Mi 7. Dez 2022, 00:06
Apollonia nickte. Sie hängte sich den silbernen Anhänger wieder um den Hals und ließ ihn unter dem Pullover verschwinden. Sie sah unschlüssig zu der anderen silbernen Kette und zuckte schließlich mit den Schultern. „Ich denke, die lassen wir wohl derweil bei dir. Pass gut darauf auf! Wir treffen uns in zwanzig Minuten, in Ordnung?“
Hector griff nach kurzem Zögern nach dem Schlüssel. Das Kleinod aus Silber fühlte sich noch nicht so an, als würde es wirklich mit ihm in Verbindung stehen, aber als Bewahrer für diesen kuriosen Gegenstand konnte sich Hector sehen. „Zwanzig Minuten, abgemacht.“ Er nickte und verließ Apollonias Wohnung und nahm beschwingt zwei Stufen auf einmal zurück in seine Wohnung. Ohne sonderliche Ordnung warf er ein paar Sachen in eine schwarze Sporttasche. Wechselkleidung, Toilettenartikel, ein Handtuch, sowie seinen Geldbeutel inklusive Ausweis. In einer extra Tasche verstaute er noch einen Flachmann, eine Schachtel Zigaretten samt Feuerzeug, zwei Ladebanken und einen mobilen Lautsprecher, alles Dinge, die ihm im Zweifel dabei helfen konnten, seine Magie zu wirken. Hector war zufrieden und auf dem Weg nach unten schrieb er sowohl Vaclav als auch Clea, um sie darum zu bitten, sich morgen des Clubs anzunehmen, wenn er unterwegs sein würde. Hector trat in die Nachmittagssonne und ging sein Auto holen.
Apollonia war tatsächlich nach ungefähr 20 Minuten am Auto. Sie hatte es Hector anscheinend gleich getan und nur ein paar Sachen in ihre Reisetasche geworfen. Sie warf alles auf den Rücksitz und nahm auf dem Beifahrersitz Platz. „Ich bin froh, dass du ein Auto hast und fahren kannst. Ich sollte vielleicht auch mal den Führerschein machen. Bisher hab‘ ich das nur nicht oft gebraucht. Entweder ich hab in einer größeren Stadt gelebt oder es gab tatsächlich irgendwo einen Chauffeur eines wichtigen Familienmitglieds, der sich erbarmt hat.
Die Reise verlief ohne größere Vorkommnisse nachdem sie Prag verlassen hatten. Es war heiß und sonnig, die Natur stand in vollster Blüte und die Luft war voller intensiver Gerüche nach blühenden Wiesen, frischem Wald und in der Sonne funkelnden Seen. Sie unterhielten sich über Belangloses und Privates, Hector erwähnte, dass er plante sein Abitur in nächster Zeit nachzumachen, Apollonia von ihrer strengen Schulzeit auf einem Mädcheninternat und dem anschließenden Studium in Wien, das ihr wie eine Befreiung vorgekommen war.
Die Umgebung, in die sie schließlich fuhren wurde immer bergiger und ländlicher. Kleine Städte wurden abgewechselt von winzigen Dörfern, die schließlich nur noch einsamen Gehöften Platz machten. Schließlich fuhren sie in einen dichten Wald ein, bei dem nur die Forstwege ein Hinweis dafür sein mochten, dass sie nach wie vor in einem zivilisierten Land waren. Schließlich mussten sie das Auto stehen lassen und die letzten drei Kilometer zu Fuß gehen.
Das Licht des Nachmittags begann langsam seine Farbe von hellem weiß zu goldenem Abendglühen zu verändern, als sie schließlich, nach einem langen Aufstieg die alten Mauern erreichten.
Hector empfand die Fahrt als sehr angenehm. Apollonia war eine unaufdringliche und doch nützliche Beifahrerin und so verging die Fahrtzeit wie im Flug. Beide tauschten sich über die verschiedensten Dinge aus und Hector fiel einmal mehr auf, wie unterschiedlich die beiden doch aufgewachsen waren und musste unweigerlich ein wenig schmunzeln, als Apollonia den Chauffeur erwähnte. Nachdem die beiden schließlich ihr Ziel erreicht und die letzten Meter zu Fuß zurückgelegt hatten, schaute Hector gespannt auf die alte Ruine und nahm sich einen Moment Zeit, die schöne Aussicht zu genießen. „Also hast du noch irgendwelche Insiderinformationen? Zum Beispiel das geheime Zimmer voller Schlüssellöcher, von welchem man im Reiseführer nichts liest, was sich aber gleich hinter dem alten Kamin befindet?“ Hector schien zwar durchaus angespannt, hatte aber offenbar dennoch gute Laune.
