Vampire: Die Maskerade


Eine Welt der Dunkelheit
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 Betreff des Beitrags: Re: Die Fesseln der Macht
BeitragVerfasst: Mo 6. Jun 2016, 19:54 
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Emilian beobachtete sie mit einem schiefen und eindeutig wohlwollenden Lächeln. Ganz offensichtlich fand er es immer wieder erstaunlich, wie gut sie mittlerweile im Formen des Fleisches geworden war und dass, obwohl sie sich diesem Erbe ihres Clans nie zu stellen gewagt hatte. Ein Nicken begleitete sein kurzes Lachen. „Gar keine schlechte Idee. Ich weiß zwar nicht, wem du dort oben alles begegnen könntest aber sicherlich reicht der Einfluss der Hexer bedeutend weiter als nur unmittelbar bis vor ihre Trutzburg. Es wäre ganz sicherlich nicht gut, wenn Alida van de Burse die Erstürmung von Ceoris anleiten würde. Diesen Erfolg und diese Last lassen wir mal lieber meinen Onkel tragen.“ Mit einem leichten Wippen seines Kopfes zögerte er ein wenig mit seiner Antwort. „Ich habe dich, ehrlich gesagt, gar nicht kommen gehört, da ich viel zu beschäftigt war Lambros verlogenes Maul zum Sprechen zu bringen. Ich wollte gerade anfangen, da hast du mich in deiner Zulo Gestalt angefallen. Zuerst dachte ich ja, es würde sich um eine weitere Kreatur aus seinen Brutkammern handeln, aber dann wurde mir plötzlich bewusst, dass es einer von uns sein muss. Velya kam nicht in Frage, Lugoj ebenfalls nicht. Rustovich wartet nur auf die Ergebnisse und Andrej ist sich selbst zu fein um eine derartige Form zu wählen.“ Seine Schultern hoben sich ein Stück. „Da alle anderen jungen Unholde sich in der Schlacht beweisen wollen, hatte ich den dringenden Verdacht, du wärst mir gefolgt, aber auch ganz ohne diesen Verdacht hätte ich den Zulo nicht so ohne weiteres getötet. Als die Wachen dann die Höhlen stürmten wurde die Sache recht schnell ziemlich blutig. Du warst rasend vor Wut, was…“ Er lächelte. „Mich irgendwie stolz macht. Du hattest Angst um mich und wolltest mich befreien. Leider waren es einfach zu viele Gegner.“ Emilian atmete schwer die kühle Luft des steinernen Ganges, in dem sie sich befanden ein und aus während er seine Stirn an ihre legte. „Vielleicht hätte ich dich doch in meine Absichten einweihen sollen, dann hätte ich wenigstens Sorge tragen können, dass du dich einem kalkulierbaren Risiko aussetzt. Aber du hattest ja schon immer deinen eigenen Kopf.“
Sie sah ihn mit Entsetzen im Blick an. „Verdammt, ich hätte dich abschlachten können… Mit diesen Händen hier.“ Sie sah auf ihre Finger. „Und du machst dir Gedanken um das Risiko, dem ich mich aussetze?“ Sie schüttelte den Kopf. „Woher hätte ich wissen können, wer du bist? Du, wer ich bin?“
Emilian sah sie überrascht an, dann nickte er langsam. „Ich wusste es nicht, aber da ist ein starkes Band zwischen uns, Alida. Die Macht unseres unsterblichen Blutes verbindet uns noch weit über unsere Gefühle füreinander hinaus. Irgendwie… fühlte ich es, ich kann es nicht erklären.“
Sie schluckte und trat skeptisch einen Schritt zurück. Sie sah sich im Gang um und fügte dann mit kaum hörbarer Stimme hinzu. "Kannst du mir einen Gefallen tun? Zeig mir deine wahre Gestalt! Ich will sicher gehen, dass nicht doch Lambros vor mir steht."
Dann glitt sein Blick langsam über den langgezogenen Gang um sich zu versichern, dass sie auch wirklich niemand sehen oder belauschen konnte. „Du verlangst viel, wenn man bedenkt an was für einem Ort wir uns befinden. Allerdings hast du Recht. Es ist nicht gerade einfach die Künste des Fleisches an jemandem zu erkennen.“ Er küsste ihre Stirn und im selben Moment begann er in ihrer Umarmung zu schrumpfen. Die Kleider wurden immer größer, hingen wie überlange Stofflagen an ihm, während seine Züge kindlicher und rundlicher wurden. Schlussendlich stand ein Kind vor ihr, ein kleines Kind in viel zu großen Kleidern und Wappenrock, dessen Schwert bald doppelt so groß war wie es selbst. Die Augen des Kindes waren von einem so rötlichem Braun, dass es beinahe wie Blut wirkte. Der kleine Junge, der sie damals verlassen hatte um im Osten sein Schicksal zu finden, stand lächelnd vor ihr. „Meinst du die Tremere haben schon Angst?“, fragte Emilian mit einer äußerst kindlichen Stimme und grinste frech.

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Sie beugte sich erleichtert zu ihm hinunter, spürte das Gefühl seiner kalten, zarten Lippen unter den ihren und küsste ihn. „Vor dir ganz sicher nicht. Genauso wenig wie vor mir… Aber vor deinem kleinen selbstgebastelten Haustier werden sie mehr als nur ein wenig Respekt haben. Diese Gewissheit sollte für heute Nacht reichen, oder?“ Sie drückt ihn an sich und atmete tief seinen Geruch ein. „Wir sollten das hier hinter uns bringen, da hast du definitiv recht. Und dann überlegen wir uns irgendwas, das verhindert, dass wir uns gegenseitig abschlachten, ganz gleich wie wir gerade aussehen mögen… Einverstanden?“ Sie zögerte noch einen Moment. Dann sprach sie die Worte aus, die sie sich am liebsten für immer und ewig verschwiegen hätte. „Du solltest mich zu Andrej bringen. Rustovich erwartet dich unten bei den Ställen und er bekommt sicher nicht gerade bessere Laune, wenn er auf seinen Ritter des Ostens verzichten muss.“ Sie verzog ihr Gesicht zu einer höhnischen Grimasse, lächelte ihn dann jedoch mit sowas wie Stolz im Blick an.
Der kleine Junge sah sie mit diesem schelmenhaften Gesicht an, das nur ein Emilian von vielleicht acht Jahren fertigbringen konnte, und ganz tief in ihm drin gefiel ihm das sogar irgendwie. Und das obwohl er unzählige Jahre gebraucht hatte die körperlichen Einschränkungen seines ewigen Daseins mit der Kunst des Fleischformens zu überwinden. „Ich bin mir nicht sicher, was uns im Inneren der Festung erwarten wird, aber der Drache sollte eigentlich, soweit er kontrollierbar bleibt, alle Hindernisse aus dem Weg räumen und die letzten verbliebenen Verteidiger in die Flucht schlagen. Nur ein Narr würde sich etwas Derartigem in den Weg stellen. Ich hoffe, dass es zu keinem Blutbad kommt, weder auf unserer noch auf der anderen Seite.“ Langsam schien Emilian wieder in die Höhe zu wachsen, seine rundlichen Wangen bekamen die scharfen Kanten des Erwachsenenalters und seine Arme und Beine fanden ihren Weg zurück an ihren vorgesehenen Platz in diesem großen, undefinierbaren Kleiderbündel. Augen aus blutrotem Braun blickten sie an und es war, als würde sie in die Vergangenheit blicken und einen Emilian sehen, wie er sich selbst wohl gerne vor all diesen Jahrzenten und Jahrhunderten gesehen hätte. Im Körper eines Erwachsenen, dazu in der Lage Alida seine Gefühle zu offenbaren. Nunmehr, konnte er beides tun und beides sein. Der Sohn des Victor Rustovich, mit den blutroten Augen, der Erzeuger von Alida und ihr Gefährte für die Ewigkeit.
Er überdrehte leicht die Augen und bot ihr seinen Arm an um sie zu Andrej zu geleiten. Mittlerweile kannte er sich ja schon einigermaßen in der Wehranlage aus. „Ritter des Ostens, ich glaube, das ist seine nächste Traumvorstellung: Der Tormentoren-Orden, Ritter des Ostens, Soldaten unter dem Drachenbanner… Ich hoffe, er erwägt nicht diesen Drachen auf Gedeih und Verderben zu behalten, um ihn bei Bedarf in die nächste Schlacht zu führen. Da sähe ihm irgendwie… ähnlich. Nun ja, ich hoffe auf seine Vernunft. Lass uns diese Sache beenden.“ Getragenen Schrittes führte er Alida durch die dunklen Gänge bis just vor den Eingang von Andrejs Privatgemächern. Dort legte er Alida beide Hände an die Wangen, sah sie lange und eindringlich an, so als müsse er ihr Gesicht in dieser fleischgeformten Tarnung erst wiederfinden, um es niemals zu vergessen. Dann küsste er sie lange und leidenschaftlich.
„Ich liebe dich“, flüsterte er. „Lass mich die Ewigkeit nicht alleine verbringen.“ Dann gab er ihr noch einen galanten Handkuss und wandte sich zum Gehen. „Der Ritter des Ostens macht sich jetzt auf den Weg zu den Bruthöhlen und zu seinem Onkel. Viel Glück und komm unverletzt wieder!“
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Der Weg zum Ziel beginnt an dem Tag, an dem du die hundertprozentige Verantwortung für dein Tun übernimms.
Dante Alighieri


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 Betreff des Beitrags:
Verfasst: Mo 6. Jun 2016, 19:54 


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 Betreff des Beitrags: Re: Die Fesseln der Macht
BeitragVerfasst: Do 9. Jun 2016, 21:27 
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Nachdem Emilian sich mit langsamen Schritten den dunklen Gang entlang entfernt hatte, hob Alida ihre Hand um gegen die mittlerweile bekannte Holztür zu klopfen. Noch ehe sie aber dazu kam, wurde diese bereits geöffnet und Claude stand in der Tür, der ein säuerliches Gesicht machte. „Es wurde mir aufgetragen ihnen zu öffnen Madame.“ Der Künstler machte eine einladende Geste und ließ Alida eintreten, schloss diese aber nicht, sondern warf nur einen knappen Blick in Richtung Andrej, der die altbekannte Pose am Tisch eingenommen hatte. „Ich nehme an Monsieur wünschen alleine zu sein?“ Ein schmunzelndes Nicken von Andrej, ließen den Künstler die Augen verdrehen. „Wie ihr wünscht, Herr, aber wenn wir so weiter machen, wird das Bild nie fertig.“

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Er verließ das Zimmer und zog die Tür hinter sich zu, murmelte leicht ärgerlich vor sich hin. Andrej sah ihm noch etwas belustigt hinterher, bevor er mit offenen Armen näher an Alida herantrat. „Ah, die Franzosen. Merkwürdiges Völkchen und doch haben sie ein Gespür für die exquisiten Dinge im Leben. Aber das soll nicht deine Sorge sein mein, ich möchte der erste sein, der dir gratuliert. Die Familie scheint fast wieder vereint zu sein, nun… falls Vladimir nicht wieder einen allzu voreiligen Tobsuchtanfall bekommt und uns alle zum Teufel wünscht.“ Andrej hielt sich amüsiert die Hand vor den Mund, trat dann aber näher und küsste Alida auf die Stirn. „Willkommen zurück in der Familie, Alida van de Burse, Drache des Westens, Hüterin von Brügge. Setz dich doch mein Kind.“ Er dirigierte sie mit einer Hand am Rücken, die andere einladend ausgestreckt in Richtung der hölzernen Sessel am runden Tisch.
Alida kaute nachdenklich auf ihrer Unterlippe. Sie war nach wie vor skeptisch, war aber durchaus dabei die Scheu zu verlieren. „Ihr beliebt gar seltsame Spiele zu spielen, Meister Rustovich. Hat man euch über diese Tatsache dereinst schon informiert…? Ihr ernennt euch zu meinem persönlichen Erzfeind, da ihr meinen Verbündeten und mir die Heimat rauben wollt, wundert euch, wenn ihr von ihnen etwas eisig empfangen werdet, wenn ihr an die Tore klopft, lockt meinen Erzeuger in den Osten, helft mir mit allen euch möglichen Mitteln, setzt euch für mich und ihn ein… und schwingt euch nun höchstpersönlich zu so etwas wie meinem ‚Onkel im Blute‘ auf. Eine durchaus bemerkenswerte Karriere.“ Ein leichtes Schmunzeln legte sich auf ihre nach wie vor ungläubigen Züge.
Andrej wog leicht den Kopf hin und her, während er ein makelloses Lächeln präsentierte; ihr gegenüber am Tisch Platz nahm. Die Hände ineinander faltend, sah er sie lange und eindringlich, fast schon unangenehm lange an, bevor sich seine Lippen zu einem noch breiteren Lächeln verzogen. „Wisst ihr, wofür der Drache fernab aller möglichen Interpretationen steht, Alida? Natürlich repräsentier er Kraft, Feuer, Wut und kriegerische Aspekte, genauso wie Magie und die spirituelle Welt. Allen voran aber steht er für Veränderung. Wo Drachen erscheinen, passieren große Veränderungen und demnach ist es mir sogar eine regelrechte Ehre, von eurem Erzfeind, zu eurem Verbündeten und schlussendlich zu eurem Onkel zu werden. Ich habe den euren schon damals gesagt, dass ich diese unliebsamen Streitigkeiten längst vergessen hatte. Bedauerlicherweise zog man es vor mich in den Turm zu sperren.“ Er lächelte. „Nun, zumindest hatten wir danach noch einmal das Vergnügen. Dafür, dass Brügge von einem Drachen beherrscht wird, scheinen eure Verbündeten nicht viel von eurem Clan zu halten. Verwunderlich, wenn man bedenkt, wer den Löwenanteil der Wirtschaft in der Stadt ausmacht. Man sollte euch vielmehr dankbar sein.“ Andrej seufzte leicht. „Ah, aber ich schweife schon wieder ab, verzeiht. Es tut auf jeden Fall gut einen der unseren in eurer schönen Stadt zu wissen.“
Alida lehnte sich leicht nach vorne und sah ihn eindrücklich an. „Andrej. Ihr seid bestens informiert und wisst, dass ich nicht über Brügge herrsche. In Flandern herrschen andere Gegebenheiten als hier im Osten. Zum Einen ist es erfolgsversprechend, wie ihr sehen konntet, die Last der Verantwortung auf mehreren Schultern zu verteilen, zum anderen hat jeder der Bewohner in Brügge seine eigenen Vorzüge, die ich nicht missen wollte. Und vergesst bitte nicht, dass, würde Brügge nach östlichem Vorbild durch mich geführt werden, bereits nach wenigen Woche etliche Heere vor unseren Toren stünden, die mit diesen Begebenheiten nicht einverstanden wären.“
Sie nickte. „Ich bin im Westen aufgewachsen. Dort ist meine Heimat und die dortigen Gepflogenheiten sind mir vertraut. Ich muss nicht Prinz von Brügge sein um meinen Weg zu gehen.“ Sie atmete tief ein und lehnte sich zurück. „Aber Brügge ist weit weg und wir sind hier im Osten. In diesen Nächten spielt es keine Rolle, was irgendwo in einem anderen Teil der Welt stattfindet. Nur das, was dort draußen geschieht, mit unseren Leuten, ist wichtig.“ Sie deutete auf eines der Fenster, das den Blick auf die weite schneebedeckte Landschaft frei gab. „Ich bin unzweifelhaft eine Frau aus dem Westen, mit den dazu gehörigen guten und weniger erfreulichen Eigenarten… aber ich bin auch ein Drache und so seltsam das aus meinem Mund klingen mag. Ein Teil von mir gehört hier in den Osten.“
Andrej lächelte. „Weise Worte für einen so hübschen und jungen Drachen, ich bin regelrecht entzückt. Natürlich bin ich mir darüber im Klaren, dass ein typisch östliches Herrschaftsmodell, nur schwer in euren Breiten aufrecht zu erhalten wäre. Das hat schlichtweg damit zu tun, dass wir dort in der Unterzahl sind und die Ventrue bereits bei einem einzigen Tzimisce von Bedeutung überall hin bitterböse Blicke verteilen. Darum finde ich es ja auch so bemerkenswert, euer interessantes Ratssystem. Eure Feinde können euch nur als Konstrukt hassen, nicht als Clan oder ganze Linie. Dafür ist auch mehr an euch dran, was man theoretisch hassen könnte, aber genug von solch unbedeutenden, philosophischen Gedanken.“ Er zwinkerte ihr verschwörerisch zu. „Schließlich sind wir heute nicht hier um das Für und Wider eurer westlichen Politik zu erörtern, sondern einen Krieg zu gewinnen, der von größerer Bedeutung für uns alle ist. Ein Teil von euch gehört in den Osten und genau dieser Teil wird in dieser Nacht gebraucht, Alida van de Burse. Ich sage es ja nur höchst ungern aber das Gelingen eurer Mission dürfte bis zu einem gewissen Grad auch die Laune des Fürsten beeinflussen. Im Grunde ist es aber eine Kleinigkeit.“ Der Unhold überdrehte ein wenig die Augen. „Eine Kleinigkeit, die man wohl dennoch besser euch als Lugoj anvertraut. Vladimir hat da diesbezüglich keine schlechte Entscheidung getroffen, wenn ich so dreist sein darf das zu sagen.“
Sie seufzte. „Ich kann weder über Lugojs Fähigkeiten spekulieren noch einschätzen, ob ich euch von größerem Wert sein könnte. Aber vielleicht kann ich dazu eine Meinung abgeben, wenn ihr mich informiert habt, worum es geht?“ Sie unterdrückte ein Schmunzeln.
Andrej lächelte und nickte wiederum nur sachte. „Natürlich, ihr habt vollkommen recht. Nun, wie ihr ja bereits wisst, wird der Fürst zusammen mit eurem Erzeuger den Hauptangriff durch die Festung führen. Es sollte im Grunde ebenfalls nur eine Kleinigkeit darstellen, da wir davon ausgehen können, dass alle Tremere selbst längst die Wehranlage verlassen haben und nur noch die Verzweifelten und Zurückgelassenen sich im Inneren aufhalten. Mit anderen Worten: Ein paar Sterbliche und Ghule womöglich; die eine oder andere thaumaturgische Überraschung nicht mit eingerechnet. Das dürfte unser eigentliches Problem werden, die Magie. Aber dafür haben wir ja… nun... ich nenne es einmal den ‚Drachen‘.“ Der Unhold räusperte sich leicht. „Wie dem auch sei: Ceoris besitzt tatsächlich einen geheimen Eingang, manche behaupten sogar, dies wäre der eigentliche Eingang. Die Frontseite ist gut gesichert und mit vielen Fallen gespickt, aber ein schmaler Pfad, die steilen Klippen entlang, führt zu einem in Stein gehauenem Teil der Festung, welcher fast mit dem Hintergrund verschwindet. Eine schmale Brücke führt zu einer mit Runen bedeckten sicherlich magischen Tür. Vladimir vermutet darin einen Geheimeingang in die unteren Kammern und Gewölbe; also eben dort, wo es interessant zu werden beginnt. Nur kann man den Eingang mit einer Armee nicht überwinden, es würde Stunden dauern, deshalb der Versuch über beide Seiten.“
Andrej sah sie breit lächelnd an. „Euch fällt die Aufgabe zu, die magische Tür zu überwinden und ins Innere zu gelangen; dort wenn möglich nach einem Mechanismus zu suchen, der die oberen mit den unteren Gewölben verbindet oder sie freigibt beziehungsweise vom Haupteingang her zugänglich macht. Vladimir mag ein Dickkopf sein und gerne in feuriger Wut entbrennen aber er ist nicht dumm. Er weiß das der Drache Fluch wie Segen für uns ist und vertraut auf die Schläue eines einzelnen Drachens. Dieser Drache, seid ihr. Lugoj könnte man niemals eine so wichtig Aufgabe anvertrauen.“ Seufzend machte der Tzimisce eine wegwerfende Geste.
Alida wusste nicht sicher, ob sie verstand. „Mögt ihr mir die Frage gestatten? Warum entscheidet sich euer Bruder nicht dazu zunächst mit dem Drachen den Hauptangriff zu führen und dann nach erfolgreichem Sieg mit einer kleineren, gut gerüsteten Truppe ins Innere durch diesen Geheimeingang vorzustoßen?“
Andrej nickte und schmunzelte leicht. „Ich sehe ihr denkt mit. Ein geringerer hätte vielleicht einfach nur ohne sich wirklich mit seiner konkreten Aufgabe zu beschäftigen zugestimmt oder abgelehnt doch ihr seid bei weitem keine unerfahrene naive Frau. Eine wirklich gute Frage und ich muss gestehen, dass ich sie mir selbst auch schon gestellt habe. Tatsächlich verhält es sich wohl so, dass der Drache der Drachen im inneren der Festung noch zahlreiche Artefakte, Schriftstücke und magische Geheimnisse vermutet. Und auch wenn sie pervertiert und durch die Tremere besudelt sein sollten, gibt es sicher doch das eine oder andere, das dem Fürsten oder dem Clan als Ganzes nützlich wäre. Und seien es nur Informationen über den Verbleib irgendwelcher noch nicht bekannter Widerstandsnester oder Spione. Rustovich kann unmöglich die Hauptschlacht schlagen und im Anschluss die Mysterien von Ceoris erkunden. Warum? Nun, weil die Tremere bis dahin alles vernichtet haben, das von Wert sein könnte. Ich selbst gehe auch davon aus, dass die Hexer eher sich selbst und all ihre Schriften vernichten bevor sie uns in die Hände fallen. Und je länger wir warten, desto wahrscheinlicher ist es, am Ende nur vor einem blutigen Trümmerhaufen zu stehen.“ Mit gefalteten Händen, sah sie ihr Onkel ruhig und abwartend an.
„Selbst Jeremiah wollte für seine Dienste, meine Zusicherung nach dem Wissen der Hexer suchen zu dürfen. Ihr könnt euch seine Enttäuschung sicher vorstellen, wenn er nur noch Asche vorfindet. Dabei versprach ich ihm freie Auswahl ganz nach seinem Belieben. Oh, er ist bereits auf dem Weg zur Tür, das hatte ich glaube ich noch nicht erwähnt. Er wird euch unterstützen.“
Alida legte den Kopf schief und sah Andrej skeptisch an. Sie wartete eine Zeitlang ab, dann faltete sie die Finger ineinander und lächelte den Onkel ihres Erzeugers mit einem ruhigen Gesichtsausdruck an, der an die Geschäftsfrau erinnerte, die ihrem Geschäftspartner mitteilt, dass es ihr leider nicht möglich ist frische Erdbeeren zum Weihnachtsfest zu liefern, da die im 13. Jahrhundert leider nicht im Winter wachsen. „Andrej? Ihr sucht also jemand, der sich ins Innere schleicht, dabei zig Tremere und magische Fallen umgeht, in der Lage ist dreifach gesicherte Hexertüren, die durch zehn mal so viele thaumaturgische Rituale gesichert wurden, zu öffnen, und euch dann die großen Hauptpforten ins Innere öffnet bevor der Drache mit seinem ‚Feueratem‘…“ fast als würde sie eine Randnotiz vorlesen, fügte sie hinzu. „Wäre mal gespannt wie Emilian so was bewerkstelligen würde… der nebenbei sicher eine unglaublich effiziente Vernichtungsmaschine darstellt, alles kurz und klein geschlagen hat. Sehe ich das richtig?“ Alida wartete nicht auf seine Antwort. „Dann würde ich euch einen Kuldunen empfehlen, der nebenbei Meister der thaumaturgischen Rituale ist, oder einen meisterlichen Verdunklungskünstler, der nicht einmal von den übersinnlichen Augen der Tremere wahrgenommen werden mag.“ Sie schüttelte den Kopf und beugte sich nach vorne. „Verdammt, Andrej. Schaut mich an. Ich bin nichts als eine Händlerin aus dem Westen. Ich verbringe meine Nächte damit meine Familie zu unterstützen und Handelswaren von A nach B bringen zu lassen. Alles, was ich vom Kämpfen verstehe hat mir ein wettergegerbter Gangrel beigebracht, den ich dafür das Lesen gelehrt habe. Ich bin weder ein Meister im Verbergen, noch habe ich jemals Kontakt zu Thaumaturgie gehabt, die ich in irgendeiner Art und Weise hätte beeinflussen können. Ihr könnt mich im Auftrag von Vladimir Rustovich, dem Drachen der Drachen, Voivoden, der Voivode… oder einfach nur der Bruder meines alten Freundes Victor dort hinschicken… Aber wenn ihr nicht jemanden wählt, der fähiger für diesen Auftrag ist sendet ihr mich in die endgültige Vernichtung und eure Mission ins Verderben. Ist das eure Absicht?“
Andrej machte eine abweisende Handbewegung, so als wären ihre eben genannten Bedenken nicht weiter der Rede wert. „Der Drache spuckt kein Feuer, soweit mich Lambros über seine Kreatur unterrichtet hat. Und ich glaube selbst für einen ungeheuerlich begabten Former wäre dies eine schier unüberwindbare Aufgabe. Feuer ist der Todfeind unserer Art, Gott, der Teufel oder wer auch immer hat es gewiss so eingerichtet, dass wir zu dieser alles verzehrenden Macht keinen Zugang erhalten. Sie steht sinnbildlich konträr zu dem was wir sind, meine Liebe.“ Seine Lippen verzogen sich zu einem süffisanten Lächeln und er beugte sich leicht zu seiner ‚Geschäftspartnerin‘ über den Tisch. „Aber ich kann eure Bedenken und Einwände einwandfrei nachvollziehen. Viel ist es nicht, was wir über das Innere der Festung wissen, und das macht sie ja auch gerade so gefährlich. Wir haben Vermutungen, nicht mehr und nicht weniger; im besten Falle noch ein paar Hinweise unserer Spione und Koldunen. Und euer Erzeuger muss leider dem Drachen Einhalt gebieten, solange wie es notwendig sein sollte. Ich will ehrlich zu euch sein: Der Voivode der Voivoden testet euch, Alida. Emilian mag durch seine unerwartete Reinkarnation und das Schaffen dieses Ungetüms, auch über die Tatsache als Belinkov über Jahrzehnte lang treu ihm und seiner Sache gegenübergestanden zu sein, seine Schuld abgezahlt und seinen Wert bewiesen haben. Natürlich kam auch ein wenig Glück dazu, dass Vladimir Rustovich gerade in diesem Moment jemanden mit seinen Fähigkeiten gebrauchen konnte. Ihr aber seid nur das Kind des Verräters und alles, was er von euch weiß ist, dass ihr euch gegen mich und meine Armeen gestellt und bezwungen habt; mein erstes Kind vernichtet habt.“ Andrej schmunzelte. „Und auch wenn er von Dragas Plänen eines Voivodats mitten in Flandern eher amüsiert als überzeugt war, so würdigte er doch zumindest ihren russischen Eifer.“ Mit beiden Händen reichte über den Tisch hinüber um ihre zu ergreifen; zwang seinen Blick in den ihren.
„Was habe ich euch zu Anfang gesagt? Die Unbeugsamkeit des Drachen ist eure Tugend. Immer dann wenn die Dinge aussichtslos schienen, habt ihr großen Mut und Schläue bewiesen. Immer dann, wenn niemand anderes an euch geglaubt hat, habt ihr das Unmögliche vollbracht. Ich werde euch nicht vormachen, dass es ein Spaziergang wird, denn das wird es gewiss nicht werden. Aber wenn ich ein Tremere-Ahn und Meister wäre, dann wäre ich der größte Narr dieser Welt, wenn ich jetzt noch versuchen würde das Schloss zu halten während Vladimir Rustovich schon ante portas steht. Ich persönlich glaube nicht, dass ihr mit besonders viel Widerstand rechnen müsst, ein paar Fallen und Tricks womöglich aber nichts. das euch restlos überfordern dürfte. Zudem habt ihr auch Unterstützung durch Jeremiah, und der ist es gewohnt in Gegenden zu überleben denen Lebensfeindlichkeit immanent ist. Gleichzeitig findet ein Angriff auf die Haupttore statt und das mit einer solchen Wucht, dass es schwierig wird seine Ohren vor dem Ansturm auf die eigenen vier magischen Wände zu verschließen. Mit der magischen Tür rechnet überdies niemand und das ist euer größter Vorteil, niemand kann sie öffnen es sei denn...“
Andrej griff mit der rechten in die Innenseite seines Mantels und zog einen seltsam geformten Bartschlüssel hervor. „… er hat den richtigen Schlüssel. Lugoj mag weniger Schritte von Kain entfernt sein als ihr, aber was bedeutet das, wenn man nicht die Verschlagenheit und Anpassungsfähigkeit des Drachen mitbringt. Kein Tzimisce kann sich im Westen auf dem Thron halten und auch wenn ihr nicht alleinstehend als Fürstin regiert, formt und durchwirkt ihr die Geschicke eurer Stadt und des Landes schon seit mehreren Jahrzehnten äußerst erfolgreich.“ Andrej lächelte und drückte ihre Hand. „Und wer die Armeen des Andrej Cunescu-Rustovich besiegt und dessen Kind noch auf dem Schlachtfeld hinrichtet, genießt mein uneingeschränktes Vertrauen und meinen Respekt. Lugoj ist ein Tölpel und ihr mögt unerfahren sein, aber wisst ihr worin der Unterschied liegt? An euch glaube ich, denn ich sehe meinen Bruder in euch. Schon als ich von eurem Familiensitz hört, wurde ich unweigerlich an ihn erinnert. Genauso wie Emilian. Ihr beide hättet ihn unglaublich stolz gemacht.“
Alida schloss nach seiner Ansprache für mehrere Sekunden die Augen. Dann nickte sie langsam. „Ich werde gehen.“ Ein kurzes Schmunzeln war zu erkennen. „Aber das wusstet ihr eh… Schon allein um meinen guten alten Freund Jeremiah wieder zu treffen.“
Sie sah Andrej an und verglich das markante Gesicht mit dem von Victor und dem von Emilian. Sie fuhr mit den Zähnen über ihre Unterlippe und überlegte, ob sie weitersprechen sollte. Dann entschied sie sich dafür. „Victor war ein großartiger Mann. Ich habe ihn im Frühjahr 1092 in einem damals noch aufstrebenden Städtchen namens Windau kennengelernt, in das er mit seinen Leuten wohl noch im selben Winter geflohen war. Die Familien waren restlos erschöpft, finanziell, geistig und körperlich fast am Ende und wurden von den Einwohnern Windaus wie Aussätzige behandelt. Man hatte ihnen ihr letztes bisschen Geld für die Stadtrechte abgeknöpft und sie, auch wenn es niemand laut aussprach, vor die Burgmauern zum Verhungern verwiesen. Keiner gab ihnen Arbeit.“ Sie lachte kurz freudlos bei der Erinnerung auf. „Für meinen Bruder und mich jedoch, die ihr ganzes letztes Geld in einen neuen Handelskontor in dieser aufstrebenden Hansestadt gesteckt hatten, wollte auf inoffizielle Anordnung der Obrigkeit keiner der Einwohner arbeiten.
Victor und ich waren beide in einer ähnlichen Lage, wussten, dass wir den anderen zum Überleben brauchten und wurden Geschäftspartner. Unsere Zusammenarbeit war mehr als ergiebig: Selten warf ein Kontor in so kurzer Zeit solchen Profit ab und ich habe nie wieder gesehen, wie eine Gruppe Menschen wenige Monate zuvor noch fast vernichtet, sich innerhalb von so kurzer Zeit erholte, Häuser und erfolgreiche Betriebe baute, Gärten und Äcker anlegte, eine Schule gründete und zu Wohlstand kam. Victor kümmerte sich um die Belange von allen, plante, organisierte, ermutigte, rief zur Vernunft, vermittelte. Er war für seine Leute der perfekte Anführer und ich habe, auch wenn mir das damals nicht so recht bewusst war, viel durch die Freundschaft zu ihm und seiner Frau Lydia gelernt.

