So 26. Jun 2016, 19:12
Das Nicken des Jungen kam langsam, bedächtig und zutiefst eingeschüchtert. Schwer schluckend und wie in Zeitlupe ließ er sich von ihr Richtung Schatten dirigieren; wäre beinahe fast gestolpert da er die Augen hin und wieder geschlossen hielt, als würde er sein unvermeidliches Ende erwarten. Da musste Alida gar keine besondere Gestik oder Mimik an den Tag legen; manchmal genügte auch einfach ein wenig Stahl das einem an die Kehle oder in diesem Fall an den Rücken gehalten wurde.
„Ich … ich… Meister Ignaz hat uns hierher geführt er…“, erneute schluckte Helmut schwer. „Er hat diesen… was immer die auch sein mögen, bei einigen Nachforschungen geholfen. Der Meister meinte, die wären… auch so etwas wie Magier und… naja… gehörten irgendwie zu einer Art… Seitenarm des Hauses aber…“ Ganz sachte, so als konnte jede Bewegung seine letzte sein, hob er die Schultern. „Aber ich habe Dinge gesehen und gehört die, dem Haus nicht gefallen würden. Ganz bestimmt nicht. Und ich habe ehrlich gesagt nicht vor noch länger hier zu bleiben. Er ist mein Meister deshalb folge ich ihm, wo soll ich sonst meine Ausbildung erhalten? Aber sterben… nein sterben will ich dafür nicht.“ Er schüttelte den Kopf und nickte dann in Richtung der Tür. „Der Meister wollte über das Tor fliehen; nur er kennt den Weg, ohne den Meister bin ich verloren. Wie soll ich hier verschwinden, wenn tatsächlich die tobenden Drachen mit einer Horde von Monstern hier unterwegs sind? Der Hinterausgang ist doch sicher auch schon umstellt?“
Alida merkte eindeutig, dass der Junge in einer sprichwörtlichen Zwickmühle festsaß. Sollte das was er da sagte stimmen, so könnte er ohne den Meister, der sich gerade mit Jeremiah duellierte nicht durch dieses ‚Tor‘ flüchten, was immer er damit meinte. Den Hinterausgang könnte er natürlich nehmen, durch den waren Alida und der Nosferatu ja auch hineingelangt. Allerdings hatte er keine warme Kleidung, kein Proviant und es wäre nur eine Frage der Zeit, bis ihn die Schergen Rustovichs finden würden. Stürbe sein Meister, würde er ebenfalls sterben, würde Alida ihn erstechen, war er auch tot. Selbst bei ihren verhältnismäßig gutmütigen und friedvollen Worten, sah es tatsächlich nicht besonders rosig für den jungen Helmut aus. Ob Alidas Familie ihn verschonen würde? Während sie sich in den Schatten verbarg, gab es plötzlich einen gewaltigen Knall als eines der schweren Bücherregale umgeworfen wurde und krachend auf die steinernen Fließen aufschlug. Der Aufprall reichte aus um den Untergrund zum Beben zu bringen und zerborstenen Verputz und Fließen durch die Luft fliegen zu lassen.
„Verdammt.“ Alida drängte es danach den Jungen alleine zu lassen und Jeremiah zu Hilfe zu eilen. Sie entledigte sich ihres Gürtels und versuchte die Hände des Jungen hinter seinem Rücken zu fesseln. „Wenn’s in meiner Macht steht, dann wird dir kein Haar gekrümmt, du kommst hier heil raus, kannst den Meistern deines Hauses Bericht erstatten und allein dafür werden sie dich wahrscheinlich fertig ausbilden. Sofern du dich uns nicht in den Weg stellst, werd‘ ich’s versuchen. Darauf hast du mein Wort. Aber ich muss meinem Freund dort drüben helfen sonst schmort ihn der Alte wahrscheinlich wie ein Spanferkel am Spieß und der Gute ist mir eigentlich recht teuer.“ Sie grinste und zog dann die Schnüre fester. „Ich muss leider gewährleisten, dass du mir in der Zwischenzeit kein Messer in den Rücken rammst oder fort läufst.“ Notgedrungen zwang sie den Jungen auf die Knie und Band, da sie kein weiteres Seil hatte seine Hände an die Fußknöchel.