Apollonia war im ersten Moment aufgrund der Anspannung, die man ihr ansah, etwas verwundert über Hectors Humor, sie fing sich jedoch schnell wieder und schmunzelte. „Absolut nicht. Und Mattai hat leider auch vergessen mir eine von ihm selbst bearbeitete magischen Wünschelrute einzupacken, die Geheimnisse detektiert. Leider, leider…“ Sie durchschritt die großen Säulen, die wohl ursprünglich mal das Eingangstor und eine Zugbrücke beinhaltet hatten, und ließ ihre Finger über die Steine gleiten. Sie schüttelte den Kopf. „Keine Magie hier…“ Ich weiß nicht viel über Kriechstein. Es gehörte theoretisch der Familie, wird wahrscheinlich aber jetzt vom tschechischen Staat gehalten und verwaltet. Vor ein paar Hundert Jahren war die Festung noch viel genutzt, da ein Handelsweg von Budweis nach Linz und Wien direkt durch das Tal dort unten lief.“ Sie ließ ihren Blick in die Tiefen wandern. „Wahrscheinlich war damals alles etwas belebter…“
„Schade, schade. Sobald wir zurück sind, sollten wir uns auf jeden Fall bei Matej beschweren. Er macht dieses ganze Unterfangen so viel komplizierter.“ Hector folgte Apollonia und betrachtete die alte Ruine, während er der Erklärung lauschte. „Wir sollten uns einmal etwas genauer umschauen. Wenn diese Burg so belebt war, wird deine Familie ihre Geheimnisse nicht gleich für jeden offensichtlich am Eingang präsentiert haben. Falls wir hier wirklich Anhaltspunkte für etwas Magisches finden können, dann wahrscheinlich eher im Verborgenen.“
Apollonia gab ihm recht. „Ich suche links, du rechts, in Ordnung?“ Sie begann sich die Steine genau anzuschauen, sprang auf alte Wälle und spähte in dunklere Löcher. Hector konnte sie aus einigen Metern Entfernung hören. „Wie sieht es bei dir aus? Hat Bram damals noch irgendetwas zu dieser Burg gesagt oder gemalt, das uns einen Hinweis geben könnte?“ Sie inspizierte eine Inschrift.
„Nicht, dass ich wüsste. Es war eine Außenansicht, wenn ich mich richtig erinnere und es muss aus einer Zeit gestammt haben, in der es noch sehr viel mehr von dieser Burg gab, da es noch mehr Gebäude und Türme gab.“ Auch Hector begann, sich umzuschauen.
Der Ekstatiker durchwanderte die grasüberwucherten Mauern, die einst Stallungen, die Burgküche, Speisesaal und Schlafkammern gewesen sein mochten. Nichts machte den Eindruck als wäre es ungewöhnlich oder würde nicht dorthin gehören. Die beiden jungen Magier wanderten sicher eine Stunde umher ohne dass einer von beiden eine Entdeckung machte. Dann bemerkte Hector jedoch etwas. Nachdem er zig Mal die Strecke vom Eingangsportal zum Berghang gegangen war, spürte er, dass ein Fehler in seiner Umgebung war. Er konnte ihn kaum ausmachen, doch dann schließlich wurde er greifbarer: Die Zeit, die er für das Zurücklegen des Weges benötigte erschien ihm zu lang.
Hectors vorherige gute Laune wich langsam Sorge und schließlich leichtem Frust, als er und auch Apollonia nichts finden konnten, was sie in irgendeiner Weise weitergebracht hätte. Waren sie am Ende doch in einer Sackgasse gelandet? Hatte dieser Ort vielleicht doch nichts mit all dem zu tun? Oder waren die Spuren von dem Lauf der Zeit weggewaschen worden? Er kannte den Grund der Burg beinahe auswendig, bis ihn ein bekanntes Gefühl des Übernatürlichen überraschte. Konnte das sein? Ja, es bestand trotz seiner anfänglichen Skepsis kein Zweifel, der Weg zwischen Abhang und Eingang…er war - so blöd das klang - einfach zu lang.“ Hector schaute sich nach seiner Begleiterin um. „Apollonia komm mal her. Ich glaube, ich habe etwas gefunden.“
Sie brauchte keine Minute um an seiner Seite zu sein. „Außer Steinen und Gras habe ich nichts gefunden. Nun ja, das wäre keine schlechte Stelle für eine Ausgrabung, aber von Burgen und Mittelalter gibt es in den tschechischen Museen schon reichlich…“ Hoffnungsvoll sah sie zu ihm.
Hector versuchte sich so gut es ging an das von Bram gemalte Bild zu erinnern. Dort war ein Fenster, welches mit einem Leuchten besonders hervorgehoben wurde, vielleicht… „Wenn mich nicht alles täuscht, dann gibt es hier eine Art Verzerrung im Raum, oder auch in der Zeit, da bin ich mir noch nicht ganz sicher.“ Er zeigte auf den Weg zwischen Eingang und Abhang. „In dem Bild von Bram hat er einen Raum, ein Fenster besonders hervorgehoben, wenn mich nicht alles täuscht.“ Hector ging in die Richtung, in welcher er diesen Teil des Gebäudes vermutete. „Wenn ich nicht völlig falsch liege, dann könnte es hier sein.“ Er schaute sich um und versuchte mittels der Sphären der Zeit und Korrespondenz irgendwelche Auffälligkeit im Gewebe der Realität wahrzunehmen.
