Vampire: Die Maskerade


Eine Welt der Dunkelheit
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BeitragVerfasst: Di 26. Dez 2017, 16:41 
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Das Feuer prasselte in einiger Entfernung beinahe friedlich im Kamin und erhellte das ehemals spartanisch eingerichtete Zimmer, dass sich im Laufe der Jahrzehnte mit allerlei mehr oder weniger wichtigem Tand gefüllt hatte. Nasse wollene Socken hingen an der Feuerstelle zum Trocknen, auf hölzernen Regalen reihten sich kleine Armeen von selbst geschnitzten Tierchen aneinander, die auf das Auslaufen der Arche Noah zu warten schienen und in einer großen Speisekammer duftete es nach eingelegten Früchten und geräucherten Würsten, für die, das wussten nur die wenigen Eingeweihten, der Bewohner des Hauses, eigentlich kaum Verwendung fand. Gemütliche, mittlerweile schon ein wenig abgewetzte Teppiche bildeten gemütliche farbige Flächen auf dem steinernen Fußboden und weiche Felle hatte jemand an den Wänden und über den Stühlen und auf der Bank ausgebreitet.

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Lucien ließ das Schnitzmesser über das weiche Korbweidenholz fahren, glättete die Kanten und streckte sich in dem wohlig weichen Ledersessel. Es war gar nicht so leicht für einen Gangrel der dekadenten Bequemlichkeit dieses häuslichen Lebens zu widerstehen, fand er. Er konnte sich Mithru und Vanya nur allzu lebhaft vorstellen, wie sie ihn, den Schattenwolf, in dieser Nacht abfällig als verweichlichten ‚Kettenhund von Brügge‘ betiteln würden. Aber heute war heute und morgen war ein anderer Tag. Morgen mochte er sich erneut beweisen, wie hart das Leben da draußen sein konnte. Doch für heute…
„Wie ging die Geschichte denn nun weiter?“ Hendrik erinnerte ihn erneut mit bittender Stimme daran, dass er erst in der Mitte seiner Erzählung angekommen war, die er dem Jungen immer wieder aufs Neue zum Besten geben musste.
„So wie alle guten Geschichten weitergehen: Mit einer wilden Verfolgungsjagd durch die nächtlichen Wälder und einem Kampf auf Leben und Tod.“ Die Stimme des Hauptmanns war rau wie immer und passte perfekt zu der dämmrigen Umgebung des Zimmers. Er begann erneut zu schildern wie ein tapferer ehemaliger Räuber den Sohn des Kaisers vor den bösen Horden des größten Feindes Heiligen Römischen Reiches gerettet hatte, wie der Mann Seite an Seite mit einem Werwolf gekämpft hatte, einen mächtigen Magus getroffen und schließlich den Dank des Kaisers entgegen nehmen konnte. Die Schilderungen des seltsamen Tages, den der ehemalige Räuber, unvorstellbarerweise dank Magie unter der Sonne in den Reihen der Sterblichen verbringen konnte und die mehr als intimen Stunden mit dem unbekleideten, überaus attraktiven weiblichen Werwolf verschwieg er tunlichst vor dem neugierigen Knaben.
„Und was ist mit dem Prinzen passiert?“, holte ihn die Stimme Hendriks zurück aus seinen Gedanken. „Der wurde in einem fernen Königreich in Sicherheit gebracht und wuchs bei einem tapferen Fürsten auf, der ihn in allen Tugenden unterrichtete die für einen jungen Adeligen von Bedeutung sind…“ Lucien überlegte. „Wie man ein Schwert mit der gleichen Sicherheit führt wie einen Weinpokal oder eine Schreibfeder… oder dass die Hose passend zum Gewand und Mantel gewählt wird…“
Der Knabe lachte schallend bei der Vorstellung.
Der Hauptmann der Nachtwache quittierte das Lachen von Hendrik ebenfalls mit einem leicht süffisanten Grinsen, während seine Hand langsam streichelnd durch das braune Fell des Wolfs an seiner Seite glitt. Fenris hatte es sich nahe dem Kaminfeuer an der Seite seines Herrn gemütlich gemacht und ließ den Blick gelegentlich träge zwischen Lucien und Hendrik hin und her wandern. Wenn der Gangrel für seinen sterblichen Besuch den Kamin befeuerte und das saftige Fleisch mit dicker Bratensoße übergoss, dass es nur so zischte, fiel bisweilen auch immer etwas für ihn ab. Und da sein Herrchen sich nicht besonders viel aus Braten zu machen schien und Hendrik unmöglich solch riesige Portionen allein verdrücken konnte, gab es auch stets bei weitem mehr als nur abgenagte Knochen und die üblichen paar Reste, die bei einem Bankett dieser Art abfielen. Zufrieden grollend genoss er die prasselnde Wärme und das gelegentliche Knacken der säuberlich aufgestapelten Holzscheite.
Ein etwas zaghaftes Klopfen störte mit einem Mal die Ruhe. Jemand schien an der Haustür Einlass zu verlangen.
Interessiert und leicht argwöhnisch war es wiederum Fenris, der sich als erstes mit einem halb misstrauischen, halb neugierigen Grummeln bemerkbar machte und sich von seinem gemütlichen Lager erhob, um sich Richtung Eingangstür zu bewegen. Die spitzen Ohren richteten sich wachsam auf und der buschige Schweif verharrte in abwartender Position.
Lucien tat es dem Vierbeiner beinahe exakt gleich, obgleich er sich nicht dazu hinreißen ließ sofort und unverzüglich den bequemen Ledersessel zu verlassen. Ein paar zischende Tropfen Bratensoße verdunsteten im Kaminfeuer, bevor der Hauptmann sich dazu durchrang den Kopf ein Stück weit zu drehen. Seufzend hob er die Schultern und gleich dem Tier an seiner Seite, war ihm anzumerken, dass er sich empfindlich in seiner faulen und bequemen Ruhe gestört fühlte. Er winkte Fenris mit klarer und befehlsgewohnter Stimme heran und ließ ihn zu seinen Füßen Platz nehmen; hieß ihn dort zu verweilen. An das klopfende Geräusch an der Tür gewandt rief er mit lauter und durchdringender Stimme: „Ja? Wer begehrt Einlass zu so später Stunde?“ Ein Seitenblick ging in Richtung Hendrik. Noch war der Abend nicht dermaßen vorangeschritten, als dass Jean oder Marlene sich hätten Sorgen um den Knaben machen müssen.
„Konstantin, Meister Sabatier“, war eine undeutliche Stimme von draußen zu vernehmen. Der nächtliche Besucher wartete, bis man ihm die verriegelte Eingangspforte öffnete.
Draußen vor der Tür prasselte der heftige Regen vom schwarzen Himmel in die Aprilnacht herab und durchweichte alles und jeden: die schlammige Straße, die moosigen Strohdächer der umliegenden Stadthäuser und auch die verhüllte Gestalt, die vor seiner Tür wartete.
Die Person schlug die dicke, wollene Kapuze zurück, die sie vor dem Regen schützen sollte und Lucien erblickte graue Augen, die ihn fast etwas vorsichtig anblickten.

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Er verbeugte sich zur Begrüßung. „Verzeiht, Meister Sabatier. Ich bin hier um Hendrik zu den Van de Burse zu bringen. Marlene hat noch im Anwesen ihrer Familie zu tun und Jean wird unerwarteterweise heute für den Nachtdienst benötigt. Ich soll die Kinder zu Marlene bringen.“ Er sah den Hauptmann an und etwas wie Neugier blitzte in seinen hellen Augen auf.
Lucien öffnete die schwere Eichentür einen Spalt und vergewisserte sich, dass die vertraute Stimme hinter der eisenverstärkten Konstruktion auch zu dem entsprechenden Gesicht passte, obgleich er nicht besonders viel Vorsicht walten ließ. Man mochte ihm Bequemlichkeit oder simple Torheit vorwerfen, aber in Zeiten wie diesen, war es eher unwahrscheinlich, dass ein Attentäter oder unbekannter Kainit sich unbemerkt in die Stadt schlich um ihn zu ermorden. Krieg lag in der Luft. Bürgerkrieg um genau zu sein und da sich die verschiedenen Fraktionen und Lager noch nicht vollständig formiert hatten, waren Reisen in Flandern derzeit für jedermann ein zweischneidiges Schwert. Niemand wusste, wer schlussendlich auf wessen Seite stehen würde. Der strömende Regen durchweichte den Boden und gleich nachdem der Hauptmann die Tür vollends aufgezogen hatte und das Gesicht des vertrauten Knaben erkannte, bat er Konstantin einzutreten. Hinter ihm wurde wieder die Verriegelung vorgeschoben, nachdem der Gangrel noch ein letztes Mal missmutig den strömenden Regen begutachtet hatte. „Ein ganz schönes Sauwetter da draußen. Setz dich, Junge, und wärm dich etwas auf. Es gibt Braten und ein wenig Rübeneintopf.“ Er wies Fenris streng an sich zu benehmen, während er Hendrik bedeutete noch einen hölzernen Teller und ein weiteres Besteck zu holen. „Ein unverhoffter Wachwechsel? Na ja, hoffentlich fallen nicht noch mehr Leute aus. Dieses feuchte Wetter kriecht den Männern in alle Glieder. Da können wir uns glücklich schätzen einen der besten Heiler des Landes in unserer Stadt zu wissen.“ Der Hauptmann nickte zwinkernd in Richtung Hendrik und nahm Konstantin den regendurchtränkten Mantel ab, um ihn nahe dem Feuer zum Trocknen aufzuhängen. In Richtung des Jüngeren meinte er nur entschuldigend die Schultern hebend: „Tja Hendrik, du hast es gehört. Sieht so aus als müsstest du bald fertig werden mit dem Braten. Deine Mutter wartet schon auf dich.“ Konstantin schenkte er großzügig aus einer Karaffe einen Schluck Wein ein. Dafür, dass er sich nichts aus sterblicher Nahrung machte, mimte er auf geradezu bemerkenswerte Weise den zuvorkommenden Gastgeber. Immerhin war er jemand, der zehrenden Hunger und Durst nur allzu gut kannte.
Der junge Mann wurde in die Stube geschoben und grinste Hendrik von oben herab zu. „Na, Kleiner?“
Der Junge verschränkte mit gespielter Kränkung die Arme vor der Brust. „Ich bin nicht klein!“
„Doch, bist du!“ Der Ältere fuhr ihm wie einem jungen Kind durch die Haare und Hendrik stieß ihm die Hand weg. Ganz offensichtlich ein Spiel, dass sie nicht selten zu spielen schienen, denn jeder kannte seine Rolle.
Der Hauptmann der Nachtwache ließ die Kinder ihre Späße und ihren Unfug treiben, gab es doch später einmal ohnehin nicht mehr besonders viel, dass einem die Tage und Nächte mit ausgelassener, ungezwungener Freude versüßte. Nicht das er seine Existenz verfluchte oder das sterbliche Dasein als niemals endenden Alptraum betrachtete, aber dennoch würden beide Jungen später einmal Verantwortung für ihre Stadt und ihre Gemeinschaft und Familien übernehmen müssen. Da waren Momente wie diese eher rar gesät.
Konstantin wehrte sich nur halbherzig als ihm Becher und Teller in die Hände gedrückt wurden. „Meister Sabatier... ich habe leider nicht viel Zeit...“ Er begann zu essen und Lucien erkannte, dass er sich nur mit Mühe beherrschen konnte nicht die ganze Schüssel in Windeseile zu verdrücken. Dieser Mann war Zeiten des Hungerns gewohnt, das war offensichtlich.
Umso zufriedener betrachtete Lucien den jungen Konstantin, der offenbar zwischen seinen Ausflügen von Gent nach Brügge und zurück nicht besonders viel zu beißen bekam. Er nahm nicht an, dass er bei Alida hungern müsste, demnach wurde wohl in Gent nicht besonders üppig mit sättigenden Speisen aufgewartet. „Iss nur“, meinte er ruhig und goss noch etwas Soße über den Braten. „Die paar Minuten wird Marlene auch noch warten können, ansonsten kannst du ihr ausrichten, ich habe darauf bestanden.“
Schweigend stopfte er Braten, Eintopf und Soße in sich hinein während Hendrik in raschen Worten die Geschichte wiederholte, die ihm soeben erzählt worden war. Lucien grinste selig, konnte er sich doch nicht eines gewissen Stolzes erwehren, auch wenn man diese Geschichte, um sie etwas schmackhafter zu machen, hie und da etwas dicker auftragen hatte müssen. Im Nachhinein klangen diese ‚Abenteuer‘ gerade für Kinder immer ganz besonders spannend, obwohl sie in der Realität dann nicht besonders ‚erfreulich‘ gewesen waren.
Ein erneutes Klopfen riss die zwei Männer und den Jungen aus ihrem Treiben. Dieses Mal war das Geräusch durchdringend, laut und fordernd. Jemand rief etwas und hämmerte erneut an die Pforte. Die Worte konnte Lucien nicht wirklich verstehen. Deutsch? Irgendetwas klang wie 'ein' und 'schnell'. Fenris knurrte bedrohlich und erhob sich um mit wachsam gesenktem Haupt Richtung Tür zu schreiten. Er fletschte die Zähne. Konstantin und Hendrik wechselten einen Blick und der Ältere ließ den Teller noch halbvoll auf ein Regal fallen. „Wir verschwinden durch die Hintertür!“ Seine Stimme war bestimmt, doch Hendrik sah Lucien an und ließ seine Hand zum Küchenmesser gleiten. Fragend blickte er den Gangrel an.
Als die Stimme mit dem eigentümlichen Dialekt gedämpft durch die eisenbeschlagene Tür hallte und Fenris zu knurren begann, fuhr Luciens Hand an sein Schwertheft. Kaum war das dumpfe Pochen an der Tür verklungen, da nickte der Hauptmann sowohl Hendrik als auch Konstantin bestätigend zu. Es bedurfte keiner weiteren Worte, denn der Ältere der beiden hatte gleich erkannt das möglicherweise Gefahr im Verzug war. Allein mit Blicken deutete Lucien Konstantin an, dass er sich um Hendrik kümmern sollte, während letztgenannter einen vielsagenden Blick bekam, der ihn dazu anhalten sollte das zu tun, was der Ältere ihm auftrug. Kaum waren die beiden Jungen durch die Hintertür verschwunden und Fenris mit ein paar Einhalt gebietenden Worten wieder ein Stück weit in Richtung Kamin verbannt worden, da öffnete der Gangrel das Tor hinaus zum strömenden Regen der unfreundlichen Aprilnacht. Er hatte ein paar Fetzen Deutsch vernommen. Und da er mit der fürstlichen Verwandtschaft von Lilliane nicht allzu viel zu tun hatte, drängte sich allmählich ein Verdacht auf, der tatsächlich auf Probleme hindeutete. Auf Latein sprach er rau nach draußen, während seine Augen den Besucher kritisch beäugten: „Und wer glaubt da, dass ihm so schnell geöffnet wird? Ich hoffe, ihr habt einen guten Grund so spät an meine Pforte zu hämmern.“
'Macht auf!“, gefolgt von einem heftigen Fluch, konnte der Hauptmann eine eher junge, männliche Stimme in deutsch vernehmen. Erneut folgte das laute Klopfen. Dann wechselte die Stimme in Latein. „Bitte, Meister Sabatier, öffnet.“ Er schien abgelenkt und hatte ganz offensichtlich Schwierigkeiten sich auf die fremde Sprache zu konzentrieren.
Lucien überdrehte die Augen. Es musste wie immer alles sofort und unverzüglich geschehen. Wenn er immer gleich jedem alten Mütterchen und besorgtem Bürger ohne Vorsicht und Verstand Tor und Tür eröffnen würde, so hätte er, wenn er auch nicht immer gleich einen Dolch in die Brust gestoßen bekäme, zumindest immer wieder einmal erhöhten Erklärungsbedarf gehabt. Oftmals hätte er den ‚Dienst am Bürger‘ aber auch einfach gerne hinten angestellt. Besonders dann, wenn er es sich gerade in angenehmer Gesellschaft an einem behaglichen Feuer bequem gemacht hatte. Aber wer fragte schon nach dem was er wollte? Seufzend riss er die Tür auf und ließ die Rechte blitzschnell wieder an sein Schwertheft fahren, bereit den kalten Stahl in jedem sich ihm entgegen werfenden Körper zu versenken. „Auf dann. Kommt herein, wer immer ihr seid. Niemand will sich im Regen unterhalten, wenn er nicht muss.“
Tatsächlich stieß sich ihm ein Körper entgegen und das mit einer Heftigkeit, die ihresgleichen suchte. Sein vermummtes Gegenüber war einer Panik nahe. Lucien hörte das Surren eines Pfeiles, der gleich neben seiner Tür einschlug und im Holz stecken blieb und das Geräusch von Stahl, der aus einer Schwertscheide gezogen wurde. In den Schatten der Nacht sprangen mehrere schwere Männer aus den Sätteln ihrer Pferde und das laute schlurfende Geräusch von schweren, durch Schlamm stapfenden Stiefeln kam näher.
Der Gangrel hörte eine fordernde Stimme auf Flandrisch. „Wir haben auf Geheiß unseres Herrn keinen Streit mit euch, Sabatier. Gebt den Spion heraus! Wir verfolgen ihn bereits seit Brüssel und wir haben es satt, dass er uns mit seinem heidnischen Teufelszauber immer wieder aufs Neue entkommt.“
Der Kopf des Hauptmanns fuhr reflexartig zurück als der dunkle Schaft des surrenden Pfeils krachend gegen seine Eingangstür knallte und dort zuckend stecken blieb. Er hatte in dem allgemeinen Durcheinander und ob der plötzlichen Überraschung keine wirkliche Zeit mehr sich kritisch davon zu überzeugen, wen er da eigentlich in seine Zuflucht einließ aber das Geräusch mehrere gerüsteter Soldaten und des leicht bellenden Brügger Akzents, ließ auf Wachleute der höchsten Obrigkeit schließen. Zumindest wollten ihn das die stapfenden Stiefel und die gezogenen Schwerter zwischen Tür und Angel weismachen. Allein die Erwähnung von ‚Brüssel‘, ließ seinen Verstand rotieren. Johanna die Wahnsinnige bereitete sich in Gent auf den Bürgerkrieg vor und Antwerpen war weit von Brügge entfernt. Die Tür einen Spalt offenlassend, lugte er in die feucht-neblige Dunkelheit hinaus und versuchte das Rüstgeschirr der Soldaten vor ihm auszumachen. Er musste wissen, in welchem Namen man hier eine derartige Hetzjagd veranstaltete, wenngleich auch der Ausdruck ‚heidnischer Teufelszauber‘ bereits auf einen ganz bestimmten Machthabenden hinzuweisen schien: Bischof Martin. Lucien brüllte in den prasselnden Regen: „Dafür das euer friedliebender Herr keinen Zwist mit mir haben will, spricht dieser Pfeil in meiner Tür mit Verlaub eine seltsam offensichtlich andere Sprache. Mir ist es gleich, wer ihr seid, oder wer euch schickt. Das hier ist Brügge. In Brügge gibt es eine eigene Gerichtsbarkeit, einen Stadtrat und Magistrat sowie einen eigenständigen Blutvogt und Gesetze. Solange ihr nicht von unserer Fürstin Johanna persönlich geschickt wurdet oder ein offizielles Schreiben mit Siegel und Zeichen jemandes bei euch trägt, dem ich zur Treue verpflichtet bin, werde ich diese Hetzjagd nicht unterstützen. Solltet ihr etwas Amtliches bei euch tragen, so wendet euch an den Stadtrat! Bis dahin ist die Rechtslage für mich nicht geklärt und was ihr hier veranstaltet ist in den Augen des Gesetzes versuchter Mord auf fremden Grund und Boden. Über die Strafe für versuchten Mord, muss ich die Herren wohl nicht gesondert aufklären oder etwa doch?“ Er wartete noch einen Augenblick ab, damit die Soldaten etwas erwidern konnten.
„Herr?“ Mittlerweile hatten sich drei vermummte Gestalten aus der Dunkelheit geschält, von denen zwei inne hielten und fragend den Dritten ansahen. „Stimmt, dass, was er sagt?
Auch der Dritte blieb stehen und sog tief und fast wütend die Luft ein. Er sah die kleine steinerne Eingangstreppe hinauf, an deren Ende Lucien den Verfolgten hinein gelassen hatte und zog die Kapuze zurück. Der Hauptmann erkannte die Züge des ehemaligen Schreibers.