Der Junge ließ sich ohne große Gegenwehr fesseln, obgleich ein einfacher Gürtel, wie sie ihn trug natürlich kaum als Ersatz für solide Seile oder Ketten reichte. In der Not musste man sich jedoch mit dem begnügen, was zu finden war. Sie verschnürte Helmut so gut sie es vermochte und stellte überraschend fest, dass es ihr leichter von der Hand ging als ursprünglich gedacht. Gutes flandrisches Leder vom Gerber; das hielt schon was aus. Der Knabe selbst schien unbewaffnet und eine weitere, knappe Überprüfung bestätigte diesen Verdacht. Der Junge konnte sich kaum mehr rühren und kippte wortlos auf die Seite. Was hätte er ihr in diesem Moment auch groß antworten sollen? Seine einzige Erwiderung bestand aus einem zaghaften und verzweifelten Nicken. Als sie sich von ihm entfernte, blieb er auch ganz ruhig und rief nicht um Hilfe; vermutlich hätte ihn hier unten sowieso niemand gehört. Niemand außer dem Meister und der war ja gerade beschäftigt. Hinter den aufgereihten Regalen war es seltsam ruhig geworden. Helmut unterdrückte ein klägliches Wimmern.
Alida flüsterte ein letztes Mal so etwas wie „Danke“ in die Richtung des Jungen. Dann schlich sie im Schatten der Bücherregale näher heran. So leise sie es vermochte zog sie Bogen und Pfeil hervor und legte an. Dann spähte sie um die Ecke.
Es regte sich nichts; blieb nach wie vor totenstill. Vorsichtig schlich sie mit aufgelegtem Pfeil durch die Regalreihen; dann hörte sie ein keuchendes Husten und schlurfendes Gehen als der Magus um die Ecke bog. Sichtlich gezeichnet von einige schweren Wunden, die ihm Jeremiah wohl beigebracht hatte, blutete er aus vielen kleineren und größeren Schnitten. Dennoch hielt er sich noch aufrecht so gut er konnte und ging mit zusammengebissenen Zähnen in Richtung der Bücher. „Helmut! Helmut wir müssen uns beeilen.“ Er stöhnte tief und angestrengt auf. „Nimm nur noch die wichtigsten Werke mit, den Rest werde ich dem Feuer überantworten, vielleicht sind noch mehr von seiner Sorte hier!“ Er machte ein paar schmerzverzerrte Schritte und spuckte aus. „Hörst du denn nicht Helmut?“
Fast panisch spähte Alida nach dem Nosferatu aus. Er musste irgendwo sein… Wenn ihn der Magus erwischt hatte, dann war Jeremiah sichtbar, da blieb ihm keine andere Möglichkeit.
Sie sah sich nach dem Nosferatu um, doch dieser schien nirgendswo auffindbar. Hatte der Magus ihm am Ende gar noch zu Asche verbrannt? Gerade vorhin hatte es noch nach verbranntem Holz gerochen. Ein wenig weiter erblickte sie das riesige, umgekippte Regal. Dass dicke Holz war gesprungen und an mehreren Stellen geborsten; der Boden geradewegs vom Aufprall gesprengt. Sie hatte Geschichten über die Macht der Magi gehört, die von skurril bis bedrohlich und allem dazwischen reichten aber allen war gemein, dass man ihnen unsagbare Macht zugestand. Meister Ignaz spuckte noch einmal aus und schien sich einen Augenblick lang zu konzentrieren, während seine Augen eine leicht bläuliche Färbung, fast wie Licht annahmen. „Helmut?“, rief er eindringlicher und eine Spur verunsicherter, da er wohl noch immer keine Antwort erhalten hatte. Sich auf seinen Stab stützend, blickte er in die Richtung von Alida und machte ein paar eilige Schritte nach vorne. „Ha! Ich dachte mir ja noch, dass ihr nicht alleine seid! Da ist ja noch einer von euch Mordbuben! Dein Freund hat mich ganz schön durch die Mangel genommen aber das Bücherregal war wohl doch eine Spur zu schwer für ihn! Jetzt werde ich euch Teufeln mal die Macht eines Meisters vorführen!“ Er hinkte weiter auf Alida zu, biss die Zähne zusammen und stützte sich auf den Stab; kam zwischen zwei Bücherregalen auf sie zu. Nach ungefähr einem Viertel der Länge, hob er den Stab wackelig an, der leuchtend zu pulsieren begann.
