Vampire: Die Maskerade


Eine Welt der Dunkelheit
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BeitragVerfasst: Mo 28. Dez 2020, 11:47 
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Vorsichtig sog sie die Nachtluft durch ihre Nase ein, suchte sich auf ihre scharfen Sinne zu konzentrieren, um den Jungen einzuschätzen. Umgab ihn die Wolke aus typischen Gerüchen, wie sie Sterbliche umgab? Die Mischung aus Schweiß, Essen, Tiergeruch – all den Dingen, nach denen nur die wenigsten Kainiten rochen? Seine Bemerkung jedenfalls schien darauf hinzudeuten, dass er, falls er selbst übermenschliche Sinne besaß, in dieser Kunst kaum mehr bewandert sein konnte als Louisa selbst. "Die Erben der Diebesgilde – du bist offenbar ein aufgeweckter Bursche, dass du so viel weißt" erwiderte sie endlich.

Auf die üblichen Gesten gegenüber Kindern verzichtend, beschloss sie ihn mehr oder minder wie einen Erwachsenen zu behandeln, ohne ein Wort darüber zu verlieren. Zu gut erinnerte sie sich noch an eine Lektion ihres Meisters: Das Aussehen kann sich als höchst trügerisch erweisen in der Welt der Blutsverwandten – schätze niemals einen anderen nur danach ein, wie er auf den ersten Blick wirkt! "Ich denke, ich würde mir gern anhören, was du über diese Kinder zu erzählen hast" fuhr sie fort und griff sein Stichwort auf: "Aber sicherlich redet es sich an einem gemütlicheren Ort besser als hier. Hast du Hunger? Wenn ich meine Börse mit deiner Hilfe wiedererlange, steht dir eine Belohnung zu."

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Verfasst: Mo 28. Dez 2020, 11:47 


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BeitragVerfasst: Mo 28. Dez 2020, 16:20 
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Der Junge ihr gegenüber roch nach Seife, Lavendel und dem Braten- und Bierduft, den sie von ihrer derzeitigen Bleibe, dem Elysium zur blutigen Jungfrau, nur allzu gut kannte. „Eigentlich habe ich bereits gegessen, aber wenn ihr wollt, können wir gerne zu einem Ort gehen, der sich zum Reden besser eignet. Möchtet ihr etwas essen?“ Die alltägliche Frage, die man wohl jeden Tag hunderte Male in den Straßen Brügges hören mochte, klang aus seinem Mund wie etwas absolut Unvorstellbares. Als würde er sie fragen, ob sie plane flambierte Froschschenkel zu kosten. Der Junge erhob sich und reichte Louisa stehend bis zum Kinn. Obwohl er ungewöhnlich blass war, sah er so aus als habe er in seinem Leben nur dann Hunger leiden müssen, wenn er die Essenszeiten verpasst hatte. Auch die glatte Haut der Hände hatte wahrscheinlich bestenfalls Papierseiten oder Schriftstücke bearbeitet.
„Wenn ihr wünscht, Herrin, folgt mir bitte. Es ist nicht weit.“
Er wartete ihre Reaktion ab und schritt dann voran über den Platz. Er bewegte sich mit einer natürlichen Selbstverständlichkeit als wäre er fast jede Nacht in den Straßen der Stadt unterwegs. Er trat dabei weder in überall herumliegenden Müll, noch stolperte er über fehlende Steine im Kopfsteinpflaster.
Wenige Minuten später war er in eine Seitenstraße eingebogen und durchschritt ein belaubtes Portal hinter dem die Kainitin Tische und Stühle ausmachen konnte, die man auf eine Wiese neben einen der Kanäle der Stadt gestellt hatte und mit leinernen Tischdecken bespannt hatte. Talglichter waren in alte gläserne Schalen angezündet worden und spendeten spärliches Licht
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Die meisten Tische hatten sich mittlerweile geleert und nur noch vereinzelte Besucher tranken ihr letzte Bier und nagten an den letzten Knochen. Ein paar Musikanten spielten für ein paar Groschen ruhige Weisen.