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„Wir sind im Auftrag des Bischofs von Brüssel hier. Wenn wir die Geistlichkeit von Brügge kontaktieren müssen, dann werden Fragen aufkommen, Sabatier! Fragen, die ihr nicht beantworten wollt. Das sollte euch klar sein... Gebt den Hexer raus! Dann habt ihr keinen Ärger und wir auch ein Problem weniger.“
Der Hauptmann erstarrte als der vermeintliche Anführer der Schergen des Bischofs die Kapuze zurückzog und das ihm nur allzu bekannte Gesicht von Hans, dem ehemaligen Schreiber, zum Vorschein kam. Der dienstbeflissene, eher introvertierte Junge mit dem verkrüppelten Bein war in jener grauenhaften Nacht, da Leif Thorson seiner Vergangenheit ins Auge hatte blicken müssen, die Nacht der Roten Hochzeit, in der, abgesehen von der Schlacht um Brügge, mehr unschuldiges Blut vergossen worden war als jemals zuvor, für den Mord an Lillianes Mündel Marie angeklagt und verurteilt worden. Die Anklage war jedoch fallen gelassen worden und Gerüchten zufolge hatte der Bischof von Brüssel höchstpersönlich interveniert um dem Schreiber das Leben zu retten. Seitdem hatte man im Grunde nichts mehr von ihm gehört, aber es war ein offenes Geheimnis gewesen, dass Martin nur allzu bereitwillig seine schützende Hand über den Jungen gehalten hatte. Hans hatte offenbar neue Verbündete und eine neue Aufgabe gefunden, welch Ironie. Weitaus bedenklicher und ärgerlicher war jedoch, dass der neue Speichellecker des Bischofs mit seinen Drohungen gar nicht so Unmögliches versprach. Sicher mochte es noch ein Weilchen dauern, bis er den örtlichen Geistlichen den ‚Wunsch‘ des Bischofs derart vermittelt hätte, bis diese sich sogleich energisch an den Stadtrat gewandt hätten. An und für sich hätte Lucien damit wertvolle Zeit gewonnen, aber mit den richtigen Einflüsterungen und Beschuldigungen an der richtigen Stelle, konnte selbst der nutzlose Schreiber Hans ihm im Namen seiner Eminenz das Leben schwermachen. Und das obwohl man sich stillschweigend bereits über mehrere Jahre hinweg auf eine Art ‚Waffenstillstand‘ geeinigt hatte. Fieberhaft überlegte der Gangrel. Was immer dieser Flüchtling bedeuten mochte oder wie wertvoll er für irgendjemanden auch war, in diesem Moment ging es für ihn im Grunde genommen ums Ganze. Sollte er dem Wunsch des Bischofs nicht nachkommen, riskierte er sein Ansehen und seine Stellung als Hauptmann zu verlieren. Nichts wäre einfacher als ihn als Monster und Häretiker zu brandmarken und bis an sein Ende zu jagen. Damit wäre alles, was er sich in all den Jahrzehnten in Brügge aufgebaut hatte zum Teufel. Wie er es schon Leif gegenüber gesagt hatte, war der Bischof schon von je her ein Damoklesschwert über ihrer aller Köpfe gewesen und Alida hatte er mehrfach zum Handeln gedrängt, obgleich es aussichtlos erschienen war. Er hasste es die Füße stillhalten zu müssen und nichts gegen einen übermächtigen Feind ausrichten zu können, der ganz nach Belieben mit ihren Existenzen spielen konnte. Es galt eine Entscheidung zu treffen. Weiterhin der brave Hauptmann bleiben und ein Leben in relativer Behaglichkeit und Sicherheit führen und sich auf den Früchten seiner blutigen Arbeit ausruhen oder abermals ein schier endloses Dasein als flüchtender Vagabund führen. Lucien Sabatier war zu stolz als das er jemandem wie Bischof Martin den Hintern abwischen wollte, ganz egal wer dieser Flüchtling sein mochte. Es ging ums Prinzip.
Die dunkle Stimme des Hauptmanns fegte durch den kühlen Aprilregen. „Ich beglückwünsche dich zu deiner neuen Stellung Hans. Es freut mich, dass du Absolution erhalten hast und dein ganzes Wirken und Streben nun unserer Mutter Kirche und unserem Herrn gilt.“ Er pausierte kurz. „Aber auch wenn ich nur zurückgeben kann, dass ich keinen Zwist mit deinem neuen Herrn vom Zaun brechen möchte, so widerstrebt es mir aufs Äußerste deinem Wunsch nachzukommen. Deine Drohungen machen es da leider auch nicht besser, mein lieber Hans. Und wenn du denkst, du kannst mich mit der Macht des Bischofs, denn das sei dir gesagt: es ist nicht deine Macht, Hans, einschüchtern, so liegst du bedauerlicherweise falsch. Tu was du tun musst, Hans, dasselbe werde ich tun. Aber richte deinem Herrn aus, dass wenn er den Konflikt mit mir sucht, er ihn bekommen kann. Er soll es sich gut überlegen, denn auch wenn ich kein Würdenträger bin, habe ich einen sehr langen Atem.“ Er wollte die Tür schon schließen, fügte dann aber noch rasch hinzu: „Wende dich an den Stadtrat oder unseren Bischof, Schreiberling. Denn ich schwöre dir: Wer immer mein Haus ungefragt betritt, den schicke ich augenblicklich zur Hölle.“
Dann schlug er die Tür zu, sperrte ab und schob den schweren Riegel vor. Wenn Hans und der Bischof Krieg haben wollten und es sich nicht mehr vermeiden ließ, dann sollte es wohl so sein. Es war ohnehin nur eine Frage der Zeit gewesen und er war sich sicher, auch in Brügge ein paar Verbündete zu haben. Hastig drehte er sich zu dem Flüchtigen um. „Ich hoffe, ihr seid das hier alles wert. Ich habe gerade einen Krieg mit der Kirche für euch vom Zaun gebrochen obgleich ich zugebe, dass es früher oder später ohnehin passiert wäre. Also… wer seid ihr?“
Der Eindringling war für Lucien im ersten Moment nicht zu sehen. Draußen waren die lauten Flüche der Verfolger zu hören und die Stimme von Hans. „Das werdet ihr bereuen!“
Die Augen des Gangrel spähten misstrauisch durch das Zimmer, dann erblickte er mit einem Male die Gestalt, die auf der Bank in der Nähe des Kaminfeuers fast als wäre er ohnmächtig geworden zusammen gesunken war.
Die Kapuze war zurück geschlagen und ein vom Fieberschweiß und Regen nasses Gesicht war zu erkennen. Der blonde Mann atmete schwer und blickte ihn von unten mit glänzenden Augen an.