Alida würde nur ein einziges Mal zögern bevor sie ihn direkt angreifen würde. „Hört zu, Meister. Ich kenne eure Magie und ich bin nicht scharf darauf in dieser Nacht mit ihr Bekanntschaft zu machen. Ich will eure Vernichtung nicht. Packt euren Stab weg, flieht und rettet euer Leben. Bücherverbrennung mag ich leider nicht so recht unterstützen. Und dass ihr die wirklich wichtigen Wälzer wegschaffen wollt, darf ich leider auch nicht zulassen. Also: Tut mir vielleicht einfach den Gefallen, legt euren Stab weg und lasst das Kämpfen sein.“
Sie konzentrierte sich auf diesen einen Schuss, zog die Sehne zurück und schoss. Der Pfeil durchbohrte die Hand des Alten und mit einem Aufschrei ließ er den Stab fallen.
Der Schmerz zuckte immer noch durch seine Hand, sie hatte ohne Frage geradezu vorzüglich gezielt. Wutentbrannt spuckte der Magus vor ihr aus und schüttelte den Kopf, während er seine Schritte nur ob der Überraschung des treffsicheren Pfeils stoppte. Langsam breitete er die Arme aus, in deren Handflächen sich glühend rote Kugeln formten. Was er im Inbegriff war zu tun, hatte sie bereits schon bei dem einen oder anderen Tremere beobachten können: Es würde wohl bald noch etwas ‚hitziger‘ werden. „Pah! Was soll dieser Gnadenakt, Dienerin der Entropie? Ich weiß wessen Befehle du entgegen nimmst und warum du gekommen bist, treib kein falsches Spiel mit mir! Meine Bücher bekommst du nur über meine Leiche, ich werde jedes einzelne Geheimnis mit ins Grab nehmen! Ihr werdet nie die Siegel durchbrechen, nie auch nur eines der Schriftstücke lesen!“ Seine Hände hoben sich bedrohlich und wurden nach vorne in Richtung Alida gestreckt….
Da hörte sie eine laute Stimme, die nur so durch die Halle hallte. „Dann nimm es mit, dein Wissen. Bedauerlicherweise können wir dir hier drin kein Grab ausheben ‚Meister‘.“ Unverkennbar heiser und kratzend, handelte es sich ganz eindeutig um Jeremiah. Dann begann der schwere Bücherschrank, dem der Magus auf Alida entlang zugekommen war allmählich zu wanken und schlussendlich zu kippen. Es knarrte und ächzte, als der Nosferatu all seine Kräfte aufbot um das riesige Konstrukt auf den Magi umfallen zu lassen und darunter zu begraben. Der alte Meister riss die Augen weit auf und drehte sich augenblicklich um; lief so schnell er konnte an das Ende, von dem er gekommen war. Die roten Kugeln in seinen Handflächen erloschen, dafür zuckten nun Blitze um seine Fesseln, als er ein paar gepresste Worte murmelte die Alida nicht verstand. Seine Schritte wurden ein wenig schneller und so wie sich die Situation darstellte, würde er es vielleicht sogar noch schaffen. Dann zischte es lauter an ihr Ohr: „Schieß! Bring ihn zu Fall! Mach schon!“ Wer sie dazu bewegen wollte dem fliehenden Magus einen Pfeil hinterherzujagen, dürfte klar sein.
Alida legte den Pfeil auf und sandte ihn surrend über die Bogenschnur Richtung Ziel. Es zischte bösartig und dann hörte man eine lauten Aufschrei, als das spitze Metall sich in die Wade des Magus bohrte und ihn zu Fall brachte. Er knallte der Länge nach hin und stöhnte laut, als sich schon das Regal über ihn senkte. Meister Ignaz von Ceoris konnte gerade noch den Kopf heben als der Schatten sich über ihn legte und einen knappen, langgezogenen Schrei ausstoßen, dann krachte das Regal auf den sterblichen Leib und den gefliesten Boden. Zwischen herausfallenden Büchern, zersplitternden Bodenplatten und dem Brechen, Bersten und Reißen von Knochen und Gewebe, hörte man gar nichts mehr. Der Magus war auf der Stelle tot.