Hendrik nahm am letzten Tisch, weit von allen Gästen entfernt Platz und schob dem Schankwirt, der wenig später vorbei kam eine glänzende Münze hin. „Ein helles Bier für mich und die Herrin, bitte.“ Der Schankwirt nickte und grummelte: „Wird erledigt, Herr.“
Hendrik ließ seinen Blick über die Bänke und Tische, das Wasser und die Bäume, zwischen deren Ästen die Sterne funkelten, gleiten. „Ich besuche mit einem Mann namens Leif Thorson recht gerne solche Orte.“ Ein kurzes, fast kindliches Grinsen zuckte über seine Lippen beim Gedanken daran. Er sah zu der blonden Frau. „Er ist ein recht begabter Heiler. Vielleicht seid ihr ihm schon begegnet?“

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BeitragVerfasst: Di 29. Dez 2020, 11:15 
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"Nun, auch ich habe schon gegessen, doch ein Becher Wein oder Bier wird sicherlich nicht schaden" gab sie kaltblütig mit einem leichten Lächeln zurück, als sei das für sie die normalste Sache der Welt. Mit einem Nicken zeigte sie dem Jungen an, dass sie ihm folgen würde, und tat dies auch. Dabei raffte sie ihre Röcke an sich und suchte so unbeschadet wie möglich und ohne ihre Gewänder zu beschmutzen in den Fußstapfen ihres seltsamen kleinen Begleiters zu gehen. Dass der Knabe kein einfacher Diener war, stach klar hervor – doch was genau stellte er für den Kainiten dar, bei dem sie ihn gesehen hatte? Einen Eleven, einen Schüler – einen künftigen Empfänger des blutigen Kusses gar?

Ihr Gedanken kreisten um den Mann des Alten Clans, während sie Hendrik bis zu den Tischen unter freiem Himmel folgte. Dort ließ sie sich nieder, ordnete geziert ihre Gewänder und gab vor, sich mit der Schönheit des Himmels zu befassen, als der Junge eine Bestellung aufgab. Sie lauschte allerdings aufmerksam und stellte fest, dass der Knabe mit der Selbstsicherheit eines Erwachsenen auftrat und auch beinahe so behandelt wurde. Womöglich lag das auch an dem funkelnden Geldstück oder an ihrer Begleitung, aber dennoch... Sie wandte sich ihrem Gegenüber zu, musterte ihn eine Weile und meinte dann: "Nein, leider hatte ich noch nicht die Freude, ihn kennenzulernen. Der Beruf des Heilers ist ein sehr ehrenwerter – und meist auch einer, der guten Verdienst einbringt." Nun war es an Louisa, mit einem kurzen Grinsen ihre makellosen Zähne zu zeigen.

"Kennst du ihn denn gut?" erkundigte die Brujah sich im Plauderton. Dann beugte sie sich leicht nach vorn, und ihr Ton wurde gedämpft, ihr Blick verschwörerisch, auch wenn es in ihren Augen eher amüsiert blitzte. "Darfst du ihn überhaupt kennen? Es gibt doch gewiss jemanden, der sich Sorgen um dich macht, wenn du ganz allein des Nachts durch die Stadt streifst..." Denn dass er kein gewöhnlicher Gassenjunge sein konnte, um den sich niemand kümmerte, war zu offensichtlich, als dass es noch der Erwähnung wert gewesen wäre.