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Damals lernte ich auch Emilian kennen. Ich hielt ihn für einen aufgeweckten kleinen Jungen, der, wie das manchmal für dieses Alter ja typisch ist, einen Narren an mir gefressen hatte.“ Sie seufzte ungewohnt melancholisch. „Mein Erzeuger hat mir mal erzählt, sein Vater hätte erst in dem Moment wirklich begriffen, was er seinem Sohn eigentlich zugemutet hatte, als Emilian ihm eines nachts nach einer gemeinsamen Jagd eröffnete, dass ich die Frau wäre, die er gern an seiner Seite hätte, wenn er eines Tages erwachsen wäre. Er muss zu diesem Zeitpunkt wohl an die vierzehn oder fünfzehn Jahre alt gewesen sein.“ Alida schüttelte kaum merklich den Kopf um sich zu konzentrieren. „Victor war mit Herz und Verstand jede Nacht dabei für seine Leute zu kämpfen und er war gut darin. Aber ihm fehlte euer messerscharfer Verstand und euer bemerkenswertes undurchschaubares Kalkül um die Intrigen und Geschehnisse um uns herum rechtzeitig zu erfassen und Vladimirs Kraft und Durchsetzungsfähigkeit um das Unvermeidbare im letzten Moment abzuwehren und so wurde er vernichtet, seine Leute abgeschlachtet und ihre Häuser verbrannt.
Ich wurde bei dem irrsinnigen Versuch seine Frau retten zu wollen tödlich verwundet…“ Wieder schwieg sie einige Zeit. „Emilian brachte es nicht über sich mich sterben zu lassen… Er schenkte mir den Kuss und ich nahm ihn, dieses angeblich dämonische Kind, entgegen aller guten Ratschläge meiner Familie und Freunde bei uns in Brügge auf. Mehrere Jahre ging alles gut, aber dann mussten die Geschehnisse wohl irgendwann eskalieren und unsere Wege trennten sich. Emilian war damals so voller Hass, Wut, Zorn auf all die Ungerechtigkeit, gegen die er nichts tun konnte… Er übte Rache und tötete fast alle Bewohner Windaus, die in irgendeine Weise mit den damaligen Geschehnissen um seine Familie verstrickt waren und die nicht rechtzeitig geflohen waren. Ich war damals zu jung und zu überrascht über alles, was ich lernen musste, dass ich nicht begriff… Nun ja…“
Alida sah Andrej nachdenklich an. „Euer Vater muss ein ausgesprochen weiser Mann gewesen sein: Ihr drei, seine Söhne, hattet das Potential uns Tsimiske gemeinsam zu großem Ruhm zu führen. Aber so wie Victor euch damals nicht an seiner Seite hatte, so fehlt er nun Vladimir und euch Der Drache der Drachen verfügt über die Fähigkeit sich und seine Ziele gegen jeden Widerstand durchzusetzen, ihr habt den Verstand um die Geschicke in die Bahnen zu lenken, in die ihr sie haben wollt. Ihr seid Kopf und Schwertarm… aber euch fehlt das Herz, jemand dem die einfachen Unholde, die Wiedergängerfamilien und die Sterblichen, das, was der Osten doch eigentlich wirklich ist, wahrhaftig am Herzen liegen. Es wird wohl nicht leicht für zwei mächtige Männer wie euch, das auszugleichen.“
Andrej hörte sich ihre eigene Geschichte, die so untrennbar mit Emilian und Viktor verbunden schien in Ruhe bis zu Ende an und unterbrach sie kein einziges Mal. Gelegentlich lächelte er und nickte; ab und verzog er etwas bedauernd das Gesicht. Vor allem als man sich der Erzählung von der unweigerlichen Vernichtung seines Bruders näherte. „Unser Herr Vater war ein recht frommer Mann, der sich wie ich bereits meinem Bruder noch einmal ins Gedächtnis zu rufen gedachte, bei der Auswahl seiner Nachkommen an der Dreifaltigkeit Kains orientierte. Das hatte aber eher weniger damit zu tun, das er sich christlichen oder orthodoxen Glaubensgrundsätzen verschrieben hatte, sondern eher mit spirituellen Überzeugungen. Für ihn waren diese drei Aspekte unmöglich in einem einzigen Kind zu vereinen und so erwählte er drei Kinder, die sich gegenseitig unterstützen sollten.“ Der Unhold sah etwas betreten auf die raue Oberfläche des Tisches. „Victor fehlt mir, denn wie ihr schon so treffend formuliertet, war er das Herz in unserer Familie. Man sieht allein schon am Umgang zwischen mir und Vladimir, dass uns die ausgleichende Kraft zwischen Verstand und Kraft fehlt. Aus unser beider Ideen und Vorschläge, fand er immer einen Kompromiss. Ganz gleich worum es ging. Das ist tatsächlich etwas, das uns nun fehlt.“ Andrej seufzte und schien seine düsteren Gedanken, dann mit einem Mal wieder abschütteln zu wollen. „Ich wünschte es wäre anders gekommen, doch bedauerlicherweise ist es das nicht. Was uns bleibt sind die Kinder von Viktor Rustovich; was uns bleibt seid ihr. Macht ihm Ehre, denn er war einer der großartigsten Unholde, die ich jemals kennenlernen durfte.“ Er hielt den eigentümlich wirkenden Schlüssel auf Augenhöhe und legte ihn anschließend in Alidas freie Handfläche; schloss ihre Hand dann sachte.
„Ich nahm lediglich an, dass du gehen würdest. In diesen Nächten kann man nie etwas mit Gewissheit sagen, obgleich der Befehl des Drachen der Drachen, doch vielleicht auch einiges zu deiner Entscheidung beigetragen haben mag.“ Der Unhold schenkte ihr ein breites Grinsen. „Der Schlüssel sollte die Tür für dich öffnen, mein Kind, wenn nicht: Umso besser für dich. Er gehörte einem Tremere-Spion, der sich drei Nächte lang immer ausgiebiger mit mir unterhalten wollte, sodass wir am Ende sogar auf dieses entzückende Kleinod zu sprechen kamen. Wahrscheinlich fand er unsere Gespräche einfach zu… intensiv, als das er nicht dazu bereit gewesen wäre mir alles anzuvertrauen, was gelinde gesagt, recht wenig war.“ Er räusperte sich. „Wie auch immer, es ist einen Versuch wert, denn Velya sagt, der Schlüssel trägt die magischen Makel der Hexer in sich. Ob das ausreicht, weiß ich nicht. Gib trotzdem gut auf ihn Acht.“

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Alida nahm den seltsam warmen Gegenstand an sich, vermied es aber ganz bewusst ihn mit der direkten Haut in Berührung zu bringen. Sie erinnerte sich nur zu gut an die vermaledeiten Kräfte, die Oriundus an ihren Freunden in Brügge durch den Hautkontakt mit einem einfachen Stein, gewirkt hatte. Sie war die einzige gewesen, die durch Zufall der bindenden Hexerei entgagneg war. Sie verstaute den Schlüssel in einer Tasche ihres Rockes.
„Ich sollte aufbrechen. Nicht dass ich noch zum Höhepunkt des Festes in Ceoris zu spät komme, oder?“ Sie wartete auf ein Zeichen von Andrej, dann erhob sie sich. „Was werdet ihr derweil tun, wenn mir die Frage gestattet sein mag?“ Ihr skeptischer Blick ging zu der Staffelei, die den Tsimiske in monumentaler Pose abbildete.
Andrej erhob sich ebenfalls und beobachtete wie der Schlüssel in einer ihrer Taschen verschwand. „Es ist klug von euch, sich nicht allzu viel mit der Magie der Hexer zu beschäftigen. Auch jeglichen, direkten Kontakt mit den Artefakten der Usurpatoren zu meiden mag eine weise Entscheidung sein. In diesem speziellen Fall aber, kann ich euch beruhigen: Velya hat bereits die Geister des Landes aus dem Erdreich zu sich befohlen um den Schlüssel zu reinigen. Von ihm selbst geht keinerlei Gefahr mehr für euch aus, nur fürchte ich, öffnet er Türen zu Orten, wo die Gefahr dafür umso größer sein könnte.“ Andrej schritt zur Tür, öffnete diese einen Spalt und rief nach einer Wache, die Alida führen würde. Anschließend schritt er wieder zur Staffelei und legte den Kopf leicht schief. Die Tür wurde gleich offengelassen. „Vladimir benötigt mich für die Nachhut. Laut meinem geliebten Bruder soll ich die Haupthalle sichern, sobald sie genommen ist. Wohl auch um zu vermeiden, dass man uns mithilfe irgendwelcher Tricks in den Rücken fällt, einschließt oder wegsperrt. Zwar kann ich mir nicht vorstellen, dass in diesem Stadium der Schlacht noch etwas Derartiges passieren könnte aber nun gut. Der Voivode weiß, was er will und deshalb werde ich mich ihm auch nicht widersetzen.“ Ein Tormentor kam vor der Tür an, verbeugte sich und erwartete die Befehle des Unholds. „Bringt Alida van de Burse zu den Stallungen und weist ihr den Weg zur Tür. Und mit der Tür meine ich ‚die Tür‘.“ Mit einem Heben seiner Augenbraue sah er den Wachmann an. Dieser verbeugte sich nur tief und machte eine einladende Geste in Richtung Alida. „Wie ihr wünscht Herr. Wenn ihr mir folgen würdet?“
Die mittlerweile braunhaarige Frau aus dem Osten verbeugte sich noch ein Mal tief vor dem Voivoden. „Möge euch Kain, Gott oder wer immer euch in diesen Nächten leiten mag, zur Seite stehen. Viel Glück!“
„Dieser Nächte ist es die Kunst, die mich zu verführen sucht. Bedauerlicherweise kann ich diesen dekadenten, französischen Zeitvertrieb nicht ganz nachvollziehen. Claude wird sich beeilen müssen, damit wir Vladimir noch portraitieren lassen können. Es ist als Geschenk gedacht für den Drachen der Drachen. Zur Ehren seines Sieges. Vermutlich verbrennt er es ohnehin und den Künstler gleich mit.“ Der Erzunhold strich sachte über die Staffelei und lächelte Alida dabei aufmunternd an. „Ihr werdet erfolgreich sein, davon bin ich überzeugt. Der Älteste soll über euch wachen.“ Auch er machte eine tiefe Verbeugung vor Alida und sie würde unweigerlich feststellen, dass diese nunmehr um einiges tiefer ausfiel als all seine Begrüßungen zuvor.

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 Betreff des Beitrags: Re: Die Fesseln der Macht
BeitragVerfasst: Mo 13. Jun 2016, 11:46 
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Alida nickte ihm noch ein Mal fest zu und folgte dem Tormentor in die Dunkelheit.
Dieser führte Alida mit einer Fackel in der Hand durch die dunklen Gänge. Über viele schwarze und teilweise ausgebrochene Treppenabsätze ging es abwärts in Richtung der Stallungen. Diese waren im Großen und Ganzen nur ein großer, steinerner Raum, dessen Decke halb eingestürzt war und den man mit großen Planen und dicken Seilen überdacht hatte. Der Wind pfiff und riss an der Konstruktion aber noch hielt der Aufbau. Hier unten gab es kaum weitere Tormentoren und mittlerweile auch nur mehr wenige Soldaten. Die Anzahl der eingestallten Pferde war überschaubar. Vielleicht zwanzig Pferde taten sich am Heu gütig.
„Die Nachhut“, schnarrte der Tormentor bevor er Alida die Zügel eines braungescheckten Pferdes in die Hand drückte und sich selbst einen schwarzen Hengst nahm.
Das Schneetreiben hatte aufgehört, aber gelegentlich gab es noch die eine oder andere Windböe, so dass einer der Soldaten, in Annahme bei Alida würde es sich doch um eine von hoher Geburt handeln, ihr einen bescheidenen Fuhrmannsmantel mit hohem Pelzkragen reichte. Keine besonders handwerklich geschickte Arbeit aber ein gut gefütterter, solider Mantel russischer Machart. Mit solchen Mänteln überlebte man gerne den einen oder anderen Krieg. Mit rauen Pelzmänteln und Schwertern wohlgemerkt und ein solches würde Alida ebenfalls noch überreicht bekommen. Es war lang, frisch geschliffen und von einem äußerst dunklen Stahl gefertigt. Alles an diesem Schwert schrie förmlich nach Blutvergießen und der Tormentor, der es ihr mit einer entsprechenden Gürtelaufhängung und Schwertscheide überreichte, schien es besonders vorsichtig zu behandeln. Offenbar handelte es sich um ein Einzelstück.

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„Das Schwert von Viktor Rustovich. Laut meinem Herren war dies das erste Schwert seines Bruders, mit dem er den Kampf erlernte. Er ließ es bei seiner Reise gen Westen hier zurück, als er sich mit dem Voivoden der Voivoden zerstritt. Es war der Wunsch des Herren Andrej Rustovich, dass ihr es erhaltet.“ Sich respektvoll verneigend, überreicht er Alida das Schwert sowie eine stattliche, ebenfalls dunkel gehaltene Lederrüstung.

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Auch bot er ihr mehrere Trinkbeutel an, die mit Blut gefüllt schienen. Insgesamt waren es drei Beutel, die sie laut Aussage des Mannes bedenkenlos trinken konnte. Der blutige Inhalt schmeckte abgestanden und fade aber sie merkte mit jedem Zug, dass es sie zu sättigen vermochte.
Der Tormentor ritt voran und ließ Alida knapp hinter sich, seitlich versetzt, reiten, so dass er den Weg ihr voraus erkunden und einschätzen konnte. Die Pferde hatten es nicht einfach, doch war man den Pfad wohl mittlerweile oft genug geritten um die Gefahren des Weges halbwegs einschätzen zu können. Der tief verschneite Pfad führte die beiden Reiter erneut um das Bergmassiv herum, diesmal auf der linken Seite und je weiter man ritt, desto schmäler wurde der Pfad bis sie plötzlich vor einem höhlenartigen Eingang standen. Dieser war zwar groß und breit genug für einen Menschen aber viel zu klein für Pferde und andere Lasttiere. Selbst ein durchschnittliches Pony hätte es schwer gehabt.
Der Tormentor deutet in Richtung des Eingangs. „Ein Pfad, Herrin, den jemand in die Seitenwand des Felsen gearbeitet hat. Beinahe so, als ob sich da etwas durchgegraben hätte. An manchen Stellen ist die steinerne Außenmauer sogar durchgebrochen oder fällt vollends, so dass man nur den Anblick in die endlose Tiefe vor sich hat. Am Ende dieses Weges findet ihr die Tür von welcher der Gebieter sprach. Doch seid auf der Hut. An diesem Ort kann man die Magie der Hexer beinahe schmecken.“
Alida stieg ab und drückte dem Mann die Zügel ihres Tieres in die Hand. „Danke, dass ihr mich hierher geführt habt. Ich werde wohl erwartet…“ Sie nickte der Rüstung in der wohl irgendwo ein Mann stecken musste, zu. „Viel Glück euch.“ Ihre Hand fuhr an die Schwertscheide. „Sagt Andrej, falls ihr ihm noch einmal über den Weg laufen solltet, ich betrachte die Waffe als Leihgabe. Sie ist für jemand anderen bestimmt.“
Die Rüstung oder der Mann in der Rüstung bewegte nur knappe den Helm. „Ich werde es seiner Lordschaft ausrichten obgleich die Befehle seiner Lordschaft in dieser Hinsicht eindeutig waren. Das Schwert ist für euch bestimmt, Herrin.“ Dann band er Alidas braungeschecktes Pferd an das seine und dirigierte das Pferd zurück, den steilen und verschneiten Pfad entlang, den er gekommen war.
Alida folgte dem Pfad, der vor ihr lag. Er führte serpentinenartig steil bergab und tatsächlich schien es so als habe jemand einfach nah an der Seitenwand des Berges eine Wendeltreppe in den Stein geschlagen. Manches Mal waren Löcher im dünnen Fels, durch die der Wind pfiff, ein anderes Mal fehlte die Außenbegrenzung völlig und es gab nur die eisige Tiefe. Auf ihrem Weg kam sie immer wieder an halb gefrorenen Skeletten oder verwesenden, eingefrorenen Leichen vorbei. Einige waren nicht identifizierbar, andere stellten sich als erfrorene, russische Soldaten heraus. Besonders tragisch war eine junge Frau, die noch den Säugling im Arm hielt und mit ihren Augen in die weiße Leere vor sich starrte, mit einem Blau so strahlend wie gefrorenes Wasser.