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Das wahrscheinlich sonst so vertraute Latein ging ihm schwer von der Zunge und er musste immer wieder zwischen drin inne halten um nach Luft zu ringen. „Habt Dank, Meister Sabatier. Ich... wusste nicht, wohin ich sonst gehen sollte. Die Grenze nach Deutschland... sie wurde zu gut bewacht und es gab kein Durchkommen. Sie waren mir immer auf den Fersen, diese...“ Ein Fluch in Deutsch folgte. Die Finger des Zauberlehrlings gingen zu seiner linken Seite. Ganz offensichtlich war er verwundet.
Der Hauptmann besah sich mit einiger Überraschung den Flüchtling und für den Bruchteil einer Sekunde war so etwas wie der Anflug von Reue auf seinen Zügen zu bemerken. Er hatte gerade einem der derzeit mächtigsten, sterblichen Würdenträger seines Landes und der Domäne Brügge den Stinkefinger gezeigt und ihm mehr oder weniger hochoffiziell den Fehdehandschuh hingeworfen. Einem Würdenträger, der nicht nur mächtig und vermögend, sondern zudem auch bestens informiert über die Welt hinter dem Vorhang und insbesondere seiner Wenigkeit war. Hans mochte zwar ein Schmierenkomödiant und Hintern küssender Günstling sein, aber er würde recht behalten: Das hier würde der schicke Hauptmann der Brügger Nachtwache definitiv noch auf die eine oder andere Art schwer bereuen. Und für wen das Ganze? Für Helmut, den tollpatschigen Aspiranten eines mächtigen, deutschen Erzmagiers. Lucien verkniff sich ein Überrollen der Augen. Vielleicht standen seine Karten ja doch gar nicht so schlecht und sagte nicht schon die heilige Lilliane von Erzhausen in ihrer Segnungsschrift, dass alle Leben gleich viel wert waren? Immerhin konnte sich hier keiner über eine Selektion seinerseits beschweren.
Einen Moment lang verharrte Lucien noch an der Tür und lauschte nach draußen in den schweren Regen, ob nicht doch ein Tölpel einen Alleingang versuchen würde. Als er sich schlussendlich vergewissert hatte, dass ihnen zumindest in den nächsten Minuten nicht der Kopf von den Schultern geschlagen werden würde, ließ er Fenris Wache halten und beugte sich zu dem Jungen hinunter. „Helmut, der Zauberlehrling... Von allen möglichen Flüchtlingen mit deutscher Herkunft hätte ich dich hier am wenigsten erwartet.“ Der Hauptmann schüttelte den Kopf und besah sich die Wunden des Knaben, während er weitersprach. „Offenbar stimmt es also: Die Deutschen sammeln ihre Heere an der Grenze zu Flandern. Wenigstens damit hatte Johanna nicht Unrecht. Es wundert mich, dass du es dann überhaupt über die Grenze geschafft hast, doch stellt sich mir zudem natürlich die brennende Frage: wieso? Meister Aleister wird dich nicht ohne Grund quer durch alle möglichen Heerlager geschickt haben. Und warum verfolgt dich ein Trupp Soldaten der Privatarmee des Brüsseler Bischofs? Hast du am Ende gar bei hellstem Tageslicht gezaubert, Junge?“

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Der Weg zum Ziel beginnt an dem Tag, an dem du die hundertprozentige Verantwortung für dein Tun übernimms.
Dante Alighieri


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 Betreff des Beitrags:
Verfasst: Di 26. Dez 2017, 16:41 


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BeitragVerfasst: Mi 27. Dez 2017, 15:32 
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Helmut schüttelte nur schwach den Kopf. „Ihr missversteht, Meister...“ Er hob die Fetzen seines weißen Kittels um die Wunde näher zu betrachten. Es war nur ein Kratzer. Nichtsdestotrotz sah er beim Anblick der leicht blutenden Wunde kreidebleich aus. „Es gab Gerüchte in Deutschland... Über eine Verschwörung, über Pläne den Kaiser zu ermorden. Alle Hinweise führten nach Brüssel. Da Meister Aleister vermutet, dass es auch in den Reihen der Magi Mitglieder gibt, die die Umsetzung dieser Pläne favorisieren, hat er niemandem vertraut und statt eines Spions oder Boten mich nach Flandern geschickt. Ich konnte Schreckliches in Erfahrung bringen, wurde aber dabei entdeckt... Ich habe versucht zurück nach Deutschland zu fliehen, aber die Grenzen sind zu gut bewacht. Ich hätte nie vermutet, wie mächtig unsere Feinde sind... Also schlug ich mich nach Norden durch, doch auch dort gelang es meinen Häschern mich ausfindig zu machen. Schließlich habe ich es bis kurz vor die Grenzen Brügges geschafft. Doch auch hier lauerten sie bereits. Mit Mühe habe ich es bis zu euch geschafft. Ihr wart ein Verbündeter des Kaisers. Ich wüsste nicht, wem ich sonst noch vertrauen könnte.“ Die Anstrengung schien zu viel für ihn. Erschöpft ließ er den Kopf gegen die Wand sinken.
Luciens Augen verkniffen sich zu schmalen Schlitzen und eine angestrengte Denkfalte bildete sich auf der fahlen Stirn, während er den Ausführungen des jungen Helmuts lauschte. Je mehr der Zauberlehrling berichtete, desto mehr verhärteten sich die Züge des Hauptmanns. Beim Anblick der rein oberflächlichen Wunde und dem zwar appetitlichen aber kaum ernst zu nehmenden Rinnsals aus dünnem Blut, verkniff er sich erneut eine entsprechende Bemerkung. Für jemanden wie Helmut war es höchstwahrscheinlich eine extreme Seltenheit vor jemandem flüchten zu müssen und dabei gar noch verwundet zu werden. Der Junge war ein Bücherwälzer und Stubenhocker, von bewaffneten Konflikten auf Leben und Tod hatte er sicher nur in Schriften gelesen. Trotzdem tat er ihm leid und war gleichsam zu bewundern. Wenn er eine Verfolgungsjagd der bischöflichen Truppen von Brüssel nach Brügge überlebt hatte und auch den Grenzposten ausweichen hatte können, konnte er so dumm nicht sein. Der Gangrel legte ihm beruhigend eine Hand auf die Schulter, immerhin hatte Helmut die ganze Sache bis hierhin überlebt. „Ich glaube Meister Aleister kann stolz auf dich sein ,Helmut. Da alle Zeichen momentan auf Krieg und offenbar auch Verschwörung stehen, ist es für niemanden einfach in einer derartigen Situation den Mut aufzubringen sich absichtlich und in vollem Wissen in Gefahr zu bringen. Ihr habt eurem Meister als auch eurem Kaiser gut gedient.“ Mit einer raschen Bewegung erhob sich der Gangrel und durchsuchte rumpelnd ein paar Kommoden und Schränke; kehrte anschließend mit einem Fläschchen Alkohol und ein paar Streifen Leinen zurück. Während er die Stoffstreifen in halbwegs gleichmäßige Bahnen teilte wandte er sich erneut an Helmut.
„Also gut. Ihr habt den begründeten Verdacht gehabt, dass ein Attentat auf den Kaiser erfolgen soll und dass die Spur der Verschwörer gen Brüssel führte Welcher Art waren diese Hinweise und seid ihr euch sicher sie richtig gedeutet zu haben?“ Lucien schüttelte gedankenverloren den Kopf. „Scheinbar wohl doch, sonst hättet ihr euch nicht auf diese gefährliche Reise begeben und wäret nicht angegriffen worden. Und wenn Bischof Martin euch die eigenen Truppen hinterherjagt, so müsst ihr tatsächlich irgendetwas herausgefunden haben, das zumindest unserem Vorzeige-Klerus missfällt. Was konntest du in Erfahrung bringen, Junge?“ Er strich mit einem Stück Leinen über die leicht blutende Wunden, welches er zuvor in Alkohol getränkt hatte. „Das brennt ein bisschen, aber es ist notwendig.“ Im Anschluss legte er einen leichten Verband an, den er sorgfältig wickelte. Es war natürlich mehr Schein als Sein, denn in Wahrheit war die Wunde kaum der Rede wert. Im Endeffekt war es nur eine symbolische Würdigung von Helmuts Mut und Tapferkeit.
Helmut biss die Zähne aufeinander und gab einen gequälten Laut von sich als sich Lucien an der Wunde zu schaffen machte und sie verband. Lucien fiel auf, dass die Ränder bereits zu bluten aufgehört hatten und seltsam vertrocknet wirkten. Der junge Maguslehrling ballte vor Schmerz die Fäuste und es dauerte einige Augenblicke bevor er weiter sprechen konnte. „Meister Aleister erhielt aus den Kreisen seiner Mitinitiierten einen Hinweis: Bereits seit einiger Zeit wurde beobachtet, dass das Haus der Welfen in Braunschweig ihre Beziehungen zu England und der Kirche weiter und weiter ausbaute. Friedrich wurde im letzten Jahr,zu Beginn des Kreuzzuges, vom Papst exkommuniziert. Er war bereits mit seinem Kreuzfahrerheer, 1000 Ritter und 10000 Fußsoldaten, auf den Schiffen bei Brindisi als plötzlich eine Seuche ausbrach, die das Auslaufen unmöglich machte. Der Papst sah darin eine plumpe Ausrede, obwohl einige der besten Männer des Kaisers dabei starben und auch Friedrich selbst erkrankte. Also sprach er den Kirchenbann aus und wünscht inoffiziell die baldmöglichste Wahl eines Gegenkönigs. Natürlich lässt sich das Geschlecht der Welfen unter unserem alten Freund, dem Untoten Otto, nur allzugern als frohe Boten des Papstes feiern, die diese Rolle allzugern einnehmen wollen. Eine große Verschwörung ist im Gange. Die Kirche plant die Welfen zu unterstützen. Die haben längst ihre Kontakte nach Flandern und England ausgebaut. Sobald hier der wohl bevorstehende Bürgerkrieg ausgebrochen ist, wird Ottos Ghul, ein Mann, den man nur als Otto, das Kind, kennt, versuchen die Fürsten für seine Wahl zum König zu überzeugen. Er verspricht ihnen und den flandrischen Fürsten, die bei seinem Plan mitmachen, reiche Lehen in Flandern sobald er das Gebiet dem Heiligen Römischen Reich einverleibt hat. England wird ihn wahrscheinlich gegen entsprechende Entlohnung gewähren lassen, konnte ich heraus bekommen. Die Kirche weiß, dass Friedrich Kontakte und Untergeben unter seinen Reihen hat, die von den meisten Hexen- und Vampirjägern voller Inbrunst verfolgt werden. Dass macht ihn in ihren Augen nur noch bedrohlicher. Ich konnte in Brüssel in die Paläste des Bischofs eindringen und Informationen gewinnen: Der Bischof ist gemeinsam mit einem Mann namens Jerome auf dem Weg nach Palästina. Dieser Jerome ist einer der erfolgreichsten Hexenjäger und Attentäter und er wird alles in die Wege leiten um den Kaiser ein für allem Mal aus dem Weg zu räumen. Auch wenn seine Leibgarde aus Männern besteht, die über mehr als die bloßen Fähigkeiten eines Wachmannes verfügen... Er ist gut darin. Und wenn Friedrich tot ist steht der Wahl Ottos zum König und dem Zug nach Flandern nichts mehr im Weg.“ Helmut sog tief die Luft ein und versuchte sich zu sammeln. Er hatte schnell geredet und der lange Monolog hatte ihn ermüdet.
Lucien hatte nur wenig Grund den eben dargelegten Informationen Helmuts keinen Glauben zu schenken. Helmut war vielleicht ein wenig tollpatschig, aber er diente einem mächtigen und weisen Magier, der dem deutschen Kaiser Friedrich die bedingungslose Treue geschworen hatte und zusammen mit ihm, diese merkwürdige Vereinigung aus Wesen des Übernatürlichen bereits schon seit einiger Zeit am Laufen hielt. Der Name ‚Otto‘ war ihm ein Begriff, aber zu dieser Zeit trugen eine ganze Menge Leute diesen Namen. Otto der Gegenkaiser und Ghul und schließlich auch Otto der Untote. Es schien geradezu vorherbestimmt, dass die Träger dieses Namens alle miteinander geradezu vortreffliche Kontrahenten der derzeitigen, deutschen Führung darstellten.
Lucien nickte konzentriert. „Also zusammengefasst: Friedrich hat es sich wie üblich mit der Kirche verscherzt und diese ist jetzt einem Gegenkaiser, der unserem lieben Heiland und dem Kreuze artig die Treue schwört und die kirchliche Machtposition weiterhin stärkt, gar nicht mehr so abgeneigt. Und aus einem lächerlichen Grund haben sie den Kaiser jetzt auch gleich exkommuniziert, obwohl er im Heiligen Land gerade sein Blut für die Pfaffen vergießt.“ Der Gangrel pausierte kurz. „Und der Anführer der Welfen, dieser Otto und seine sterblichen und unsterblichen Lakaien, verbünden sich jetzt mit der Kirche, die über Friedrichs Verbindung zum Übernatürlichen Bescheid weiß, um ihn mithilfe eines Attentäters auszuschalten. Und während hier in Flandern und Deutschland die Verschwörer Anhänger und Getreue suchen, denen sie Gold und Lehen nach dem Umsturz versprechen; gleichsam England mit Zahlungen gewogen halten wollen, reiten die Häscher gen Palästina um Friedrich zu ermorden. Allen voran unser Brüsseler Bischof Martin. Habe ich das soweit richtig verstanden?“ Er wartete gar nicht mehr auf eine Antwort des Jungen, sondern bestätigte seine Zusammenfassung bereits selbst mit einem weiteren Nicken. „Dann habe ich gut daran getan unserem Bischof und seinen Speichelleckern da draußen die Meinung zu sagen, immerhin will die baldige ‚neue deutsche Führung‘ sich ja auch Flandern einverleiben.“ Grimmig fletschte Lucien die Zähne. „Das würde unser Hochwürden natürlich nur allzu gut in den Kram passen. Aber nicht mit mir…“ Der Hauptmann sah den erschöpften Jungen kritisch an und beäugte noch einmal die verbundene Wunde. „Der Verband hält, die Wunde sollte sich nicht weiter infizieren aber ich bin kein Heiler. Ich würde es, gerade weil wir es mit Bischof Martin zu tun haben, begrüßen, wenn ein Fachmann sich das ganze noch einmal ansieht. Man kann nicht vorsichtig genug sein, also werde ich noch nach unserem besten Mann auf diesem Gebiet schicken lassen. Im Anschluss werden wir uns einen Plan überlegen, wie wir dich sicher und unbeschadet aus Brügge hinaus und über die Grenze nach Deutschland bringen können. Dort kannst du Meister Aleister von den Dingen, die du erfahren hast, berichten und die Kaisertreuen warnen. Ich selbst werde mich auf den Weg machen das zu tun, was ich am Besten kann: Töten. Ich werde sowohl Bischof Martin als auch dem Attentäter zuvorkommen.“ Der Hauptmann verzog das Gesicht zu einem schiefen Grinsen. „Jahrelang hatte uns Martin ins seinem verfluchten Würgegriff und hätte uns jederzeit mit einer Geste seiner Hand aus Brügge verjagen, wenn nicht gar tatsächlich töten können. Wir haben auf Sicherheit gespielt und diesen lächerlichen ‚Waffenstillstand‘ ewig in die Länge gezogen. Jetzt geht er zu weit und ich bin bereit alles zu opfern um diese Sache ein für allemal zu klären. Ich habe keine Lust mehr mich erpressen zu lassen und schon gar keine, demnächst unter deutscher Flagge von einem geldgierigen Arschkriecher wie Otto regiert zu werden.“
Lucien beugte sich zu Fenris und kraulte ihm die Ohren. Wortlos gab er ihm zu verstehen, dass er Leif holen und ihn hierher führen sollte. Er würde seinen medizinischen Rat der Wunden betreffend benötigen und ihm darüber hinaus über die neuesten Begebenheiten berichten. Über die Hintertür entließ er seinen Wolf in den nächtlichen Regenguss. „Jetzt warten wir ein wenig, danach bringen wir dich heil wieder nach Hause, Helmut. Deine Informationen nützen uns allen, du kannst stolz auf dich sein, Junge.“
Helmut nickte mit zusammen gebissen Zähnen. Das Atmen fiel ihm schwer und kalter Schweiß rann von seiner Stirn, während Fenris ein paar Schritte durch die Tür tat. Der Wolf erstarrte, seine Nackenhaare stellten sich gespannt und drohend auf und ein deutliches Knurren war zu vernehmen. Ganz offensichtlich war etwas da draußen, das ihn daran hinderte, getrost seinen Weg zu gehen. Lucien vernahm mit einem Mal ein Geräusch über ihm. Irgendetwas schien sich am kleinen Fenster am Dachgiebeln zu schaffen zu machen.
„Wir haben Gesellschaft“, raunte der Hauptmann dunkel in Richtung der warmen Stube und des mittlerweile schweißgebadeten Helmut. Er kannte sich in der Wundversorgung und der Behandlung von Krankheiten nur marginal aus; war sich aber sicher, dass ein so geringfügiger Kratzer nur schwerlich einen so fürchterlichen Wundbrand auslösen konnte. Außerdem war die Verletzung noch sehr frisch und was er sich von den Schlachtfeldern und dem Geheul der Verkrüppelten erinnern konnte, dauerte es ein gutes Weilchen ehe sich das gemarterte Fleisch entzündete. Oder anders ausgedrückt: Hier war etwas gänzlich anderes am Werke. Es hätte ihn nicht gewundert, wenn Martin die Waffen seiner Soldaten in Gift tränken ließ. Eile war demnach geboten. Lucien bewegte sich leise rückwärts in die Stube und gemahnte Fenris ruhig zu bleiben. An den Zauberlehrling gewandt meinte er im Flüsterton: „Es scheint so als würden wir doch noch Besuch bekommen. Ich sehe, das dir die Verwundung mehr zu schaffen macht als angenommen, daher werden wir zum Heiler gehen anstatt ihn kommen zu lassen. Die Zeit rennt uns davon und es ist nicht ausgeschlossen, dass in dieser Nacht noch Blut fließen wird. Sammle deine Kräfte, wir stehlen uns davon.“ Er deutete Helmut an sich aufzurichten und stützte ihn soweit er konnte. „Ab durch die Hintertür. Wenn wir Glück haben, müssen wir uns nur mit einem Soldaten auseinandersetzen. Ich habe einen guten Freund, der mehr als geeignet wäre für solche heimlichen Rettungsmanöver aber leider musst du fürs erste mit mir Vorlieb nehmen.“ Bevor sie sich aber aufrichten konnten, zuckte Helmut schmerzverzerrt zusammen, jede Bewegung ließ gnadenlose Pein durch seinen Körper fahren, sodass ihn der Hauptmann zurück in den Sessel sinken ließ. Zum Teufel mit Martin und seinen Pfaffen; er würde sich den Soldaten Mann gegen Mann stellen müssen. Eilig dirigierte er Fenris zurück ins Haus und schloss die Hintertür leise ab. „Fenris, du bleibst hier bei Helmut und verteidigst ihn gegen jeden, der ihm zu nahekommen will, ich kümmere mich um unseren Freund im ersten Stock. Versucht beide so leise wie möglich zu sein.“ Dann versuchte er auf möglichst leisen Sohlen in das Obergeschoss zu gelangen. Wie viele Männer hatte er gesehen? Vier oder fünf? Hans mit seinem verkrüppelten Bein wäre sicher nicht dabei. Er rechnete also zunächst einmal mit vier bewaffneten Soldaten.
Lucien schlich sich langsam und leise die Treppe ins obere Geschoss hinauf. Er kannte jede knarrende Diele, jede etwas losere Stufe und wusste, wie man so lautlos wie möglich voran kam. Im Flur im ersten Stock kam ihm bereits eine hagere Gestalt entgegen. Ein kurzes Schwert blitzte in ihrer Hand auf. Sie schien Lucien nicht zu bemerken.
Lucien riss die toten Augen auf und erfüllte sie mit unheilig flackerndem Leben um die Finsternis vor sich zu teilen. In perfekter Klarheit erkannte er Konstantin, den Gesandten der van de Burse. Ein Stück weit erleichtert, ließ er das Schwert sinken und kam ihm leise entgegen. Flüsternd gab er sich zu erkennen. „Konstantin. Was zum Teufel machst du hier? Meine Zuflucht ist vermutlich von Soldaten des Bischofs umstellt; es ist nicht sicher hier für dich. Sie verfolgen einen flüchtigen Gesandten des deutschen Kaisers, der eine Verschwörung aufgedeckt hat, an der sie ebenfalls mit beteiligt sind.“ Kurzfristig hielt der Gangrel inne und lauschte in die Finsternis. „Er ist verwundet, schlimmer noch: vergiftet soweit ich das beurteilen kann und ich weiß nicht, wie ich ihn hier sicher fortschaffen kann. Er braucht einen wahrlich begnadeten Heiler oder anders ausgedrückt: Leif.“
Konstantin hielt im ersten Moment wie erstarrt inne, als er Lucien erkannte, schluckte er schwer und trat ein paar Schritte näher. „Ihr seid also auch einer von ihnen...? Einer der Untoten? Sollte mich eigentlich nicht wundern, wenn man im Haus einer solchen lebt, dass man über kurz oder lang mit anderen dieser Art zusammen trifft...“ Er fixierte den Gangrel. „Euer Haus ist umstellt. An der Vorder- und an der Hintertür lauern je zwei schwer bewaffnete Männer. Der ehemalige Schreiber hat ihnen befohlen das Haus und euch zu bewachen und nicht aus den Augen zu lassen während er irgendjemanden in Brügge aufsuchen will, aber seine Untergebenen haben anscheinend andere Pläne. In ein paar Minuten werden sie Feuer legen. Dann steht euer Haus in Flammen. Sie wollen euch raus treiben...“
Der Hauptmann nickte bedächtig. „Das sollte dich tatsächlich nicht weiter wundern Konstantin. Es tut mir leid, dass du es auf diese Art und Weise erfahren musst und wahrscheinlich sollte ich mich einen Narren schelten, mich dir derart unvorsichtig zu offenbaren, allerdings ging ich aufgrund deiner Verbindung zu Alida bereits schon stark davon aus, dass du über die Geschehnisse hinter dem Vorhang informiert wurdest. Vor allem da du ja öfter von unserer reizenden Händlerin nach Gent geschickt wirst, wo wiederum eine ganz eigene, nächtliche Politik herrscht.“ Er wischte seine Erläuterungen mit einer wegwerfenden Handbewegung aus seinen Gedanken. „Doch wir haben wohl tatsächlich keine Zeit uns mit freundlichem Geplapper aufzuhalten, wenn das, was du sagst, stimmen sollte. Wie gut bist du mit dem Schwert, Junge? Ich muss unseren Freund so schnell wie möglich hier raus und zu unserem Heiler bzw. in ein sicheres Versteck bringen. Für mich ist es eine Kleinigkeit zu fliehen, auch wenn ich mir ungern mein Haus anzünden lasse. Nur Helmut unter uns schafft das leider nicht mehr. Wenn ich mir die zwei Waffen an der Hintertür vornehme, kannst du ihn vielleicht tragen und zu Leif flüchten?“
Konstantins Gesicht verriet keinen Gedanken. „Wo befindet sich dieser Helmut? Unten? Vielleicht gelingt es uns...“
Der Gangrel nickte und bedeutete Konstantin ihm zu folgen; führte in zurück ins Erdgeschoss zum schweißgebadeten Zauberlehrling. „Kannst du ihn tragen? Ich gehe durch die Hintertür voran. Ein Kampf wird sich wohl nicht vermeiden lassen aber dennoch sollten wir versuchen so lange wie möglich unbemerkt zu bleiben.“ An Helmut gewandt meinte er rasch: „Das hier ist Konstantin, ein Freund der Stadt. Er wird dich tragen und sicher zu unserem Heiler bringen; wir sehen uns dort.“ Vorsichtig schloss Lucien die Tür auf und trat hinaus in den strömenden Regen, Fenris an seiner Seite.
Helmut riss erstaunt die Augen auf als er Konstantin erblickte. „Ihr seid ein Magus?“
Konstantin schluckte und trat näher, schüttelte den Kopf. „Nein, bin ich nicht. Darf ich?“ Er deutete auf die zerrissene Kleidung und die Wunde des jungen Zauberlehrlings und begutachtete zögernd die Ränder und die blutige Sekretion.
Helmut insistierte: „Ein nicht initiierter?“
Konstantin nickte schweigend als wäre ihm das Thema unangenehm während seine Finger über das Fleisch tasteten. Er sah zu Lucien, presste die Lippen aufeinander um nicht aussprechen zu müssen, was er dachte.
Helmut schluckte, dann presste er hervor: „Fingerhut, ich weiß. Sie scheinen das, was sie beginnen auch abzuschließen...“ Sein Gesicht war kalkweiß.
Der Blick des Hauptmanns ging Richtung Konstantin. Die Tatsache, dass Helmut ihn gerade als Magus betitelt hatte, ignorierte er für den Moment. Einerseits verstand er den Zusammenhang nicht wirklich und andererseits hatten sie aktuell wohl bei weitem größere Probleme. Flüsternd fragte er Konstantin, dabei immer wieder einen Blick zur halb geöffneten Tür werfend: „Wie ist es um ihn bestellt? Du weißt, dass wir hier schleunigst wegmüssen und ich bin kein Heiler. Wie stehen unseren Chancen ihn lebendig zu Leif zu bringen, wenn ich die Soldaten übernehme?“
Konstantin ließ Helmut nicht aus den Augen während er Lucien mit ruhigem, sachlichen Ton antwortete. „Sehr schlecht... Das Gift wird aus Fingerhut gewonnen und wird sein Herz versagen lassen. Wir müssten ihm das Gegengift längst verabreicht haben. Aber das Ansetzen eines solchen Trankes dauert 3 Tage und er muss frisch zubereitet sein. Er weiß das...“ Er drückte Helmut die Hand auf die Schulter, unschlüssig, wie er weiter sprechen sollte.
Helmut zog einen Gegenstand aus einer Tasche hervor und reichte ihm dem dunkelhaarigen jungen Mann. „Sorgt bitte dafür, dass dieser Ring zu meinem Meister zurück kommt. Er ist … ein Erbstück.“