Eine gigantische Blutpfütze breitete sich langsam unter dem Regal aus und sickerte durch die Fugen über den Boden. Jeremiah stand hinter dem umgekippten Regal und hielt sich die rechte Seite an der mehr oder weniger sein gesamtes Rüstzeug und Kleidung fehlte. Sie war kohlrabenschwarz und schwielig; überzogen mit aufgeplatzten Brandblasen. Der Nosferatu spuckte aus und näherte sich Alida. „Er hat das Regal mit seinen komischen Zauberstrahlen durchschossen und mich getroffen; durch die Wuchte des Aufpralls kippte das Regal über mich aber…“ Er sah sie mit breitem Grinsen an. „Ich habe dagegen gedrückt und es langsam absinken lassen. Unser Freund hier hingegen…“ Seine spinnenartigen Hände glitten über die verbrannte Wunde und er schnüffelte daran. „Riecht nach geschmorrtem Wildbret… naja, heute Nacht nicht. Das hast du richtig gut gemacht, zwei sehr saubere Schüsse. Ich nehme an die Bücher sind sicher und der Junge kein Problem mehr?“
Alida kam auf den Nosferatu zu und blieb vor ihm stehen. Sie zögerte einen Moment, dann klopfte sie ihm erleichtert auf die Schulter. „Puh, ich dachte schon, dich hätt’s erwischt. Der Magus hat wirklich was drauf gehabt. Und das alles nur für ein paar Bücher…“ Sie seufzte kurz, sah dann in die Richtung in der sie Helmut zurück gelassen hatte. „Ich hab die Bücher nicht angerührt und Helmut ist derzeit kein Problem. Hoff‘ ich zumindest mal“ Sie ging zügigen Schrittes zurück und hob den Stab des Magus auf, der in einiger Entfernung einsam auf dem Fußboden lag.
Die dürre, hochgewachsene Gestalt des Nosferatu zuckte etwas zusammen als Alida ihm auf die Schulter klopfte. „Vorsicht bitte, immerhin wurde ich beinahe gegrillt.“ Seine Mundwinkel wanderten ein weiteres Stück nach oben. „Und ich nehme an, dass er tatsächlich sterblich war und sich noch nicht allzu viel mit Clans und Familienbanden beschäftigt hat, sonst hätte er nach dem Bücherregal sicher hinterhergesetzt. Sein Unwissen war mein Glück, aber zu viel Wissen kann manchmal auch…“ Er sah zu der Blutlache, die sich dunkel auf den steinernen Fliesen sammelte. „… erdrückend sein.“ Er kommentierte das Aufheben des Stabes nicht weiter, sondern folgte ihr zu Helmut, der da immer noch am Boden lag und die Augen geschlossen hielt. Offenbar murmelte er stille Gebete an den Herren. Als er die Augen kurz wieder öffnete um nachzusehen, wer sich ihm da näherte, erblickte er neben Alida noch Jeremiah und schloss die Augen blitzartig. „Lieber, Herr Jesus…“, begann er zitternd.
Alida zögerte nicht lange und löste die improvisierten Fesseln. „Auch wenn er nicht gerade der bestaussehenste Mann in ganz Ceoris sein mag, ich bin unglaublich froh ihn dabei zu haben und möchte ihn nicht gegen jemanden mit schmälerem Mund oder dickeren Fingern eintauschen. Und falls es dich ein wenig beruhigt: Er hat sich sein Äußeres leider nicht ausgesucht.“ Sie sah zu dem Nosferatu, versuchte in seinem Gesicht zu lesen, bevor sie weiter sprach. „Er ist, so schätz ich mal, in den meisten Stunden auch nicht so erbaut über das hübsche Gesicht, aber mit der Zeit gewöhnt man sich wohl an alles, nicht wahr?“ Sie streckte dem jungen Mann ihre behandschuhte Hand hin und bot ihm die Möglichkeit ihm aufzuhelfen. Dann hielt sie ihm den Stab hin. „Vielleicht kannst du damit ja etwas anfangen, aber tu mir doch den Gefallen und röste uns nicht gleich, ja?“ Sie grinste, war sie doch reichlich überzeugt, dass Helmut derzeit die nötigen Fähigkeiten dazu fehlten. „Das mit deinem Meister tut mir leid, aber er ließ uns nicht viele Möglichkeiten. Wenn du uns hilfst, dann werde ich das, was in meiner Macht steht tun um dich hier raus zu holen.“
Helmut hielt sich zunächst die Hände über den Kopf als erwarte er gleich geschlagen oder ermordet zu werden, dann aber umspielte Verblüffung seine Züge als sie ihm ihre Hand hinstreckte. Eine schwierige Situation, hatten die beiden doch soeben höchst bestialisch seinen Meister unter ein paar hundert Kilo schwerem Holz beerdigt und waren offenkundig Diener des ‚Feindes‘, dennoch wollte die blonde Frau ihn beruhigen und nach Möglichkeit retten. Seine ungläubigen Augen wanderten von Alida zu Jeremiah und wieder zurück, bevor er anscheinend all seine Kräfte aufbot und heftig schluckend nickte. In den Zügen des Nosferatu fand sich misstrauische Ruhe, die sich vor allem darin bemerkbar machte, dass er weder das Überreichen des Stabes noch Alidas Intention den Knaben gar zu retten kommentierte. Dafür erntete sie lediglich einen halb fragenden, halb tadelnden Blick. Noch ließ er sie machen ohne sich einzumischen; fing stattdessen an das Tor genauer in Augenschein zu nehmen. Helmut ließ sich von Alida aufhelfen und umfasste etwas verloren wirkend den schweren Stab seines Meisters. „Wa... Was... muss ich tun Herrin?“, fragte er zaghaft und zuckte ein wenig als Jeremiah mit den spinnengleichen Fingern die Oberfläche der Tür befühlte und seine schiefen Hauer zu einem besonders breiten Lächeln verzog. Der Anblick musste für Sterbliche wahrlich abartig sein.
