte. Alida griff nach Girlands Arm bevor er weiter machen konnte und sprach ihn in Flandrisch, das keine der Frauen verstehen konnte, an. „Meister Girland. Hört doch bitte auf! Ich werde mit dem Herrn reden und dann wird sich schon eine Lösung finden.“
Girland blieb einen Moment reglos stehen, sah sie fest an. „Frau Alida? Wenn ihr wirklich etwas Gutes tun wollt, dann dreht euch um und geht ins Haus.“ Seine Stimme war hart und es musste ihm ebenso schwer fallen ihr diese Anweisung zu geben wie die Bestrafung selbst durchzuführen.
Alida blieb einen Moment unschlüssig stehen, keiner der Anwesenden sah sie an. Das gebrummte, harsche „Bitte“ des Major Domus klang eher wie ein Befehl als wie ein Wunsch. Sie unterdrückte das Kopfschütteln und ließ es zu einem mühsam erzwungenen Nicken werden, dann ging sie in die Richtung, in der ihre Zimmer lagen.
Noch auf dem Weg dorthin vernahm sie das sausende Geräusch der scharfen Weidenruten und das schmerzerfüllte Aufstöhnen des jungen Mädchens. Alida zuckte bei jedem Schlag zusammen.
Mühsam stieß sie die Zimmertür auf und strich sich erschöpft das strähnige rote Haar nach hinten, das sie sich in den frühen Abendstunden ebenso wie das Gesicht geformt hatte. Sie sah in das große, jedoch kahl und nüchtern eingerichtete Zimmer. Am Ende konnte sie Hendrik gegenüber von einem geschlossenen, warmen Kamin ausmachen. Er saß über die Landkarte, die er zum Geburtstag geschenkt bekommen hatte, gebeugt und zeigte auf einen Punkt an deren rechten Ende. „Und da… Ich glaube, da würde ich auch gern mal hinreisen.“
Etwas verwundert hörte sie die vertraute Stimme von Emilian, der im Schatten neben dem Jungen saß, und mit den Augen dessen Finger folgte. „Da oben ist es eisig kalt. Mir würde es dort wahrscheinlich nicht gefallen.“
Hendrik hakte sogleich nach. „Wo möchtest du denn gerne hin?“
Ihr Erzeuger deutete auf einen Punkt der Karte und Hendrik lachte auf. „Das ist aber gar nicht weit. Du kannst dich auf den Weg machen und spätestens morgen bist du da.“
„Manche Reisen bewältigt man nicht in einem Tag, auch wenn das Ziel eigentlich ganz nah erscheint.“
Hendrik wollte etwas erwidern, doch er sah überrascht zur Tür, erkannte Alida und kam nach einem bestätigenden Nicken von Emilian, der ihm damit zu verstehen gab um wen es sich handelte, erfreut auf sie zu gerannt. Er drückte sich an sie. „Du bist wieder da.“ Irgendetwas, das konnte sie im Strahlen seiner Augen erkennen, musste ihn ungemein glücklich gemacht haben. Auch Emilian erhob sich, blieb jedoch zögernd an dem grob gezimmerten Tisch stehen. Ein kaum merkliches, schwaches Lächeln erschien auf seinen Lippen. Seine feste Stimme richtete sich an den Jungen, der schon den Mund geöffnet hatte um zu erzählen. „Hendrik? Tu mir den Gefallen und geh zu Bett. Die Nacht war lang und ich habe noch ein paar Dinge mit Alida zu besprechen.“ Einen Moment zögerte Hendrik, dann nickte er jedoch eifrig, wie um es dem Erwachsenen recht zu machen, und drückte sich aus der Tür hinaus.