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Alida wandte den Blick ab, konnte sich aber den Gedanken nicht verwehren sich zu fragen, was eine Frau mit einem Säugling hier gewollt hatte. Sie kämpfte sich weiter den Weg hinab, versuchte nicht auszurutschen.
Der Weg machte eine leichte Biegung und dann wurden ihre Schritte wieder eben mit dem weißen Untergrund.

Vor ihr lag, mitten in den Stein gehauen, eine hohe Mauer mit großen Rundbögen hinter denen warme Lichter brannten. Vor ihr war eine hohe Tür, die mit zahlreichen merkwürdigen Schriftzeichen, Runen und Buchstaben übersäht schien. Es wirkte opulent, ausladend und fähig jeglicher Kraft und Anstrengung, ja selbst der Zeit trotzen zu können. Das galt nicht nur für die angeblich magische Tür, sondern für die gesamte, behauene Felsformation. Dort wo der Weg endete, klaffte eine riesige, schier unendliche Kluft zwischen Tür und Pfad. Hier waren eindeutig am Fels die Ansätze einer Brücke zu erkennen aber irgendjemand musste sie wohl zerstört haben. Der Abstand den es zu überwinden galt, mochte gute drei Meter betragen.

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Alida blieb stehen und konzentrierte sich auf ihre Umgebung. Irgendwo musste, falls Andrejs Worte der Wahrheit entsprachen, Jeremiah sein. Und er würde sich ganz gewiss nicht direkt vor dem Abgrund positionieren. Ihr Blick wanderte in die Schatten.
Ihre Augen durchdrangen die Schatten der Umgebung, kein Geräusch, kein Duft, kein Schatten und kein Nosferatu konnte sich vor ihrer übersinnlichen, rasiermesserscharfen Wahrnehmung verbergen. Nun, zumindest Jeremiah nicht, denn dieser stand mit verschränkten Armen just auf der anderen Seite der zerstörten Brücke. Man hatte dem breitgrinsenden, lachenden Mann einen dicken Fellmantel gegeben und ein großes Breitschwert um die Hüften geschnallt. Seinen Hut hatte er bei all dem Wind wohl abgenommen, stattdessen hatte er sich eine dicke Fellmütze um die Ohren gespannt, die mit einem lustigen Schleifchen aus Lederriemen unter seinem Kinn befestigt worden war. Die Mundwinkel hatten beinahe eine neutrale Pose eingenommen, wie ein gerader Strich auf einer ziemlich breiten Pergamentrolle. „Ha, na wenn das mal nicht unser Frauchen Hochwohlgeboren ist. Ihr habt euch ja ganz schön Zeit gelassen, meine Liebe. Während ihr offenbar an einer großen, fantastischen Familienzusammenkunft teilgenommen habt, friere ich mir den Hintern ab.“ Seine kränklichen Augen sahen sie von oben bis unten einschätzend an. „Na, da sieh mal an, ausgerüstet haben sie auch gleich noch. Ich würde mal sagen, eure Reise war ein voller Erfolg und das obwohl ihr sogar noch ein wenig Kerkerluft schnuppern durftet. Seid froh, dass es nur eine Zeit lang war, man gewöhnt sich so schnell an den Gestank von Kot, Blut und dem Geräusch ersterbender Schreie.“
Alida verschränkte die Arme vor der Brust. Sie sah zu dem bekannten Gesicht auf der anderen Seite hinüber. „Guten Abend, mein ‚Freund‘.“ Die Betonung des Wortes hatte einen seltsam beißenden Klang. „Ja, es freut mich auch über alle Maßen, dich heil und noch immer unter den Unsterblichen, wiederzusehen. Ich hatte mitunter arge Zweifel, regelrecht Gewissensbisse, die mir ziemlich die unglaublich gute Stimmung vermiest haben, aber wenigstens ging es dir gut, nicht wahr? Freut mich.“ Ihre Stimme triefte vor Sarkasmus.
Der lachende Mann sah sie an, legte den Kopf leicht schief und tat das was er wohl von allem am allerbesten konnte. „Ich hoffe ihr seid mir nicht böse oder tragt mir meine Verschwiegenheit nach, Mylady. Immerhin habe ich euch vor Lambros und seinen Schergen gerettet, nicht wahr? Tief durch die russischen Lande habe ich euch geführt, die sichersten und kürzesten Wege entlang; war euer Führer, Verteidiger und Berater. Sogar bis zu den höchsten Gipfeln der Karpaten bin ich mit euch gegangen.“ Er drehte sich zu der Tür um, stützte die Hände auf die Hüften und sah sich das merkwürdige Stück genauer an. „Oh jetzt werdet ihr mir natürlich vorhalten, warum ich euch nicht gleich alles wie ein Stück frisches Brot überreicht habe, nicht wahr? Und das ja alles überhaupt keine Gefahr für mich war, weil ich ja mit dem großmütigen Herrn Cunescu zusammenarbeite bzw. mit ihm über eine kurzweilige Geschäftsbeziehung verhandelt habe. Da irrt ihr euch. Nur er und ich wussten worum es geht, der Rest war nicht eingeweiht. Hätte man euch also doch den Kopf abgeschlagen, stünden die Chancen nicht schlecht, dass meiner auch gleich mit den Abhang hinunter gepurzelt wäre. Und auch alle anderen Soldaten und Offiziere wussten nichts dergleichen. Im Großen und Ganzen waren unsere Schicksale als tatsächlich aneinander geknüpft, Alida van de Burse. Burse... spricht man das so aus?“ Jeremiah sah sie etwas verdreht über die Schulter hinweg an. „Ihr seid mir doch jetzt nicht wirklich böse oder? Unser Freund Andrej hat so viel Großmut bewiesen uns vor diese Tür zu packen, da dürft ihr euch ruhig mal eine Scheibe abschneiden und eurem guten alten Freund Jeremiah verzeihen.“
Alida sah ihn noch immer ruhig und abwägend an. „Ich erinnere mich an die Worte eines Nosferatu mit ziemlich breite Grinsen ‚ICH VERACHTE EUCH UND EURE ART ZUTIEFST ABER ICH BIN NICHT DUMM UND MITTLERWEILE SCHON LANGE GENUG HIER IN DIESEN LANDEN UM ZU WISSEN DAS ES MEISTENS DAS BESTE IST, DIE DRACHEN SICH GEGENSEITIG FRESSEN ZU LASSEN. WENN DAS NICHT SCHON DIE HEXER ERLEDIGEN. LEIDER VERLIEREN SIE. WENN ES NACH MIR GINGE, DÜRFTEN BEIDE GETROST ZUR HÖLLE FAHREN...‘ Also dafür, dass du uns so verachtest bist du anscheinend nur zu gern bereit mit uns zusammen zu arbeiten. Gibt es sonst noch irgendwelche geheimen Verträge von denen ich vielleicht wissen sollte? So nach dem letzten Plausch bei Tee und Kuchen im Gildenhaus mit einem netten Tremere?“ Sie sog tief die Luft ein und stemmte die Hände in die Hüften. „Verdammt, Jeremiah. Ich habe mich auf euch verlassen, dachte ihr kämpft mit mir gemeinsam gegen die gleichen Feinde. Dass ihr derweil längst eigene Pläne mit einem geschmiedet habt, von dem ich dachte, es würde sich um einen davon handeln, hilft da nicht wirklich. Ihr habt mit mir einen Handel geschlossen um mich heil nach Ceoris zu bringen. Ich sollte euch dieses vermaledeite Buch bringen!“ Alida schien Mühe zu haben, ihre Stimme nicht lauter werden zu lassen. „Ich habe euch vertraut, dachte, ihr geht jeden Moment drauf, weil ich euch in die ganze Scheiße mit rein gezogen habe, während ihr wahrscheinlich einen gemütlichen Plausch mit Andrej gehalten habt.“
Er drehte sich etwas verwundert zu ihr um und ließ sie zunächst ihre Worte an ihn richten. Ganz offensichtlich hatte er all diese ‚Kleinigkeiten‘ bereits ad acta gelegt und war mittlerweile schon wieder bei ganz neuen, aktuelleren Problemen – wie z.B. dieser interessanten Tür vor seiner schiefen Nase. „Tja, meine Liebe, an dieser Einstellung hat sich auch nach wie vor nichts geändert. Ob Tremere oder Tzimisce, solange ein gewisses Gleichgewicht bestand, haben sie sich alle hübsch gegenseitig umgebracht. Dieses Gleichgewicht geht jetzt verloren und ich habe keinen Bedarf mich mit irgendwelchen Gildenmeistern bei Sauerkraut und Schweinesulze zu treffen um über die nächsten Schritte zu debattieren. Es gibt nämlich keine mehr. Die Drachen, also demnach ihr, habt gewonnen und ja vielleicht hätte ich die Zeichen früher richtig deuten sollen, habe ich aber nicht. Die Hexer stehen kurz vor der Auslöschung und euer Clan herrscht wieder über diese Landstriche.“ Er kam ein paar Schritte bis zum Abgrund auf sie zu. „Die Hexer geben mir ihre Bücher nicht freiwillig und euer Clan will das was sich hinter diesen Mauern verbirgt, gewiss für sich selbst. Andrej war eine Möglichkeit für mich schlussendlich das zu bekommen was ich wollte, bevor es irgendjemand anders bekommt! Eine bessere Gelegenheit bekomme ich nicht mehr, Alida van de Burse. Nach dieser Nacht ist diese Festung und alles was sich darin aufhält nur noch eine Fußnote in der Ewigkeit. Niemand hätte mich auch nur in die Nähe dieser Festung gelassen. Entweder hätten mich die Drachen zerfleischt oder die Tremere verbrannt. Ich musste eine Seite wählen um näher an mein Ziel zu kommen und auch wenn ich die Drachen mehr als alles andere verachte, musste ich diesem Handel zustimmen.“ Er trat nach einem kleinen Stein, der sich holpernd in Bewegung setzte und in den Abgrund stürzte.
„Ich kämpfe nach wie vor mit euch gegen dieselben Feinde, nur diese hier sind zu groß für mich, meine allerliebste, blonde Händlerin auf Flandern. Ihr habt mir vertraut und ihr habt gut daran getan, selbst wenn ich euch manche Sachen vorenthalten habe, so war ich stets auf eurer Seite und ratet mal was…“ Er legte den Kopf leicht schief. „Wer ist jetzt schon wieder bei euch auf einer Sondermission der Drachen? Ich! Ich habe euch bis hierhergebracht, ich habe euch gerettet, verteidigt und geführt. Und jetzt gehe ich mit euch in eine Tremere Festung. Verzeiht mir meine Pläne, meine Geschäfte und vermeintlichen Lügen aber jemand wie ich hat kaum eine Wahl, genauso wenig, wie ihr eine Wahl hattet das zu tun, was ihr tun musstet. Im Übrigen hat mir Andrej auch erst im Nachhinein alles erzählt und alles dezent für sich behalten. Was euch betrifft, weiß ich auch erst jetzt wirklich bescheid. Grämt auch also nicht, wir wurden beide nicht ausreichend über die Sachlage in Kenntnis gesetzt.“ Er streckte seine Hand mit den spinnenlangen Fingern in ihre Richtung. „Ihr habt mein Wort, das es keine weiteren Abmachungen gibt. Ich gehe mit euch in die Festung und suche die magischen Gegenstände und den ganzen Plunder, nehme mir meine Bücher und verschwinde. Und wenn ich Glück habe, komme ich auch noch dazu Velya zu ermorden. Das war es dann auch wieder. Wenn ihr mich schon verflucht und hasst für diese Kleinigkeit, dann will ich nicht wissen was ihr mit euren Feinden macht, Drache. Ihr habt tatsächlich mehr vom Osten als ich zunächst angenommen habe.“
Alida trat zwei Schritte zurück und brachte damit mehr Abstand zwischen sich und den Nosferatu. „Das, was ihr sagt, mag wohl stimmen, Jeremiah.“ Alida nahm Anlauf und sprang mühelos über den schier endlosen Abgrund; kam mit beiden Beinen sicher am Boden auf und wurde dabei auch noch von Jeremiah unterstützt, obwohl das gar nicht mehr nötig gewesen wäre. Dieser grinste sie besonders breit an und nickte bekräftigend. „Alle Achtung, der Drache kann fliegen. Nicht schlecht für jemanden in voller Lederrüstung und Kittelschürze.“ Nacheinander zogen sich seine spinnenartigen Finger von ihr zurück.
Sie nickte ihm zu. Ihre Stimme war noch immer zornig. „Dann sollten wir euch wohl am besten schnell zu euren gelliebten Büchern bringen, nicht wahr? Bevor irgendwo die bösen, verhassten Unholde eindringen…“ Sie schloss für einen Moment die Augen und seufzte. Sie versuchte sich zu beruhigen. Dann sah sie ihn erneut an. „Es tut gut, euch heil wieder zu sehen.“
Er nickte ihr ebenfalls zu. „Andrej hat mir versprochen, der erste zu sein der sich an den Büchern und Geheimnissen bedienen darf. Lustig, nicht wahr? Er hat natürlich mit keinem Wort erwähnt, dass es zunächst wohl noch ein paar Hexer und Fallen zu überwinden gibt. Glaubt mir, das Gespräch mit Andrej war auch nicht gerade ein gelassener Plausch unter Freunden. Natürlich hätte er auch anders versuchen können mir einen Vorteil zu verschaffen, aber das wäre sehr unsicher gewesen. Jetzt wo es anscheinend noch irgendeine fleischgeformte Bestie geben soll, die unsere üblichen Monster noch bei weitem in Abartigkeit übersteigt, glaube ich, das Beste wird tatsächlich dieser Eingang werden. Wenn ich mich entscheiden muss, ob ich jetzt gegen Rustovich und seine Armee mit Drachen kämpfe oder gegen Tremere in der Unterzahl, nehme ich doch die Hexer. So gesehen hat er mir keine Bücher als Lohn zugesichert, sondern nur die Möglichkeit diese zu bekommen. Schlau, unser Andrej; dagegen lässt sich leider nicht viel argumentieren in einem Krieg.“ Jeremiah sah sie an. „Ihr wisst nicht zufällig, wie man da hineingelangt? Zwar wissen wir ja ungefähr, mit was wir da drin zu rechnen haben, aber immerhin tritt von der anderen Seite ein buchstäblicher Drache die Tür ein. Ich ziehe es also vor mich zu beeilen.“
Sie seufzte und zog dann den Schlüssel hervor. „Vielleicht ist das hier der Öffner des Tores“.
Alida sah den Nosferatu mit dem breiten von einem zum anderen reichenden Mund an und schwieg einige Sekunden. Sie bemühte sich, das Gesicht, das er ihr in der kleinen versteckten Kellerstube gezeigt hatte, vor ihrem inneren Auge entstehen zu lassen.

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Vor langer Zeit mal ein ganz normaler Mann mit ganz normalen Belangen, Stärken, Schwächen, Wünschen und Träumen…
Dann sah sie Jeremiah an. „Wir bringen das hier jetzt gemeinsam hinter uns, und ich hoffe, dass wir beide am Ende der Nacht noch existieren. Du erhältst deine Bücher oder was immer du da drin zu finden hoffst, ich leiste eine winzige Wiedergutmachung für das gebrochene Versprechen, das ein Freund von mir Rustovich einst gab. Magst du die Drachen auch bis auf den letzten Tropfen Blut hassen und verabscheuen, so hoffe ich doch, dass du dich mir gegenüber mit deiner Rache zumindest bis zur morgigen Nacht zurückhalten kannst. Wer hat schon Lust auf einen Pflock im Herzen der Festung der Feinde nur weil man aus Versehen dem falschen Clan angehört. Falls es dich in irgendeiner Art und Weise beschwichtigen sollte: Ich durfte damals als ich mit meinen Gedärmen zwischen den Fingern im Dreck gelegen habe leider nicht wählen.“
Der Nosferatu sah sie lange und intensiv an. Die kränklichen Augen mit dem starren Blick, rollten förmlich über die fleischgeformte Händlerin. „Mh, ich merke, dass ihr tatsächlich ein wenig ungehalten seid, von meiner Art dafür zu sorgen das zu bekommen, wonach es mich verlangt. Verzeiht, dass ich euch so… täuschen musste; gewiss glaubt ihr nunmehr ich hätte euer Vertrauen schändlich missbraucht und würde euch ohne Zögern jederzeit in den Rücken fallen.“ Jeremiah seufzte und ein dicker Tropfen Speichel troff von einer seiner schiefen Zähne, über die kaum vorhandenen Lippen in den Schnee. „Ihr seid im Dreck, mit blutigen Händen auf euren Gedärmen krepiert. Ähnlich verhielt es sich bei mir und ich stimme euch zu: Wir können uns nicht aussuchen, wer uns in die Nacht holt. Was wir aber sehr wohl tun können, ist uns ganz bewusst dazu entscheiden, mit wem wir den Rest dieser Existenz Seite an Seite verbringen wollen. Sei es als Partner, Gefährten oder Verbündete. Ich verabscheue die Unholde, das stimmt. Doch bekomme ich mehr und mehr den Eindruck, es gibt einen Unterschied zwischen euch und dem was eure Familie hier im Osten so zu tun pflegt.“ Seine langen Finger kratzten sich nachdenklich am Kinn.
Die Tür vor der sie nun beide standen, war vielleicht ein wenig höher als der Nosferatu und mindestens drei Schritt breit. Es gab keinerlei Anzeichen für irgendeinen Art Mechanismus, der zu ihrem immer noch leicht warm pulsierenden Schlüssel gepasst hätte. Das Material der Pforte, war schwer festzustellen. Einmal bekam man den Eindruck, es wäre harter Stein, dann doch wieder nur filigranes Holz. Zudem erstrahlte sie in einem üppigem Blau, das fast schon aufdringlich wirkte und war über und über mit tiefergesetzten Runen, Symbolen und Schriftzeichen bedeckt, die jemand mit leichten Goldtönen hervorgehoben hatte. Es gab auch keinen Spalt zwischen irgendwelchen Türflügeln und wenn man es nicht besser gewusst hätte, hätte man vielleicht annehmen können sie wäre nur auf eine fein säuberlich geschliffene Felswand gemalt worden. An ihre Ohren drang ein merkwürdiges Säuseln, Flüstern, Pfeifen und Hauchen; als ob kleine dünne Stimmchen zu ihr sprechen würden. Alida konnte aber auch keine rechte Richtung auszumachen; das Flüstern war scheinbar überall; schien sich je näher man sich an der Tür befand noch zu intensivieren.

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„Ihr seid ein Drache, weder ihr noch jemand anders kann das leugnen, aber allein die Tatsache, dass man euch hier unverzüglich exekutieren wollte zeigt mir, dass ihr im Grunde nicht viel mit den östlichen Gepflogenheit zu schaffen habt. Ich hasse dieses dreckige Land und seine noch dreckigeren Bewohner. Genau wie meine sterbliche Vergangenheit werde ich auch diesen hässlichen Flecken Erde hinter mir lassen und vielleicht wäre sogar der Westen eine Option für mich. Immerhin macht ihr einen ganz vernünftigen Eindruck auf mich und es tut mir leid, wenn ihr das Gefühl habt, ich wäre jemand den man nicht aus den Augen lassen könnte. Ihr habt mich nicht gefoltert, versklavt und gequält. Ihr habt mir das hier nicht angetan. Mein Hass mag sich mittlerweile auf euren ganzen Clan ausgedehnt haben und doch…“ Er sah sie noch einmal prüfend an. „Habe ich, was euch angeht ein gutes Gefühl, was für sich genommen schon merkwürdig ist. Ihr habt mein Versprechen, dass ich nicht versuchen werde euch umzubringen oder zu schaden. Ihr seid ungeachtet eurer Abstammung kein Freund der östlichen Drachen, das macht euch gleich um einiges sympathischer.“ Jeremiah hielt ihr seine dürre Hand hin, die wie eine gigantische Spinne wirkte.
„Wollen wir das hier als Verbündete durchstehen Alida van de Burse?“, fragte er mit einem leicht hoffnungsvollen Unterton.
Alidas Lippen verzogen sich zu einem schiefen Lächeln. „Irrt euch da mal nicht, Jeremiah... Man hat mal zu mir gesagt ich war bereits ein Drache bevor ich den Kuss erhielt und vielleicht mag das stimmen. Wie ihr seht kämpfe ich zu dieser Stunde für meinen Clan; damit sie ihre Heimat zurückgewinnen können und endlich der Freiden einkehren kann, den dieses Land braucht. Und ihr solltet noch etwas wissen: Für meine Familie, Freunde und meine Heimat würde ich ohne mit der Wimper zu zucken foltern, quälen oder töten, wenn es unumgänglich wäre. Und ich werde wahrscheinlich bis zum Ende meiner Existent mit aller Kraft und eiserner Entschlossenheit all das verteidigen, was mir schützenswert erscheint.“ Ihr verschmitztes Grinsen wurde breiter. „Und wie schon erwähnt: Freunde und Verbündete gehören dazu.“
Sie streckte die Hand aus und ergriff ohne Zögern die langen Finger des Nosferatu.



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Vorsichtig stand sie vor der Pforte nach Ceoris, streckte die Hand aus, wagte jedoch nicht die Tür zu berühren. Sie führte den Schlüssel der Tür entgegen und beobachtete, was geschehen würde.