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BeitragVerfasst: Di 29. Dez 2020, 18:32 
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Hendrik dachte über ihre Frage nach und kaute auf der Unterlippe. Ganz offensichtlich schien er alles recht ernst zu nehmen und dabei waren Zweideutigkeiten wohl nicht seine Art. „Ich bin schon immer lieber nachts unterwegs. Am Anfang fand man das ungewöhnlich, hat mir mit Verboten und einer gehörigen Menge an Strafen gedroht und ich musste viele davon aussitzen. Leif war der erste, der mir erlaubt hat ihn zu begleiten. Es ist nicht einfach ständig die Augen vor so vielen offensichtlichen Dingen zu verschließen, wenn man sich dazu entscheidet nachts zu wandern, auch für ein kleines Kind nicht.“ Der Schankwirt kam und stellte zwei Humpen Bier vor ihnen ab um mit einem Nicken und Gegrummel wieder zu verschwinden. Der Junge nahm den Krug, führte ihn zum Mund und nahm einen Schluck. Er schmunzelte: „Also: Wenn es nach meinen Verwandten ginge, würde ich weder einen Meister Thorson noch einen Hauptmann Sabatier kennen. Wahrscheinlich würde ich selbst meine eigene nächtliche Verwandtschaft nur an hohen Feiertagen vom Kindertisch aus zu Gesicht bekommen.“ Verbitterung machte sich für einen kurzen Moment auf seinen Zügen breit. Dann sah er sie fest an. „Leif hat damals mal zu mir gesagt: Es ist egal, was die anderen denken oder ob sie so tun als würden sie nichts verstehen. Sie spielen am Ende keine Rolle. Wichtig ist nur, dass du selber weißt was du willst und dich von all den anderen nicht verunsichern lässt.

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Zuletzt geändert von Spielleiter am Mi 30. Dez 2020, 17:51, insgesamt 2-mal geändert.

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BeitragVerfasst: Mi 30. Dez 2020, 11:40 
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Erstaunlich: Wenn sie den Knaben recht verstand, bezeichnete er als "offensichtlich", was für viele Kainiten Gegenstand strenger Geheimhaltung war. Ob der Junge überhaupt wusste, wie gefährlich es war, so offen über derlei zu reden? Sie runzelte die Stirn, ihr schlanker Zeigefinger strich sinnierend über den Rand ihres Bierkrugs, an dem sie nur einig Male zu nippen vorgegeben hatte. "Sind denn so viele Dinge offensichtlich für dich, die deine... nächtliche Verwandtschaft betreffen?" erkundigte sie sich und begann sich langsam ein Bild zu machen. Der Junge war offenbar blutsverwandt, wenn auch im herkömmlichen Sinne und nicht direkt durch die Vitae eines Untoten. "Nun, mir scheint jedenfalls, dieser Meister Thorson muss ein recht kluger Mann sein" bemerkte die Brujah nachdenklich und ließ ihren Blick auf Hendrik ruhen. "Sicherlich hat er recht, dass man sich nicht verunsichern oder von seinem Weg abbringen lassen soll, wenn man sich dessen sicher ist, was man erreichen will."

Oh ja – hatte nicht auch ihr eigener Meister ihr das gepredigt? Wenn er auch bestimmt andere Dinge als erstrebenswert betrachtete als seine Schülerin... ein kurzes Lächeln glitt über ihre Züge, ehe sie sich wieder auf den Jungen konzentrierte. "Dennoch: Auch wenn man seinem eigenen Weg folgt, muss man doch aufpassen, nicht anderen in den Weg zu geraten" mahnte sie ihn und kam sich dabei beinahe wie der Hidalgo vor. "Es gibt einige, die sehr rücksichtslos sind, wenn man ihre Kreise stört, verstehst du? Sehr grausam und sehr gefährlich!" Wahrhaftig, sie hörte sich ganz wie ihr Meister an, der sie immer zu Vorsicht und Zurückhaltung hatte erziehen wollen. Und hatte sie, Louisa, nicht eben dies auf Bord geworfen und sich von ihm losgesagt? Ihr Blick wanderte wieder zu dem Becher, als könne sie in dem trüben Getränk darin wie eine Seherin lesen. Mit welchem Recht sagte sie, was sie gerade sagte? Und warum um alles in der Welt scherte es sie, ob der Knabe sich in Gefahr brachte..?