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Konstantin umschloss das helle Metall und nickte dem Lehrling zu.
Lucien erkannte ein merkwürfiges Symbol, das man eingekerbt hatte.

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Der Weg zum Ziel beginnt an dem Tag, an dem du die hundertprozentige Verantwortung für dein Tun übernimms.
Dante Alighieri


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BeitragVerfasst: So 11. Feb 2018, 22:00 
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Der Gangrel nickte betreten, bemühte sich allerdings gegenüber Helmut nicht allzu unsicher zu wirken. Der Zauberlehrling war vielleicht ein Tollpatsch, aber einen schmerzhaften Tod durch ein feiges Gift hatte er in dieser Form ganz sicher nicht verdient. Die wenigsten hatten das. Selbst die Verabreichung seines untoten Blutes, würde wohl nichts mehr an der Tatsache ändern, dass Helmut so gut wie verloren schien. Zumal der Status als Ghul nicht sofort eine wundersame Selbstheilung mit sich brachte: Menschen blieben Menschen und Gift blieb Gift. Nur einen knappen Moment lang richtete sich der Blick des Hauptmanns auf das metallene Erbstück mit der seltsam, eingekerbten Symbolik, dann wandte er sich dem Ausgang zu und drängte die beiden Jungen ihm zu folgen. Es half alles nichts; er konnte nicht vier Wachleute davon abhalten sein Haus anzuzünden, gleichzeitig in Windeseile und dazu noch unbemerkt Helmut zu Leif schaffen und zusätzlich noch Konstantin verteidigen. Selbst den Untoten waren Grenzen gesetzt. „Wir werden alles daran setzen es bis zu Leif zu schaffen; das ist momentan alles, was zählt. Es regnet und wenn sie unbedingt ein Haus anzünden wollen, so können sie das gerne tun. Brandstiftung ist auch ein Anklagepunkt. Eilt euch…“, flüsterte er ihnen zu und schlich sich mit Fenris an seiner Seite über den Hinterhof in Richtung der Gassen von Brügge.
Konstantin betrachtete einen Moment Helmut, dann Lucien. Man konnte seinem Gesicht ablesen, dass er dem Plan nicht viel Erfolg beimaß. „Eure Vorder- und die Hintertür werden belauert. Jeweils zwei Männer, wenn ich recht gesehen habe. Deshalb bin ich über das Fenster eingestiegen.“
„Dann müssen wir einfach eine Bresche in ihre Reihen schlagen, damit zumindest ihr beide durchkommt“, quittierte der Gangrel den Einwurf des Jungen etwas verbittert. Wenn sie wirklich derart lückenlos umstellt waren, wäre ein Kampf ohnehin unausweichlich. Man konnte nur hoffen, dass der Hauptmann die beiden am Hintereingang zügig in den Himmel fahren würden, bevor die Kollegen am Haupteingang zur Verstärkung eilen könnten. Somit hätten Konstantin und Helmut zumindest ein schmales Zeitfenster in dem sie die Flucht zu Leif antreten könnten. Diesen wollte er aber noch vor ihrer Ankunft bereits über die Notwendigkeit seiner Anwesenheit informieren; wandte sich deshalb an den Wolf an seiner Seite. „Lauf zu unserem Heiler, Fenris, und bring ihn zu den beiden Jungen hier. Du bist flink und schnell, die Wachen werden sich dir nicht in den Weg stellen können. Außerdem haben sie gleich ganz andere Probleme.“ Ein letztes Mal wandte er sich an die beiden Jungen. „Sobald der Kampf losbricht, lauft ihr so schnell ihr könnt zu unserem Heiler. Eine andere Möglichkeit gibt es nicht. Helmut schafft den Weg über das Fenster nicht und die Zeit rennt uns davon. Mögen die Götter euch beistehen.“ Dann zog er sein treues Bastardschwert aus fein geschliffenem Damaszenerstahl und ließ die unheilige Vitae durch seine Sehnen und Muskelstränge fließen.
Lucien Sabatier trat durch die geöffnete Tür in den strömenden Regen, die ledernen Handschuhe spannten sich um sein Schwertheft. Zielstrebig bahnte er sich kampfbereit und mit Abscheu in den grauen Augen seinen Weg, bereit jedes Hindernis auf die eine oder andere Art zu überwinden.
Vor Lucien war eine regenverhangene schwarze Wand zu erkennen. Irgendwo zu seiner Rechten, das wusste er, war der Stall, direkt vor ihm ein kleiner, mehr verwilderter als ergiebiger Gemüsegarten um den sich bestenfalls Marlene oder Jean kümmerten. Lucien erkannte die beiden dunkel gewandeten Gestalten sofort, da sie hell brennende Fackeln in den Händen trugen. Der eine war ganz offensichtlich gerade dabei seine als Wurfwaffe auf das Dach schleudern zu wollen, als er den Hauptmann erblickte. Seine Stimme hatte einen typischen brüsseler Dialekt und war fast ein wenig schrill. Ein grinsen legte sich auf seine Züge. „Seid ihr doch noch zur Vernunft gekommen, Hauptmann? Gut für euch. Rückt diesen übernatürlichen Abschaum raus und wir sind schneller wieder weg als ihr euch einen Humpen Bier einschenken könnt.“