„Zunächst mal damit aufhören, mich Herrin zu nennen. Mein Freund hier sucht ein besonderes Buch. Magnum opus sanguinis. Ich habe zwei Intentionen. Zum einen hat man mich gebeten nach einem Schlüssel Ausschau zu halten, der ‚Leviathanschlüssel‘ genannt wird. Zum anderen, und ich weiß, das wird dir wenig gefallen, bin ich hier um denjenigen auf dessen Seite ich kämpfe die Tore zu öffnen. Desto eher das Tor geöffnet ist, desto rascher ist das Schlachten vorbei.“ Sie blickte den Jungen an. „Gibt es außer diesen Büchern für dich noch etwas, das du hier rausbekommen wolltest? Gibt es für dich noch einen anderen Fluchtweg, den du vielleicht nutzen kannst?“
Der Junge sah zu Jeremiah, der noch immer die Tür in Augenschein nahm, konzentrierte sich dann aber wieder auf Alida und schüttelte den Kopf. „Ich weiß nicht… mein Meister wollte über das Tor mit uns fliehen, damit wären wir in Sicherheit gewesen und niemand hätte uns folgen können. Die Bücher hätten wir mitgenommen...“ Seine Schultern hoben sich. „Mehr wollte mein Meister hier auch nicht mehr bewerkstelligen, es war ihm klar, dass die Unholde bald hier über uns hereinbrechen würden. Und Fluchtwege gibt es viele, aber ich kenne nur wenige und selbst die, welche ich beschreiten kann…“ Er schluckte erneut schwer. „Wie soll ich… ich meine... draußen ist es doch kalt und ich kann nicht gut mit dem Schwert umgehen. Pferd habe ich auch keines und es ist ein langer Marsch bis nach Köln.“ Zitternd griff er unter sein Hemd und zog einen kleinen, silbernen Gegenstand hervor, der an einer Lederkette hing.
„Das ist der einzige Schlüssel, von dem ich weiß. Mein Meister hat ihn mir gegeben. Ich sollte ihn gut verwahren, denn unser Haus... also nicht unser Haus aber das Haus hier... also Ceoris hier...“ Er stotterte etwas; musste nach den richtigen Worten suchen. „Also die hier würden zu sorglos damit umgehen, hätten es fast schon zurückgelassen. Er meinte, das könne er nicht verantworten; es müsse in sichere Hände übergeben werden.“
„Was die Siegel betrifft, von denen ihr gewiss sprecht. Es sind keine verschlossenen Türen für sich genommen, sondern eher reinste Magie, die diese Räumlichkeiten tief unter der Festung für alle Uneingeweihten unpassierbar macht. Es biegt und dehnt, täuscht und trickst die Realität aus.“ Helmut stockte für einen Moment in seinen Ausführungen, als er merkte wie Jeremiah ihm interessiert zuhörte. „Und wenn ihr… also wenn ihr ... die Hindernisse der Festung ausschalten wollt, dann müsst ihr eben genannte Siegel brechen. Dazu braucht ihr die Manakristalle aus den Höhlen.“ Er deutete auf die Tragetasche am Boden, aus denen er zuvor Meister Ignaz die Kristalle gereicht hatte.