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BeitragVerfasst: Mi 30. Dez 2020, 18:02 
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Sein Blick verharrte lange nachdenklich auf dem Wasser der Kanäle. Es war ihm anzusehen, dass er ernst über ihre Worte nachdachte. „Ihr habt absolut recht, Herrin.“ Er sah ihr direkt ins Gesicht.
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„Die Welt der Nacht ist gefährlich. Um so vieles gefährlicher als die des Tages.“ Er schwieg eine ganze Zeit lang. „Aber ich hatte immer, schon als ich ein kleines Kind war, das Gefühl, das es auch meine Welt ist. Und ich kenne lieber das, was mich darin erwartet als wie andere die Augen davor zu verschließen. Und die Welt wird wahrscheinlich nicht unbedingt sicherer, nur weil man sich zu Hause in seinen eigenen vier Wänden verkriecht. Weder für mich, noch für Männer und Frauen wie euch.“ Mit einem Mal wirkte er wieder jünger und verunsichert. „Habt ihr das Gefühl, dass ich eure Kreise störe, Herrin?“ Er straffte die Schultern um größer zu wirken. „Wenn dem so ist, möchte ich mich dafür entschuldigen.“

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BeitragVerfasst: Fr 1. Jan 2021, 23:15 
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Sie musterte den Knaben und unterdrückte nur mit Mühe ein verwundertes Kopfschütteln. Diese Worte hätten viel mehr zu einem alten, erfahrenen Mann als zu einem Kind gepasst - und sterblich war er offenkundig. Es erfüllte sie mit einem gewissen, vagen Unbehagen, sie aus einem so jungen Mund zu hören. Daher sah auch Louisa eine Weile lang sinnierend über das Wasser, suchte mit ihren Blicken kleine Wirbel auf der Oberfläche und verharrte auf ihnen, während sie nachdachte. Endlich sah sie zu dem Jungen, und zum ersten Mal seit langer Zeit zog ein Lächeln über ihr Gesicht, das weder lasziv war noch berechnet. Man hätte es warm nennen können, und vielleicht war es das gerade, weil sie sich dessen nicht bewusst wurde - und ebensowenig das Düstere in ihrem Herzen. "Nein, das tust du nicht" versicherte sie und schmunzelte leicht. Sie beugte sich leicht vor und fragte nach einem kurzen Zögern: "Sag, hast du etwa Angst vor mir?" Ihre Augen ruhten wie große, klare Spiegel auf seinem Gesicht.
Wieder schien es tatsächlich so als ob er über ihre Frage nachdachte. „Ich weiß es nicht, Herrin.“ Er wirkte wieder jünger und verunsichert. „Sollte ich mehr Angst vor euch haben als vor dem, was sonst des Nachts durch diese Gassen schreitet?“
Fast sofort öffnete sie den Mund, um ihm zu sagen, dass er das nicht müsse - doch etwas ließ sie zögern. Es war, als blicke ihr ein Unsichtbarer über die Schulter, der sie höhnisch fragte: Bist du dir sicher, dass der Knabe dich nicht zu fürchten hat? Wärest du seine Mutter, würdest du ihn gern in der Gesellschaft einer Kreatur wissen, wie du eine bist…? Es war wie ein Schlag ins Gesicht, der gleich Säure brannte. Sie biss sich auf die Lippen. Doch dann gewannen der Trotz und eine unbestimmte Sehnsucht in ihr die Oberhand. "Nein. Nein, du musst mich nicht fürchten, mein Junge. Ganz gewiss nicht" sagte sie leise, aber fest. Ihre schlanke Hand legte sich auf die des Knaben, die nur wenig schmächtiger war. Leicht, regelrecht sanft - aber kalt. Das Lächeln der Kainitin bei der Berührung wirkte irgendwie traurig, und noch etwas lag darin. Eine stumme Bitte...?
Hendrik zuckte leicht zusammen, als sie unerwartet seine Hand berührte und spannte sich an. Nicht weil sie kalt war, denn er ließ seine Finger einen Moment auf der Tischplatte liegen bevor er sie zurück zog, sondern wahrscheinlich weil er ein Kind war, das keine Berührungen zulassen wollte oder konnte.
Nach einiger Zeit nickte er. „Man hat euch eure Börse gestohlen, wenn ich recht vermute. Ich habe die Taschendiebe auf dem belebten Platz gesehen und euch, wie ihr versucht habt, ihrer habhaft zu werden.“