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Hinter Lucien huschte der dunkle Wolf in die Nacht, ohne dass es jemand zu bemerken schien.
Lucien ging weiter ohne sich groß um das Gerede des Mannes zu kümmern, das Schwert hielt er nach wie vor fest in der Rechten. In seiner Mimik zeigte sich keine Regung als er die beiden Soldaten in dunklem Tonfall ansprach. „Der Junge steht unter dem Schutz von Brügge, bis der kleine Hans die Details mit dem Stadtrat oder der Kirche vor Ort geklärt hat. Jeder Angriff gegen ihn ist ein Angriff auf die Stadt Brügge selbst. Zudem seid ihr offenbar gerade dabei Einbruch und Brandstiftung der Liste eurer Verbrechen hinzuzufügen. Verschwindet oder ich vollstrecke im Sinne des Schutzes dieser Stadt sogleich ein Urteil.“
Der eine Mann ließ die Fackel sinken und trat einen Schritt zurück. „Du, ich glaub der meint ernst. Der sieht komplett wahnsinnig aus. Vielleicht steckt er mit den Horden der Hölle unter einer Decke? Sieh dir dieses verfluchte Schwert an...“, flüsterte er seinem Begleiter zu.
Dieser, derjenige, der zuerst gesprochen hatte, wirkte auch verunsichert, straffte jedoch die Schultern. „Wir sind auf der Seite des Herrn. Der Bischof hat uns zu seinen Männern gemacht, Leib und Blut des Herrn mit uns geteilt. Wenn der Hauptmann auf der Seite der Höllenkreaturen kämpft, dann ist er auf Seite des Bösen und unser Feind!“
Auf halbem Wege durch den strömenden Regen, holte der Gangrel mit der Rechten schwungvoll aus und schleuderte das schwere Stück scharfes Eisen sausend durch die Luft. Die Maserung des edlen Stahls blitzte für den Bruchteil einer Sekunde im diffusen Fackellicht auf bevor es sich treffgenau zwischen die Augen des gottesfürchtigen Soldaten bohrte, den Schädel spaltete und beinahe bis zum Heft eindrang. Es gab ein schmatzendes Geräusch als der überraschte Mann zunächst tonlos die Augen überdrehte, aber nicht in sich zusammenbrach, da der blank polierte Stahl sich hinter ihm in die dicken Holzpfeiler der Stallüberdachung des Gartens gebohrt hatte. Festgenagelt wie ein Stück Schinken glitt ihm kraftlos das Schwert aus der Hand und klatsche vor ihm in den Morast, als er sich gurgelnd flüsternd an seinen Kameraden wandte ohne dabei den Kopf drehen zu können: „T..t... töte diese Ausgeburt der Hölle…“. Kurz darauf wurden seine Glieder schlaff und dickes Blut ergoss sich aus Augen, Mund und Nase.
Die Schergen von Bischof Martin wiesen eine überraschend gute Konstitution auf dafür, dass ihnen gerade ein Schwert von doppelter Armlänge den Kopf fast allein durch die schiere Wucht des Metalls den Schädel von den Schultern gehoben hätte, fand Lucien. Irgendwie waren das ganz gewiss keine einfachen Sterblichen...
Angewidert blickte Lucien ohne zu Blinzeln in die Richtung des Anderen, innerlich hoffend, dass Konstantin und Helmut bereits die Chance zur Flucht ergriffen hätten. „Das Urteil lautet: Tod. Möchte noch jemand vortreten? Ihr vielleicht?“ Auffordernd sah er den zweiten Wachmann an.
Der zweite Mann des Bischofs ließ panisch die Fackel fallen. Für einen kurzen Moment hielt er sich krampfhaft an seinem Schwert fest. Seine Augen wanderten zu seinem toten Kameraden, der ihm im Todeskampf noch eine Anweisung gegeben hatte, dann ließ er das Schwert fallen und rannte so schnell ihn seine weichen Beine trugen, davon, wahrscheinlich zu seinen verbliebenen Kameraden.
Konstantin nickte mühsam. Er hatte sich den fast leblosen Körper von Helmut um die Schultern gelegt und zerrte ihn mit sich. „Beeindruckend!“, stimmte er zu. „Ich frage mich ernsthaft, was das für Kerle sind.“ Ganz offensichtlich war er in Bezug auf die körperliche Verfassung der Männer zu dem gleichen Schluss gekommen wie Lucien.
Kaum war der zweite Wachmann in panischer Angst davongelaufen, trat der Hauptmann in kühler Routine näher und riss sein Schwert mit schmatzenden Knacken aus den Überresten des toten Mannes, welcher augenblicklich wie ein nasser Sack tot vor ihm zusammensackte und in den aufgeweichten Boden fiel. Er machte sich nicht die Mühe das Blut zu entfernen; die Klinge würde heute sicher noch in weiteren Gedärmen wüten. Er nickte Konstantin knapp zu und deutete durch den schmalen Rundbogendurchgang auf die Gasse, welche in Richtung Innenstadt führte. „Ihr müsst euch beeilen. Diese Soldaten sind beileibe keinen gewöhnlichen Sterblichen und ich habe noch mindestens zwei von der Sorte vor mir. Geht jetzt. Rasch.“ Lucien bellte seine Anweisungen beinahe und huschte durch den Durchgang um sich breitbeinig mit gezogenem Schwert, kampfbereit in die Gasse zu stellen. Hier würde er den, ohne Frage gleich stattfindenden Ansturm aufhalten müssen und den Angreifern den Weg versperren. Die regennassen Haare hingen ihm wild ins Gesicht und er hatte Mühe ein dunkles Grollen zu unterdrücken. Der gute Bischof und seine Spezialtruppen gingen eindeutig zu weit.
Konstantin sah zum Dach hinauf. „Ihr könntet versuchen sie von oben abzulenken? Dann verschwinden wir über den Haupteingang und treffen uns in der Gerbergasse beim Brunnen.“ Fragend blickte er zum Hauptmann.
„Keine allzu schlechte Idee“, meinte Lucien mit einem bekräftigenden Nicken in Richtung von Alidas Vertrauten. „Eine etwas rutschige Kletterpartie, aber wenn ich sie ausreichend reize, sollten sie zumindest lange genug beschäftigt sein um euch die Flucht zu ermöglichen.“ Er wandte sich in Richtung seiner Behausung um und schickte sich an die Wand zu erklimmen. An die Jungen gewandt meinte er nur hastig: „Beeilt euch! Lange wird sie das nicht aufhalten.“
Die grauen Augen blickten nachdenklich in Richtung des schmalen Fenstersimses über ihnen und der konzentrierte Gesichtsausdruck ging beinahe nahtlos in ein sachtes Nicken über. Zwar war das eigentliche Ziel des Kirchentrupps die Festnahme und zweifelsfreie Ermordung von Helmut dem ‚blasphemischen Häretiker‘, doch mochte ein teilweise bereits dezimierter und verängstigter Haufen Schläger, möglicherweise der Achilles-Ferse eines jeden Kriegers erliegen: dem Stolz. Mit dem ersten Blutbad dieser Nacht, konnte sich der Hauptmann zumindest einer gewissen Aufmerksamkeit gewiss sein. „In Ordnung“, meinte er knapp. „Es ist einen Versuch wert und klingt allemal besser als eine nächtliche Verfolgungsjagd in der Unterzahl. Geht ins Haus und schließt euch ein. Sobald die Wachen in den Hinterhof stürmen, werde ich für Ablenkung sorgen. Hoffentlich lange genug um euch die Flucht zu ermöglichen.“ Lucien bugsierte die beiden Jungen ins Innere des Hauses, dann schritt er eilig zu der Leiche des toten Soldaten um diesen mit einem gezielten Streich den Kopf von den Schultern zu trennen. Das Schwert zurück in die Scheide auf seinem Rücken steckend, begann er den Aufstieg. Rache war süß und es blieb nur zu hoffen, das er die Schergen Martins genug reizen konnte, um alle Vorsicht und Befehle blind zu ignorieren.
Oben angekommen vernahm Lucien tatsächlich schon nach wenigen Augenblicken laute Rufe von unten. „Sie versuchen übers Dach zu fliehen! Dort!“ Mehrere von Fackeln beleuchtete Finger deuteten in seine Richtung und machten auf die Gestalt, die sich wie eine schwarze Silhouette vom dunklen Himmel abhob, aufmerksam. „Schießt ihn herunter!“ Lucien hörte, wie Pfeile aus Köchern gezogen und auf Bogensehnen gelegt wurden.
Lucien hörte die lauten Rufe und klirrenden Schwerter unter sich, als er sich über die vom Regen getränkte Dachkante schwang. Es war bei weitem schwieriger und mühsamer gewesen sich nach oben zu arbeiten, als er zunächst angenommen hatte. Zudem hatte es länger gedauert, so dass ihm gleich darauf die vertrauten Geräusche von vorbeisausenden Pfeilen um die Ohren jagten. Eines der gefiederten Geschosse traf sein Ziel sogar unlängst der linken Schulter und bohrte sich durch Rüstzeug und totes Fleisch. Zischend fuhr er herum und schleuderte den abgetrennten Kopf in die Tiefe; zielte dabei halbwegs in die Richtung der verbliebenen Angreifer. „Wer mehr möchte, muss es sich nur holen kommen!“, grollte er in die Finsternis.
Wieder ging ein Pfeilhagel in seine Richtung hernieder, aber keines der Geschosse traf. Es fiel ihm nicht schwer, sich über den Dachfirst auf das Nachbardach zu schwingen und dort über einen Schuppen herabzulassen. Er kannte die Straßen in seinem Viertel mehr als genau und wusste, wie er dem Tross des Bischofs ausweichen konnte.
Er wartete einen kurzen Moment lang um sicherzugehen, dass die aufgebrachten Soldaten ihm auch folgen konnten, denn Ziel dieser ganzen Verfolgungsjagd war es ja nach wie vor den beiden Jungen die sichere Flucht zu ermöglichen. Angespannt lauschte er in die Finsternis und warf ein nahestehendes Regenfass um, um möglichst viel Lärm zu verursachen. Er würde sie auf eine kleine Hetzjagd durch seine Stadt einladen und solange er die Karotte am Stock auch immer wieder verführerisch vor ihren Augen tanzen ließ, gab es zumindest eine kleine Chance, dass Helmut doch noch gerettet werden konnte. Wenn Leif nichts mehr für ihn tun konnte, wäre wirklich alle Hoffnung vergebens.
Luciens Plan ging auf. Er konnte die dröhnenden Schritte schwerer Stiefel vernehmen, die ihm auf dem Fuß folgten. „Dort muss er sein... Wir nehmen ihn fest. Und wenn er sich wehrt dann...“ Der weitere Plan für diesen Fall konnte von Lucien nicht mehr vernommen werden, denn er musste bereits weiter stürmen um seinen Häschern zu entkommen.
Lucien kannte die Straßen mehr als gut, doch auch die Verfolger schienen zumindest eine Ahnung der Wege und Gassen Brügge zu haben. Näher und näher kamen die Schritte. Lucien konnte das Zischen einer Klinge spüren, die plötzlich an seinem Schädel vorbei sauste. Er versuchte nach rechts zu springen um auszuweichen, geriet jedoch ins Straucheln und fand nur mit Mühe das Gleichgewicht. Die Waffe prallte glücklicherweise an seiner Schulter ab ohne in sein Fleisch einzudringen. Hinter sich ertönte ein lautstarkes Fluchen, das wenig nach einem Kirchenmann klang. Lucien spannte seine Muskeln an und gewann wieder an Vorsprung. Er schien die Verfolger schlussendlich doch noch abschütteln zu können.
Als die Geräusche der schweren Stiefel und des wenig christlichen Fluchens hinter ihm langsam im Geräusch des prasselnden Regens untergingen, schlug er noch einige Haken durch wenige begangene Seitenstraßen um sich dann in Richtung der Gerbergasse aufzumachen. Er konnte nur hoffen, dass die beiden Jungen es sicher und unverletzt dorthin geschafft hatten und der Heiler alles in seiner Macht Stehende tun würde um die tödlich fortgeschrittene Vergiftung aufzuhalten. Gift. Was für eine üble und feige Methode, dachte er bei sich als er sich die triefenden Haare aus dem Gesicht strich. Der Bischof und all seine Lakaien würden dafür büßen. Irgendwann würden sie alle dafür büßen.

