Fr 8. Jul 2016, 12:18
Und tatsächlich konnte sie sich bereits während Michel neben ihr an die Tür des neu gestrichenen und erst kürzlich sanierten Waisenhauses klopfte, lebhaft ausmalen wie der Abend mit den Kindern vorangehen würde. Sie sah sich schon im Kreise neugieriger und erwartungsvoller Augen sitzen, die gebannt jede Silbe aus ihrem Mund in sich aufsogen und begeistert klatschten, wenn der strahlende Ritter die Prinzessin rettete. Schließlich war es beileibe nicht das erste Mal, da sie sich in liebevoller Geduld den von der Gesellschaft so gering geschätzten Kinderseelen zuwandte. Manch einer würde gar hellseherische Fähigkeiten vermuten; in diesem Fall handelte es sich jedoch ganz sicher um eine häufig gemachte, immer wiederkehrende Erfahrung.
Doch noch war es nicht soweit, denn nach wie vor wartete man vor der dunkelbraun gestrichenen Holztür auf Einlass, der nicht lange auf sich warten ließ. Eine junge Ordensschwester, selbst kaum mehr als zwanzig Jahre alt öffnete der Dame und deutete einen leichten Knicks an. In ihrem Gesicht zeichnete sich ein erfreutes Lächeln ob des nur allzu willkommenen Besuches an. Früher war die Toreador als Liliane von Erzhausen im Waisenhaus ein- und ausgegangen; jetzt war es Aurora die gottgefällige Nächstenliebe zeigte. In den Gemütern und Gedanken der gewöhnlichen Sterblichen um sie herum, war sie die logische Fortsetzung eines Familienzweiges die Großzügigkeit und Selbstlosigkeit auch über Generationen hinweg mehrfach bewiesen hatte. „Wie schön euch zu sehen Frau von Erzhausen. Die Kinder waren heute ganz besonders artig, da sie es kaum erwarten konnten euren Geschichten zu lauschen.“ Sie ließ Liliane und ihren Begleiter ein und schritt dann voran durch die kerzenerhellten Korridore. „Oberin Agnes erwartet euch bereits, folgt mir doch bitte.“
Eine knappe Weile lang schlenderte man durch dunkle aber penibel gesäuberte und geputzte Gänge, vorbei an den streng getrennten Schlafräumen und der Speisekammer, bis hin zum neu angelegten Trakt der den Speisesaal mit daran anschließender Großküche beherbergte. Ein lang gestreckter Saal, mit langen, schweren Tischen und ebenso wuchtigen Bänken, an denen dutzende kleine Kinder in passabler und sauberer Kleidung saßen und mit bemüht sorgsamen Manieren eine dicke Suppe löffelten. Durch die Anrichte in Richtung Küche, hörte man noch das Blubbern und Köcheln eines dicken Eintopfs mit herrlich duftendem Brot. Einige der Kinder bemerkten Liliane und Michel, wie sie von der jungen Schwester angeführt den Saal betraten und konnten sich kaum mehr halten. Einige wollten schon aufspringen, sahen dann aber etwas furchtsam zu einem erhöhten Geländer auf, an dem Oberin Agnes stand und ein wachsames Auge auf gehobene Tischsitten und tadellose Manieren hatte. Ihr strenger Blick, strafte gerade einen allzu voreiligen jungen Mann, der beinahe den Teller umgeworfen hätte.
„Friedhelm! Was haben wir gelernt? Wir nehmen unsere Mahlzeiten schweigend ein und sprechen nicht mit dem Tischnachbarn. Wir schmatzen und kleckern, rülpsen und furzen nicht. Der Löffel geht zum Mund und nicht umgekehrt. Cornelia! Wir wischen unseren Mund auch nicht am Hemdärmel ab! Wenn ihr euch nicht zu benehmen wisst, dann gibt es heute keine Märchenstunde! Nur brave Kinder haben sich eine Geschichte verdient.“
Die junge Ordensschwester verbeugte sich noch einmal knapp, bevor sie wieder durch die Tür im Saal verschwand. Ein paar Stufen führten die Toreador und ihren Leibwächter zu der Mutter Oberin hinauf, die sie schon freudestrahlend erwartete. Mit ihren schlanken Fingern, umschloss sie die Hände Lilianes und sah sie wohlwollend an.