Es war nur ein kurzer Moment der Berührung gewesen, und er entzog sich ihr sofort wieder. Dennoch kam es ihr vor, als habe sie die Wärme der kleinen, sterblichen Hand anders empfunden als die der vielen stattlichen, gesunden jungen Männer, mit denen sie des nächtens das Lager geteilt und deren Lebenssaft sie gekostet hatte. Sie ließ ihre Hand eine ganze Weile auf dem Tisch liegen, ehe sie sie langsam zurückzog. Dann legte sie sie flach auf ihre Brust, als könne sie das bisschen Wärme bewahren und in ihr Herz fließen lassen. Wieder ein Lächeln, das eine winzige Ahnung von Trauer enthielt, als sie ihm antwortete: "Richtig. Der Diebstahl. Wenn du mir mehr sagen kannst, soll es zu deinem Schaden nicht sein."
„Es waren einige Taschendiebe auf dem Platz unterwegs. Habt ihr jemand speziellen beobachtet?“
Interessant - er hat also den Platz allgemein und nicht mich im speziellen im Blick behalten, wie es aussieht, ging es ihr durch den Kopf. Einerseits beruhigend für das Sicherheitsbedürfnis eines nächtlichen Wesens, andererseits fühlte sie unvernünftigerweise so etwas wie Enttäuschung. Sie war womöglich einfach zu gewohnt, sich stets der Aufmerksamkeit anderer sicher sein zu können... "Ein Knabe mit auffälligen Ohren und wirrem Haar stieß mich an" gab sie zurück. "Es will mir scheinen, dass er entweder mit dem Dieb unter einer Decke steckte oder selbst derjenige war." Sie versuchte den Rotzlümmel möglichst gut zu beschreiben, soweit er ihr noch im Gedächtnis war.
Hendrik kaute auf seiner Unterlippe und überlegte. „Das wird wahrscheinlich Daan gewesen sein. War ein Gaukler in der Nähe? Ein Jongleur oder Feuerschlucker?“
Erstaunt hob sie die Augenbrauen. "Ja, in der Tat... Ein Gaunerpärchen, das gemeinsam die Leute ausnimmt. Der eine lenkt sie ab, der andere bestiehlt sie?" Wieder beugte sie sich nach vorn, diesmal allerdings mit dem erwachenden Interesse einer Katze, die einen Sperling in der Nähe heranflattern sieht und sich überlegt, ob sie ihn wohl mit einem Sprung und ihren Tatzen erreichen könnte.
Der Junge nickte. „Wahrscheinlich. Es sind zwei Brüder, die eine kleine Gruppe Kinder anführen, die sich mit Diebstahl über Wasser hält. Die Gruppe ist harmlos.“ Er hob erneut an. „Vor etwas mehr als einem Jahrzehnt gab es hier in Brügge eine wirklich brutale Schlacht. Viele Menschen wurden abgemetzelt, es gab Straßen, da soll kein Stein mehr auf dem anderen gestanden haben. Im Nachhinein wurde es als Angriff von französischen Söldnerheeren vertuscht. Nach allem, was ich gehört habe, war es ein Angriff einer Kainitin aus dem Clan der Drachen, die sich die Herrschaft über die Stadt sichern wollte und dazu ‚Verwandte‘ aus dem Osten um Hilfe gebeten hat. Mit Mühe wurde dieser Angriff abgewehrt, die Heere zurückgeschlagen.“ Er lachte kurz tonlos auf. „Zwei unserer Kainiten hier sollen einen Voivoden von hinten angegriffen und gemeinsam vernichtet haben. Auch wenn man einen solchen Kampf vielleicht als unehrenhaft ansehen müsste, würde ich genau das gleiche tun.“ Er besann sich auf das eigentliche Thema. „Es gab damals eine von einem Kainiten angeführte Diebesgilde. Der Kainit hat seine ‚Leute‘ für die finale Schlacht hinzubeordert und alle wurden sie abgeschlachtet. Joris, das ist der Bruder von Daan, der als Gaukler auftritt, hat sich vorgenommen in die Fußstapfen seiner Vaters zu treten. Außerdem hat er die anderen Waisenkinder, die es wollten, unter seine Fittiche genommen. Kinder, die aus den Waisenhäusern oder vor brutalen Verwandten wieder zurück auf die Straße geflohen sind. Sie haben nicht viel, aber kommen halbwegs über die Runden. In den letzten Wochen gab es jedoch mehr und mehr Schwierigkeiten. Es gibt dieses Jahr kaum Getreide und das treibt die Preise für Nahrungsmittel in schier unerträgliche Höhen. Das bekommen derzeit fast alle zu spüren, aber ganz besonders die, die kaum was haben.“