Alida sah ihm ungläubig hinterher und ging dann auf ihren Erzeuger zu. „Ich bin erstaunt. Ich habe noch nicht oft erlebt, dass Hendrik freiwillig in dieser Sache gehorcht hat.“ Ihr Blick wanderte zu Emilian. Er sah so müde aus wie sie sich fühlte, als er die Landkarte wieder zusammen rollte und sie in ihrer Bulle verstaute. Die blonde Frau nahm ihm gegenüber Platz und griff nach seiner kalten Hand, fuhr ihm mit den Fingern über den Handrücken. „Alles in Ordnung?“
Er nickte, sah sie dann eindringlich an. „Ich bin froh, dass du wieder da bist.“
Sie deutete nach draußen. „Emilian? Girland bestraft Anja draußen in dem er sie die Rute spüren lässt.“
So wie vorhin Anja, presste nun auch ihr Erzeuger gezwungenermaßen die Lippen aufeinander, schwieg aber. Alida sah ihn fester an. „Das kannst du doch nicht zulassen!“
„Doch!...“ Er sog tief die Luft ein. „Anja hat meine Befehle offen missachtet und ohne mit jemand anderem Rücksprache zu halten statt auf Hendrik zu achten eigene Recherchen bezüglich der Zuverlässigkeit meiner Spione am deutschen Hof unternommen. Eine zugegebenermaßen gute, sinnvolle Tätigkeit, aber sie hatte eine andere wichtige Aufgabe, deren Missachtung den Jungen möglicherweise in Gefahr gebracht hätte. Ich bin ein Former und wie ein solcher bestrafe ich Vergehen…“ Sie wusste genau, was er meinte. „… normalerweise mit zeitlich begrenzten Entstellungen als permanente Ermahnung und Warnung für die anderen. Anja jedoch ist Girlands Tochter. Ich könnte es ihm nicht antun, sie so rumlaufen zu lassen. Also habe ich ihm aufgetragen, sie selbst zu bestrafen. Die Schmerzen werden vergehen und die Narben kann ich ohne Mühe verschwinden lassen.“
„Gibt es keine andere Möglichkeit?“
„Alida? Ich erwarte, benötige hundertprozentige Zuverlässigkeit meiner Leute. Ich muss mich auf jeden verlassen können, und sie kennen die Strafen auf solche Vergehen. Anja hat das Maß einmal zu oft überschritten, aber sie wird es lernen…“
Alida musste erneut schlucken. Aber mittlerweile hatte sie sich an so vieles gewöhnen müssen.
Emilian sah sie mit müden Augen an. „Es ist gut, dass du unbeschadet wieder hier bist. Wie war der Abend?“
Sie überlegte, wie sie am sinnvollsten antwortete. „Ich habe Andrej heute kaum zu Gesicht bekommen. Er sitzt in harten Verhandlungen mit Hardestadt und keiner der beiden Gegner scheint einen Deut von seinen Forderungen abzuweichen… Was hat Hendrik hier bei dir gemacht?“
Bei der Frage erschien ein nachdenklicher Ausdruck auf seinen Zügen. Er stellte die lederne Bulle auf den Boden. „Ich habe mir die Zeit genommen ihn näher kennen zu lernen. Näher als das, was im ersten Moment offensichtlich ist.“
Alidas helle Augen verengten sich missmutig. „Du hast dich in seinem Kopf umgesehen?“
Ihr Erzeuger nickte, als wäre das nichts von weiterem Belang. „Ja, mit seinem Einverständnis. Er ist ein außergewöhnlicher, kleiner Kerl.“ Er zögerte bevor er weiter sprach. „Der Junge ist mir, als ich jünger war, sehr ähnlich. Er ist Wiedergänger wie ich früher und von der Welt der Dunkelheit angezogen wie eine Motte vom Licht. Er hat die seltene Gabe schon in so frühen Jahren in der Lage zu sein zu formen. “
Alida hörte ihm mit leichter Skepsis zu. Worauf wollte er hinaus? „Ja, das ist er.“
„Ich konnte das damals auch… Meine Mutter war begeistert, machte mich diese Begabung doch zu einem der aussichtsreichsten Kandidaten für den späteren Kuss, die größte Ehre, die einem Wiedergänger widerfahren kann. Mein Vater jedoch fand, ich wäre zu jung. Er verbot es mir und ich habe ihm selbstverständlich gehorcht. Er war das Oberhaupt der Familie, mein Held, und niemals hätte ich auch nur ein einziges Wort von ihm in Frage gestellt.“ Irgendetwas schien ihn zu beschäftigen, dass war Alida bewusst. Er sprach weiter. „War dir bewusst, dass er dich und mich für seine Eltern gehalten hat?“
Alidas Augen weiteten sich. „Er hat was?“