„Es gibt 7 Siegel auf 7 Säulen in den oberen Räumen; brecht sie und der Bann fällt.“ Er schluckte erneut und flüsterte zu Alida: „Es macht mir Angst“ – und meinte damit wohl Jeremiah. Dieser lachte nur. „Es hat einen Namen aber der tut nichts zur Sache. Komm her, Junge. Du auch, Alida. Bevor ich da reingehe, wird mir der Junge noch einiges erklären müssen.“
Alida trat ohne zu zögern näher. Mit einem schiefen Lächeln zog sie eine Augenbraue in die Höhe. „Nun ja, du könntest es ihm etwas einfacher machen, oder? Er ist dein hübsches Gesicht ja noch nicht so gewohnt wie ich…“ Sie zuckte mit den Schultern, als wäre es ihr im Grunde ihres Herzens gleichgültig. Dann schob sie Helmut ein Stück nach vorne. „Keine Angst. Er wird dich schon nicht fressen.“ Sie griff nach der Tasche mit den Steinen und streckte die Hand nach dem seltsamen Schlüssel aus. „Hat dein Meister noch was dazu gesagt? Ich traf in den tiefsten Tiefen von Ceoris ein eingekerkertes Wesen, das dort unten verhungern wird. Es hat sich selbst nicht viele Chancen ausgerechnet dort unten wieder lebend raus zu kommen, mich aber gebeten, die Magie dieses Schlüssels, die ihn dort unten bindet, zu beenden.“ Fragend sah sie zu dem Jungen.
Jeremiah hob tadelnd den ewig langen Zeigefinger. „Ich bitte dich, wenn dieser traurige Haufen menschlichen Fleisches tatsächlich so etwas wie die Magierwürde anstrebt, dann sollte er sich an Abscheulichkeiten, Kuriositäten und Merkwürdigkeiten schön langsam gewöhnen.“ Die beiden kamen näher an die geöffnete Tür heran; Helmut voran, Alida, die ihn über die Schulter in die richtige Richtung dirigierte, hinterher. Die Tragetasche mit den Kristallen war nicht besonders schwer, denn auch wenn die Kristalle nach wie vor eisig blau glühten, schienen sie nicht besonders schwer zu sein. Tatsächlich mochten noch gute zehn Kristalle in der Tasche sein, die allesamt gemeinsam nicht mehr wiegen mochten als ein kleiner, mit Wasser gefüllter Eimer. Das war insofern erstaunlich, da pures Gestein um einiges mehr wiegen sollte. Sollte – aber was war in Ceoris schon gewöhnlich? Der Schlüssel verschwand in einer ihrer Taschen und war bei näherer Begutachtung, nicht mehr als ein einfaches Stück geschmiedetes Silber. Schön aber auf keine Art und Weise ‚besonders‘ oder ‚herausragend‘; dem magisch Neugierigen, käme er bisweilen sogar nun… einfach profan langweilig vor. Der Junge schüttelte den Kopf auf Alidas Frage. „Nein, darüber hat er mir nichts gesagt. Er hat, wie gesagt, nur gemeint, dass der Schlüssel nicht in die falschen Hände geraten darf und es unverantwortlich wäre ihn zurückzulassen. Mehr war da nicht.“ Er drehte seinen Kopf fast ein wenig beschämt in Richtung der Tür und sah, dass was Jeremiah schon eine ganze Zeit lang gesehen haben musste. Dort wo man eigentlich durch die Tür gehen hätte sollen, war nur ein schwarzes Nichts, das von sich abwechselnden, kreisenden und sich drehenden Wogen umgeben war. Wie ein Vorhang aus in der Luft schwirrender, verlaufender Farbe.
Helmut nickte knapp. „Das Tor... durch das wollten wir fliehen. Dahinter sind auch die Bücher, die wir gerettet haben. Ein Großteil wurde schon abgeholt, den Rest wird man wohl auch noch holen. Es führt einen… an verschiedene Ort und überbrückt dabei Zeit und Raum. Meister Ignaz sagte immer, Zeit und Raum sind bedeutungslos für den wahren Könner. Ein Magus kann hunderte von Meilen in der Zeit zurücklegen, die wir von hier zur diesem Bücherregal benötigen.“ Der Junge lächelte. Durchaus mit einem leichten Anflug von Stolz. Jeremiah sah zu Alida und wirkte nicht besonders glücklich. „Deine Meinung dazu?“, fragte er salopp.