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Lucien erreichte innerhalb von weiteren zehn Minuten die spärlich beleuchtete Straße, in der die Gerber bei tags ihrem Handwerk nachgingen. In der Nacht lagen die meisten Betriebe still, bewacht von vereinzelten Lehrlingen oder geifernden Hunden. Wer ertrug es schon, seine Wohnung in der Nähe dieser stinkenden Gehöfte mit ihren Bottichen zu haben. Lucien spürte einen winzigen, kaum merklichen Stich als er an seine eigene Vergangenheit als Gerberlehrjunge dachte, der fast so schnell verschwand wie er gekommen war.
Er spürte jedoch etwas anderes. Ein ungewöhnliches, fast kaltes Knistern lag in der Luft. Wie an einem heißen Sommerabend, bevor ein Gewitter niedergehen würde. Doch statt Schwüle schien die Luft vor Kälte zu erstarren.
Er verdrängte den Gedanken an seine eigene, unliebsame Kindheit, auch wenn er wohl selbst heute noch unterbewusst den näheren Bereich um das Gerberviertel mied. Dies alles lag in so unendlich weiter Ferne und schien beinahe wie ein flüchtiger Traum oder die Illusion eines Lebens, dass jemand völlig anderes gelebt hatte. Hätte er noch ein funktionierendes Herz oder andere nur allzu sterbliche Merkmale besessen, so hätten sich ihm in diesem Moment wohl alle Haare seines dicht gewachsenen Fells mit einem Mal aufgerichtet. Dieses trügerische Knistern schien ihm irgendwie vertraut und gleichsam völlig fremd. Zudem konnte er die plötzlich heraufziehende Kälte nicht recht zuordnen. Eines stand jedoch außer Frage: Was immer hier vor sich ging, ließ nichts Gutes erahnen. Überhaupt nichts Gutes. Er bewegte sich leise und gebückt entlang der Häuserzeilen entlang; hielt beständig auf den Brunnen zu, bei dem er die Jungen nach ihrer geglückten Flucht treffen wollte. Einmal hatte sein Plan funktioniert, blieb nur zu hoffen, dass sie auch noch ein zweites Mal Glück haben würden.
Tatsächlich konnte er eine gebückte Person erkennen, die sich über eine zweite Gestalt beugte. Der Körper des Jungen war hager und hochgewachsen: Konstantin. Als der Gangrel näher trat konnte er spüren, dass das seltsame Knistern zunahm. Auch wenn er nicht über die übersinnliche Wahrnehmung des Auspex verfügte, war unschwer zu vermuten, dass diese seltsame Empfindung von dem Jungen ausging. Konstantin blickte auf als er die Schritte hörte. Sein Gesicht war kreidebleich und er ballte bei Luciens Anblick die Hände zu verkrampfenden Fäusten. Leise presste er ein paar undeutliche Worte zwischen den Zähnen hervor. „Er ist tot.“
Der Hauptmann hatte zwar immer wieder mit den Bediensteten, der östlichen Verwandtschaft, als auch diversen neu hinzugekommenen Schützlingen und Protegés der Familie van de Burse zu tun gehabt, aber offensichtlich gab es bei dem einen oder anderen immer noch Dinge, die er nicht wusste oder die weiter über seine Vorstellungskraft reichten. So reagierte er zunächst etwas irritiert, als das merkwürdig kalte Knistern immer stärker wurde, je näher er sich Konstantin und dem toten Helmut näherte; wich aber aufgrund der simplen Tatsache, dass all ihre Bemühungen vergebens gewesen waren fast augenblicklich einer tiefen Betroffenheit. Das Leben war eine flüchtige Angelegenheit, manche endeten auf dem Galgen, anderen vielen in der Schlacht. Viele wurden von Krankheiten, Intrigen oder Verrat dahingerafft und dennoch gab es da diese seltenen, nicht häufig vorkommenden Momente, in denen er tatsächlich ehrliches Bedauern fühlte. Bedauern und Zorn über das Schicksal eines jungen Knaben, dessen einziges Verbrechen es gewesen war zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen zu sein. Niemand hatte je behauptet in der Welt würde es gerecht und aufrecht zugehen doch milderte diese nüchtern-kühle Feststellung nicht seinen innigsten Wunsch, gerade in diesem Augenblick den letzten Hauch der Existenz des Bischofs von Brüssel, mit bloßen Händen aus dessen Hals zu pressen. Er beugte sich nach unten und legte die Hand vorsichtig auf den Rücken von Konstantin; biss die Zähne zusammen. „Wir haben alles versucht und auch Helmut war sich der Gefahr bewusst obgleich er etwas Besseres verdient hätte als in der schmutzigen Gasse der Gerber zu sterben.“ Luciens Augen waren weit offen und er blinzelte nicht als er kühl und monoton hinzufügte: „Jemand wird dafür bezahlen, mit allem was er hat. Das schwöre ich.“

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Mit einem Blick über die eigene Schulter, hob er dann den Leichnam des toten Jungen vorsichtig auf und wandte sich erneut an Konstantin. „Geh zu Alida und berichte ihr was geschehen ist, ich sorge dafür, dass er ein anständiges Begräbnis bekommt. Du kannst ihr überdies ausrichten, dass ich für eine Zeit lang weg sein werde und vielleicht nicht mehr wiederkomme.“ Zischend unterdrückte er es seine Fänge zu entblößen, während er den Siegelring von Brügge von seinem Finger zog und diesen an Konstantin überreichte. „Er hat jemanden in meiner Domäne getötet, während meiner Wache. Seit Jahren schwebt er über uns wie ein Damokles Schwert und macht sich einen Spaß daraus unsere Angst vor ihm zu genießen. Das wird nie wieder passieren. Das endet jetzt.“ Dann machte er auf dem Absatz kehrt und wandte sich in Richtung von Leifs Zuflucht. Er würde den Leichnam vorerst dort aufbewahren und den Salubri in einem knappen Schreiben über die Vorfälle unterrichten; gleichzeitig darum bitten sich um die Bestattung zu kümmern. Dann würde es Zeit werden Ajax zu satteln.

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BeitragVerfasst: So 18. Feb 2018, 18:12 
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Konstantin sah Lucien mit Irritation an. Das eisige Knistern nahm langsam an Intensität ab als sich die Hände des Jungen entkrampften und er langsam nickte. Der Hauptmann konnte ihm ansehen, dass ihn die Geschehnisse obwohl er den jungen Magie Adepten nicht gekannt hatte, deutlich mitgenommen hatten. Er streckte zögernd die Hand nach vorne als Lucien ihm den Ring entgegenhielt. „Seid ihr sicher, Herr?“ Vorsichtig schloss er die Finger um das Kleinod. Dann zog er selbst ein Stück rundes Metall hervor. „Dieser Junge, Helmut, … er wollte, dass dieser Ring zurück zu seinem Meister kommt. Werdet ihr dafür Sorge tragen?“ Es schienen ihm viele Fragen auf der Zunge zu liegen, aber er verbiss es sich den Hauptmann um Antworten zu bitten. Stattdessen nickte er. „Ich kümmere mich um alles. Alida wird von eurer Abreise erfahren. Wollt ihr der Dame mitteilen, was ihr vorhabt? Wohin ihr reist?“

Lucien nahm den merkwürdigen und zweifelsohne wertvollen Ring von Helmut an sich und betrachtete die okkulten Insignien auf dem geschliffenen Metall. Einen wirklichen Reim darauf konnte er sich nicht darauf machen aber das musste er in diesem Augenblick auch nicht. Es genügte zu wissen, dass es Helmuts letzter Wunsch war das der Ring wieder zurück in den Besitz seines Meisters gelangte. Es verstand sich von selbst, dass er ihm diesen Wunsch pflichtbewusst erfüllen würde. „Das werde ich“, entgegnete er knapp zu Konstantin und bestätigte seinen Entschluss mit einem anschließenden Nicken. Konstantin war nicht dumm und es war ihm eindeutig anzusehen, dass er gerne noch mehr gefragt hätte, was ihm der Gangrel auch keinesfalls verübelte; allein die Zeit dafür reichte nicht aus. „Alida wird Nachricht erhalten, ich verspreche es. Bevor ich abreise, werde ich bei Leif Thorson ein Schreiben hinterlegen, welches die Hintergründe meines raschen Aufbruchs darlegt. Unser Heiler wird sie bald über die näheren Umstände in Kenntnis setzen.“ Er legte eine Hand auf die Schulter des jungen Mannes und nickte erneut. „Danke für deine Hilfe. Ohne dich, hätten wir es noch nicht einmal zur Tür hinausgeschafft. Kümmere dich bitte um Helmuts Leichnam, solange ich fort bin.“ Mit einem raschen Blick über seine Schulter fügte er leiser hinzu: „Und spute dich Konstantin. Helmut mag tot sein und seine Häscher haben erreicht was sie wollten, trotzdem bist du noch nicht völlig außer Gefahr. Wende dich im Zweifelsfall an die Stadtwache und zeig meinen Ring vor, du wirst alle Unterstützung erhalten, die du benötigst. Ich muss meine Abreise vorbereiten.“ Zweimal noch klopfte er Konstantin anerkennend auf die Schulter, dann wandte er sich um und verschwand eiligen Schrittes in die Nacht.

Ajax Nüstern schnaubten in der nebel- und regenverhangenen Nachtluft, als der Hauptmann der Nachtwache sich in den Sattel schwang. Er hatte länger gebraucht als er eigentlich beabsichtigt hatte aber für die Reise die er nun antreten würde, galt es entsprechende Vorbereitungen zu treffen. Der Gangrel würde monatelang wegbleiben und dennoch lag es in seiner Verantwortung, zu gewährleisten das bis dahin alles seinen gewohnten Gang nahm. Demzufolge hatte er die Dienstpläne für die nächste Zeit noch einmal überprüft und gegebenenfalls adaptiert, sowie Jean und einige langgediente Wachleute über seine Abwesenheit informiert. Es war nicht das erste Mal, das er seinen Posten für längere Zeit verlassen musste und auch nicht das erste Mal, das der Ausgang solch, gefährlicher Odysseen fraglich blieb. Allzu viel hatte er seinem ehemaligen Mündel nicht verraten, weil er im Zuge der vergangenen Jahre und Ereignisse, immer wieder die Erfahrung gemacht hatte, dass es zuweilen klüger war gerade die Sterblichen nicht allzu tief hinter den Schleier blicken zu lassen. Schlussendlich, geschah dies zum Schutz von Jean, Marlene und ihrer Kinder. Sollte er erfolgreich sein, würde niemand mehr danach fragen. Sollte er scheitern, verringerte er damit die Chancen auf aussichtslose, persönliche Rachefeldzüge und noch mehr Leid und Schmerz. Ihn würde auf lange Sicht gesehen niemand vermissen. Jean oder Marlene jedoch wurden definitiv gebraucht.

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Ähnlich verhielt es sich mit seinen Kampfgefährten Gerrit und Leif. Ein eher hastig verfasstes Schreiben, erklärte in groben Zügen wohin er gegangen war und was ihn dazu bewegte. Er war fest überzeugt davon, dass der Salubri sich ohnedies mit dem Rest des Rates darüber austauschen würde. Allein, ihm blieb keine Zeit mehr sich über das Für und Wider bei einer Tafelrunde im Belfried auszutauschen. Und bevor die ersten Bedenken und langwierigen Überlegungen angestellt werden konnten, die ihm in diesem besonderen Fall lediglich zum Nachteil gereichten, zog er es vor so rasch als möglich aufzubrechen. Den Siegelring des Ratsmitgliedes von Brügge, hatte er Konstantin überantwortet, der ihn Alida zur sicheren Verwahrung übergeben sollte. Gewiss würde der alte Drache ohnehin alle möglichen und unmöglichen Fragen stellen, denen sich nunmehr der junge Protegé anstelle des Gangrels würde stellen müssen.

Lucien hatte mittlerweile kein Problem mehr mit politischen Debatten und strategischen Besprechungen, auch wenn diese mitunter mühsam und langwierig werden konnten. Es fehlte ihm schlichtweg die Zeit eine endgültige, möglicherweise noch einstimmig gefällte Beurteilung der Situation abzuwarten. Manchmal half alles Reden nichts und man war gezwungen eine Entscheidung zu treffen. Er hatte sich entschieden. Fest umschloss er mit der behandschuhten Rechten den Siegelring des verschiedenen Helmuts, dem er noch kurz vor dessen Tode versprochen hatte ihn seinem Meister in Köln zu überreichen. Das Leben war nicht gerecht aber Helmut hatte wahrlich besseres verdient gehabt. Mit schier übermenschlicher Stärke, presste er das kalte Leder auf das geschmiedete Metall, sodass es beinahe drohte zu verbiegen. Der Wind frischte wieder auf und peitsche den Regen in sein fahles Gesicht, als er in seinem langen, schweren Mantel gehüllt durch das Osttor sprengte. Grimmig und ohne zu blinzeln starrte er auf die matschige, spärlich beleuchtete Handelsstraße vor sich, zu dessen beider Seiten kleinere Gehöfte und Bauernhäuser auftaten. Er würde zunächst nach Köln reisen, um sein Versprechen gegenüber Helmut zu erfüllen; gleichzeitig dessen Meister über das viel zu frühe Ableben seines Schülers unterrichten. Es war unausweichlich, dass er im Zuge dieses Besuches auch die eine oder andere Information über die derzeitige Situation Friedrichs, als auch des geplanten Attentates in Erfahrung bringen würde. Meister Aleister würde gewiss noch in der Lage sein einige Teile des Puzzles hinzuzufügen, um das Bild zu erweitern.

Aber ganz egal, was Aleister ihm noch erzählen würde oder welche politischen Grabenkämpfe hinter, vor oder neben dem Vorhang sich gerade auf sterblicher und unsterblicher Bühne abspielen mochten und wer immer auch daran beteiligt sein mochte: Er würde schlussendlich dem deutschen Kaiser nacheilen um das Attentat zu verhindern. Lucien Sabatier würde Friedrich retten und die Mörder Helmuts zur Strecke bringen. Sie mochten besser ausgerüstet, in der Überzahl und mit nicht zu verachtendem Einfluss gesegnet sein aber keiner von ihnen konnte auch nur erahnen, dass sie bereits gejagt wurden. Er war der Jäger der Wildnis, der Wolf im Schatten und die Klaue an ihrer Kehle. Das würde enden. So oder so würde es enden. Er biss die Zähne knirschend aufeinander und verstaute den Siegelring des jungen Magus in seinem Wams. Sollte er Martin begegnen, würde er ihn anlegen und dann so lange auf dessen Schädel einschlagen, bis die Nase brach, die Zähne splitterten und das süffisante Grinsen des Bischofs sich in eine breiige Blut- und Knochenmasse verwandelt hatte. Und er würde es genießen wie er es schon sehr lange nicht mehr getan hatte.

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BeitragVerfasst: Mo 19. Feb 2018, 21:16 
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Das Heilige Römische Reich deutscher Nation... die Lehen des Schwarzen Kreuzes...
Lucien hatte die Grenzen Flanderns hinter sich gelassen und durchwanderte die breiten, schlammigen Straßen des großes Reiches. Von den hohen, frostigen Grenzen zu Dänemark, so hatte er gehört, zog es sich über den weit entfernten Osten bis hinunter in die heißen, trockenen Ebenen Italiens. Es enthielt mehr Grafschaften als die Farbpalette eines Malers Farben, und alle Fäden liefen in den Händen eines Mannes zusammen, sofern er sie zu halten in der Lage war: des Kaisers.
Ab und an hatte ihn das Gefühl übermannt, dass er verfolgt wurde, aber er konnte keinen nächtlichen Verfolger ausmachen so oft er auch danach suchte.