Emilian nickte zustimmend. „Er hat für sich zwei und zwei zusammen gezählt und seine Gabe als Erbe seiner Eltern betrachtet. Hendrik ist ein Wiedergänger, so wie ich es war, und Wiedergänger sind in der Regel schon in der Zeit ihrer Jugend grob mit den Gesetzten ihrer Kainiten vertraut. Ich habe ihm die Dinge über die Welt der Dunkelheit erklärt, die ich für richtig gehalten habe.“
Alida hatte Mühe den Mund zu schließen. „Was? Emilian? Das ist nicht der Osten, in dem du deine Kindheit verbracht hast, in dem ein Voivode seine Nachbarn und seine eigene Bevölkerung tyrannisiert und alle das als selbstverständlich ansehen… Das ist der Westen, Hendrik ein Kind aus Flandern. Er ist ein achtjähriger Junge.“
Emilian schüttelte sacht den Kopf als würde er ihr etwas erklären, dass sie verstehen musste, auch wenn es ihr schwer fallen würde. „Nein, so einfach ist das nicht. Er hat unser Blut in sich. Er gehört in unsere Welt und er stellt seine Fragen, sucht sich seine Antworten, ob wir sie ihm geben wollen oder nicht. Das ist nun einmal so, ob du es nun für richtig oder für falsch halten magst.“ Es schien ihm schwer zu fallen, ihr das zu sagen, weil er wusste, dass sie es nicht gutheißen konnte. Er zögerte einen Moment bevor er weiter sprach. „Hendrik kommt dem, was ich als Kind als Familie kennen lernen durfte, am nächsten. Er ist mir ähnlich, wobei in ihm jedoch soviel Leidenschaft und Impulsivität sind, dass er sich permanent zur Ruhe und zum Nachdenken zwingt um nicht über zu reagieren und die Kontrolle zu verlieren. Er braucht solche, die ihn verstehen, ihm zuhören, Lehrer, die ihm seinen möglichen Platz in der Nacht zeigen können.“
In seinen Worten war gleichzeitig eine unausgesprochen Frage, die Alida zum Schlucken brachte. Sie konnte erahnen worauf er hinaus wollte. Deshalb wandte sie ein: „Er ist noch so jung und er hat Marlene und Jean.“
Emilian machte eine langsame verneinende Handbewegung. „Seine Zieheltern sind für ihn da, und sie sind, nach allem, was ich gehört habe, wunderbare Leute, aber sie können ihm nicht das geben, was er braucht. Das ist unsere Aufgabe: meine und deine.“
Alida sah ihn schweigend an als er fortfuhr. Er nagte einen Moment an seiner Unterlippe und es fiel ihm sichtlich schwer weiter zu sprechen. „Du hast mir viel erzählt, Alida… Du warst es, die Alyssa damals dazu gedrängt hat das Kind auszutragen, das sie nicht haben wollte. Sie ist davon ausgegangen einem Monster das Leben zu schenken und du bist nicht eingeschritten. Wahrscheinlich weil du ihn wolltest: als van de Burse, als Kind, als Widergänger. Du hast dafür gesorgt, dass es dem Jungen so gut ging, wie nur möglich, aber du bist weg gegangen. Zu mir in den Süden. Alida? Ich denke, es wird Zeit, dass du die Verantwortung übernimmst dich um ihn zu kümmern. Er hat genug von dir und mir in sich und er begreift. Hendrik ist in der Lage Stillschweigen zu bewahren. Überlass das nicht länger allein Marlene, sondern trag selbst deinen Teil dazu bei.“
Alida atmete schwer ein. Solche Ansprachen war sie von ihrem eher nachdenklichen Erzeuger nicht gewohnt. „Warum Hendrik? Du hast deine eigene Widergängerfamilie immer um dich, aber für keinen von ihnen bist du etwas anderes als der gestrenge Herr…“
Emilian nickte langsam. Natürlich würde sie darüber nachdenken. Er sah hinab auf die grobe Maserung der Kiefernholzplatte um ihrem Blick auszuweichen. „Weißt du… Desto näher du jemanden an dich heran lässt desto angreifbarer wirst du und desto schmerzhafter ist es, denjenigen zu verlieren. Hendrik ist anders als die Mitglieder meiner Wiedergängerfamilie. Nicht nur, weil er zu formen vermag so wie ich als Kind.. Ich habe ihm gesagt, dass ich mich nicht für die Vaterrolle eignen werde, dass es nicht gut enden wird, aber er hat mich aufgefordert es dennoch zu versuchen. Eine komische Vorstellung… Mein eigener Vater, Victor,…“ Er suchte ihre Augen und blinzelte sie mit den rot braunen Pupillen an. „… er war der beste Vater, den man sich nur hätte vorstellen können. Er hat alles getan um seine Familie, mich und all seine Leute zu schützen. Bei Nacht und wenn es wirklich sein musste auch in dunklen Kellern bei Tag. Aber Alida?“ Emilian sog tief die Luft ein.