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 Betreff des Beitrags: Re: Die Fesseln der Macht
BeitragVerfasst: Mo 13. Jun 2016, 17:00 
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Die spinnenartigen Klauen umfassten ihre Hand drückten diese fest und bekräftigend. Man mochte es gar nicht für möglich halten, welche knochenzermalmende Stärke in diesen dürren Fingern ruhte. Mit einem knappen Nicken, verzogen sich Jeremiahs Mundwinkel noch ein kleines Stück nach oben. „Folter, Mord und Betrug, wenn es um die Familie geht?“ Der lachende Mann tat das, was seinen Namen vorherbestimmt war und lachte heiser. „Frauen sind alle Drachen, das lernt man bereits in jungen Jahren und wenn man euch so reden hört, bekommt man eine ziemlich gute Vorstellung von eurer Ahnenreihe. Irgendwo ist da schon ein guter Schuss Rustovich in eurem Blut meine Liebe.“ Er wandte sich ebenfalls zu der seltsamen Tür und den merkwürdig flüsternden Stimmen um. „Aber das muss ja nicht zwangsweise etwas Schlechtes sein.“

Es gab keinerlei Hinweise auf oder rund um die Tür, die Alida weitergeholfen hätten den Mechanismus besser zu verstehen oder gar überhaupt erst zu finden. Langsam dämmerte ihr, das nicht nur der Schlüssel und die Tür, sondern auch das Öffnen und Schließen derselben, auf magischen Prinzipien beruhen würden. Ein Schlüssel öffnet Schlösser, nur mussten die unter diesen besonderen Bedingungen nicht immer profaner Natur sein. „Seltsam dieses Flüstern“, murmelte Jeremiah während er es Alida zunächst gleich Tat und einen gebührenden Abstand zu der merkwürdigen Pforte einhielt. Gespannt beobachtete ihr Tun und den Schlüssel der sich langsam der Tür näherte und…

Nichts passierte. Weder war das Flüstern lauter noch leiser geworden noch gab es irgendein Anzeichen dafür das sich die Tür geöffnet hätte. Kein Schaben von Sand, kein Knacken und Klackern von Zahnrädern; nichts. Alles war noch immer so, wie sie es vorgefunden hatten. Das heißt, nicht ganz. Die Farbe des Schlüssels war von einem himmelblau zu einem dichten, abgründigen Schwarz geworden und besaß diese Farbe sogar bereits, als sie ihn aus der Tasche gezogen hatte. Jeremiah schüttelte verächtlich den deformierten Kopf. „Andrej hielt ja große Stücke auf diesen Fund aber ich bin nicht so sehr davon überzeugt. Warum sollte akkurat dieser Schlüssel zu dieser Tür passen? Was wenn die Magie der Tremere bereits geändert wurde oder es eine Falle ist?“ Der Nosferatu schnaubte verächtlich. „Kein Wunder das wird das für ihn testen sollen.“ Vorsichtig schabte er mit den langen Fingern über die Tür, befühlte die Textur und klopfe auf das unbekannte Material. „Mh, gut immerhin verbrennt es einen nicht oder lässt einen umgehend zu Asche verfallen. Fühlt sich warm an; warm und irgendwie lebendig. Ein ekliges Gefühl, da sind mir sogar tote, aufgeplatzte Ratten lieber.“

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Through action, a Man becomes a Hero.
Through death, a Hero becomes a Legend.
Through time, a Legend becomes a Myth.
By learning from Myth, a Man takes action.
~Corazon~


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 Betreff des Beitrags: Re: Die Fesseln der Macht
BeitragVerfasst: Di 14. Jun 2016, 15:09 
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Alida trat erneut einen Schritt nach hinten und musterte das Tor, die gesamte Wand, die Umgebung, lauschte auf die Stimmen. Sie hatte in ihrer unsterblichen Existenz mittlerweile bereits einige okkulte Begebenheiten erlebt, die sie sprachlos gemacht hatten, aber nichts davon hatte sich mit dem Öffnen von magischen Türen beschäftigt. Sie konnte nicht mehr als probieren und das würde sie nun tun.

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 Betreff des Beitrags: Re: Die Fesseln der Macht
BeitragVerfasst: Do 16. Jun 2016, 21:07 
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Es war schon so eine Sache mit magischen Türen; einerseits bargen sie vermutete Geheimnisse jenseits aller möglichen Vorstellungskraft, andererseits hatte man ein Problem, wenn man, wie im ihrem Fall, keine Ahnung davon hatte wie diese zu öffnen war. Das merkwürdige Glas, welches in dem Schlüssel eingelassen war, war nach wie vor schwarz und die Tür hatte sich nicht verändert. Jeremiah war dazu übergegangen mit seinen Fäusten auf die Tür einzuschlagen. Zumindest ein paar Mal hieb er dagegen aber es schien beinahe so, als würde die magische Pforte einfach jegliche Gewalt absorbieren und tatsächlich ‚außerweltlich‘ sein. Außerdem hatte man keine Ahnung ob die Geräusche nicht doch noch im Inneren vernommen werden konnten; mit einem mürrischen Kommentar seufzte ihr Verbündeter.
Die Eindrücke im Schlüssel, die Alida mithilfe ihrer Fähigkeiten zu lesen vermochte offenbarten ihr während ihrer konzentrierten Trance eine Vielfalt an Gefühlen. Der Schlüssel war tatsächlich sehr wichtig und trug tief eingebrannte Emotionen in sich: Bilder von abenteuerlichen Kutschenreisen in der Nacht, seltsame Gestalten in Roben, die in einer Ritualformation standen, unzählige Bücher, grässliche Schreie. Sie sah eine Stadt, die wohl europäisch anmuten ließ, dann Berge, Seen, unterirdische Höhlen. Es gab Stolz und Hass, Blut und Geld. Dann sah sie das Gesicht eines jungen Mannes, der den Schlüssel mit einer Verbeugung an sich nahm und durch einen dunklen Wald hastete, sein Atem heiser und überall hörte man Hunde bellen. Die Verfolger waren ihm dicht auf den Fersen. Dann plötzlich ein Szenenwechsel: Dunkle Kammern und schreckliche Schmerzen. Das Gesicht von Andrej, das Gesicht von Vladimir Rustovich, dann wurde es dunkel.

Als sie die Augen wieder öffnete und auf den Schlüssel herabblickte, war dieser wieder zu seinem ursprünglichen himmelblau zurückgekehrt. Jeremiah sah sie etwas missmutig an. „Während ihr die Eindrücke gelesen habt, hat sich das Glas oder was immer es sein mag, langsam wieder verfärbt. Ich habe keine Ahnung, ob das mit euch oder etwas anderem zu tun hat.“ So sehr Alida sich auch bemühte, ein magischer oder okkulter Zusammenhang bzw. ein Verständnis für diesen seltsamen Schlüssel mochte ihr nicht in den Sinn kommen und doch gab es da etwas, das sie stutzig werden ließ. Als Andrej ihr den Schlüssel gegeben hatte, war er schon himmelblau gewesen. Sie hatte ihn in die Tasche gesteckt; vielleicht nahm der Schlüssel die Farbe der Umgebung an? In der Tasche war es dunkel, demnach schwarz. Tageslicht oder Nachtlicht, färbte ihn himmelblau.
Alida schüttelte den Kopf. „Ich hab keine Ahnung wie man diese Tür aufbekommen soll. Der Schlüssel scheint die Farbe der Umgebung anzunehmen und die Tür folgt ihm, aber ich wüsste nicht, wie uns das weiterhelfen könnte… Wäre das ein Hinweis darauf, dass es Sinn macht den Schlüssel zu zerstören, dann verschwindet auch die Tür?“ Alida schüttelte nur den Kopf. Der Gedanke war zu abwegig.
Sie überlegte, versuchte dann indem sie mit der Dunkelheit der Schatten und dem schwachen Licht der Nacht experimentierte die exakte Farbe der Tür zu konstruieren.
Jeremiah hob nur die Schultern auf ihre Frage hin. „Er ändert die Farbe, je nachdem in welcher Umgebung er sich befindet… zumindest sieht es danach aus.“ Mehr wusste er wohl auch nicht recht dazu zu sagen, sah ihr jedoch interessiert über die Schulter als sie versuchte die exakte Farbe nachzubilden.
Es stellte sich als schwieriger heraus, als sie zunächst gedacht hätte aber Jeremiah schien zu verstehen was sie da versuchte. „Mhhh…wartet.“ Der Nosferatu reichte ihr einen blauen Stofffetzen. „Der ist noch von einer der Puppen, vielleicht geht’s damit einfacher.“ Kaum hatte Alida das kleine Stück Stoff um den Glassstein gewickelt, färbte sich dieser in ein kräftiges Blau. Und mit dieser Basisfarbe war das Experimentieren schon um einiges leichter. Ein wenig mehr Schatten, da ein wenig mehr Licht und nach einer Weile glich die Farbe tatsächlich jener der Tür. Und als hätte jemand einen magischen Schalter betätigt, hörte das leise Säuseln und Flüstern auf, die eingeritzten, vergoldeten Buchstaben erstrahlten in glänzendem Licht. Es war so hell, dass die beiden Kainiten fast schon die Augen schließen mussten und als der Lichtblitz vorüber war, war dort wo eben noch die blauen Umrisse der Tür gewesen waren, ein Eingang der just die Form der Tür hatte. Im Grunde war es ein offenstehender Torbogen. Jeremiah nickte Alida breit grinsend zu. „Das habt ihr wirklich gut gemacht. Wer hätte gedacht, dass sich diese merkwürdige Tür tatsächlich mit diesem Farbenschlüssel öffnen lässt?“ Er blickte in Richtung des dunklen Torbogens vor ihnen. „Ich werde vorgehen; einfach zu eurer Sicherheit.“ Mit einem metallenen Schleifen zog er das Schwert aus der Scheide und schritt in den dunklen Tunnel; Alida folgte ihm. Es dauerte nicht lange und sie fanden sich in einem langengezogenen, von unirdischem Licht erleuchteten Raum wieder. Auf den ersten Blick sah er wie eine Kirche aus, obgleich man durchaus annehmen durfte, dass hier niemand zu Gott betete. Die großen Buntglasfenster zu ihrer Linken ließen ein bläuliches Licht herein obwohl die Quelle nicht auszumachen war. Zu ihrer rechten brannten viele kleine Wachskerzen, deren Flammen aufgrund der Zugluft gelegentlich aufloderten. Am anderen Ende des Raumes stand ein großer, mit kryptischen Symbolen verzierter Steinblock, der wie ein Altar aussah. Es ging ein dumpfes Dröhnen über ihnen durch die zitternden Felsen. Es war als ob der ganze Berg wackelte.

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Alida sah zur Decke, erwartete jeden Moment zur Seite springen zu müssen um einem herabstürzenden Felsblock auszuweichen. „Der Drache…“ Als nicht dergleichen geschah, hielt sie Jeremiah an der schmalen Schulter zurück. Sie drückte ihm behutsam den blauen Stofffetzen in die lange Finger. „Ihr…“ Sie schüttelte den Kopf. In einer solchen Situation war ihr nicht nach Förmlichkeit. „Ich hätte dich gar nicht so familiär eingeschätzt. Aber ein paar der Kinder scheinen dir wohl doch ans Herz gewachsen zu sein. Versteh ich gut. Ich hab zu Hause auch einige tolle Nichten und Neffen, die ich nicht missen möchte.“ Sie ließ die Worte offen im Raum stehen und fuhr fort. „Vielleicht solltest du dich verdunkeln. Sollte man mich entdecken hättest du immer noch die Möglichkeit mich aus der Scheiße wieder raus holen zu können. … sofern du denn willst… Und auf der anderen Seite: Sollte deine Verdunklung fallen, dann wissen wir mit wem wir es wenige Sekunden darauf zu tun haben.“
Jeremiah zog die lächerlich wirkende Mütze tiefer in die Stirn und ließ sich das blaue Stück Stoff überreichen. „Die Kinder sind mei.. ich äh will sagen unsere Zukunft. Außerdem sind glückliche Arbeiter zumeist auch fleißige Arbeiter. Wenn die Mädchen den ganzen Tag das Haus schrubben, dürfen sie auch mal mit den Puppen spielen.“ Zu Alidas Verwunderung, steckte er das blaue Stück Stoff ebenso vorsichtig wieder ein, wie sie es ihm überreicht hatte. „Das hier stammt aus dem Umhang eines türkischen Adligen, der Rest stürzte leider nach unten als… naja, das ist eine lange Geschichte. Auf jeden Fall kann man daraus ein tolles Kleid für…“ Er unterbrach sich selbst. „Lassen wir das…“ Als etwas Staub von der Decke rieselte, sah der Nosferatu nach oben. „Ja, der Drache ganz ohne Zweifel. Hoffen wir mal das er noch gegen die Hexer kämpft und nicht bereits gegen unsere… äh.. deine Leute.“ Das Schwert mit der Spitze über die Schulter legend, trat er etwas hinter sie. „Unsichtbar werden klingt nach einem Plan. Ob wir entdeckt werden oder nicht, vielleicht haben wir so einen kleinen Überraschungsmoment, der uns zum Vorteil gereicht.“ Langsam verschwand die hochgewachsene, dürre Gestalt in den Schatten hinter ihr. „Ich bin bei euch…“, flüsterte noch seine Stimme aus dem Dunkeln, dann war er verschwunden.
Alida sah sich nicht um. Sie suchte nach dem Gefühl von Vorsicht, einer Warnung gleich, jeden Moment einen Pflock im Herz zu spüren, aber da war nichts. Sie fühlte sich sicher mit der Gewissheit, dass der Nosferatu hinter ihr war. Sie schnaubte kurz und es ließ sich nicht recht ausmachen, ob das ein Geräusch der gespielten Entrüstung oder ein Lachen werden sollte. „Kannst du nicht einfach die ganze Förmlichkeit mit dem ‚Ihr‘ und ‚Euer‘ sein lassen. Mein Name ist Alida.“ Dann schritt sie in den Raum und sah sich näher um.
Tief in den Furchen ihres Gedächtnisses hatte sie noch immer das seltsame wolfartige Wesen im Kopf, dass angekettet in den Tiefen der Verließe auf den Tod wartete. Der Schlüssel, der es band, das wusste sie noch, war die Magie. Sollte ihr irgendwo hier oben ein Zuchtmeister oder ein Schlüssel, der ähnlich des eines Leviathanschlüssels geformt war, begegnen, sie würde handeln.
Es dröhnte erneut über ihnen und ein paar silberne Teller und Besteck, das zu ihrer Linken verstreut auf einer Kommode lag, klapperte und rasselte. Die Schubladen waren aufgerissen und irgendjemand hatte eilig Kleidung daraus entwendet. Auf der gegenüberliegenden Seite, war ein Spiegel angebracht, der ihr eigenes geformtes Abbild wiedergab.

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Gerade noch hatte sie sich im flackernden Kerzenschein selbst betrachtet und Jeremiah dazu aufgefordert sie beim Vornamen zu nennen. Da hörte sie ein sehr helles, sehr leises Kichern hinter sich. Es bedurfte schon fast all ihrer übernatürlichen Sinne, um es überhaupt wahrzunehmen aber dann hörte sie es. ‚Alida… hihi, Alida haha, Alida hohoho….‘, flüsterte es quickend und scherzend vergnügt. Das Geräusch war dennoch ganz eindeutig hinter ihr zu verorten.
Sie sog die Luft ein und hatte im nächsten Moment das Schwert gezogen. Der Knauf der Waffe lag gut in der Hand- erstaunlich gut. Mit dieser ausgezeichnet austarierten Waffe hatte Victor noch in jungen Jahren das Kämpfen gelernt und es war exakt so schwer, dass sie es mühelos führen konnte. Ihr Blick wanderte durch den Raum, suchte die Ursache der Stimme. Sie nahm fast automatisch eine Verteidigungsposition ein, die Lucien sie vor Ewigkeiten gelehrt hatte.
Sie verzog die Augen und konzentrierte sich stärker auf die Geräusche und zarten Stimmchen, die da über sie und ihren Namen lachten und dann erkannte sie es. Die Kerzenflammen, bewegten sich nicht mit dem Wind, sondern völlig selbstständig. Wie kleine Gestalten aus purem Feuer, tanzten sie am Docht und lachten leise. Dann sprangen die kleinen Flammen von den Kerzen auf den Boden, der zum Glück aus Stein war und hüpften und tobten, turnten und sprangen in Richtung Alida. Da waren Frauen und Männer, Kobolde und andere Wesenheiten aus purem Feuer dabei jedes ungefähr so groß wie zwei Fingerglieder. Die Flammen kicherten unaufhörlich. ‚Alida hihi haha‘.

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„Was, zum Teufel!“ Alida ließ sich normalerweise nicht zu Flüchen hinreißen, aber die Feuergestalten waren eine Bedrohung nicht zu unterschätzenden Ausmaßes. Sie schob die Klinge zurück und zerrte sich den Mantel von den Schultern. Sie kam aus Brügge. Eigentlich hatte man dort das Wasser aus den Kanälen mit dem Feuer zu löschen war. Aber zur Not verhielt man sich auch dort anders. Sie trat langsam näher und hieb dann mit ihrem Mantel nach der erstbesten Flamme, die ihr zu nahekam um sie zu ersticken.

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Die kleinen Flämmchen schienen regelrecht panisch zu werden als Alida sich den Mantel von der Schulter riss um das gefährliche Feuer damit zu ersticken. Sie stoben aus allen Richtungen, versuchten sich unter der Kommode zu verstecken und die Unholdin zu umkreisen; immer darauf achtend weit aus der Reichweite des Mantels zu bleiben.
Es war gar nicht so leicht die kleinen lästigen, immer noch johlenden, kichernden, schreienden und hüpfenden Flammen alle zu erwischen aber immer wieder schlug Alida mit ihrem Mantel nach den Kerzenlichtern, die sich so plötzlich verselbständigt hatten und kämpfte dabei ihr natürliches Unwohlsein in der Gegenwart von Feuer hinunter.

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Der dicke Stoff des Mantels schlug mehrere Male auf jedes Feuerchen, das mit bitteren Schreien verging und verlosch. Ihr solider, russischer Mantel, hatte einige Brandflecken abbekommen. Gerade dachte sie, dass alle Gegner erschlagen oder erstickt worden wären, da sah sie ein kleines Flackern auf einem der Tische. Eines der Flämmchen hatte sich unter einen Teller retten können und war gerade dabei auf eine kleine Schale zuzulaufen, in die eine spiegelnde Flüssigkeit gefüllt worden war. Die ganze Zeit über johlte und schrie es: ‚Ihr kriegt mich nicht, ihr kriegt mich nicht! Hahahaha‘.

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Alida würde schlagartig klarwerden, dass es sich um eine Feuerschale handelte, die sicher mit lang-brennbarem, gutem Öl gefüllt war. Diese Nahrung mochte ausreichen, um mit der kurzfristigen Stichflamme dafür zu sorgen, dass dieses winzige Flämmchen wenigstens halb kniehoch werden würde. Und dann würde hier bald etwas anbrennen.
Mit einem beherzten Schlag mit dem Mantel fegte Alida das kichernde Flämmchen von der Kommode und hieb mehrfach auf das sterbende Feuer ein, bis es jämmerlich klagend verglomm. Nichts war geschehen, keine Flammensäule hatte sich aus der mit Öl angefüllten Schale erhoben, kein flammendes Inferno in annähernd humanoider Gestalt war erschienen. Noch ein Stück hinter sich hörte Alida Wasser schwappen und als sie sich umdrehte, erkannte sie Jeremiah mit einem hölzernen Schmutzwassereimer, der dabei war sämtliche Kerzen zu löschen und dabei eine kleine Überflutung anzustellen. Nachdem was er wohl gerade mitverfolgt hatte, arbeitete er wohl eher nach der Devise: lieber zu viel als zu wenig. Woher er den Eimer hatte, konnte sie nur spekulieren aber vermutlich hatte er deswegen solange gebraucht. Als die letzte Kerze glimmend verlosch, war es nur mehr das bläuliche Licht aus den seltsamen Fenstern, das die Umgebung kühl erhellte. Der Nosferatu stellte den Eimer ab und sah Alida an. „Verzeih, ich war schon vor dir; die Neugier. Dann habe ich gemerkt, dass du nicht kommst und bin zurück, als ich dann die Flammen gesehen habe, bin ich flink zurück um diesen Eimer Wasser zu holen, der da mit einem abgebrochenen Besen in der Ecke lehnte. Ein grausamer Hokuspokus, wenn du mich fragst. Wenn die hier irgendwas in Brand gesetzt hätten… nicht auszudenken. Die Hexer sind offenbar tatsächlich vorbereitet.“
Alida schüttelte ungläubig den Kopf. „Das mit dem ‚Ich bin bei euch…‘ war dann wohl eher im übertragenen, geistig mentalen Sinn gemeint, oder?“ Sie schüttelte den verrußten rauchenden Mantel noch ein Mal aus und legte ihn sich dann erneut um die Schultern. Dann entschied sie sich dazu weiter zu gehen. „Solltet ihr irgendwann einen Schlüssel entdecken, der dem Leviathanschlüssel ähnelt, sagt mir bitte Bescheid, ja? Irgendwas in Verbindung mit einem Zuchtmeister, hat mir mal jemand erzählt. Aber was das sein soll? Keine Ahnung.“ Dann ging sie weiter.
Jeremiah grinste nur still in sich hinein. „Nein, eigentlich war es schon so gemeint, dass ich hinter dir bleibe aber plötzlich kam mir so der Gedanke: Was ist eigentlich der Vorteil daran, wenn man mich nicht sieht? Der Vorteil ist das ich eventuelle Gefahren schon im Voraus erkennen kann, ohne dass wir erkannt werden, deshalb entschied ich mich kurzer Hand dazu ein wenig vorauszugehen.“ Seine Schultern hoben sich. „Tut mir leid, ich werde jetzt hinter dir bleiben und sollte ich doch kurz vorgehen, so sind es nicht mehr als fünf Schritt. Ich merke schon, dass alles andere hier drin Selbstmord wäre.“ Am Ende des Raumes angekommen, fand man sich beim Altar wieder, der mit allen möglichen okkulten Symbolen versehen worden war.

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Darauf lag die verkohlte Leiche eines Menschen und sorgsam davor aufgereiht, standen mehrere tönerne Schalen mit allerlei möglichen Salben, Tinkturen, Ölen und Kräutern. Sogar ein oder zwei kleine Edelsteine waren dort zu finden und ein wenig Schmuck.

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„Leviathan? Als ob ich mich damit auskennen würde. Falls ich etwas sehe, lass ich es dich wissen.“ Er ließ sie kurz vorne weggehen, um sich hinter ihr wieder zu verdunkeln. Als sie den nächsten Raum betraten, fanden sie sich in einem ebenfalls sehr hohem Raum wieder, der vollgepackt war mit allem möglichen Dingen.

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Auch hier machte es wieder den Anschein, als ob jemand in aller Hast das notwendigste zusammengepackt und eiligst damit verschwunden wäre. Man hatte ein paar Kerzen entzündet und unter den Behältern mit eingelegten Körperteilen, toten Fröschen und Ratten gab es sogar noch ein paar Bücher, vielleicht zwanzig an der Zahl, die allesamt mit dicken Einbänden versehen waren. Es gab zur linken und rechten hölzern verkleidete Aufgänge zu höhergelegenen Bücherschränken, diese waren aber gänzlich leer bzw. lagen teilweise zerstörte Bücher oder einzelne Seiten und Pergamente wild verstreut auf dem Boden. Im Hintergrund war eine große Fensterfront mit bleich-blauem Licht, das einen leichten Aufgang zu einem höher gelegenen Arbeitsplatz beleuchtete. Da stand ein großer, schwerer Schreibtisch bei dem alle Laden geöffnet worden waren; der schwere, ledergepolsterte Sessel war umgefallen und lag daneben auf dem Boden. Dicke, fein gewebte Teppiche waren über den Felsen gelegt worden. Dann erkannte Alida einen kleinen Handwagen, auf den jemand schon mehrere Bücher gestapelt hatte sowie eine große Truhe mit Vorhängeschloss.