Sie überlegte angestrengt. Der Junge wusste Dinge, die zu wissen für einen Sterblichen in einer anderen Domäne wohl den raschen Tod bedeutet hätten. Louisa wurde aus alledem nicht recht klug. Dies war nach allem, was sie von ihrem Meister erfahren hatte, eine der ungewöhnlichsten Domänen, die man sich vorstellen konnte! Was war mit der Maskerade, dem eisernen Gesetz der Nacht? Zog Brügge nicht den Zorn anderer, noch mächtigerer auf sich, wenn es den Schleier über den Untoten derart dünn werden ließ...? Dennoch... die hohe Politik sollte nicht ihre Sorge sein, solange sie sie nicht persönlich betraf. Daher rieb sie die Hände langsam gegeneinander, bis sie schließlich meinte: "Ich verstehe. Doch du weißt, wo man diesen Joris findet?" Sie hielt in der Bewegung inne, spitzte leicht die Lippen und fuhr dann fort: "Ich möchte meinen Besitz wiedererlangen. Doch kann ich in gewisser Weise verstehen, dass sie sich irgendwie verschaffen müssen, was sie brauchen. Vielleicht bin ich in der Lage, ihnen dabei ein wenig zu helfen..." Ihrem inneren Auge boten sich mehrere interessante Wege dar. Ein Netzwerk kleiner, flinker Augen und Ohren, die sich allüberall bewegten - mochte es nicht äußerst nützlich sein, sich hier Kontakte zu sichern? Was bedeutete es dagegen schon, einen kleinen Dieb mit einer simplen Warnung laufen zu lassen, statt ihn für seine Impertinenz büßen zu lassen... Und wenn man die Sache in die rechte Richtung lenkte, war für sie nichts Schlimmes daran zu finden, wenn sich die kleinen Halunken ihren Teil holten, in einer so reichen Stadt! Letztlich: Tat sie nicht genau dasselbe, auch wenn ihre Methoden andere waren? Auch Louisa war nicht reich geboren worden, auch sie hatte schon als kleines Mädchen sehnsüchtig auf die prallen Geldbörsen mancher Edler geschielt, mit deren Inhalt Hunger und Not lange, lange Zeit zu bannen gewesen wären.
Hendrik überlegte. „Nein, ich weiß nicht, wo sich die Gruppe aufhält. Ich habe sie ab und an bei ihren Diebstählen beobachtet. Einer hat vor Jahren mal versucht meine Börse zu entwenden und dabei meine Aufmerksamkeit erregt.“ Er zuckte mit den Schultern als wäre das nicht weiter von Belang für ihn. „Aber ich erkenne sie wieder, wenn ich sie sehe. Meistens sind sie auf dem großen Platz am Belfried unterwegs. Da gibt es in der Regel die meisten Menschen.“
Wieder murmelte sie "Du scheinst in der Tat über sehr wache Sinne zu verfügen." Mehrere Male nickte sie, dann griff sie mehr aus der Gewohnheit heraus zu ihrem Becher und benetzte ihre Lippen leicht. "Nun, wie ich schon sagte, wenn du mir behilflich bist, kann ich womöglich auch dir einen kleinen Wunsch erfüllen. Und vielleicht hätten wir auf dem Weg nach dem Belfried auch Zeit, uns noch ein wenig zu unterhalten." Ihr Satz schloss mit einem unausgesprochenen Fragezeichen. Sie gestattete sich wiederum ein Lächeln. "Sofern du mich begleiten darfst. Sicherlich hast du all die interessanten Dinge, welche du mir erzähltest, von jemandem erfahren, der wie ich ahne, nicht unbedingt möchte, dass du mit Fremden sprichst." Auch dies klang halb nach einer Frage.
Bei ihrer Bemerkung, ob er sie denn begleiten dürfe zuckte ein Schatten über sein Gesicht und der widerspenstige Gesichtsausdruck, den sie bereits im Elysium ‚Zur blutigen Jungfrau‘ als er aus den Räumlichkeiten des Unholds Belinkov gestürzt war, gesehen hatte, breitete sich wieder auf seinen Zügen aus.
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Ihm lag eine Erwiderung auf den Lippen, die ihn offensichtlich wütend stimmten und die er nur mit Mühe herunterschlucken konnte. Wahrscheinlich hatte ihre Bemerkung ihn an etwas erinnert, das ihm nicht gefiel. Seine Stimme war leise als er weitersprach. „Ich tendiere generell eher nicht dazu mit Fremden zu reden. Wenn ihr euch um die Wahrung der Traditionen Gedanken macht, braucht ihr nicht besorgt sein. Die anderen Sterblichen…“ Er überlegte es sich anders und machte eine wegwerfende Handbewegung um das Thema zu beenden. Seine Stimme war wieder ruhig als er weitersprach. „Ich gehe davon aus, dass keiner derjenigen, auf die es wirklich ankommt, etwas einzuwenden hätte, wenn ich euch helfe eure Börse zurück zu bekommen.“ Der kaum sichtbare Hauch eines Lächelns huschte über seine Mundwinkel. „Sofern ich in einem Stück wieder zu Hause ankomme.“