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Es gelang dem Gangrel so unerkannt wie möglich durch die fremden Lande zu reisen. Er mied größere Menschenansammlungen und ging seiner Wege. Nichtsdestotrotz, das wurde ihm schon nach wenigen Tagen bewusst, hatte sich die Stimmung im Land im Vergleich zu sienem letzten Besuch gewandelt. Ältere Frauen mit Kopftüchern tuschelten über ihrem Gemüse, das in langen Reihen zum Verkauf angeboten wurde, miteinander, muskelbepackte Handwerksgesellen wechselten lautstarke Beleidigungen, die in handfesten Faustkämpfen gipfelten. Eine Unruhe war seit Beginn des Kreuzzuges eingekehrt, die anscheinend weder der Adel, noch das Bürgertum oder vielleicht auch Wesen mit übernatürlichen Fähigkeiten beschwichtigen konnte. Möglicherweise lag es auch in der Absicht der ein oder anderen Partei genau das zu verhindern.
Während Lucien, im Schatten hinter den hohen Kisten eines Verkaufsstandes verborgen, von einer dümmlichen Magd trank, belauschte er das Gespräch eines Händlers mit einem Reisenden.

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Es war das Thema, das alle Deutschen zu diesem Zeitpunkt interessierte: Schuldete man einem Kaiser, der hochoffiziell vom Papst exkommuniziert war, damit als direkter Verbündeter Luzifers persönlich angesehen werden konnte, Lehnstreue? Konnte man überhaupt seinen Gesetzen folgen oder machte man sich damit selbst einem Verbrechen vor Gott schuldig? Auf der anderen Seite: Wie konnte der Papst einen treuen Christenmenschen exkommunizieren, der im Heiligen Land sein Leben und das seiner Getreuen riskierte um Jerusalem für die Christenheit zurück zu erobern? War nicht vielleicht der oberste Priester auf dem Stuhl Petri fehlgeleitet? Immerhin hatte es andere, mittlerweile verstorbene Päpste gegeben, die in Friedrich einen treuen Verbündeten gesehen hatten.

Die Gespräche, die das einfache Volk fesselten, waren selbstverständlich auch Thema an den Tafeln der Obersten des Landes, wie sich Lucien denken konnte. War es noch sinnvoll an dem sizilianischen Kaiser festzuhalten, der den größten Teil seines Lebens außerhalb Deutschlands verbracht hatte? Oder sollte man lieber auf den jungen Nachfahren aus dem Geschlecht der Welfen setzen, dessen Vorfahre erst vor einigen Jahrzehnten vom Papst zum Gegenkönig ausgerufen worden war: Otto... Er versprach Reichtum, Macht für Deutschland, Ordnung, Regeln... und er trieb sich nicht in fernen Landen herum sondern wanderte im Heiligen römischen Reich deutscher Nation selbst.

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Lucien schritt schließlich durch die mächtigen Tore der uralten Stadt Aachen. Auch vor der Kaiserstadt hatte die Unruhe, die das Land erfasst hatte, keinen Halt gemacht. Menschen in dunklen Mänteln huschten durch die im Gegensatz zu vor ein paar Jahren spärlich beleuchteten Gassen und es oblag der selten patrouillierenden Stadtwache oder dem Nachtwächter zu unterscheiden wer ehrbarer Bürger und wer Gesinde war. Lucien konnte sich denken, dass mehr als ein Beutel- oder Halsabschneider diese Umstände nutzte. Es war nicht leicht sich in den engen, verwinkelten Gassen zurecht zu finden.

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BeitragVerfasst: Di 20. Feb 2018, 10:45 
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Offenbar hatte er gut daran getan nur die notwendigsten Vorbereitungen für seine Abreise, als auch die Benachrichtigung an den Rat zu treffen. Immerhin war Helmut zwar elendig an seiner Vergiftung gestorben und seine Verfolger hatten ihr Ziel somit erreicht, aber nur ein Tölpel würde nachdem eben jener den Hauptmann der Brügger Nachtwache aufgesucht hatte, den direkten Weg nach Hause einschlagen. Die Vermutung lag nahe, dass der junge Helmut ihm alles was er in Erfahrung bringen konnte erzählt hatte, zumindest würde Hans der Schreiber davon ausgehen müssen. Das machte den Gangrel wohl gerade zum nächsten Kandidaten für ein baldiges Ableben. Umso überraschter schien er, als er trotz aller gebotenen Eile und Vorsicht, den ganzen, harten Ritt über niemanden hinter sich bemerkt. Vielleicht waren die langsamen, sturen Mühlen der Brügger Bürokratie ja doch zu etwas gut und hatten den Speichellecker von Bischof Martin einiges an kostbarer Zeit gekostet. Zeit, die nunmehr er selbst in einen beachtlichen Vorsprung verwandeln hatte können. Trotzdem waren die nächtlichen Gewaltritte ermüdend gewesen.


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Die Lehen des Schwarzen Kreuzes waren noch immer eindrucksvoll und weitläufig. Das Deutsche Reich römischer Nation erstreckte sich über ein schier unvorstellbares Gebiet, das sogar bis nach Italien reichte und quer verteilt über eindrucksvolle Berge, weite Ebenen und dichte Wälder, einen wahren Moloch an unzähligen Sterblichen beherbergte. Nicht zu vergessen die noch eindrucksvolleren Städte. Dies alles war der nominelle Besitz und das Herrschaftsgebiet von Friedrich, seinem mittlerweile aufs Neue in Ungnade gefallenen Verbündeten und Kaiser. Allein beim Gedanken an ihn, musste er unwillkürlich den Kopf schütteln. Einerseits, weil es noch immer surreal schien das der rechtmäßige, deutsche Kaiser offenbar große Stücke auf ihn hielt und hinter dem Vorhang versuchte die übernatürlichen Wesenheiten dieser Welt als geeinte Front hinter das Reich zu stellen. Andererseits, weil Friedrich es abermals geschafft hatte die Kirche und den Papst derart zu brüskieren, dass eine weitere Exkommunikation mittlerweile wie selbstverständlich anmutete. Selbst dann noch, wenn der streitbare Monarch sich auf einer heiligen Queste im Kreuzzug befand. Er ließ sich zu einem gequälten Grinsen hinreißen, als die dümmliche Magd in ihr karges Strohlager sank. Dumme Weiber dazu zu bekommen, ihm das zu geben wonach es ihn verlangte, hatte er schon zu Lebzeiten beherrscht. Umso verwunderlicher, dass er sich nun in die wirkliche hohe Politik eines völlig fremden Landes einmischte und zugleich auf sterblicher, als auch unsterblicher Ebene Einfluss auf den Verlauf der Entwicklung nahm. Er, der ehemalige Räuber und Wolf im Schatten. Der einfache Bauer, die Mittelschicht als auch der hohe Adel zerbrachen sich aufgrund der angespannten, paradoxen Situation wohl seit geraumer Zeit ihre Köpfe, wem sie die Treue halten sollten und wenn es zu verteufeln galt. Viele Faktoren würden für die endgültige Entscheidung eines jeden ausschlaggebend sein. Vieles sprach für, vieles aber auch gegen Friedrich. Schlussendlich würde es wohl darauf hinauslaufen, wie sehr der Heilige Stuhl seinen Machtkampf gegen den Kaiser forcieren und aufrechterhalten würde und wem welche Gefälligkeiten versprochen oder geschuldet wurden. Die Tatsache das Bischof Martin als Wissender um die Geschehnisse der Welt hinter der Welt, kräftig auf sterblicher Ebene mitmischte, verlagerte das Gewicht drastisch in Richtung der Absetzung des derzeitigen Kaisers. Etwas, das weder die dumme Magd, noch der feiste Händler oder der müde Reisende je erfahren würden. Aber wann hatte schon jemals ein gewöhnlicher Sterblicher das gesamte Ausmaß solcher Begebenheiten erfahren? Nicht einmal er als Untoter, konnte je alle Geheimnisse, Intrigen und Pläne wissen geschweige denn zu seinem Vorteil nutzen. Das hier war definitiv nicht sein Parkett aber er würde dennoch tanzen müssen, wenn er etwas bewirken wollte.


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Dies und ähnliche Gedanken gingen ihm durch den Kopf, als er mit Ajax unbehelligt die Stadttore von Aachen passierte, um sich nur kurze Zeit später in den verwinkelten Gässchen und Straßen zu verlieren. Der Gegenkaiser Otto versprach auf sterblicher Ebene Stabilität, Ordnung und geruhte sich wie es einem Kaiser geziemte, seinen Sitz ständig und ungebrochen in Deutschland aufrechtzuerhalten. Das war, wie der Gangrel fand, der größte Nachteil für Friedrich. Er war nur äußerst selten in dem Reich, das er eigentlich regieren sollte. Viele wogen diesen Nachteil mit seiner gutmütigen Einstellung des ‚Leben und leben lassen‘ auf, aber was der gemeine Bauer als positiv empfand, galt nicht sofort auch für den machthungrigen, verwöhnten Adel. So viele Interessen und Meinungen verschmolzen gerade in diesem Landstrich, dass es beinahe unmöglich schien hier jemals einen Konsens zu finden. Den würde es auch nicht geben, nur ein Diktat von demjenigen der die Richtung vorgab. Er würde zumindest dafür Sorge tragen, dass Friedrich weiterhin wenigstens die Chance behielt, dieser jemand zu sein. An einer Weggabelung kniff Lucien die Augen zusammen und bemühte sein Erinnerungsvermögen. Wohin sollte er Ajax lenken? Während des ganzen Ritts, hatte er versucht sich den Weg zu Meister Aleister ins Gedächtnis zu rufen aber war kläglich gescheitert. Er hatte dieses kleine Problem, aufgrund der langen Reise zunächst einmal vor sich hingeschoben aber jetzt musste er sich zusammenreißen. Als er auf Ajax Rücken schließlich eine Häuserzeile passierte, die ihm bekannt vorkam, begann er sich zu erinnern. Er ließ sein Ross in einen leichten Trap verfallen und je weiter er vorankam, desto eindeutiger erkannte er Bauwerke, Kreuzungen und Abzweigungen aus seiner Erinnerung. Hier war er auf dem richtigen Weg. Hoffentlich war Meister Aleister auch anzutreffen. Die Chancen standen nicht schlecht, dass er aufgrund der ungünstigen Umstände im Lande mehr als ausreichend andernorts zu tun hatte. Immerhin hatte er sich auch für Friedrichs merkwürdigen, übernatürlichen Bund verpflichtet.


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(Politische Zusammenhänge erkennen: Int+Pol gg. 6 = 2 Erfolge)
(Kirchenkonflikt verstehen: Int+Theol. gg. 6 = 1 Erfolg)
(Weg zu Meister Aleister finden: Int+Gassenwissen gg. 8 = 2 Erfolge)

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BeitragVerfasst: Di 20. Feb 2018, 13:16 
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Lucien wanderte durch die dunklen Straßen, erkannte das ein oder andere Gebäude wieder, konnte aber die Abzweigung, die zu dem am Wasser gelegenen Haus geführt hatte, nicht ausmachen. Kein Licht brannte mehr hier, da sich wahrscheinlich seit einiger Zeit kein Nachtwächter mehr in dieses Viertel wagte und der Mond war hinter dichten Wolken verborgen. Dunkel und bedrohlich ragten die Hauswände wie Gefängnismauern vor ihm auf. Als er ein Mal den Blick schwenken ließ, hatte er kurzzeitig das Gefühl eine schemenhafte, vermummte Gestalt zu erkennen, aber sobald er den Punkt fixierte war dort nichts zu erkennen. Verfluchte Nacht.

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Es blieb Lucien vorerst nichts anders übrig als sich einen Unterschlupf zu suchen und die nächste Nacht zu nutzen. Es gelang ihm ohne Mühe ein heruntergekommenes Wirtshaus zu finden.

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Ein Blick auf die 'Gäste' und den Wirt des Etablissements ließen ihn sofort wissen, dass hier für ein paar Münzen wohl alles zu haben war: billigen Fusel, an dem man wohl genauso schnell verstarb wie in einen unbeschreiblichen Rausch verfiel, drittklassige Huren, Auftragsschläger oder -mörder. Lucien war klar: hier wurden keine Fragen gestellt. Für ein paar Münzen erhielt er eine sichere Kammer in den Tiefen des Kellers des Gebäudes, in die er sich mühelos zurück ziehen konnte. Er wusste, hier würde ihn niemand stören auch wenn das ganze Haus über ihm zusammen fiel und abbrannte.
Die nächste Nacht brach an und ein heller Mond beschien die dreckigen Gassen des Viertels. Der Wirt wischte murrend das Blut eines Unbekannten vom Boden als Lucien das Wirtshaus verließ.

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Dieses Mal gelang es ihm um einiges einfacher durch die Straßen zu gehen und den Weg wieder zu finden, den er damals mit der schwer verletzten Garou in aller Hast hatte zurücklegen müssen. Schließlich stand er vor dem kleinen, windschiefen Gebäude auf der winzigen Insel, das mit einer Holzbrücke mit dem Rest der Stadt verbunden war. Er hatte es gefunden.

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BeitragVerfasst: Mi 28. Feb 2018, 18:55 
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Er trat näher an die Tür heran und suchte vergeblich nach einem Klopfer oder einer Glocke. Die Tür hing schräg in den Angeln und man konnte ohne Mühe erkennen, dass hier seit Jahren kein normaler Bürger mehr lebte. Einen Moment lang zögernd hielt er inne bevor er vorsichtig an die Tür klopfte. Seine Stimme klang seltsam hohl als die Tür knarrend ein Stück aufschwang und den Blick auf einen eingestürzten Korridor frei gab. „Meister Aleister?“Dickes Gestrüpp rankte sich an den Wänden empor und die Reste der Fußbodenkacheln waren von dichtem Gras und Brombeerranken überwuchert. War das hier wirklich das selbe Haus?