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Alida sah sich um, murmelte, dann wie zu sich selbst. „Sieht so aus als wäre das vielleicht die Bibliothek mit all ihren Kostbarkeiten. Sie selbst mochte Bücher. Sie dienten ihr zum Wissenserwerb, waren Unterhaltung, Gesprächsstoff in den kalten Abenden vor dem Kamin, boten Denkanstöße und unbekannte Ansichten, die zum Nachdenken einluden. Aber sie waren ihr nie so wichtig wie Menschen, Familie und selbst die Kainiten und Sterbliche da draußen hatten in ihren Augen mehr Bedeutung. Sie musste sich beeilen, wenn sie wirklich ihr Versprechen einlösen wollte um Jeremiah sein Buch zu besorgen. Sie selbst entschied sich dazu den Handwagen durchzusehen. Sie war eine miserable Schlösseröffnerin und wusste, dass Nosferatu meist mehr von Diebstahl verstanden als es eine einfache Händlerin je vermögen würde.
Jeremiah legte seine spinnenlangen Finger auf Alidas Schulter und schob seinen deformierten Schädel an ihr vorbei. In seine kränklichen Augen trat ein Leuchten, das fast mit dem Blau im Hintergrund konkurrieren konnte. „Ah, in der Tat. Ein Hort des Wissens und des Studiums der okkulten Mysterien gleichermaßen. Viel scheint nicht mehr da zu sein, den Großteil müssen sie schon mitgenommen haben. Beeil dich!“ Er selbst überließ ihr gern den Handwagen, machte sich mit spitzen Fingern an der Kiste zu schaffen und bemühte sich gar nicht mehr ein Schloss zu knacken; das übernahm seine ungeheuerliche Stärke, die schlussendlich die Mechanik so verbog, das die Truhe aufsprang. Alida indessen würde eine große Menge gepflegter Bücher finden, die in verschiedenen Sprachen geschrieben worden waren. Manche kannte sie, manche hatte sie noch nicht einmal im Entferntesten gehört und von manchen konnte sie ungefähr einer Region zuordnen. Bedauerlicherweise fand sie unter den Büchern weder etwas besonders Magisches, noch das wonach es Jeremiah verlangte. Es gab Reiseberichte nach Jerusalem, philosophische Diskurse und Geschichten über Fabelwesen, eine Kräuterfibel für die brave Hausfrau und eine Abhandlung über die Konservierung von Körperteilen. Ein kleines schwarzes Lederbüchlein, zog dann doch die Aufmerksamkeit auf sich. Es trug den schönen Titel: Invocatio minor initium XIII. Jeremiah indessen zog in erster Linie nur säuberlich verkorkte und mit Wachs abgedichtete Flaschen mit merkwürdigen Inhalten aus der Truhe. Alle Flaschen waren unbeschriftet und zwischen dicken Lagen aus Stroh eingepackt, damit sie nicht zerbrechen würden. „Pah, Teufel auch noch eins! Hier sind nur irgendwelche Flüssigkeiten. Was ist mit dem Rest?“, fragte er an Alida gewandt.

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Alida zählte kurz die Namen der Bücher auf, die sie gerade in den Händen gehalten hatte.
Der Nosferatu seufzte nur. „Nein, das ist leider überhaupt nichts, das brauchbar wäre, auch wenn es sicher nett wäre darin zu schmökern. Nun zumindest der Invocatio könnte mir vielleicht kurz weiterhelfen.“ Er griff mit seinen langen Fingern nach dem ledernen Buch und blätterte rasch die Seiten durch. „Mmh… gut, jetzt weiß ich zumindest, was du mit dieser Leviathans-Symbolik meinst.“ Sein Zeigefinger tippte auf eine große, tintenschwarze Abbildung des Symbols, das die ganze Seite einnahm.

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„Ich werde die Augen offen halten, obwohl ich nicht glaube, dass wir in diesem Chaos so leicht etwas derartiges finden werden. Dieser Ort ist riesig, dunkel und weitläufig. Und dass meiste scheinen sie schon mitgenommen zu haben. Wie immer sie das so einfach von diesem spröden Felsen wegschaffen konnten, ich…“ Plötzlich hörte Alida ein Stimmengemurmel aus dem weiterführenden Gang vor ihnen. Anscheinend waren es zwei Stimmen, die sich miteinander unterhielten. Jeremiah trat ohne ein weiteres Wort zu verlieren wieder in die Schatten und verschmolz regelrecht mit dem Hintergrund; legte dabei noch wie zum ‚Abschied‘ den langen Zeigefinger auf die extrem breiten, zu einem dauerhaften Grinsen verzogenen Lippen.
So einfach hatte es Alida nicht. Dennoch trat sie in die Schatten und versuchte sich soweit als möglich verborgen zu halten. Sie spürte das Rauschen von Blut in den Fingerspitzen, das sie fast zu rufen schien. Es wäre so einfach sich darin fallen zu lassen, zu nichts als Vita zu werden und ein Versteck zu finden. Sie biss sich auf die Lippen… Das war nicht sie. Sie trat noch weiter nach hinten und lauschte.
Die Stimmen wurden lauter und lauter und plötzlich traten zwei Gestalten in Alidas Blickfeld. Der Eine war ein junger Knabe in sauberen Gewändern, der andere ein Greis in den braunen Roben der Mönche.

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Alida war unlängst des großen Schreibtisches in Deckung gegangen. Von dort konnte sie nicht gesehen werden und dabei doch selbst um die Ecke spähen und alles beobachten. Der alte Greis zog an einer dicken Holzpfeife und schickte den jüngeren Arbeiten.

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„Na los, los, Helmut, die restlichen Bücher da hinten müssen auch noch aufgeladen werden. Himmel, jetzt beeil dich doch Junge oder willst du darauf warten bis die Drachen uns fressen kommen? Die Späher haben gesagt, dass die fleischgeformten Schrecken, die sie uns entgegenwerfen nicht aufgehalten werden können. Tu was man dir sagt und beeil dich!“
Der Junge, folglich wohl Helmut genannt, machte sich daran die verbleibenden Bücher aufzuladen. „Ja, Meister Ignaz. Aber Meister… was ich nicht verstehe… warum… warum sind wir noch hier wenn der Krieg doch schon verloren ist?“
Der Meister schlug ihn mit der flachen Hand auf den Hinterkopf, sodass er beinahe die Bücher fallen gelassen hätte. „Dummer Junge! Warum wohl? Weil irgendjemand dafür sorgen muss, dass dieses Wissen nicht in die falschen Hände gerät und zwar um jeden Preis.“
Helmut lud die Bücher auf und schluckte schwer. „Werden wir sterben, Meister?“
Ignaz zog glühend an der Pfeife und blies missmutig den Rauch in die Luft. Sein Gesicht sah aus als ob er in eine Zitrone gebissen hätte. „Sterben ja, ob wir wiederkommen hängt davon ab, wie schnell du beim Aufladen bist. Eil dich, Bub.“

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Der Weg zum Ziel beginnt an dem Tag, an dem du die hundertprozentige Verantwortung für dein Tun übernimms.
Dante Alighieri


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 Betreff des Beitrags: Re: Die Fesseln der Macht
BeitragVerfasst: Di 21. Jun 2016, 20:35 
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Alida vergrub sich noch weiter in den Schatten des Schreibtisches. Zwei Gelehrte, möglicherweise Ghule, die die letzten Werke in Sicherheit bringen sollten… mit der Aussicht auf den Kuss, den sie wahrscheinlich eh nicht erhalten würden.
Ihre Gedanken rasten während sie fieberhaft überlegte. Ihr Blick hastete über die beiden Männer. Sie wollte nur eine Information bezüglich der beiden. Sterblicher oder Kainit? (1 Erfolg beim Alten, 0 beim Jungen bei Auspex 2)
Ihre untrügliche Fertigkeit im Lesen der Auren von lebenden und Untoten Wesen, offenbarte ihr keine weiteren Erkenntnisse über das Wesen des jugendlich wirkenden, beinahe noch Knaben. Der Alte hingegen schien, wenn auch recht alt, durchaus noch lebendig.
Eine Idee blieb schließlich haften und sie konzentrierte sich weiter, suchte mit ihren seltsamen undefinierbaren Fähigkeiten die Gedankenfäden des Alten und versuchte diesen zu folgen. Wo waren die Werke, auf die es wirklich ankam? Die, die es um fast jeden Preis zu schützen galt. Mittels Auspex suchte sie wie ein Dieb in seinen Gedanken.
Ihre eigenen Gedanken vermischten sich mit den seinen, als sie sich durch jede auch noch so kleine und gut gehütete Gehirnwindung des Alten grub; Zentimeter für Zentimeter weiter in die Tiefe seines Verstandes drang und dabei unwichtige Gesprächs- und Emotionsfetzen verschiedenster Art außer Acht ließ. Einmal war sie bei einer Versammlung in einem großen Saal, dann in einer Schreibstube, ein andermal in einer Schenke. Irgendwann hatte sie einen roten Faden in dem Wirrwarr des sterblichen Geistes erkannt und war diesem gefolgt. Sie erkannte einige Gänge und gewundene Treppen; konnte gar einen kurzen Einblick in den Aufbau des Gildehauses gewinnen und dann sah sie wie dutzende Bücher im gierigen Schlund eines Ofens verschwanden, der sich nicht weit von hier befinden mochte. Ein anderer Teil der Bücher und das waren ganz offensichtlich jene, für die es sich wirklich lohnte, wurde durch eine Tür gebracht, aber da waren die Gedanken plötzlich verschwommen und nicht ganz eindeutig. Fest stand nur, das alles was annähernd von Wert in dieser Festung war, hinter eine stattliche Tür gebracht worden waren. Was dahinter lag, fand sich nicht in den Gedanken des Mannes wieder. Allerdings bemerkte er den Gedankeneindringling auch nicht, sondern half nun selbst mit, die Bücher auf den Handkarren zu verladen, als das Dröhnen über ihnen eindringlicher wurde.
Alida suchte weiter, blieb in den Windungen zwischen seinen Erinnerungen, den kurzen Gedanken, die von links nach rechts hasteten und den damit verbundenen Gefühlen stehen und brachte die eine Vorstellung dort an, die in ihrem Inneren längst Gestalt angenommen hatte. Diesen alles entscheidenden Zweifel. Wofür taten die beiden das? Eine Flucht war um so vieles aussichtsreicher… Keiner ihrer Meister wäre am Ende dieser Nacht noch in der Lage, wenn überhaupt jemals gewillt, ihnen den Kuss zu schenken und die Bücher? Sie waren kostbar… aber es würde ihnen niemals gelingen ein einziges dieser Werke ins Jenseits mitzunehmen… sie konnten sie nicht retten… Aber es gab nur wenige Räume weiter eine Tür, fast verborgen, die ins Freie führte; in kalte dunkle Nacht, die verbarg, die eine Flucht möglich werden ließ. Alida pflanzte den Gedanken dort ein.
Der alte Mann mit seiner fröhlich vor sich hin glimmenden Pfeife, sah plötzlich von seiner Arbeit auf und wirkte irritiert. Mittlerweile hatte man den Karren voll beladen und der Junge machte sich eilig daran den Wagen aus dem Raum zu ziehen. Es kostete ihn sichtliche Anstrengung, aber als er bemerkte, dass ihm der Greis nicht folgte blieb er verwundert stehen. „Meister?“, fragte er sichtbar unsicherer werdend. „Ich dachte, wir müssen uns beeilen? Die Zeit drängt doch?“ Offenbar schämte er sich schon allein dafür danach gefragt zu haben, sicher hatte der Meister allen Grund noch zu warten. Dieser aber schüttele nur kurz den Kopf und sah sich etwas misstrauisch im Raum um. „Ich… hatte für einen Moment die Idee, wie wir durch den Fluchtgang entkommen könnten ohne das uns der Drache auch nur annähernd gefährlich werden könnte“, brummte der Alte und zog an seiner Pfeife. Der Junge sah ihn entgeistert an. „Äh aber Meister… verzeiht, aber… ist denn… ich meine, könnte es nicht sein…. mmh... ist es nicht vielmehr so, dass der Durchgang mit euch als Führer um einiges sicherer und schneller scheint?“ Der Alte zog erneut an seiner Pfeife und ließ den Blick nun ganz besonders misstrauisch durch den Raum gleiten. Irgendwie hatte Alida das Gefühl, das der merkwürdige Greis kein einfacher Sterblicher oder Ghuldiener sein konnte. Dafür brannte ein zu helles und klares Leuchten in diesen dunklen Augen. „Es ist gut möglich, dass mit der Eroberung und Schändung der Bruthöhlen der alte Bal’Halam zu neuen Kräften gelangt ist und uns ins Verderben führen will…“ Sein Kopf versuchte die merkwürdig unsinnigen Gedanken abzuschütteln. „Eil dich Junge. Ich werde mich hier noch etwas umsehen.“ Und damit setzte sich der etwas überrumpelte und völlig verwirrte Knabe mit dem Handkarren in Bewegung. „Aber... woher weiß ich welche Bücher ich verbrennen soll und welche den Torweg gehen?“ Der Alte sah ihn mürrisch an. „Ich dachte, du kannst lesen? Geh endlich.“ Nach einem kurzen Knarzen, war der ängstliche Junge mit den Büchern verschwunden und der Greis ging ein wenig im Raum auf und ab.
Alida bewegte sich nicht. Es war ein Versuch gewesen… Wenn der Greis tatsächlich in ihre Nähe kommen sollte. Sie betete, dass sie diese Entscheidung nicht würde treffen müssen.
Es zischte kurz eigenartig und dann sah Alida ein trüb blaues Licht die Kammer durchfluten, das von einer merkwürdig erleuchteten Kugel stammte, die knapp über der linken Handfläche des Mannes schwebte. Wie ein Ball aus reinem Licht begann das Gebilde damit den Raum auszuleuchten und auch noch die hintersten Winkel der in schattenhafte Dunkelheit getauchten Schränke und Ecken zu durchleuchten.

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Und als sie schon dachte, jeden Moment müsse er sie entdecken, verschwand das Licht wieder ebenso schnell wie es gekommen war. „Wir hätten das Ding gleich von Anfang an vernichten sollen“, hörte sie die Stimme des alten Greis fluchen und dann eilige den Raum verlassen. Jeremiah machte offenbar keine Anstalten ihm sogleich nachzueilen oder einzugreifen. Vielleicht hatte er einfach nur abwarten wollen oder auf Alida gewartet. Dann hörte sie es zum ersten Mal tief grollen und markerschütternd über sich. Ein Schrei, den sie noch nie zuvor von irgendeiner Kreatur auf dieser Erde gehört hatte. Und es ging durch Mark und Bein, Stein, Fels und Knochen.



Alida trat aus den Schatten und blickte in die Richtung in der Jeremiah verschwunden war. Von was hatte der Greis gesprochen, als er meinte, es hätte vernichtet werden sollen?
Es dauerte nicht lange, da schälte sich auch schon wieder die dürre Gestalt des Nosferatu aus den Schatten neben ihr. Sein langes Schwert ruhte bereits kampfbereit in seiner Hand, und die langen, dünnen Finger hatten sich kraftvoll um das Heft gelegt. Vermutlich hatte der lachende Mann nur auf einen einzigen Grund gewartet beide so plötzlich aufgetauchte Gestalten doch noch umgehend töten zu müssen. „Ein Greis und ein Knabe, wie es scheint, aber auch nur nach dem Äußeren zu urteilen. Der ‚Meister‘ ist wohl tatsächlich so etwas wie ein Hexer. Habt ihr das Licht gesehen? Ich zog es vor zunächst abzuwarten um noch mehr aus den beiden herauszubekommen aber es fand sich keine passende Gelegenheit.“ Er betrachtete Alida eingehend. „Fest steht wohl nur, dass sie die Bücher von hier woanders hingeschafft haben; wir sollten ihnen schleunigst hinterher, denn…“ Sein spitzer Zeigefinger deutete auf die steinerne Decke über ihnen, „… der da oben scheint durchaus angetan zu sein vom Töten und Zerreißen.“
Alida nickte. „Da hast du Recht. Er scheint genauso angetan von Rache, Hass und Vernichtung wie Rustovich selbst. Ein würdiges Haustier… nur leider mit der Gefahr, dass es nach hinten losgeht und seinen Herren statt dem Feind ins Bein beißt.“ Ein Seufzen entrang sich ihrem Mund. „Die beiden verheizen die ‚wertloseren‘ Werke und bringen die anderem hinter eine feste Tür. Das zumindest konnte ich im Geist des Alten erkennen. Nützt uns nur leider nicht viel.“
Jeremiah nickte und legte einen Finger nachdenklich auf den monströsen Mund; tippte auf die schmalen Lippen. „Das hast du in ihren Köpfen gesehen? Faszinierend. Manchmal bedaure ich es wirklich mich in diese Richtung nicht fortgebildet zu haben. Nun, wie dem auch sei: Es mag wenig sein und doch ist es ein Anfang. Immerhin können wir sie noch einholen und mit etwas Glück bis zu dieser ominösen Tür verfolgen. Eine Tür kann man öffnen, was soll schon dahinter sein? Alles was die Tremere hier noch als Wächter aufbieten können, wird auf kurz oder lang vernichtet werden. Und einfach nur wichtige Werke dort zwischenzulagern, erscheint mir auch keine Lösung. Hast du dir ihre Auren angesehen? Sie scheinen menschlich zu sein; nicht einmal Ghulvasallen.“
Alida lachte freudlos auf. „Nein, keine Ghulvasallen: Magier. Und das macht die Sache um einiges unangenehmer. Ich habe ein Mal mit diesen Geschöpfen zu tun gehabt. Eine eindrückliche Erfahrung, das kann ich dir sagen.“ Sie nickte ihm zu. „Dann mal hinterher. Wahrscheinlich ist es besser, du gehst voraus. Mich entdeckt man leider nur gar zu leicht. In diese Richtung habe ich mich leider zu wenig fortgebildet. Woran mag das wohl liegen?“ Sie grinste breit. „Wovon hat der Magier geredet als er meinte, man hätte ‚das Ding töten sollen‘?“
„Hm, ja diese Möglichkeit ist mir auch schon in den Sinn gekommen. Hauptverantwortlich für diesen Verdacht ist dieses goldene Funkeln und Sprühen, das sich quer durch die Farben seiner Aura zog, akkurat zu dem Zeitpunkt, als das Licht in seiner Hand sich formte.“ Der lachende Mann schob die Mundwinkel steil nach oben. „Und ich habe ebenfalls bereits den einen oder anderen Magus beim Wirken seiner Wunder beobachtet… aus der Ferne, wohlgemerkt. Wir werden uns also ganz besonders vorsichtig verhalten und keine unnötigen Risiken eingehen. Wenn wir Glück haben, sind die beiden die letzten, die hier unten noch am Arbeiten, Retten und Evakuieren sind.“ Langsam steckte Jeremiah den Kopf unter den Rahmen jener Tür, durch die noch vor einigen Minuten die beiden vermeintlichen Magier verschwunden waren. „Es gibt für alles ein erstes Mal. Meine Kunst im Verstecken entwickelte sich notgedrungen, wie du dir vorstellen kannst. Vieles weiß man erst dann zu schätzen, wenn das eigene Leben davon abhängt. Wenn das alles vorüber ist, gibt es sicher vieles was wir voneinander lernen können.“

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Sie gingen ein paar langsame und vorsichtige Schritte. Aus einiger Entfernung war das Quietschen von schlecht geölten Holzrädern auf Fels zu vernehmen: Der Handkarren, eindeutig. „Was sie mit dem Ding gemeint haben? Ich weiß es leider nicht, aber der Drache wird es wohl nicht sein, es gab keine Chance für sie auch nur einen Angriff auf die Bruthöhlen in Erwägung zu ziehen. Es muss sich um etwas Anderes handeln und was immer es sein mag: Ich hoffe, es ist auf unserer Seite.“ Seine Bewegungen waren geschmeidig und langsam, jeder Schritt vorsichtig und bedacht aufgesetzt. Als er ein Gespür für den Untergrund bekommen hatte, ging es immer schneller, so dass die Geräusche der beiden Magier vor ihnen immer lauter wurden. In einem Abstand von vielleicht zehn Metern schlich man den beiden Gestalten durch viele verwirrende Gänge, Treppen nach oben und unten, schmale Biegungen und scharfe Kurven hinweg hinterher. Schlussendlich kamen sie in einen großen Saal, der einst die wahre Bibliothek von Ceoris gewesen sein musste.

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Gigantische Lüster hingen von der reich verzierten und behauenen Decke, Wandteppiche mit dem Emblem der Schlange und anderer kryptischer Symbolik zierten die Umgebung und dutzende, mannshohe Regale aus schwerem, dunklen Holz standen in schweigenden Reihen ohne das noch allzu viele Bücher darin Platz fanden. Der marmorierte Boden schien seine Musterung aus dunklen Schlieren kontinuierlich zu verändern, mit jedem Schritt, den man auf ihm tat. Interessanterweise schien er Geräusche geradezu zu verschlucken; vermutlich damit der angehende Hexer nicht beim Lesen gestört werden würde. Besonders behutsam, umschiffte das Sonderkommando der Unholde die Reihen der hohen Regale; duckte sich durch Schatten und kleine Nischen und konnte schließlich aus einer günstigen Position den Magus mitsamt Gehilfen sehen, der vor einer sich drehenden, grünlich leuchtenden Kugel stand in der sich tausende Sternenlichter wie Glühwürmchen tummelten. Es sah absolut atemberaubend aus und sterbliche Fürsten hätten ihr Königreich für diese Pracht verkauft. Der alte Greis jedoch entzog seinem Mantel nur ein Beutelchen, dem er einen pulvrigen Inhalt entnahm um diesen über die Kugel zu streuen. Es blitze, als ob das Pulver in den elektrisierenden Wogen verbrennen würde, dann schob sich eines der Bücherregale zur Seite und gab die Sicht auf eine große, dicke und vor allem dunkel gehaltene Tür frei. Ganz zweifelsfrei hatte man sie mittels eines Mechanismus versteckt. Bedrohlich bildeten sich eine in Stein gemeißelte Fratze darauf ab, die von zahlreichen düsteren Runen umringt wurde.