Hector konnte nichts spüren. Er fand den Bereich, den Bram besonders hervorgehoben hatte, mühelos, doch war nichts von Magie hier zu bemerken. Apollonia war an seine Seite getreten. „Das hier ist es?“, fragte sie. „Ich spüre nichts.“
„Hmm, ich auch nicht, aber irgendwas ist hier.“ Ein weiterer Gedanke kam Hector und er holte den Schlüssel aus der Tasche, vielleicht reagierte dieser in irgendeiner Art und Weise auf diesen Ort und riet der Hermetikerin das Gleiche zu tun. „Apollonia schau mal, ob dein Schlüssel sich hier irgendwie zu Hause fühlt, immerhin ist dieses Bild darauf verewigt.“
Hector konnte spüren wie der Schlüssel, den er hervorzog, die Wand berührte und mühelos, wie durch einen Schleier, hindurchglitt. Der kleine silberne Schlüssel war Tür und Tor zugleich.
Hector holte kurz Luft, nickte Apollonia zu und versuchte selbst, mit dem Schlüssel in der Hand durch die Wand zu treten. Das Schicksal belohnt die Mutigen, oder zumindest hoffte Hector, dass er sich nicht falsch an diesen Spruch erinnerte.
Der Ekstatiker konnte ohne jeden Widerstand durch die Wand hindurchschreiten. Der Raum dahinter war dämmrig und durch ein kleines eingestürztes Fenster fielen die letzten Sonnenstrahlen des Abends hinein. Es war stickig und staubig hier. Leif sah Holzreste, die wahrscheinlich vor langer Zeit einmal ein Tisch und Stühle gewesen sein mochten, altes Pergament, das vielleicht einmal beschriftet gewesen sein mochte. An eine der Wände hatte jemand vor langer Zeit Handabrücke mit Gesichtern darauf gemalt, die jetzt verwaschen und mit wenigen Ausnahmen ziemlich unkenntlich geworden waren.
Ehrlicherweise überrascht, blinzelte Hector mehrfach, um sich in seiner neuen Umgebung zurechtzufinden. Er schritt durch den Raum und auf die bemalte Wand zu. Nach und nach betrachtete er die Gesichter, die durch die tief stehende Abendsonne in ein goldenes Licht getaucht waren. Die ganze Situation schien schlicht unwirklich.
Apollonia war seinem Beispiel gefolgt und hatte den Raum ebenso betreten. Auch sie war überrascht. „Wow. Das ist mal ein gut geschützter Raum. Wofür um alles in der Welt war der da?“ Sie stellte sich neben ihn und betrachtete ebenso die Handabdrücke. „Als Mitarbeiterin eines Museums kann ich dir mitteilen, dass diese Malkunst mit Ausnahme der Steinzeit eher rar ist.“ Sie versuchte ein kurzes Lachen, das seltsam hohl in diesem Gemäuer klang.
Hector wandte seinen Blick nicht von den Wandmalereien ab, während er Apollonias Ankunft bemerkte und schließlich sprach. „Wir können auf jeden Fall davon ausgehen, dass wir auf der richtigen Fährte sind.“ Hector studierte weiter die Gesichter und Hände. „Kennst du irgendjemanden hier? Irgendein Großonkel oder eine Urgroßmutter von dir?“
„Die sind viel zu verschmiert. Das könnten meine Tante, mein Onkel sein, aber genauso gut Vaclav, der polnische Präsident oder du.“ Sie ging näher hin und betrachtete die Gesichter eingehend. „Der seiht dir sogar ein wenig ähnlich, finde ich. Die Handabdrücke… hm, wahrscheinlich drei Männer, zwei Frauen und ein Kind. Vielleicht eine Familie?“
„Keine Ahnung, wenn ich ehrlich bin.“ Hector versuchte seine Aufmerksamkeit von der eigenartigen Wand zu lösen und logisch zu denken. „Die Schlüssel haben uns bis hierher gebracht, vielleicht bringen sie uns noch ein Stück weiter.“ Mit dieser Überlegung versuchte Hector die einzelnen Handabdrücke an der Wand mit dem Schlüssel zu berühren, beginnend bei dem Größten.
Beim größten Handabdruck bemerkte Hector, dass der Besitzer der Hand einen sechsten Finger gehabt haben musste. Er tastete nur bloßes Mauerwerk. Beim nächsten jedoch war es anders. Der Schlüssel glitt erneut durch den Felsen, schien fast hineingerissen zu werden. Hector konnte spüren, dass etwas ebenfalls an ihm riss, sobald er die Steinwand berührte, die sich plötzlich nicht mehr wie Fels anfühlte. Eher wie Wasser. Ihm wurde mit einem Mal schwarz vor Augen und speiübel als hätte er sich zig dutzende Male mit unvorstellbarer Geschwindigkeit um die eigene Achse gedreht. Hector konnte nur mit Mühe verhindern, dass er sich übergeben musste.
Mit flackernden Lidern versuchte er etwas zu erkennen nachdem das grausame Gefühl verebbt war. Stattdessen hörte er nur eine Stimme, die ihm bekannt vorkam. „Trink das hier. Ist nur abgekochtes Wasser. Dann geht’s dir wieder besser.“