„Er hat versagt. Alle wurden sie abgeschlachtet, meine Mutter erstochen, er selbst dem Feuertod überantwortet, du erdolcht. Er konnte nichts tun, musste alles geschehen lassen… Ich will das nicht. Ich will nicht versagen. Niemals. Ich will nicht, dass irgendjemand mir das, was mir am meisten bedeutet, für immer vernichten kann. Und deshalb kann ich auch niemals auch nur annähernd so wie mein Vater sein. Ich plane Intrigen, schmiede Pläne, versuche Gefahren aus dem Weg räumen zu lassen bevor sie aufkeimen können, aber das alles reicht nicht aus.“
Alida griff nach seinen Händen und er drückte ihre Finger so fest, dass sie schmerzten. Sie hörte ihm einfach nur zu als er weiter sprach. „Das da in der Pfalz von Aachen… dieses Intrigenspiel zwischen Andrej und Hardestadt. Ich kann nichts tun um dich zu schützen. Du hast mal gesagt, dass ich immer versuche vorauszuschauen und zu planen um die Gefahr rechtzeitig zu erkennen… Alida? Ich habe Spione in den Mauern der Pfalz, aber sie können in der kurzen Zeit zu wenige Informationen zusammen tragen. Ihre Hinweise belaufen sich auf ein paar Fluchtwege und wer gerade Ränkespiel oder Liebelei mit wem betreibt.“
Alida sah die Furcht in seinen Augen und versuchte einen beruhigenden Klang in ihre Stimme zu legen, auch wenn ihr gar nicht danach war. „Andrej ist sich seiner Sache recht sicher. Auch wenn er dem Abschluß von Verträgen eher kritisch gegenüber steht, da er Hardestadts Sturheit und seinen Stolz kennt, vermutet er, dass es keinen Hinterhalt geben wird so lange Hardestadts Kind Ludmilla von Mähren in Rustovichs Gewalt ist. Ein Hinterhalt käme einem Todesurteil ihr gegenüber gleich und angeblich hält er große Stücke auf sie.“
Emilian seufzte und zog seine Hand zurück. Er fuhr ihr mit den Fingern übers Gesicht und holte die vertrauten Züge der jungen, blonden Händlerin behutsam wieder hervor. „Andrej ist ein guter Fleischformer und er ist in vielerlei Hinsicht noch um einiges gewiefter als ich im Ränkeschmieden. Er wäre, so vermute ich, jederzeit in der Lage zu entkommen. Aber wie es dann um dich steht, das weiß ich nicht.“ Er wartete einen langen Moment. „Alida? Tu mir den Gefallen und geh nicht mehr an den Hof. Er will, dass du das zwielichtige Spiel am Königshof lernst und er möchte uns wahrscheinlich beide dazu bringen eindeutig Stellung für uns Drachen zu ergreifen, aber der Preis ist zu hoch. Bleib einfach hier. Vielleicht ist er vor den Kopf gestoßen, wenn du nicht erscheinst, aber ich werde es ihm irgendwann erklären, und er wird verstehen, da bin ich sicher.“
Alida seufzte lang. „Du weißt, dass das so ohne weiteres nicht geht.“ Sie sah die Enttäuschung in seinem Blick und entschied sich einzulenken. „Ich verspreche dir, ich gehe nur morgen ein letztes Mal an den Hof, rede mit deinem Onkel und dann reisen wir ab nach Flandern. Du, ich, Hendrik und deine Leute… Zufrieden?“ Ihre Finger suchten die seinen und sie schenkte ihm ein aufmunterndes Lächeln. Obwohl er die Mundwinkel nach oben zog, konnte Alida die Sorge erkennen, die er trotz ihrer Antwort nicht aus seinem Kopf verbannen konnte.