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Der Knabe überreichte dem Meister eine kleine Tasche, die offenbar ein paar leuchtende Kristalle zu enthalten schien, nicht unähnlich jenen, die Alida in den Bruthöhlen gesehen hatte. Das Helferlein des Magus machte sich bereits daran ein paar der Bücher aufzuheben und wartete auf den Magier. Jeremiah an Alidas Seite, sah seine Begleiterin fragend an. „Das muss die besagte Tür sein. Wirkt nicht gerade einladend aber immerhin wissen wir jetzt wohin sie all dieses Wissen bringen. Auf unserem Weg bisher, fand ich keine weiteren Anzeichen für irgendwelche Bluthexer oder Magier. Das mag natürlich ein Irrtum sein, eine Illusion wie alles in den Hallen der Hexer aber dennoch erscheint sich uns hier eine gute Gelegenheit zu bieten. Was meinst du?“
Alida sah die beiden Magier von hinten an und schloss die Augen. Sie wollte die beiden Männer nicht angreifen. Nicht für Bücher, nicht für Wissen. In ihr bereitete sich ein Gefühl aus als wäre sie kurz davor einen Raubmord begehen zu wollen. Zögernd zog sie das Victors Schwert aus der Scheide und trat an die Seite des Nosferatu. Wenn er das hier starten wollte, dann würde es an ihm liegen zu beginnen.
Der Nosferatu sah sie mit schief geneigtem Kopf an. „Sag mir jetzt bloß nicht, dass dich plötzlich schmerzliches Mitleid für diese Dummköpfe überkommt, Drache des Westens. Du bist hier, weil Rustovich deinen Kopf eher über einem Kohlebecken gar brät, bevor er dir die vollen Rechte als Mitglied deines Clans im Osten zugestehen will. Was ich mitbekommen habe, ist das hier die einzige und letzte Möglichkeit für dich, deine ganze Vergangenheit wieder in Ordnung zu bringen oder zumindest soweit in die richtigen Bahnen zu lenken, das dir hier nicht mehr jeder schon allein per fürstlichem Dekret nach dem Unleben trachtet. Die da drüben… “ Er deutete mit der Schwertspitze ein wenig in Richtung der finsteren Tür und der Gestalten vor eben dieser, „… die sind der Feind und würden dich vermutlich nur marginal besser behandeln als Lambros oder jeder andere beliebige, speichelleckerische Drache unter der Fuchtel deines Fürsten. Zögerst du?“ Seine Augen fixierten die Händlerin.
Alida spürte, wie sie die Lippen aufeinander presste. Sie standen rund zehn Meter hinter den Magiern. Das hier war nicht der Zeitpunkt für Grundsatzdiskussionen. Sie schwieg und hoffte, dass die beiden Magier bis zu diesem Zeitpunkt nichts gehört hatten.
Jeremiah nickte bekräftigend und einsichtig. Nein, gewiss war dies nicht der richtige Zeitpunkt um lauter zu werden oder eine Grundsatzdiskussion zu beginnen, aber das die blonde Frau an seiner Seite nach wie vor zögerte, das zu tun, was notwendig war, für sich selbst nämlich, schien ihn für einen knappen Moment nachhaltig irritiert zu haben. Flüsternd sprach er weiter. „Ich denke der Meister wird das eigentliche Problem werden, der Knabe ist nur ein Hänfling mit dem gelegentlichen kleinen Trick. Da ich wohl davon ausgehen muss von uns beiden der bessere Kämpfer zu sein, werde ich mich um Ignaz kümmern. Du darfst dir Helmut vornehmen. Sobald die Tür offen ist, starte ich ein Ablenkungsmanöver und attackiere den Magus; locke ihn von der Tür zwischen die Regalreihen. Helmut sollte dann kein Problem für dich sein Alida. Alles was du tun musst, ist dafür zu sorgen das diese Tür nicht wieder zufällt. Ah und am Leben bleiben wäre vielleicht auch noch anzuraten. Du selbst, als auch einer der beiden Menschen. Wir wollen ja schließlich auch noch weitere Informationen.“ Sein Blick ging kurz in die Richtung der beiden, dann wieder zu Alida. „Ich glaube der Alte wird draufgehen bevor er den Mund aufmacht, der Junge ist unsere beste Chance für dich die Armeen hier ohne magischen Widerstand hereinzulassen. Bist du soweit?“
Ihre Hände krallten sich in den Griff der Klinge und wurden dabei noch blasser als sie ohnehin schon waren. Und nein… sie war definitiv nicht so weit. Aber was spielte das in diesem Moment schon für eine Rolle? Sie schloss ein letztes Mal die Augen. Dann bereitete sie sich darauf vor zu agieren.
Die Magier waren immer noch in ihr Werk vertieft. Meister Ignaz entzog dem Beutel einen blau leuchtenden Kristall, mit dem er nacheinander verschiedene Zeichen über der Tür entlangfuhr und dabei angestrengt murmelte. Sobald er die letzte Rune nachgezogen hatte, leuchteten diese in einem gleißenden, weißem Licht, das einen fast blenden konnte. Auch die Augen der Dämonenfratze an der Tür leuchteten grell weiß. Der Kristall in seiner Hand löste sich daraufhin zu Staub auf und rieselte wie feines, zu Sand zermahlenes Glas auf den Boden. Die Tür öffnete sich lautlos und schwang zweigeteilt nach innen, während ein buntes Lichtspiel, wie die gespiegelten Wogen einer Wasseroberfläche sich über die Gesichter der beiden Menschen legte und dahinflackerte. Helmut begann unverzüglich mit einem dicken Stapel Bücher in der Hand durch die Tür zu schreiten, während der Meister sich sein Pfeifchen neu entzündete. Jeremiah indessen war längst nicht mehr an Alidas Seite; musste also schon im Schutze seiner Verdunkelung und der Bücherregale nach vorne gewandert sein. Gerade als der Magus seinen ersten, tiefen Zug nahm und der Junge die zweite Fuhre Bücher durch die Tür tragen wollte, traf den ehrenwerten Studiosus ein kleines Taschenbuch am Kopf, das ihn unverhohlen zornig herumfahren ließ. Eine heisere Stimme rief ihm neckend zu: „Die Bettlektüre wird dir auch nicht mehr helfen Väterchen. Der Drache klopft schon an eure Tür und ihr wisst nicht einmal wie nahe er euch schon ist.“

https://www.youtube.com/watch?v=TVGTRHxOx0c

Der Magus zog noch einmal zornig und entgeistert an seiner Pfeife, die sich vor den verwunderten Augen von Alida plötzlich in einen langen und reich geschmückten Stab verwandelte, den der Greis mit beiden Händen führte.

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„Bring die Bücher so schnell wie möglich weg Helmut, wir haben Eindringlinge!“, brüllte er dem Jungen zu, der daraufhin als ob es nicht anders hätte sein sollen, mindestens drei Bücher vor Entsetzen und Überraschung fallen ließ. Der Magus war plötzlich von einer fluktuierenden Energiebarriere umgeben und tastete sich langsam und argwöhnisch die Umgebung nach vorne. „Ha! Du verfluchter Teufel der Karpaten glaubst, dass du es mit einem dummen, alten Mann zu tun hast? Lass dir sagen, das du dich vor mir nicht verstecken kannst. Ihr mögt vor unseren Toren stehen, doch für jemanden wie mich ist das völlig bedeutungslos! Komm nur kleiner Bluträuber und koste von meiner Macht!“ Mit einem weiteren entnervten Blick nach hinten fuhr er abermals den Jungen an. „Helmut… die Bücher, zum Donnerwetter noch einmal!“ Der Junge stürzte sich auf die Knie und stapelte die verlorenen Bücher; jegliche Farbe war ihm aus dem Gesicht gewichen.

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Der Weg zum Ziel beginnt an dem Tag, an dem du die hundertprozentige Verantwortung für dein Tun übernimms.
Dante Alighieri


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 Betreff des Beitrags: Re: Die Fesseln der Macht
BeitragVerfasst: So 26. Jun 2016, 19:12 
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Das Nicken des Jungen kam langsam, bedächtig und zutiefst eingeschüchtert. Schwer schluckend und wie in Zeitlupe ließ er sich von ihr Richtung Schatten dirigieren; wäre beinahe fast gestolpert da er die Augen hin und wieder geschlossen hielt, als würde er sein unvermeidliches Ende erwarten. Da musste Alida gar keine besondere Gestik oder Mimik an den Tag legen; manchmal genügte auch einfach ein wenig Stahl das einem an die Kehle oder in diesem Fall an den Rücken gehalten wurde.
„Ich … ich… Meister Ignaz hat uns hierher geführt er…“, erneute schluckte Helmut schwer. „Er hat diesen… was immer die auch sein mögen, bei einigen Nachforschungen geholfen. Der Meister meinte, die wären… auch so etwas wie Magier und… naja… gehörten irgendwie zu einer Art… Seitenarm des Hauses aber…“ Ganz sachte, so als konnte jede Bewegung seine letzte sein, hob er die Schultern. „Aber ich habe Dinge gesehen und gehört die, dem Haus nicht gefallen würden. Ganz bestimmt nicht. Und ich habe ehrlich gesagt nicht vor noch länger hier zu bleiben. Er ist mein Meister deshalb folge ich ihm, wo soll ich sonst meine Ausbildung erhalten? Aber sterben… nein sterben will ich dafür nicht.“ Er schüttelte den Kopf und nickte dann in Richtung der Tür. „Der Meister wollte über das Tor fliehen; nur er kennt den Weg, ohne den Meister bin ich verloren. Wie soll ich hier verschwinden, wenn tatsächlich die tobenden Drachen mit einer Horde von Monstern hier unterwegs sind? Der Hinterausgang ist doch sicher auch schon umstellt?“
Alida merkte eindeutig, dass der Junge in einer sprichwörtlichen Zwickmühle festsaß. Sollte das was er da sagte stimmen, so könnte er ohne den Meister, der sich gerade mit Jeremiah duellierte nicht durch dieses ‚Tor‘ flüchten, was immer er damit meinte. Den Hinterausgang könnte er natürlich nehmen, durch den waren Alida und der Nosferatu ja auch hineingelangt. Allerdings hatte er keine warme Kleidung, kein Proviant und es wäre nur eine Frage der Zeit, bis ihn die Schergen Rustovichs finden würden. Stürbe sein Meister, würde er ebenfalls sterben, würde Alida ihn erstechen, war er auch tot. Selbst bei ihren verhältnismäßig gutmütigen und friedvollen Worten, sah es tatsächlich nicht besonders rosig für den jungen Helmut aus. Ob Alidas Familie ihn verschonen würde? Während sie sich in den Schatten verbarg, gab es plötzlich einen gewaltigen Knall als eines der schweren Bücherregale umgeworfen wurde und krachend auf die steinernen Fließen aufschlug. Der Aufprall reichte aus um den Untergrund zum Beben zu bringen und zerborstenen Verputz und Fließen durch die Luft fliegen zu lassen.
„Verdammt.“ Alida drängte es danach den Jungen alleine zu lassen und Jeremiah zu Hilfe zu eilen. Sie entledigte sich ihres Gürtels und versuchte die Hände des Jungen hinter seinem Rücken zu fesseln. „Wenn’s in meiner Macht steht, dann wird dir kein Haar gekrümmt, du kommst hier heil raus, kannst den Meistern deines Hauses Bericht erstatten und allein dafür werden sie dich wahrscheinlich fertig ausbilden. Sofern du dich uns nicht in den Weg stellst, werd‘ ich’s versuchen. Darauf hast du mein Wort. Aber ich muss meinem Freund dort drüben helfen sonst schmort ihn der Alte wahrscheinlich wie ein Spanferkel am Spieß und der Gute ist mir eigentlich recht teuer.“ Sie grinste und zog dann die Schnüre fester. „Ich muss leider gewährleisten, dass du mir in der Zwischenzeit kein Messer in den Rücken rammst oder fort läufst.“ Notgedrungen zwang sie den Jungen auf die Knie und Band, da sie kein weiteres Seil hatte seine Hände an die Fußknöchel.
Der Junge ließ sich ohne große Gegenwehr fesseln, obgleich ein einfacher Gürtel, wie sie ihn trug natürlich kaum als Ersatz für solide Seile oder Ketten reichte. In der Not musste man sich jedoch mit dem begnügen, was zu finden war. Sie verschnürte Helmut so gut sie es vermochte und stellte überraschend fest, dass es ihr leichter von der Hand ging als ursprünglich gedacht. Gutes flandrisches Leder vom Gerber; das hielt schon was aus. Der Knabe selbst schien unbewaffnet und eine weitere, knappe Überprüfung bestätigte diesen Verdacht. Der Junge konnte sich kaum mehr rühren und kippte wortlos auf die Seite. Was hätte er ihr in diesem Moment auch groß antworten sollen? Seine einzige Erwiderung bestand aus einem zaghaften und verzweifelten Nicken. Als sie sich von ihm entfernte, blieb er auch ganz ruhig und rief nicht um Hilfe; vermutlich hätte ihn hier unten sowieso niemand gehört. Niemand außer dem Meister und der war ja gerade beschäftigt. Hinter den aufgereihten Regalen war es seltsam ruhig geworden. Helmut unterdrückte ein klägliches Wimmern.
Alida flüsterte ein letztes Mal so etwas wie „Danke“ in die Richtung des Jungen. Dann schlich sie im Schatten der Bücherregale näher heran. So leise sie es vermochte zog sie Bogen und Pfeil hervor und legte an. Dann spähte sie um die Ecke.
Es regte sich nichts; blieb nach wie vor totenstill. Vorsichtig schlich sie mit aufgelegtem Pfeil durch die Regalreihen; dann hörte sie ein keuchendes Husten und schlurfendes Gehen als der Magus um die Ecke bog. Sichtlich gezeichnet von einige schweren Wunden, die ihm Jeremiah wohl beigebracht hatte, blutete er aus vielen kleineren und größeren Schnitten. Dennoch hielt er sich noch aufrecht so gut er konnte und ging mit zusammengebissenen Zähnen in Richtung der Bücher. „Helmut! Helmut wir müssen uns beeilen.“ Er stöhnte tief und angestrengt auf. „Nimm nur noch die wichtigsten Werke mit, den Rest werde ich dem Feuer überantworten, vielleicht sind noch mehr von seiner Sorte hier!“ Er machte ein paar schmerzverzerrte Schritte und spuckte aus. „Hörst du denn nicht Helmut?“
Fast panisch spähte Alida nach dem Nosferatu aus. Er musste irgendwo sein… Wenn ihn der Magus erwischt hatte, dann war Jeremiah sichtbar, da blieb ihm keine andere Möglichkeit.
Sie sah sich nach dem Nosferatu um, doch dieser schien nirgendswo auffindbar. Hatte der Magus ihm am Ende gar noch zu Asche verbrannt? Gerade vorhin hatte es noch nach verbranntem Holz gerochen. Ein wenig weiter erblickte sie das riesige, umgekippte Regal. Dass dicke Holz war gesprungen und an mehreren Stellen geborsten; der Boden geradewegs vom Aufprall gesprengt. Sie hatte Geschichten über die Macht der Magi gehört, die von skurril bis bedrohlich und allem dazwischen reichten aber allen war gemein, dass man ihnen unsagbare Macht zugestand. Meister Ignaz spuckte noch einmal aus und schien sich einen Augenblick lang zu konzentrieren, während seine Augen eine leicht bläuliche Färbung, fast wie Licht annahmen. „Helmut?“, rief er eindringlicher und eine Spur verunsicherter, da er wohl noch immer keine Antwort erhalten hatte. Sich auf seinen Stab stützend, blickte er in die Richtung von Alida und machte ein paar eilige Schritte nach vorne. „Ha! Ich dachte mir ja noch, dass ihr nicht alleine seid! Da ist ja noch einer von euch Mordbuben! Dein Freund hat mich ganz schön durch die Mangel genommen aber das Bücherregal war wohl doch eine Spur zu schwer für ihn! Jetzt werde ich euch Teufeln mal die Macht eines Meisters vorführen!“ Er hinkte weiter auf Alida zu, biss die Zähne zusammen und stützte sich auf den Stab; kam zwischen zwei Bücherregalen auf sie zu. Nach ungefähr einem Viertel der Länge, hob er den Stab wackelig an, der leuchtend zu pulsieren begann.
Alida würde nur ein einziges Mal zögern bevor sie ihn direkt angreifen würde. „Hört zu, Meister. Ich kenne eure Magie und ich bin nicht scharf darauf in dieser Nacht mit ihr Bekanntschaft zu machen. Ich will eure Vernichtung nicht. Packt euren Stab weg, flieht und rettet euer Leben. Bücherverbrennung mag ich leider nicht so recht unterstützen. Und dass ihr die wirklich wichtigen Wälzer wegschaffen wollt, darf ich leider auch nicht zulassen. Also: Tut mir vielleicht einfach den Gefallen, legt euren Stab weg und lasst das Kämpfen sein.“
Sie konzentrierte sich auf diesen einen Schuss, zog die Sehne zurück und schoss. Der Pfeil durchbohrte die Hand des Alten und mit einem Aufschrei ließ er den Stab fallen.
Der Schmerz zuckte immer noch durch seine Hand, sie hatte ohne Frage geradezu vorzüglich gezielt. Wutentbrannt spuckte der Magus vor ihr aus und schüttelte den Kopf, während er seine Schritte nur ob der Überraschung des treffsicheren Pfeils stoppte. Langsam breitete er die Arme aus, in deren Handflächen sich glühend rote Kugeln formten. Was er im Inbegriff war zu tun, hatte sie bereits schon bei dem einen oder anderen Tremere beobachten können: Es würde wohl bald noch etwas ‚hitziger‘ werden. „Pah! Was soll dieser Gnadenakt, Dienerin der Entropie? Ich weiß wessen Befehle du entgegen nimmst und warum du gekommen bist, treib kein falsches Spiel mit mir! Meine Bücher bekommst du nur über meine Leiche, ich werde jedes einzelne Geheimnis mit ins Grab nehmen! Ihr werdet nie die Siegel durchbrechen, nie auch nur eines der Schriftstücke lesen!“ Seine Hände hoben sich bedrohlich und wurden nach vorne in Richtung Alida gestreckt….
Da hörte sie eine laute Stimme, die nur so durch die Halle hallte. „Dann nimm es mit, dein Wissen. Bedauerlicherweise können wir dir hier drin kein Grab ausheben ‚Meister‘.“ Unverkennbar heiser und kratzend, handelte es sich ganz eindeutig um Jeremiah. Dann begann der schwere Bücherschrank, dem der Magus auf Alida entlang zugekommen war allmählich zu wanken und schlussendlich zu kippen. Es knarrte und ächzte, als der Nosferatu all seine Kräfte aufbot um das riesige Konstrukt auf den Magi umfallen zu lassen und darunter zu begraben. Der alte Meister riss die Augen weit auf und drehte sich augenblicklich um; lief so schnell er konnte an das Ende, von dem er gekommen war. Die roten Kugeln in seinen Handflächen erloschen, dafür zuckten nun Blitze um seine Fesseln, als er ein paar gepresste Worte murmelte die Alida nicht verstand. Seine Schritte wurden ein wenig schneller und so wie sich die Situation darstellte, würde er es vielleicht sogar noch schaffen. Dann zischte es lauter an ihr Ohr: „Schieß! Bring ihn zu Fall! Mach schon!“ Wer sie dazu bewegen wollte dem fliehenden Magus einen Pfeil hinterherzujagen, dürfte klar sein.
Alida legte den Pfeil auf und sandte ihn surrend über die Bogenschnur Richtung Ziel. Es zischte bösartig und dann hörte man eine lauten Aufschrei, als das spitze Metall sich in die Wade des Magus bohrte und ihn zu Fall brachte. Er knallte der Länge nach hin und stöhnte laut, als sich schon das Regal über ihn senkte. Meister Ignaz von Ceoris konnte gerade noch den Kopf heben als der Schatten sich über ihn legte und einen knappen, langgezogenen Schrei ausstoßen, dann krachte das Regal auf den sterblichen Leib und den gefliesten Boden. Zwischen herausfallenden Büchern, zersplitternden Bodenplatten und dem Brechen, Bersten und Reißen von Knochen und Gewebe, hörte man gar nichts mehr. Der Magus war auf der Stelle tot.

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Eine gigantische Blutpfütze breitete sich langsam unter dem Regal aus und sickerte durch die Fugen über den Boden. Jeremiah stand hinter dem umgekippten Regal und hielt sich die rechte Seite an der mehr oder weniger sein gesamtes Rüstzeug und Kleidung fehlte. Sie war kohlrabenschwarz und schwielig; überzogen mit aufgeplatzten Brandblasen. Der Nosferatu spuckte aus und näherte sich Alida. „Er hat das Regal mit seinen komischen Zauberstrahlen durchschossen und mich getroffen; durch die Wuchte des Aufpralls kippte das Regal über mich aber…“ Er sah sie mit breitem Grinsen an. „Ich habe dagegen gedrückt und es langsam absinken lassen. Unser Freund hier hingegen…“ Seine spinnenartigen Hände glitten über die verbrannte Wunde und er schnüffelte daran. „Riecht nach geschmorrtem Wildbret… naja, heute Nacht nicht. Das hast du richtig gut gemacht, zwei sehr saubere Schüsse. Ich nehme an die Bücher sind sicher und der Junge kein Problem mehr?“
Alida kam auf den Nosferatu zu und blieb vor ihm stehen. Sie zögerte einen Moment, dann klopfte sie ihm erleichtert auf die Schulter. „Puh, ich dachte schon, dich hätt’s erwischt. Der Magus hat wirklich was drauf gehabt. Und das alles nur für ein paar Bücher…“ Sie seufzte kurz, sah dann in die Richtung in der sie Helmut zurück gelassen hatte. „Ich hab die Bücher nicht angerührt und Helmut ist derzeit kein Problem. Hoff‘ ich zumindest mal“ Sie ging zügigen Schrittes zurück und hob den Stab des Magus auf, der in einiger Entfernung einsam auf dem Fußboden lag.
Die dürre, hochgewachsene Gestalt des Nosferatu zuckte etwas zusammen als Alida ihm auf die Schulter klopfte. „Vorsicht bitte, immerhin wurde ich beinahe gegrillt.“ Seine Mundwinkel wanderten ein weiteres Stück nach oben. „Und ich nehme an, dass er tatsächlich sterblich war und sich noch nicht allzu viel mit Clans und Familienbanden beschäftigt hat, sonst hätte er nach dem Bücherregal sicher hinterhergesetzt. Sein Unwissen war mein Glück, aber zu viel Wissen kann manchmal auch…“ Er sah zu der Blutlache, die sich dunkel auf den steinernen Fliesen sammelte. „… erdrückend sein.“ Er kommentierte das Aufheben des Stabes nicht weiter, sondern folgte ihr zu Helmut, der da immer noch am Boden lag und die Augen geschlossen hielt. Offenbar murmelte er stille Gebete an den Herren. Als er die Augen kurz wieder öffnete um nachzusehen, wer sich ihm da näherte, erblickte er neben Alida noch Jeremiah und schloss die Augen blitzartig. „Lieber, Herr Jesus…“, begann er zitternd.
Alida zögerte nicht lange und löste die improvisierten Fesseln. „Auch wenn er nicht gerade der bestaussehenste Mann in ganz Ceoris sein mag, ich bin unglaublich froh ihn dabei zu haben und möchte ihn nicht gegen jemanden mit schmälerem Mund oder dickeren Fingern eintauschen. Und falls es dich ein wenig beruhigt: Er hat sich sein Äußeres leider nicht ausgesucht.“ Sie sah zu dem Nosferatu, versuchte in seinem Gesicht zu lesen, bevor sie weiter sprach. „Er ist, so schätz ich mal, in den meisten Stunden auch nicht so erbaut über das hübsche Gesicht, aber mit der Zeit gewöhnt man sich wohl an alles, nicht wahr?“ Sie streckte dem jungen Mann ihre behandschuhte Hand hin und bot ihm die Möglichkeit ihm aufzuhelfen. Dann hielt sie ihm den Stab hin. „Vielleicht kannst du damit ja etwas anfangen, aber tu mir doch den Gefallen und röste uns nicht gleich, ja?“ Sie grinste, war sie doch reichlich überzeugt, dass Helmut derzeit die nötigen Fähigkeiten dazu fehlten. „Das mit deinem Meister tut mir leid, aber er ließ uns nicht viele Möglichkeiten. Wenn du uns hilfst, dann werde ich das, was in meiner Macht steht tun um dich hier raus zu holen.“
Helmut hielt sich zunächst die Hände über den Kopf als erwarte er gleich geschlagen oder ermordet zu werden, dann aber umspielte Verblüffung seine Züge als sie ihm ihre Hand hinstreckte. Eine schwierige Situation, hatten die beiden doch soeben höchst bestialisch seinen Meister unter ein paar hundert Kilo schwerem Holz beerdigt und waren offenkundig Diener des ‚Feindes‘, dennoch wollte die blonde Frau ihn beruhigen und nach Möglichkeit retten. Seine ungläubigen Augen wanderten von Alida zu Jeremiah und wieder zurück, bevor er anscheinend all seine Kräfte aufbot und heftig schluckend nickte. In den Zügen des Nosferatu fand sich misstrauische Ruhe, die sich vor allem darin bemerkbar machte, dass er weder das Überreichen des Stabes noch Alidas Intention den Knaben gar zu retten kommentierte. Dafür erntete sie lediglich einen halb fragenden, halb tadelnden Blick. Noch ließ er sie machen ohne sich einzumischen; fing stattdessen an das Tor genauer in Augenschein zu nehmen. Helmut ließ sich von Alida aufhelfen und umfasste etwas verloren wirkend den schweren Stab seines Meisters. „Wa... Was... muss ich tun Herrin?“, fragte er zaghaft und zuckte ein wenig als Jeremiah mit den spinnengleichen Fingern die Oberfläche der Tür befühlte und seine schiefen Hauer zu einem besonders breiten Lächeln verzog. Der Anblick musste für Sterbliche wahrlich abartig sein.
„Zunächst mal damit aufhören, mich Herrin zu nennen. Mein Freund hier sucht ein besonderes Buch. Magnum opus sanguinis. Ich habe zwei Intentionen. Zum einen hat man mich gebeten nach einem Schlüssel Ausschau zu halten, der ‚Leviathanschlüssel‘ genannt wird. Zum anderen, und ich weiß, das wird dir wenig gefallen, bin ich hier um denjenigen auf dessen Seite ich kämpfe die Tore zu öffnen. Desto eher das Tor geöffnet ist, desto rascher ist das Schlachten vorbei.“ Sie blickte den Jungen an. „Gibt es außer diesen Büchern für dich noch etwas, das du hier rausbekommen wolltest? Gibt es für dich noch einen anderen Fluchtweg, den du vielleicht nutzen kannst?“