Sie schwieg, merkte sich aber den Gesichtsausdruck des Jungen. Hier war etwas, das sie sehr gut verstehen konnte. Und da sie wusste, wie sie selbst reagiert hätte, wenn das Thema in Bezug auf den Hidalgo und sie nicht fallen gelassen worden wäre, beschloss auch Louisa, diesen Punkt später wieder aufzugreifen. Stattdessen schenkte sie ihm ein weiteres Lächeln und meinte munterer als zuvor: "Nun, von mir wird niemand etwas Unnötiges erfahren. Es wird unser kleines Geheimnis bleiben." Sie zwinkerte ihm zu und langte erst in die Tasche ihrer Schürze, wo sich jedoch nur ein paar kleine Scheidemünzen fanden, dann unter ihr Mieder, ehe ihr wieder einfiel, dass die Börse von dort ja gestohlen war... dieser kleine sterbliche Halunke musste sehr geschickte Finger haben... "Oh, glaube mir, wenn jemand damit drohen würde, könnte ich ihn schon davon überzeugen, uns beiden nichts zu tun." Dieses Lächeln war nun wieder ganz wie das einer Katze.
Der Hauch eines Lächelns wurde zu einem Grinsen. „Da bin ich ihr absolut sicher, Herrin.“ Er nahm einen Schluck aus seinem noch immer mehr als halbvollen Bierhumpen. „Wollt ihr noch heute Nacht nach den Jungen Ausschau halten oder dies morgen tun?“
"Ich halte es für geraten, ihm nicht allzu viel Zeit zu lassen, mein Geld auszugeben. Auch wenn ich ihm sicherlich nicht den Kopf abreißen werde, vielleicht sogar ein Angebot für ihn und seine Kameraden habe, so bin ich doch auch nicht derart reich, dass mir der Inhalt meines Geldbeutels völlig gleichgültig wäre." Sie wies mit einem ebensolchen Grinsen auf ihre Kleidung, die zwar nach einer anständigen Bürgersfrau, mitnichten aber nach einer Edeldame, dem Weib eines Großkaufmanns oder dergleichen aussah. "Aber lass dir Zeit, die Nacht ist noch jung" meinte sie und sah zum Himmel. Ja, das Tagesgestirn, es war noch weit entfernt auf seinem Lauf über den Himmel... sein Nahen spürte sie stets, selbst mit geschlossenen Augen.
Ihn schien ihre Antwort zu freuen. „Dann lasst uns aufbrechen.“ Er legte eine weitere, kleinere Münze auf den Tisch und schob den Krug von sich weg. Ich würde vorschlagen zurück zum Markt zu gehen. Vielleicht haben wir Glück.“
Sie nickte und stand auf. Da er offenbar Berührungen als bedrohlich empfand, beschäftigte sie ihre Hände, indem sie ihre Röcke ganz leicht zum Gehen raffte, und meinte: "Nun denn, versuche wir unser Glück. Vielleicht sind die Sterne der Nacht uns hold."
Hendrik ging schweigend zurück Richtung Platz. Er warf ab und an einen Blick zu seiner Begleitung, konzentrierte sich aber ansonsten auf den Weg der vor ihnen lag. Wenige Minuten später hatten sie den Platz erreicht, der sich sichtlich gelehrt hatte. Ein paar Händler waren bereits dabei für die morgige Prozession Stände aufzubauen.
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Hendrik blieb einen Augenblick stehen und deutete zum Brunnen und zu der großen Kathedrale. „Den besten Blick über den Platz hat man entweder vom Brunnen oder von den Stufen dort drüben.“
Louisa folgte dem Jungen und bewegte sich dabei mit dem Geschick der Kainitin, die gewohnt war, sich mit dem Licht von Fackeln, Kerzen und anderen trüben Quellen zufrieden geben zu müssen. Die Welt der Farben war für sie ohnehin verloren. So hatte sie genug Muße, sich ebenfalls aufmerksam umzusehen. Und vielleicht war es einfach das spürbare Selbstbewusstsein, das sie ausstrahlte, doch kaum jemand schien gewillt, die einsame Frau und den Jungen anzusprechen. "Nun, da ich die Gesichter der Burschen nicht alle kenne, wäre es nicht sinnvoll, sich zu trennen" entschied sie. "Am besten versuchen wir unser Glück beim Brunnen." Das Gotteshaus maß sie nur mit einem kurzen, unbehaglichen Blick.