Alida blickte zu Helmut. „Was geschieht denn, wenn man einfach durch dieses dunkle etwas durch geht? Kannst du damit nicht fliehen? Das wäre doch dein Portal…“
Helmut lächelte verlegen. „Nicht direkt, der Meister hat eine Sphärenmatrix mit anderen Kollegen erschaffen. Ich kenne den Weg nicht und kann die ... hm… Ein- und Ausgänge nicht öffnen, das konnte nur mein Meister. Geht hinein und seht es euch an, dann versteht ihr was ich meine. Die magischen Prinzipien von räumlichen Distanzen ist schwierig zu meistern.“
Alida schluckte und sah Jeremiah skeptisch an. Dann fiel ihr Blick wieder auf Helmut. „Wenn wir da rein gehen sollen, kommst du mit, das ist dir klar, oder?“
Der Junge hob die Schultern als hätte er gar kein Problem damit, schließlich war er ja zuvor wie Alida und Jeremiah bemerkt hatte, hurtig zwischen Handkarren und Portal hin- und hergeeilt um die kostbaren Bücher zu retten. „Ähm.. das ist nicht weiter schwer oder gefährlich. Dieser Torweg ist in beide Richtungen offen und wir landen auf einem Knotenpunkt.“ Jeremiah überdrehte die kränklichen Augen und ließ die dünnen Lippen sinken. Nein, das gefiel im trotzdem überhaupt nicht. „Na schön, Helmut, ich gehe vor und du bleibst hier mit meiner bezaubernden Reisebegleitung. Wenn ich nicht... wiederkomme hast du ein echtes Problem, Junge.“ Damit sah er zunächst bekräftigend nickend Alida an, dann noch einmal prüfend den Jungen, der zu seiner Überraschung seinem Blick stand hielt. Ganz so, als würde er ja schon durchaus vor dem Antlitz des hässlichen Nosferatu angewidert zurückschrecken aber lügen, nein lügen würde er nicht. Mit einem Seufzen betrat die hohe Gestalt Jeremiahs, die bei all den Verbrennungen noch immer die lächerliche Mütze trug das Portal und verschwand darin als ob jemand durch einen Wasserfall in eine dahinterliegende, verborgende Höhle treten würde. Es dauerte fast eine ganze Minute, in der Helmut von einem Bein aufs andere trat, dann erschien der Körper ihres Begleiters wieder zur Hälfte aus dem Portal und machte große Augen. „Das musst du sehen…“, meinte er völlig perplex; verschwand darauf wieder in dem magischen Durchgang. Helmut lächelte als ob er bei irgendetwas recht gehabt hätte.
Alida zögerte, hatte nach wie vor ein mulmiges Gefühl, machte jedoch eine einladende Geste in Richtung Portal. „Bitte schön; Nach Ihnen, Helmut.“ Sie wartete bis er hindurch getreten war, dann folgte sie.
Der Junge schritt ohne zu Zögern voran und als Alida an der Reihe war, so war es ihr als ob sie lediglich von einem Raum in den anderen gehen würde. Lediglich als ihre Augen das Nichts des Portalkreises berührten, war es kurzzeitig schwarz. Was sie dann zu sehen bekommen würde, würde sie so schnell sicher nicht wieder vergessen.
Alida schüttelte ungläubig den Kopf, sah dann zu Helmut. „Respekt. Das hat was. Könntest du sowas nicht irgendwann in meinen Kleiderschrank einbauen? Wow…“ Sie hielt nach Jeremiah Ausschau.