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Der Junge sah zu Jeremiah, der noch immer die Tür in Augenschein nahm, konzentrierte sich dann aber wieder auf Alida und schüttelte den Kopf. „Ich weiß nicht… mein Meister wollte über das Tor mit uns fliehen, damit wären wir in Sicherheit gewesen und niemand hätte uns folgen können. Die Bücher hätten wir mitgenommen...“ Seine Schultern hoben sich. „Mehr wollte mein Meister hier auch nicht mehr bewerkstelligen, es war ihm klar, dass die Unholde bald hier über uns hereinbrechen würden. Und Fluchtwege gibt es viele, aber ich kenne nur wenige und selbst die, welche ich beschreiten kann…“ Er schluckte erneut schwer. „Wie soll ich… ich meine... draußen ist es doch kalt und ich kann nicht gut mit dem Schwert umgehen. Pferd habe ich auch keines und es ist ein langer Marsch bis nach Köln.“ Zitternd griff er unter sein Hemd und zog einen kleinen, silbernen Gegenstand hervor, der an einer Lederkette hing.

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„Das ist der einzige Schlüssel, von dem ich weiß. Mein Meister hat ihn mir gegeben. Ich sollte ihn gut verwahren, denn unser Haus... also nicht unser Haus aber das Haus hier... also Ceoris hier...“ Er stotterte etwas; musste nach den richtigen Worten suchen. „Also die hier würden zu sorglos damit umgehen, hätten es fast schon zurückgelassen. Er meinte, das könne er nicht verantworten; es müsse in sichere Hände übergeben werden.“
„Was die Siegel betrifft, von denen ihr gewiss sprecht. Es sind keine verschlossenen Türen für sich genommen, sondern eher reinste Magie, die diese Räumlichkeiten tief unter der Festung für alle Uneingeweihten unpassierbar macht. Es biegt und dehnt, täuscht und trickst die Realität aus.“ Helmut stockte für einen Moment in seinen Ausführungen, als er merkte wie Jeremiah ihm interessiert zuhörte. „Und wenn ihr… also wenn ihr ... die Hindernisse der Festung ausschalten wollt, dann müsst ihr eben genannte Siegel brechen. Dazu braucht ihr die Manakristalle aus den Höhlen.“ Er deutete auf die Tragetasche am Boden, aus denen er zuvor Meister Ignaz die Kristalle gereicht hatte.

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„Es gibt 7 Siegel auf 7 Säulen in den oberen Räumen; brecht sie und der Bann fällt.“ Er schluckte erneut und flüsterte zu Alida: „Es macht mir Angst“ – und meinte damit wohl Jeremiah. Dieser lachte nur. „Es hat einen Namen aber der tut nichts zur Sache. Komm her, Junge. Du auch, Alida. Bevor ich da reingehe, wird mir der Junge noch einiges erklären müssen.“
Alida trat ohne zu zögern näher. Mit einem schiefen Lächeln zog sie eine Augenbraue in die Höhe. „Nun ja, du könntest es ihm etwas einfacher machen, oder? Er ist dein hübsches Gesicht ja noch nicht so gewohnt wie ich…“ Sie zuckte mit den Schultern, als wäre es ihr im Grunde ihres Herzens gleichgültig. Dann schob sie Helmut ein Stück nach vorne. „Keine Angst. Er wird dich schon nicht fressen.“ Sie griff nach der Tasche mit den Steinen und streckte die Hand nach dem seltsamen Schlüssel aus. „Hat dein Meister noch was dazu gesagt? Ich traf in den tiefsten Tiefen von Ceoris ein eingekerkertes Wesen, das dort unten verhungern wird. Es hat sich selbst nicht viele Chancen ausgerechnet dort unten wieder lebend raus zu kommen, mich aber gebeten, die Magie dieses Schlüssels, die ihn dort unten bindet, zu beenden.“ Fragend sah sie zu dem Jungen.
Jeremiah hob tadelnd den ewig langen Zeigefinger. „Ich bitte dich, wenn dieser traurige Haufen menschlichen Fleisches tatsächlich so etwas wie die Magierwürde anstrebt, dann sollte er sich an Abscheulichkeiten, Kuriositäten und Merkwürdigkeiten schön langsam gewöhnen.“ Die beiden kamen näher an die geöffnete Tür heran; Helmut voran, Alida, die ihn über die Schulter in die richtige Richtung dirigierte, hinterher. Die Tragetasche mit den Kristallen war nicht besonders schwer, denn auch wenn die Kristalle nach wie vor eisig blau glühten, schienen sie nicht besonders schwer zu sein. Tatsächlich mochten noch gute zehn Kristalle in der Tasche sein, die allesamt gemeinsam nicht mehr wiegen mochten als ein kleiner, mit Wasser gefüllter Eimer. Das war insofern erstaunlich, da pures Gestein um einiges mehr wiegen sollte. Sollte – aber was war in Ceoris schon gewöhnlich? Der Schlüssel verschwand in einer ihrer Taschen und war bei näherer Begutachtung, nicht mehr als ein einfaches Stück geschmiedetes Silber. Schön aber auf keine Art und Weise ‚besonders‘ oder ‚herausragend‘; dem magisch Neugierigen, käme er bisweilen sogar nun… einfach profan langweilig vor. Der Junge schüttelte den Kopf auf Alidas Frage. „Nein, darüber hat er mir nichts gesagt. Er hat, wie gesagt, nur gemeint, dass der Schlüssel nicht in die falschen Hände geraten darf und es unverantwortlich wäre ihn zurückzulassen. Mehr war da nicht.“ Er drehte seinen Kopf fast ein wenig beschämt in Richtung der Tür und sah, dass was Jeremiah schon eine ganze Zeit lang gesehen haben musste. Dort wo man eigentlich durch die Tür gehen hätte sollen, war nur ein schwarzes Nichts, das von sich abwechselnden, kreisenden und sich drehenden Wogen umgeben war. Wie ein Vorhang aus in der Luft schwirrender, verlaufender Farbe.

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Helmut nickte knapp. „Das Tor... durch das wollten wir fliehen. Dahinter sind auch die Bücher, die wir gerettet haben. Ein Großteil wurde schon abgeholt, den Rest wird man wohl auch noch holen. Es führt einen… an verschiedene Ort und überbrückt dabei Zeit und Raum. Meister Ignaz sagte immer, Zeit und Raum sind bedeutungslos für den wahren Könner. Ein Magus kann hunderte von Meilen in der Zeit zurücklegen, die wir von hier zur diesem Bücherregal benötigen.“ Der Junge lächelte. Durchaus mit einem leichten Anflug von Stolz. Jeremiah sah zu Alida und wirkte nicht besonders glücklich. „Deine Meinung dazu?“, fragte er salopp.
Alida blickte zu Helmut. „Was geschieht denn, wenn man einfach durch dieses dunkle etwas durch geht? Kannst du damit nicht fliehen? Das wäre doch dein Portal…“
Helmut lächelte verlegen. „Nicht direkt, der Meister hat eine Sphärenmatrix mit anderen Kollegen erschaffen. Ich kenne den Weg nicht und kann die ... hm… Ein- und Ausgänge nicht öffnen, das konnte nur mein Meister. Geht hinein und seht es euch an, dann versteht ihr was ich meine. Die magischen Prinzipien von räumlichen Distanzen ist schwierig zu meistern.“
Alida schluckte und sah Jeremiah skeptisch an. Dann fiel ihr Blick wieder auf Helmut. „Wenn wir da rein gehen sollen, kommst du mit, das ist dir klar, oder?“
Der Junge hob die Schultern als hätte er gar kein Problem damit, schließlich war er ja zuvor wie Alida und Jeremiah bemerkt hatte, hurtig zwischen Handkarren und Portal hin- und hergeeilt um die kostbaren Bücher zu retten. „Ähm.. das ist nicht weiter schwer oder gefährlich. Dieser Torweg ist in beide Richtungen offen und wir landen auf einem Knotenpunkt.“ Jeremiah überdrehte die kränklichen Augen und ließ die dünnen Lippen sinken. Nein, das gefiel im trotzdem überhaupt nicht. „Na schön, Helmut, ich gehe vor und du bleibst hier mit meiner bezaubernden Reisebegleitung. Wenn ich nicht... wiederkomme hast du ein echtes Problem, Junge.“ Damit sah er zunächst bekräftigend nickend Alida an, dann noch einmal prüfend den Jungen, der zu seiner Überraschung seinem Blick stand hielt. Ganz so, als würde er ja schon durchaus vor dem Antlitz des hässlichen Nosferatu angewidert zurückschrecken aber lügen, nein lügen würde er nicht. Mit einem Seufzen betrat die hohe Gestalt Jeremiahs, die bei all den Verbrennungen noch immer die lächerliche Mütze trug das Portal und verschwand darin als ob jemand durch einen Wasserfall in eine dahinterliegende, verborgende Höhle treten würde. Es dauerte fast eine ganze Minute, in der Helmut von einem Bein aufs andere trat, dann erschien der Körper ihres Begleiters wieder zur Hälfte aus dem Portal und machte große Augen. „Das musst du sehen…“, meinte er völlig perplex; verschwand darauf wieder in dem magischen Durchgang. Helmut lächelte als ob er bei irgendetwas recht gehabt hätte.
Alida zögerte, hatte nach wie vor ein mulmiges Gefühl, machte jedoch eine einladende Geste in Richtung Portal. „Bitte schön; Nach Ihnen, Helmut.“ Sie wartete bis er hindurch getreten war, dann folgte sie.
Der Junge schritt ohne zu Zögern voran und als Alida an der Reihe war, so war es ihr als ob sie lediglich von einem Raum in den anderen gehen würde. Lediglich als ihre Augen das Nichts des Portalkreises berührten, war es kurzzeitig schwarz. Was sie dann zu sehen bekommen würde, würde sie so schnell sicher nicht wieder vergessen.

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Alida schüttelte ungläubig den Kopf, sah dann zu Helmut. „Respekt. Das hat was. Könntest du sowas nicht irgendwann in meinen Kleiderschrank einbauen? Wow…“ Sie hielt nach Jeremiah Ausschau.
Alida befand sich auf einer kleinen schwebenden Insel mit grünem, saftig glühendem Gras, das wie Irrlichter schimmerte. Die Insel war nur eine von vielen, die in einem lila-blauem Meer aus Nichts schwebten und sanft dahinglitten. Ab und an zog dunstiger Nebel vorbei oder ein sonnenartiges Licht brach sich in ihrem Auge ohne es dabei zu verletzten, aber ansonsten war es so still, das man hätte annehmen können man wäre tatsächlich tot. Kleine schwebende Steinstufen verbanden eine Insel mit der nächsten und davon gab es wirklich einige. Jeremiah fand sie vor einem Bücherhaufen aus wahllose abgelegten Büchern; wohl die große Ausbeute, die hier abgelegt worden war um sie später weiter zu transportieren. Jetzt wurde Alida klar wie mächtig Magie werden konnte und wie man es geschafft hatte so viele Bücher noch unter einer handfesten Belagerung der Unholde außer Landes bzw. außer Reichweite des Feindes zu schaffen. Der Nosferatu griff eilig nach den Büchern, blätterte kurz darin, las ein wenig und warf es achtlos zur Seite wenn es nicht das war, wonach es ihn verlangte. Helmut grinste verschämt und sah zu Alida. „Der Kleiderschrank meines Meisters hatte diese Ausmaße, er hatte ihn in einer kleinen Schachtel bei sich, die nicht größer war als eure Handfläche. Raum ist bedeutungslos.“ Jeremiah pausierte eine halbe Sekunde um zu dem Jungen zu sehen. „In der Tat, Junge, in der Tat. Ich bin beeindruckt. Aber jetzt darfst du mir suchen helfen... ich suche ein Werk über den Fluch Kains. Blutmagie, Rituale, Leben und Tod, Untote. So etwas in der Richtung. Mach dich nützlich.“ Helmut war zu perplex um etwas erwidern zu können, eilte nur zu dem Bücherhaufen und griff sich das nächste Buch. „I... Ich... darf die normalerweise nicht lesen hat Meister Ignaz...“ Jeremiah unterbrach ihn. „Du kannst lesen und suchen, oder? Und dein Meister ist platt wie diese Buchseiten. Tu mir einen Gefallen und hinterfrag nicht alles.“ Helmut sah kurz zu Alida und suchte dann weiter. Wie hätte er einem solchen Monster mit einem so großen Maul auch wiedersprechen können?
Die blonde Händlerin musterte die Umgebung mit großen Augen. Wer würde noch in die Dunkelheit der ewigen Nacht zurückkehren wollen, wenn er so etwas sein eigen, sein ‚Zuhause‘ nennen konnte? Sie ging zu dem Jungen und durchstöberte mit ihm gemeinsam den Haufen. Ihre Augen gingen in seine Richtung. „…und wenn wir hinter uns das Portal zerstören würden? Niemand könnte dir dann noch folgen, du wärest in Sicherheit und die anderen Magier würden dich irgendwann hier abholen, oder?“ Sie hob den Blick.
Helmut kramte weiter in den Büchern und duckte sich kurz als Jeremiah unachtsam eines an ihm vorbeifliegen ließ. Offenbar wieder nicht das wonach er suchte. „Theoretisch wäre das möglich… denke ich. Der Meister hat nur nie gesagt, wer die Bücher in Empfang nimmt und wann, ihr müsst wissen, dass Zauberer sehr… verschwiegen und geheimnistuerisch sind.“ Er kratze sich am Kopf. „Das könnte wohl funktionieren… wenn jemand kommt… wenn nicht dann…“ Ja, wenn nicht, dann würde er hier in einer Sphäre sitzen bleiben und allmählich zugrunde gehen. Der Meister hätte wohl ganz egal ob noch jemand kommen würde oder nicht, einen Ausgang gewusst und sie beide hinausgebracht. Helmut stand diese Möglichkeit alleine natürlich nicht offen. Zumindest standen seine Chancen, so merkwürdig sich das anhören wollte, damit um einiges besser als alleine im Krieg durch die Truppen Rustovichs, über die Karpaten zurück nach Köln zu gelangen. Ohne Verpflegung und Pferd. „Ich denke ihr bringt das Portal zum Einsturz, indem ihr es überladet. Es wird durch Kristalle gespeist, die außen in den Vertiefungen der Tür stecken. Die Anordnung sagt auch etwas über die Art des Portals und die Distanz und viele andere Dinge aus aber… nun... das wusste nur der Meister. Nehmt einen Kristall aus dem Beutel und haltet ihn in das Portal. Die Energiekopplung funktioniert als Einspeisung und wenn der Kristall...“ Er sah Alida etwas verschämt an. „Äh… ich glaube es reicht zu wissen, dass ihr den Eingang damit verschließt.“
Jeremiah sprang auf und lachte laut auf, als ob er gerade von Kain persönlich zu seinem Avatar auf Erden ernannt worden wäre. „Nach all dem Schmerz und all den Jahrhunderten! All die Mühen und die ganze Plackerei, alle Niederlagen und Schmähungen. Endlich ist es mein!“ Er hielt ein überdimensional dickes Buch in Händen. Man hätte jemanden damit allein auf Grund des soliden Einbands erschlagen können. Der Einband war eine merkwürdige Mischung aus Leder und Stoff aber kein Titel war darauf zu lesen. Erst auf der ersten Seite hatte jemand in feinstem Latein eine Nennung in Erwägung gezogen. Jeremiah hielt es triumphierend in die Luft. „Wisst ihr zwei Hübschen überhaupt, was das hier ist? Was es bedeutet?“

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Alida warf Helmut einen verschwörerischen Blick zu und flüsterte grinsend. „Dass die ganze mühselige Suche nun ein Ende hat und wir dem glücklichsten Aussätzigen von hier bis Paris gegenüber stehen?“ Sie zwinkerte und erhob sich dann. Dann ging sie auf Jeremiah zu, klopfte ihm auf die Schulter. „Herzlichen Glückwunsch. Ich hoffe, der Wälzer war die Mühe wert.“ Sie lachte und sah ihn fragend an.