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BeitragVerfasst: Sa 2. Jan 2021, 18:26 
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Hendrik nickte zustimmend und steuerte auf den Brunnen zu. Er hüpfte leichtfüßig in die Höhe und setzte sich auf die breite Umrandung des leise dahinplätschernden Wassers. Er ließ seinen Blick über die wenigen Menschen und die Stände schweifen. Konzentriert ließ er sich von nichts ablenken.
(Bitte Aufmerksamkeit und Wahrnehmung gegen 8) Auspex reduziert die Schwierigkeit

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BeitragVerfasst: So 3. Jan 2021, 13:24 
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Auch Louisa ließ ihre Blicke schweifen. Die Kainitin lehnte sich mit der Hüfte gegen die Brunnenmauer, während sie Augen und Ohren anstrengte, um sich nichts auffälliges entgehen zu lassen.

(1 Erfolg beim Wahrnehmungswurf)

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BeitragVerfasst: So 3. Jan 2021, 20:52 
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Es verging viel Zeit während sie einfach nur mit ihren Augen die Dunkelheit durchsuchten. Nichts Ungewöhnliches rührte sich. Kein Laut war zu hören, der nicht in die Umgebung gepasst hätte. Nur das Wasser plätscherte nach wie vor beruhigend hinter ihnen. Plötzlich jedoch konnte Louisa eine rasche Bewegung im Dunkeln ausmachen und eine tiefe Stimme wohl zwei Schritt davon entfernt vernehmen. „Einer meiner Säcke mit Rüben ist weg. Verdammt, wo hast du nichtsnutziger Kerl den hingelegt?“

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