Alida befand sich auf einer kleinen schwebenden Insel mit grünem, saftig glühendem Gras, das wie Irrlichter schimmerte. Die Insel war nur eine von vielen, die in einem lila-blauem Meer aus Nichts schwebten und sanft dahinglitten. Ab und an zog dunstiger Nebel vorbei oder ein sonnenartiges Licht brach sich in ihrem Auge ohne es dabei zu verletzten, aber ansonsten war es so still, das man hätte annehmen können man wäre tatsächlich tot. Kleine schwebende Steinstufen verbanden eine Insel mit der nächsten und davon gab es wirklich einige. Jeremiah fand sie vor einem Bücherhaufen aus wahllose abgelegten Büchern; wohl die große Ausbeute, die hier abgelegt worden war um sie später weiter zu transportieren. Jetzt wurde Alida klar wie mächtig Magie werden konnte und wie man es geschafft hatte so viele Bücher noch unter einer handfesten Belagerung der Unholde außer Landes bzw. außer Reichweite des Feindes zu schaffen. Der Nosferatu griff eilig nach den Büchern, blätterte kurz darin, las ein wenig und warf es achtlos zur Seite wenn es nicht das war, wonach es ihn verlangte. Helmut grinste verschämt und sah zu Alida. „Der Kleiderschrank meines Meisters hatte diese Ausmaße, er hatte ihn in einer kleinen Schachtel bei sich, die nicht größer war als eure Handfläche. Raum ist bedeutungslos.“ Jeremiah pausierte eine halbe Sekunde um zu dem Jungen zu sehen. „In der Tat, Junge, in der Tat. Ich bin beeindruckt. Aber jetzt darfst du mir suchen helfen... ich suche ein Werk über den Fluch Kains. Blutmagie, Rituale, Leben und Tod, Untote. So etwas in der Richtung. Mach dich nützlich.“ Helmut war zu perplex um etwas erwidern zu können, eilte nur zu dem Bücherhaufen und griff sich das nächste Buch. „I... Ich... darf die normalerweise nicht lesen hat Meister Ignaz...“ Jeremiah unterbrach ihn. „Du kannst lesen und suchen, oder? Und dein Meister ist platt wie diese Buchseiten. Tu mir einen Gefallen und hinterfrag nicht alles.“ Helmut sah kurz zu Alida und suchte dann weiter. Wie hätte er einem solchen Monster mit einem so großen Maul auch wiedersprechen können?
Die blonde Händlerin musterte die Umgebung mit großen Augen. Wer würde noch in die Dunkelheit der ewigen Nacht zurückkehren wollen, wenn er so etwas sein eigen, sein ‚Zuhause‘ nennen konnte? Sie ging zu dem Jungen und durchstöberte mit ihm gemeinsam den Haufen. Ihre Augen gingen in seine Richtung. „…und wenn wir hinter uns das Portal zerstören würden? Niemand könnte dir dann noch folgen, du wärest in Sicherheit und die anderen Magier würden dich irgendwann hier abholen, oder?“ Sie hob den Blick.
Helmut kramte weiter in den Büchern und duckte sich kurz als Jeremiah unachtsam eines an ihm vorbeifliegen ließ. Offenbar wieder nicht das wonach er suchte. „Theoretisch wäre das möglich… denke ich. Der Meister hat nur nie gesagt, wer die Bücher in Empfang nimmt und wann, ihr müsst wissen, dass Zauberer sehr… verschwiegen und geheimnistuerisch sind.“ Er kratze sich am Kopf. „Das könnte wohl funktionieren… wenn jemand kommt… wenn nicht dann…“ Ja, wenn nicht, dann würde er hier in einer Sphäre sitzen bleiben und allmählich zugrunde gehen. Der Meister hätte wohl ganz egal ob noch jemand kommen würde oder nicht, einen Ausgang gewusst und sie beide hinausgebracht. Helmut stand diese Möglichkeit alleine natürlich nicht offen. Zumindest standen seine Chancen, so merkwürdig sich das anhören wollte, damit um einiges besser als alleine im Krieg durch die Truppen Rustovichs, über die Karpaten zurück nach Köln zu gelangen. Ohne Verpflegung und Pferd. „Ich denke ihr bringt das Portal zum Einsturz, indem ihr es überladet. Es wird durch Kristalle gespeist, die außen in den Vertiefungen der Tür stecken. Die Anordnung sagt auch etwas über die Art des Portals und die Distanz und viele andere Dinge aus aber… nun... das wusste nur der Meister. Nehmt einen Kristall aus dem Beutel und haltet ihn in das Portal. Die Energiekopplung funktioniert als Einspeisung und wenn der Kristall...“ Er sah Alida etwas verschämt an. „Äh… ich glaube es reicht zu wissen, dass ihr den Eingang damit verschließt.“
Jeremiah sprang auf und lachte laut auf, als ob er gerade von Kain persönlich zu seinem Avatar auf Erden ernannt worden wäre. „Nach all dem Schmerz und all den Jahrhunderten! All die Mühen und die ganze Plackerei, alle Niederlagen und Schmähungen. Endlich ist es mein!“ Er hielt ein überdimensional dickes Buch in Händen. Man hätte jemanden damit allein auf Grund des soliden Einbands erschlagen können. Der Einband war eine merkwürdige Mischung aus Leder und Stoff aber kein Titel war darauf zu lesen. Erst auf der ersten Seite hatte jemand in feinstem Latein eine Nennung in Erwägung gezogen. Jeremiah hielt es triumphierend in die Luft. „Wisst ihr zwei Hübschen überhaupt, was das hier ist? Was es bedeutet?“