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 Betreff des Beitrags: Re: Die Fesseln der Macht
BeitragVerfasst: Mo 27. Jun 2016, 21:15 
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Und wenn Helmut jetzt noch ein getreuer Diener der beiden gewesen wäre, der voll von Abenteuerlust die Ausrüstung und das Gepäck der Kainiten vom Fuße des Berges, bis an diesen Punkt ihrer Reise getragen hätte, so hätte er sich vielleicht auch tatsächlich mitfreuen können. So aber sah er nur weiterhin verunsichert zu dem breit lächelnden Monster vor ihm, dessen Maul sich zu einem Lächeln verzog das den Teufel und alle Erzdämonen neidisch gemacht hätte. Alida erhielt auf ihren Kommentar ebenfalls nur einen unsicheren Seitenblick. Jeremiah küsste den dicken Einband und seine Lippen berührten das Buch; nicht einen Teil des Buches, sondern wahrhaftig das ganze Buch der vollen Länge nach. Dann verstaute er es wie ein rohes Ei in seiner Tragetasche und verschloss diese mit den ledernen Riemen; tätschelte seinen Schatz wie ein Kind mit leuchtenden, hässlichen Augen. „Das wird sich wohl erst zeigen, wenn ich mich dem Studium dieses verfluchten Buches gewidmet habe. Ich erhoffe mir weitreichende Erkenntnisse davon. Es sollte, nein es muss mir gelingen diesem blasphemischen Werk Antworten zu entringen.“ Er lächelte Alida weiterhin an und ließ den Blick dann über die restlichen Bücher schweifen; griff nach einem kleinen Büchlein und reichte es ihr. „Das solltet ihr mitnehmen, ich glaube es dürfte vielleicht noch nützlich für euch werden.“ Es handelte sich um ein unscheinbares, kleines Büchlein mit ausgefransten Seiten, das offensichtlich eine Abschrift aus einem noch viel umfassenderen Werk war. Der Titel lautete: ‚Contra Malum I – Schutzkreise und Bannsiegel für den angehenden Studiosus‘ und war in Griechisch verfasst worden. „Wir sollten uns beeilen. Dieser Ort mag zwar hochgradig interessant sein, aber ich möchte nur ungern denjenigen begegnen, die Macht über die Portale besitzen. Ich glaube ohnehin nicht, dass nach dem Fall der Tremere in Ceoris noch irgendjemand den Weg hierher suchen dürfte. Außer um die Bücher vor der Türschwelle zu retten.“ Damit sah er zu Helmut, der sich unsicher umblickte und nervös die Finger tanzen ließ. Jeremiah hob die Schultern. Weder schien es ihn besonders zu kümmern, dass er den Stab seines toten Meisters von Alida in die Hand gedrückt bekommen hatte, noch das sie gedachte ihn hierzulassen. Alleine würde er es nicht schaffen und selbst wenn Aida ein gutes Wort für den Jungen einlegen würde, war davon auszugehen, dass die unweigerlich nachfolgende Folter ihn mehr oder weniger ohnehin brechen würde, sodass am Ende nichts mehr übrigblieb, das lohnte ‚Mensch‘ genannt zu werden.
Den lachenden Mann schien es nicht zu stören, denn er hegte keinen Groll gegen dieses Etwas, das sich ‚Magierschüler‘ schimpfte. „Also lassen wir den Jungen mitsamt Stab hier, hm? Sei es drum, wir haben ohnehin wichtigeres zu tun. Der Ritter des Ostens und der Heerführer zählen nach wie vor auf unsere Hilfe und wenn ich dieses Labyrinth mit all seinen Fallen und magischen Tricks bisher richtig eingeschätzt habe, sorgen wir besser bald dafür, dass der Bann über dieser Festung zum Erliegen kommt.“ Damit nickte er dem Jungen zu und trat aus dem Portal. „Alles Gute für dich, Helmut. Widme dich deinen Studien und lerne fleißig, dann wird vielleicht mal was aus dir.“ Helmut schluckte schwer und erwiderte nichts.
Alida trat noch ein letztes Mal auf den Jungen zu. „Du bist aus Köln, hast du gesagt? Ich denke, unsere Wege werden sich nicht mehr begegnen… nichtsdestotrotz: Es gibt dort jemanden namens Immanuel, der Kaufmann. Er handelt in der Nähe der Domwerkstatt mit recht brauchbarem Werkzeug. Falls dir die Möglichkeit gegeben ist, hinterlass mir eine Nachricht, dass du heil angekommen bist. Sie wird mich erreichen. Alles Glück der Welt mit dir. Du kannst es gebrauchen.“ Sie klopfte ihm kurz aufmunternd auf die Schulter und trat dann hinter dem Nosferatu her.
Der angehende Magus nickte und sah sie etwas verloren an, sagte aber kein Wort mehr. Sein Schweigen konnte dennoch als stille Zustimmung gedeutet werden. Als Alida aus dem Portal getreten war, erkannte sie sogleich Jeremiah, der an einer dekorativen Ritterrüstung hantierte. Hinter ihr leuchtete der Eingang zur ‚Knotenmatrix‘ oder wie auch immer man diesen seltsamen Ort nannte. Über ihr in der Tür waren mehrere Vertiefungen, in denen Kristalle steckten. Die Konstruktion war so angeordnet, das jeder Kristall gleichzeitig als Knauf diente, der sich drehen ließ. Darüber waren seltsame Symbole kreisrund angeordnet und scheinbar wahllos, leuchteten die verschiedensten Symbole über den leuchtenden Kristallen auf. Offenbar war dieses ‚Weltentor‘ gut verschlüsselt. Jeremiah warf die lächerliche Mütze vom Kopf und hob den Ritterhelm an, versuchte seinen Kopf hinein zu zwängen, was ihm schlussendlich nicht gelang. Murrend legte er sich das Brustgeschirr an, das aufgrund der Schmächtigkeit seines Körpers zu passen schien. „Wir sollten den Eingang verriegeln und tarnen. Danach, glaube ich, wäre es angebracht dem Eroberungsfeldzug zu Hilfe zu eilen. Der Junge wird schon gefunden werden; Magie sind selten und eine verschworene Bruderschaft. So dumm der Knabe wirken mag, es wird einen Grund haben, warum er in ihre Kreise aufgenommen wurde. Potentielle Kandidaten lässt man nicht gern allein, vor allem jetzt da ein weiterer Zauberer von uns gegangen ist.“ Der Nosferatu überließ es offensichtlich Alida sich um das Portal zu kümmern, er selbst würde schlussendlich nur den Bücherschrank wieder an Ort und Stelle verrücken. Ein Kraftakt, den er kaum von ihr erwarten konnte.
Alida deutete auf den Helm. „Willst du das Ding tragen?“ Sie wartete auf seine Antwort während sie einen der Kristalle vorsichtig mit ihrem Mantel, den sie um die Finger wickelte aus der Tasche zog. Der Wolf in den Tiefen der Bruthöhlen hatte sie gewarnt nicht die Kristalle zu berühren. „Das ist schon eine seltsame Angelegenheit, nicht? Da verschließen wir diese Tür und überlassen damit all die Werke, die die beiden schon ins Innere geschafft haben , den Magi von Köln oder wo auch immer.“ Sie sah sich um, musterte die Reihen voll beladener Bücherregale und den noch immer voll beladenen Schubkarren. „Auf der anderen Seite: Hier drin befindet sich für meine lieben Mitdrachen genug Lesematerial für den Rest ihrer untoten Existenz…“ Sie zuckte mit den Schultern und schob den blauen Stein in eine der Vertiefungen. „Viel Glück“
Jeremiah hob die Schultern. „Ja, eigentlich schon. Ich habe keine Ahnung was uns noch erwartet und diese Ledermütze war gewiss nur ein absichtlich beschämendes Accessoire deines reizenden Onkels. Ich gebe zu, dass es zumindest die Ohren warm hielt, während ich auf dich wartete aber falls uns ein Stockwerk höher noch ein paar weitere Magier oder kampfgestählte Günstlinge der Hexer erwarten, bin ich lieber vorbereitet.“ Er kombinierte die Teile der Rüstung, die ihm sinnvoll erschienen, den Helm musste er bedauerlicherweise weglassen. Schlussendlich besaß der lachende Mann eine Kombination aus Stoff und Eisen, die zwar überhaupt nicht zusammenpassen schien und jedem aufstrebenden Ritter die Schamesröte ins Gesicht getrieben hätte, aber in der Not fraß der Teufel bekanntlich fliegen. Jeremiah wog den Kopf hin und her. „Möglich Teuerste, aber ich will ehrlich zu euch sein: Lieber weiß ich diese Bücher in den Händen der Magi und Magae dieser Welt, als in denen der Bluthexer oder Drachen. Wofür diese Streitparteien dieses Wissen verwenden würden, dürfte uns wohl beiden klar sein. Den Magiern kann man nicht trauen, keineswegs, aber solange sie sich um ihre eigenen Angelegenheiten kümmern, sollten wir Ruhe haben. Das beruht aber auf Gegenseitigkeit, deshalb will ich die magischen Häuser auch nicht zum Feind haben oder in einen sinnlosen Krieg ziehen. Es ist am besten, alles bleibt wie es ist. Selbst wenn diese Magi irgendwie mit den Tremere verbandelt sind.“ Seine kränklichen Augen glitten über den Restbestand an Büchern in den Regalen. „Ja, hier kann sich der durchschnittliche Drache dem ungebremsten Lesegenuss hingeben, allen voran wohl Andrej. Allerdings bezweifle ich, dass er hier noch mehr finden dürfte als theoretische und historische Bände; kaum etwas womit man etwas anfangen dürfte, wenn man ein taktischer Planer ist. Wenn man einfach nur gerne liest hingegen...“ Er sah zu Alida und beendet den Satz nicht.
Nacheinander steckte Alida die Steine in die Vertiefungen und der Stoff an ihren Finger schützte sie vor der gefährlichen Strahlung, die das Wesen ihr geraten hatte, zu meiden. Sie konnte sogar die Steine verdrehen und damit andere Symbolkombinationen wahllos generieren aber schlussendlich ging es nur darum das Portal zu überladen, dazu musste sie schlussendlich einen der Steine in den Mahlstrom halten, damit eine Rückkoppelung erfolgte. Jeremiah trat eisern gerüstet neben sie und legte den Kopf schief. „Das hier finde ich viel bedauernswerter. Seht ihr die Zeichen über der Tür, wenn ihr ein wenig von Algebra versteht, könnte ihr euch ausmalen wie viele Orte man damit erreichen könnte und wenn jeder dieser Orte wiederum nur ein Knoten ist… die Anzahl wäre erschreckend. Wohin mögen diese Wege nur alle führen? Was könnte man darin entdecken?“ Der lachende Mann geriet einen Moment ins schwärmerische Sinnieren. „Naja, man kann nicht alles haben. Das Buch muss reichen. Bringt es zu Ende.“ Er klopfte ihr aufmunternd auf die Schulter.
„Oh ja… unbegrenzte Möglichkeiten. Mir würde allein schon ein Ort an dem immer die Sonne scheint in den hintersten Tiefen meines Kleiderschrankes reichen. Saubere Luft, warme Strahlen auf der Haut… Ich würde mir irgendwo das azurblaue Meer einbauen lassen.“ Sie seufzte mit einem schwärmerischen Lächeln.
Dann wurde sie wieder ernst, deutete auf den Helm und den Rest der Rüstung. „Dir ist schon klar, dass ich dir helfen könnte, oder?“ Sie schob die Kristalle vorsichtig so, dass sich die Energie zu bündeln begann.
Nacheinander drapierte sie die Kristalle und das Leuchten intensivierte sich; begann brodelnd zu pulsieren wie eine Feuerstelle in die jemand nach und nach Öl goss. Jeremiah kratze sich über die verfilzten Haare. „Ah, kein dummer Gedanke, ich vergas eure Fertigkeiten im Formen. Wenn ihr so liebenswürdig wäret und mir dieses wunderschöne Gesicht ein wenig... verschmälern könntet?“ Einer seiner Finger deutete grinsend auf das was er wohl unweigerlich ‚schönes Gesicht‘ nannte. Gerrit würde zustimmen, der Rest nur verhalten schmunzeln. Um das Portal zusammenbrechen zu lassen, würde es wohl laut dem Jungen nur mehr genügen einen der Steine in den Mahlstrom zu halten. Jeremiah sah gebannt auf das Portal. „Ein Jammer. Vielleicht solltet ihr den Stein vorsichtig über den Boden hineingleiten lassen; wer weiß? Dieses Konstrukt scheint ja geradezu vor magischer Energie zu kochen und beinahe zu… explodieren.“ Mit einem schiefen Lächeln neigte er den Kopf leicht zu ihr. Vorsicht war die Mutter der Porzellankiste.
Alida drückte die Lippen fest aufeinander und trat mehrere Schritte zurück. Dann beugte sie sich ein wenig nach unten, nahm einen Kristall, der eine fast zylinderförmige Struktur hatte und rollte ihn langsam über den Boden zum Portal, bereit jeden Moment in Deckung zu springen.
Der Kristall rollte über den Boden und traf das Portal aber anstatt darin zu verschwinden oder auf der anderen Seite wiederaufzutauchen, verschmolz es regelrecht mit der wogenden Masse. Elektrische Blitze wie von einem Jahrhundertunwetter zuckten um die Tür und das Portal, die Kristalle glommen immer heller, immer kräftiger und durchdringender, dass es fast den Anschein machte, man könne an ihrem Licht erblinden. Jeremiah sagte nur ein Wort: „Scheiße…“, dann sprang er in voller Rüstung zur Seite als das Portal mitsamt Tür, Wand, Fußboden und Teilen des Bücherschranks in einer blendenden Wolke aus weißem Licht explodierte.

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Alida sprang zur Seite und rollte sich ab, als die massive eisenbeschlagene Tür mit der Dämonenfratze aus den Angeln gerissen wurde und quer durch den Raum flog. Es krachte ohrenbetäubend und überall prasselten Holz- und Steinsplitter auf sie herab. Den Abschluss machten kleine Papierfetzen zerstörter Bücher, die wie bei einer Parade den Konfettiregen bildeten. Als sie sich langsam und vor allem unverletzt wieder erhob, sah sie, dass es die Mauer mit der Tür buchstäblich zerrissen hatte. Es klaffte ein rauchender, leicht nach Schwefel riechender und rußgeschwärzter Krater dort, wo einmal die magische, als auch profane Konstruktion gewesen war. Ein paar Meter weiter erhob sich Jeremiah und klopfte sich ein paar Brocken Geröll von der Schulter. „Das hätte er uns aber auch früher sagen können, der liebe Junge. Alles in Ordnung bei dir?“
Auch Alida erhob sich langsam und klopfte sich Asche und Staub von den Kleidern. „Nun ja, wir hätten es uns ja auch denken können. Bei mir ist alles ok. Bist du in Ordnung?“ Sie trat näher an den Nosferatu heran und besah sich den lachenden Mann in der seltsamen Rüstungskombination und die Wunden. Auch hatte der Kampf mit dem alten Magus seinen Tribut gefordert. Sie rieb sich demonstrativ die Finger aneinander und grinste. „Was darf’s denn sein?“
„Ja, mir geht’s gut soweit, alles in Ordnung… noch“, fügte er breit grinsend hinzu. „Ich habe keine besonderen Wünsch und wir haben auch nicht besonders viel Zeit.“ Er suchte nach dem Ritterhelm; fand ihn aufgrund der explosiven Druckwelle aber erst ein paar Meter weiter. Ein paar Dellen verunzierten das glänzenden Metall aber an und für sich schien er noch voll funktionstüchtig zu sein. „Mein Kopf müsste nur da hineinpassen, alles andere ist unwichtig. Naja, die wichtigsten Sinnesorgane sollten wohl auch noch funktionieren. Blind und taub kämpft es sich nicht besonders gut. Ich bin überzeugt davon, dass dir da etwas äh… Fabelhaftes einfallen wird.“ Er sank vor ihr auf die Knie und hielt ihr demütig wie ein Knappe vor dem Ritterschlag sein groteskes Gesicht mit den langen Reihen schiefer Nadeln hin, die seine Zähne bildeten.
Alida kaute einen Moment auf ihrer Unterlippe. „Nun dann. Wollen wir hoffen, dass ich keinen gar zu großen Mist baue. Im Sinne deiner Gesundheit also…“ Sie fuhr mit den Fingern über die bleiche pergamentartige Haut und suchte nach den ursprünglichen Formen. Sie hatte das Gefühl, dass es immer einfacher war Fleisch dorthin zu verschieben wo es ursprünglich einst gesessen hatte, als an andere Stellen. In ihrem Kopf war noch immer das Gesicht des Mannes, den sie in dem dunklen sicheren Keller gesehen hatte und sie folgte dieser Erinnerung. Sie erdreistete sich, nicht nach der Veränderung des Kopfes aufzuhören sondern verschob Muskeln und Knochen des Oberkörpers. Es war mühsam, fast so etwas wie ein Kraftakt, aber wenn sie es schon konnte, dann sollte es Jeremiah wenigstens ein Mal nützlich sein und ihm zusätzlichen Schutz verleihen.
Es dauerte dennoch eine ganze Weile, bis Alida das gewünschte Ergebnis erzielte, vor allem da sie im Grund tatsächlich nicht sehr geübt in der Kunst des Formens war und ihre Kraft nur selten anwandte. Zudem dauerte das Formen von Jeremiahs Oberkörper eine zusätzliche Weile, die der Nosferatu aber mit wachsamen Interesse zu verfolgen schien und anstandslos über sich ergehen ließ.

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Schlussendlich hatte sie keine schlechte Arbeit geleistet und als die Finger des Mannes über die nunmehr weiche und faltenfreie Haut glitten, schenkte er ihr ein breites Grinsen. ‚Breit‘ im Maßstab eines gewöhnlichen Sterblichen. „Gar keine schlechte Sache dieses Formen von Fleisch. Bedauerlicherweise wird es zumeist eher für… andere Dinge gebraucht. Ich bin entzückt immer wieder feststellen zu müssen, dass alles wohl Vor- und Nachteile zu haben scheint.“ Es gab keinen Spiegel in dem er sich selbst hätte betrachten können aber allein den Konturen nach zu urteilen, erkannte er wohl worauf sie hingearbeitet hatte. Er nickte und setzte den Helm auf, der nunmehr wie angegossen zu passen schien. Stolz klappte er das Visier hoch. „Ah, gleich um einiges besser, vielen Dank. Bist du bereit dich durch die Gedärme dieses magischen Molochs weiter nach oben zu arbeiten? Ich bin sicher, wenn die Drachen diese Feste erst einmal erobert haben, wirst auch du in einen lang andauernden Lesegenuss kommen.“ Er zwinkerte ihr durch das Visier zu und bückte sich nach seinem Breitschwert, das er bei der Explosion verloren hatte. Jetzt sah er tatsächlich aus wie ein stählerner Ritter mit Umhängetasche und das Beste daran war: Es bereite ihm keinerlei Mühe sich darin zu bewegen.

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Alida konnte ein breites Grinsen nicht unterdrücken. „Jetzt hab‘ ich sogar noch einen Ritter an meiner Seite. Hat ja schon fast was von Ladidadida Märchengeschichte. Und wenn sie nicht gestorben sind… In Ordnung… den Teil haben wir schon hinter uns.“ Sie nickte. „Auch wenn ich mitunter ein Freund von guter Lektüre bin, wäre ich über alle Maßen erfreut aus dieser Tremerehöhle raus zu kommen. Für meinen Geschmack ist hier eindeutig zu viel Magie… Wirklich nach draußen wollen wir, glaub ich, auch nicht, aber ich muss wissen, dass es…“ Sie zögerte kurz. „… meinen Leuten gut geht.“ Von all den Leuten da draußen gab es eigentlich nur ein Gesicht, das ihr wirklich etwas bedeutete und das mulmige Gefühl wenn sie daran dachte, wie es ihm wohl jetzt ergehen musste, lastete wie ein schwerer Stein in ihrer Brust
Jeremiah nickte ernst. „Heldengeschichten sind voll mit Idealisten, aber das sind Friedhöfe auch. Ich denke wir beide sind längst in der Realität angekommen, zwischen Blutmagie, Krieg und Machtkonflikten. Macht ist schon ein sonderbares Gift. Die, welche keine haben gieren danach und verzehren sich nach ihr. Die welche sie besitzen wollen immer mehr und können nicht aufhören nach ihr zu suchen. Macht bringt uns keine Freiheit, Macht ist eine Fessel, aus der man sich kaum befreien kann…“ Er seufzte und machte sich auf in Richtung der Treppe. Leise rasselte die Rüstung an seinem Leib; würde aber nur bei heftigen Bewegungen wirklich auffallend werden, da der darunterliegende Stoff gut auspolsterte. Scheinbar hatte man ihm wirklich gefütterte, russische Winterkleidung gegeben.


Gemeinsam erklommen sie die breite, mit scharlachroten Teppichen ausgelegte Treppe, die mit unzähligen Fackeln ausgeleuchtet wurde.

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Oben angekommen, ging es weiter durch zahlreiche, teils hektisch verlassen und geplünderte, dann wieder seltsam anmutende Räume.

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Alida bestaunte die Pracht der Räume. „Hier kann sich der Voivode der Voivoden ja später mal eine kleine Winter- oder Sommerresidenz einrichten. Wobei der überladene Stil doch eher nach dem Geschmack seines geliebten Bruders ist, nicht wahr?“ Sie sah zu dem ihr bekannten und nun doch wieder ganz anders aussehenden Mann in Rüstung. „Jeremiah? Beantwortest du mir eine Frage? War das mit Velya und dir eigentlich was Persönliches oder hat er nur jemanden zum Üben gebraucht?“ Auch wenn die Formulierung des Themas seltsam lapidar gehalten war, war es deren Inhalt mitnichten.
Jeremiah ließ sich von der Inneneinrichtung des prunkvollen Prachtbaus nicht sonderlich beeindrucken. Natürlich würde er selbst sich auch gerne so ein Sommerhäuschen auf einer einsamen, zerklüfteten Bergspitze gönnen; dies aber wohl wie jeder andere nie offen zugeben. Immerhin hatten dies die verfluchten Bluthexer und Usurpatoren errichtet. Auf der anderen Seite, war dies hier wohl doch eher tatsächlich Andrejs Stil, der wohl dem erlesenen Geschmack des Aristokraten entsprochen hätte. Der Nosferatu passte wohl eher in ein bescheidenes Turmzimmer mit prasselndem Kamin und einer Horde schmutziger Kinder, die ihm kaputte Stoffpuppen in die Hand drückten. „Die werden das hier alles vernichten, soweit sie können. Wenn die Magie diesen Ort erst einmal verlassen hat, ist es nichts weiter als Stein und Mörtel. Und wenn es ihn Unsummen kostet die Katapulte hierherauf zu bewegen, er wird es tun. Alles andere wird nach gründlicher Inspektion und Prüfung auf Verwertbarkeit verbrannt. Rustovich ist kein Ästhet und Andrej steht in der Hierarchie unter ihm.“ Der gerüstete Mann blieb stehen und klappte verwundert das Visier hoch. „Velya?“, fragte er perplex. „Velya hat mich leider bei einer meiner Expeditionen entdeckt, die das Ziel hatten das Wesen der kainitischen Existenz zu erforschen. Als er mehr über mich herausfand, konnte er es gar nicht erwarten zu entdecken, inwiefern ich mich von anderen Sterblichen unterschied. Und er ließ sich genüsslich Zeit und Muße dafür, jeden Abend ein bisschen mehr. Aber ihm wurde bald langweilig, weil Sterbliche nun einmal Sterbliche sind und genauso schreien wie alle anderen, genauso bluten und genauso um Gnade betteln. Er erkannte schnell, dass ich ihm nichts sagen konnte, was ihm irgendwie geholfen hätte und verlor ein wenig das Interesse. Dann eines nachts, gab es einen Angriff auf die von ihm beanspruchte Stadt. Die Stadt in der er seinen Lieblingsfolterkeller eingerichtet hatte. Arnulf verlangte seine Domäne zurück, die ihm angeblich gehörte. Im Tumult konnte ich fliehen und wurde von einem seiner Anhänger zu dem gemacht, was ich nun bin. Das oder der Tod und so wählte ich wie jeder andere halb geisteskranke und wimmernde Narr den Fluch.“ Er sah sie eindringlich an. „Es ist also etwas höchst Persönliches. Willst du wissen warum?“ Eine kurze Pause entstand. „Das Buch das ich dir da unten mitgegeben habe. Schlag die erste Seite auf.“
Ihre Augen verengten sich skeptisch und fragend. Zögernd und mit langsamer Vorsicht zog sie das Buch aus der Innentasche ihres Kleides und tat wie er geheißen.
Mit schwungvollen Lettern, war dem Vorwort mit kundiger Feder und stilsicherem Schriftbild eine Ergänzung hinzugefügt worden. Da stand klar in Latein zu lesen. Eine Abschrift von Julius Gottlieb aus dem Original von Jeremiah Bernstein.“
Sie sah Jeremiah, der in diesem Moment annähernd so aussah wie er es zu Lebzeiten getan hatte, fragend an und zog eine Augenbraue in die Höhe.
Er nickte. „Ich war einst Schriftgelehrter, Philosoph, Lehrer und nicht zuletzt auch das, was man hinlänglich als Magier bezeichnet. Aber meine Neugier war mein Untergang. Jetzt bin ich nur noch Jeremiah, mehr nicht. Für den Rest der Welt bin ich tot und nur noch der lachende Mann. Und bevor du fragst: Nein, ich kann keine Magie mehr wirken. Der Kuss zerstört jede Verbindung zur unerschöpflichen Quelle des Astralen.“ Er grinste. „Oh, habe ich dich überrascht? Ja, die wenigsten wissen das oder interessieren sich dafür. Es tut auch nichts mehr zur Sache. Wenn ich diese Schriften studiert habe…“ Er klopfte gegen seine Tasche. „Und meine Rache an Velya vollendet habe, bin ich wahrlich der glücklichste Aussätzige von hier bis nach Flandern.“
Alida sog tief und langsam die Luft ein. Sie schwieg. Was sollte man auch auf eine solche Geschichte sagen das nicht aufgesetzt und falsch klang? Ihr Mund nahm einen bitteren, traurigen Zug an und sie versuchte sich zusammen zu reißen. „Ich werde das Buch lesen und ich bin mir sicher, es wird mich auf die ein oder andere Art weiterbringen.“ In ihrem Kopf schwirrten zig Sätze herum, die sie ihm gerne gesagt hätte; Sätze, die Anerkennung, Mitgefühl und Respekt ausgedrückt hätten, aber sie drückte die Lippen aufeinander und schwieg. Sie sah ihn an und hoffte, dass dieser Blick die Worte, die sie in diesem Moment nicht zustande brachte, ersetzte.
Jeremiah lachte kurz und klopfte ihr auf die Schulter. Allzu laut wollte er in diesen weitläufigen, hallenden Räumen nicht in Erheiterung ausbrechen, da man nie wissen konnte wer einen um die nächste Ecke noch erwarten würde. Er sah sie lächelnd an und schüttelte den Kopf. „Oh, kein Mitleid für den Nosferatu. Diese ganze Sache ist eine halbe Ewigkeit her, gewiss mehrere Menschenleben gar. Doch mein Hass brennt noch immer wie am ersten Tag und etwas Gutes hat die Ewigkeit ja dennoch: Man hat unglaublich viel Zeit um geduldig zu warten. Geduld ist wahrlich eine Tugend.“ Er klappte das Buch zu und drückte es Alida wieder in die Hand. „Ob es dir helfen wird, kann ich nicht sagen aber vielleicht wird es dir doch einmal nützlich sein. Es beruft sich auf sehr alte magische Prinzipien, die vermutlich längst überholt sind, dennoch habe ich in fünf Bänden das Wichtigste zusammengefasst. Das hier ist Band eins und ich habe wirklich keine Ahnung, wie die Tremere eine Abschrift davon ergattern konnten obgleich es mich ironischerweise ehrt.“ Erneut entstand eine kurze Pause, in der Jeremiah die Unholdin aufmunternd ansah. „Wunden tragen wir alle in uns und werden sie nicht los, allein der Umgang damit macht den Unterschied. Lass uns weitergehen.“

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