„Ach, Frau von Erzhausen. Es ist uns wie immer eine ganz besondere Freude jemanden wie euch in unseren einfachen Hallen zu empfangen. Gott allein weiß welch unsägliches Leid ihr schon so vielen unschuldigen Schäflein in der dunkelsten Stunde ihres Lebens erspart habt. Ich danke dem Herrn jede Nacht für euch.“ Knappe drehte sie sich von ihrer erhöhten Position zu den Kindern und rief etwas lauter. „Kinder wir wollen Frau von Erzhausen gemeinsam begrüßen!“ Kaum hatte sie das gesagt, erklang schon wein wohl einstudierte Chor aus vielen Kinderstimmen: „Guten Abend Frau von Erzhausen; wir freuen uns das du heute Abend bei uns bist!“ Da die allgemeine Begrüßung Schwester Agnes Auffassung nach wohl geglückt sein musste, nickte sie den Kindern streng aber mit einem bekräftigenden Lächeln zu; wandte sich dann wieder an Liliane.
„Ach mein liebes Kind seht nur wie wundervoll der Speisesaal geworden ist. Jetzt haben wir sogar Platz für eine anständige Küche und Lebensmittel. Zwei Köchinnen versorgen uns jetzt mit nahrhaften Mahlzeiten – dreimal pro Tag; das nenne ich ja fast schon Genusssucht.“ Agnes lachte scherzend. „Das verdanken wir nicht zuletzt eurer Großzügigkeit Frau von Erzhausen, obgleich es schwierig war eurem Wunsch noch mehr armen Seelen ein Dach über dem Kopf zukommen zu lassen, nachzukommen. Es scheint als würden einige Flüchtlinge aus dem Osten zu uns kommen, deren Eltern in diesen furchtbaren Kriegen ein unwürdiges Ende gefunden haben. Manche können nicht ein Wort Flandrisch; um ehrlich zu sein: die wenigsten!“
Sie machte eine einladende Geste, die Liliane dazu einlud ihr zu folgen. Nebeneinander gingen sie die Treppen hinab, während eine dürre Küchenmagd dicken Eintopf auf Teller verteilte. Keins der Kinder wagte sich zu rühren. Offenbar wartete man auf die Erlaubnis. „Dann haben wir noch das Problem mit dem Alter. Sehr viele ganz junge Kinder und auch einige ältere. Diese Mischung, auch mit Knaben und Mädchen ist fatal! Stellt euch vor, erst letzten Monat hatten wir ein Mädchen das gerade einmal dreizehn Jahre zählte und bei einem der Knaben gelegen hatte. Unfassbar!“ Entrüstet faltete Agnes die Hände. „Natürlich konnten wir sie nicht im Haus behalten. Ein schwangeres Kind, schrecklich. Ich habe daher einen Brief an meinen Konvent verfasst und um eine Aufnahme gebeten, nur so kann ihre sündige Seele doch noch Rettung erhalten. Der Säugling wird wohl auch noch irgendwann bei uns landen.“ Sie schlug ein Kreuz und versuchte sich wieder an einem Lächeln, klatschte dann zweimal dem Saal zugewandt in die Hände. „Denkt an die Manieren Kinder! Wer fertig ist räumt den Teller ab, bedankt sich bei Frau Irmgard für das köstliche Mahl und spricht das Abendgebet. Diejenigen, die bei der Märchenstunde dabei sind, dürfen sich dann im Lesezimmer einfinden. Und vergesst nicht auf eine tadellose Garderobe; wer fleckig oder ungewaschen erscheint, kann gleich zu Bett gehen.“ Und ob man es nun glaubte oder nicht, einige der Kinder schlangen die Mahlzeit beinahe ohne zu kauen hinunter. Ganz ohne Frage konnten sie nach wie vor die Märchenstunde mit Liliane kaum erwarten. Schwester Agnes sah mehr oder weniger darüber hinweg, was auch daran lag das sie sich immer noch vordergründig auf Liliane konzentrierte. Ihr Lächeln war sanft.
„Ihr wäret eine hervorragende Mutter Frau von Erzhausen und ich bin überzeugt davon, so Gott will wird er euch eines Tages einen tüchtigen und aufrichten Mann entsenden, damit ihr auch euren eigenen Nachkommen all die Liebe angedeihen lassen könnt, die ihr schon jetzt bei diesen armen Waisen zeigt. Ich werde für euch beten Aurora, sowie für eure Verwandte Liliane von Erzhausen. Gott hab sie selig.“