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Lucien tat einen weiteren Schritt ins Innere nachdem er die Tür endgültig aufgestoßen hatte und sah sich um. Keine Spur des ehemals prächtigen Magierdomizils. Keine Spur einer menschlichen Behausung überhaupt.Er schritt ein paar Meter hinein um einen Blick in die Seitenräume zu werfen, aber das Bild änderte sich nicht. Der Hauptmann wollte schon auf dem Absatz kehrt machen als er plötzlich eine ungewohnte Schwere in der Innentasche seiner Mantels bemerkte. Er griff hinein und förderte mit suchenden Fingern den Ring des toten Magierlehrlings heraus, der seltsam in einem bläulichen Licht zu glühen begonnen hatte. Das Glühen schien von den nachtblauen Steinen auszugehen, die in das kühle Gold eingelassen waren. Schließlich erlosch es langsam. Als Lucien den Blick wieder hob hatte sich seine Umgebung gewandelt. Es war als wäre er an einem ganz anderen Ort.

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Luciens Augen weiteten sich in verwundertem Staunen, als das unscheinbare Nichts vor ihm plötzlich Form und Kontur annahm; sich in ein edel und kostbar ausgestattetes Herrenhaus verwandelte. Grübelnd betrachtete er den Siegelring Helmuts, der ursprünglich Meister Aleister gehört haben sollte. Kein Zweifel: Der junge Lehrling hatte ihm diesen Ring nicht nur gegeben, weil er das kostbare Erbstück seines Meisters wieder sicher in dessen Händen wissen wollte, sondern auch weil der Ring allerhöchstwahrscheinlich überhaupt erst den Zutritt zu letztgenanntem ermöglichte. Ein gewöhnlicher Sterblicher oder Uneingeweihter, hätte genauso wie beinahe er selbst einfach wieder schulterzuckend kehrtgemacht, ohne auch nur zu ahnen welche Magie hier nur darauf wartete wirken zu können. Seine Lippen verzogen sich zu einem schmalen, gequälten Lächeln. So hatte Helmut selbst im Tode noch dafür Sorge getragen, dass der Hauptmann der Nachtwache den Erzmagus und Beschützer des deutschen Reiches zu Gesicht bekäme, um ihm von den jüngsten Ereignissen zu berichten. Nach all dem was er bisher so gehört und gesehen hatte, schien es nur weise und vernünftig sich mit derartigen Schutz- und Illusionszaubern zu umgeben, da der Konflikt um Kaiser Friedrich und dem Heiligen Stuhl sich langsam aber unaufhaltsam zuzuspitzen begann. Der Gangrel ergriff den Handlauf der Treppe und machte ein paar vorsichtige Schritte in Richtung des oberen Stockwerks. „Meister Aleister? Seid ihr zuhause?“, rief er misstrauisch nach oben. Mittlerweile konnte es sich ja fast schon bei allem lediglich um eine geschickte eingefädelte Falle handeln. Die Paranoia jenseits der flandrischen Grenze schien kontinuierlich zu wachsen.

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BeitragVerfasst: Di 26. Jun 2018, 13:45 
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Nichts rührte sich auf Luciens Rufen. Die Luft schien wie erstarrt, als wäre selbst die Zeit stehen geblieben. Plötzlich, innerhalb eines menschlichen Wimpernschlags, vibrierte die Atmosphäre um ihn herum. Er spürte einen winzigen Lufthauch, der hinter ihm über seine Nackenhaare streifte und blitzschnell fuhr er herum. Keinen Augenblick zu früh. Hinter ihm verdichtete sich Materie, etwas gelblich glühendes kam auf ihn zu und im letzten Moment wich er der Struktur aus.
„Wer um alles in der Welt wagt es hier unangemeldet einzudringen???“ Die polternde Stimme, die entrüstet zu vernehmen war, erkannte er sofort: Meister Aleister! Als er sich endgültig umwandte, konnte er die Züge des Erzmagus klar sehen.

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Das war gerade noch einmal gut gegangen. Eine Sekunde später und das höchstwahrscheinlich magische Geschoss des Erzmagiers hätte ihn direkt getroffen. Je nachdem welch wundersamer Kräfte sich Meister Aleister bediente, hätte dies gewiss zu einer farbenfrohen Palette an spannenden Zuständen, wie verbrennen, erfrieren oder noch Schlimmeren geführt. Der Gangrel war überzeugt davon, dass jemand mit den Fähigkeiten eines Aleisters selbst Untoten empfindlich weh tun konnte.
Beschwichtigend hob er die Hände in Richtung des Magiers. „Gemach Meister Aleister, ich bin es nur: Lucien Sabatier, ihr erinnert euch doch sicher?“ Er gab dem erzürnten Magier einen Augenblick um ihn mit kritischem Blick zu begutachten, und festzustellen, dass er keinerlei Gefahr darstellte, dann fuhr er beinahe nahtlos fort. „Ich nehme an, dass ein kleines verzaubertes Kleinod mir den Weg zu eurem Domizil geöffnet hat. Zwar bin ich vollkommen unwissend, was die arkanen Künste betrifft, doch erkenne ich mittlerweile Magie, wenn ich sie sehe.“ Zweifelsohne war der persönliche Siegelring des Erzmagus es gewesen, der ihm überhaupt erst den Zutritt zu dessen Haus verschafft hatte. Der Siegelring, den der sterbende Helmut ihm auf dem Totenbett überreicht hatte. Eben jenen zog er nun empor und hielt ihm Aleister hin. Seine Mine verzog sich zu einer freudlosen, sehr ernst wirkenden und zutiefst betrübten Totenmaske. „Ich habe schlechte Nachrichten für euch: Helmut, er…“ Der Hauptmann pausiert kurz und sog scharf die kühle Nachtluft zwischen den zusammengebissenen Zähnen ein. Nur ungern erinnerte er sich an den feigen Giftmord an dem völlig schuldlosen Jungen. „Er ist tot“, fuhr er kühl fort. „Ermordet von den Schergen des Bischofs von Brüssel, einem widerlichen Emporkömmling namens Martin. Helmut war im Auftrag eurer Domäne unterwegs und hat zu viele Geheimnisse aufgetan, als dass man ihn noch hätte leben lassen können. Die Schergen des Bischofs verfolgten ihn hochamtlich bis nach Brügge, wo er bei mir Unterschlupf suchte. Zu diesem Zeitpunkt wusste ich noch nicht, dass man ihn bereits auf seiner Flucht durch Flandern vergiftet hatte.“ Lucien schüttelte den Kopf. „Ich habe die Hälfte der Angreifer getötet, die andere Hälfte von Helmut weggelockt, aber es gab nichts mehr was ich hätte tun können, um das ehrlose Gift aus seinen Adern zu entfernen. Er starb noch am Ende unserer erfolgreichen Flucht.“ Mit ein, zwei raschen Bewegungen machte er einen Schritt auf den Erzmagier zu. In seiner Stimme klang wild entschlossener Ernst. „Helmut hat herausgefunden, dass Bischof Martin plant den deutschen Kaiser während seines Kreuzzuges in Jerusalem ermorden zu lassen. Der Bischof spielt im Geheimen wohl Otto dem Welfen in die Hände. Weiß der Teufel was ihm dafür versprochen wurde, aber es muss beträchtlich sein.“ Er sog ein weiteres Mal die Luft ein. „Ich bin gekommen, um euch rasch darüber zu unterrichten bevor ich mich ins Heilige Land aufmache um diesen Mord zu verhindern und den Bischof, der Brügge schon länger ein Dorn im Auge ist, ein für alle Mal verschwinden zu lassen.“ Knirschend fügte er hinzu: „Nicht zuletzt, will ich auch Helmut rächen. Er mag ein naiver Dummkopf gewesen sein, aber so ein Ende hat er wahrlich nicht verdient.“
Der Erzmagus hatte dem Hauptmann mit grüblerischem Blick gelauscht und ab und an mit einem Schnauben Luciens Schilderungen kommentiert. Der Unglaube, den Lucien zunächst auf seinen Zügen erkennen konnte, wich brennendem Zorn, dann schien sich der breitschultrige Mann jedoch zu sammeln und mit versteinerter Mine nahm er den Ring entgegen, den sein toter Schüler dem Gangrel anvertraut hatte. „Helmut war ein guter Junge, pflichtbewusst, treu. Er hätte nicht ein solches Ende nehmen sollen nachdem es ihm sogar gelungen ist aus Ceoris zu entkommen; aus Ceoris, dem Zankapfel der untoten Ostvampire und der untoten Brut, zu der so einige meines Ordens geworden sind. Es ist nicht leicht einen guten Anwärter für die Magie zu finden. Vor allem seit diese untoten Hexer…“ Er schüttelte den Kopf. Ganz offensichtlich schien er sich seine eigenen Gedanken zu denjenigen zu machen, die Lucien als Tremere kannte. Einen Moment zog er den Ring so nah vor die Augen, dass man fast annehmen konnte, er wäre annähernd blind, dann legte er ihn fast ehrfürchtig auf einen niedrigen Beistelltisch ab. Er kam zurück zu dem Thema, das Lucien nach Aachen geführt hatte. „Eure Worte sind zutiefst beunruhigend. Es war zu erwarten, dass Otto seine sterblichen Nachfahren aus dem Geschlecht der Welfen sobald als möglich auf dem Thron sehen möchte, aber dass bereits solche drastischen Schritte unternommen worden sind, sind gefährliche Neuigkeiten.“ Er überlegte einen Moment. „Wenn ein Bischof aus Flandern in die ganze Sache involviert ist, so vermute ich, wird er Order von ganz oben erhalten haben.“ Erklärend fügte er hinzu. „Kaiser Friedrich ist dem derzeitigen Popen in Rom ein Dorn im Auge. Friedrichs Reich erstreckt sich sowohl im Süden als auch im Norden Roms und so manche Kirchenmänner fürchten von dem selbst denkenden, unabhängigen Kaiser von zwei Seiten bedroht zu werden. Das ist nicht die Absicht des jungen Kaisers; er hat genug andere Herausforderungen, denen er sich stellen muss; aber das interessiert viele Kirchenmänner nicht. Der letzte Papst, der ihn zum Kaiser salbte, nahm ihm das Versprechen ab mit einem Kreuzfahrerheer ins Heilige Land zu reisen und Jerusalem von den Muslimen zurück zu erobern. Friedrich wurde jedoch vor einiger Zeit vom jetzigen Papst exkommuniziert, da er wegen einer über das Kreuzfahrerheer hereinbrechenden Seuche nicht rechtzeitig aufbrechen konnte. Trotz der Exkommunikation hat er sich auf den Weg gemacht: eine Ungeheuerlichkeit in den Augen des Papstes.“ Lucien sah Aleister an, dass er nicht viel von der Kirche zu halten schien. Ganz sicher war er kein Mitglied ihrer Reihen. „Friedrichs dreister Plan ist sowohl Erfüllung seines Schwurs als auch taktisches Kalkül, denn wie gelangt man besser in die Reihe der frommen Christen zurück als wenn an von sich selbst behaupten vermag, die größte Stätte der Christenheit, Jerusalem, von den Sarazenen zurück erobert zu haben, nicht wahr?“ Er schnaubte mit einer Verachtung, die klarmachte, dass er in den letzten Jahrzehnten ganz sicher keine Messe besucht hatte und fuhr dann fort. „Die Fürsten Deutschlands sind ihm offiziell durch die Exkommunikation keine Gefolgschaft mehr schuldig… Damit hat sich die Lage hier deutlich zugespitzt. Die Welfen, der Papst, die Muslime und wer weiß, wer sonst noch? Friedrich hat viele Feinde und immer weniger Verbündete. Durch meine Kontaktmänner in Akkon habe ich erfahren, dass sich die so heroisch ausgebildeten Templer und Deutschordensritter weigern für einen Exkommunizierten zu kämpfen: Auch sie haben Friedrich die Gefolgschaft verweigert.“ Er sah Lucien aus seinen nachdenklichen uralten Augen an. „Was das alles zu guter letzt für euer Flandern bedeuten mag… ist euch das bereits bewusst?“
Lucien kniff die Augen zusammen und beobachtete schweigend, wie der Meister der Magie seinen Siegelring ausgiebig und akribisch begutachtete. Die Erzählungen über das in bereits so jungen Jahren erloschene Leben des Zauberlehrlings Helmut, seine Flucht aus einer der angeblich größten und am besten gesichertsten Festungen untoter Herrscher und verschlagener Hexenmeister, ließen ihn verhalten aufseufzen und nur langsam etwas gedankenverloren den Kopf schütteln. „Auf den Straßen vieler deutscher Städte, ebenso wie hier in Aachen, sind Friedrich und sein Kreuzzug momentan in aller Munde. Rom versucht ihm ganz offenbar seine Macht streitig zu machen und die Meinung seiner Untertanen hinsichtlich ihres Kaisers zu spalten. Die einen empfinden es als geradezu schamvolles, blasphemische Sakrileg einem exkommunizierten Mann die Treue zu halten, während wieder andere seiner Heiligkeit und den Kirchenmännern nur neidvolle Gier attestieren. Friedrich spaltet die Gemüter und das kann für Deutschland und seine Stellung nicht gut sein.“ Er hob bedächtig den Kopf an. „Und da Friedrich zumindest in seinem Einflussbereich versucht zwischen den verschiedenen Wesen hinter dem Vorhang des Offensichtlichen zu vermitteln und kleinere und größere Auseinandersetzungen zu verhindern, dürfte sich das ebenso auf unsere nächtliche und alltägliche Politik auswirken. Die Wölfe warten nur darauf sich an den Überresten gütlich zu tun, sobald sich der Staub gelegt hat, soviel steht fest. Otto und seine Mitverschwörer, Bischof Martin, oder der Papst, sie warten nur darauf sich ein großes Stück vom Kuchen abschneiden zu können, wenn sie nicht gar schon daran denken den ganzen Kuchen an sich reißen zu wollen, jetzt da offiziell niemand mehr dem Kaiser die Gefolgschaft und Loyalität schuldet. Dazu kommt noch, dass sich Friedrich derzeit noch nicht einmal mehr im eigenen Land aufhält. Ihr habt demnach vollkommen recht, die Lage ist mehr als brisant.“ Er fuhr sich durch den ungepflegten Bart und wog den Kopf einige Male nachdenklich hin und her. „Was dies für Flandern bedeutet, mag ich allerdings nur schwerlich abzuschätzen. Wenn Otto und seine Unterstützer an die Macht kommen, mag es durchaus zu einem Eroberungsfeldzug kommen, den wir zweifelsohne verlieren würden. Denkt ihr, man würde sich Flandern einverleiben wollen? Ist dies das Schicksal, das unsere Feinde für uns erdacht haben?“

Der alte Mann fuhr sich nickend mit den prankenhaften Fingern durch den dichten Bart und schien zu überlegen. Seine Stimme klang wie rollende Steine und wie immer ein wenig mürrisch. „Nach allem, was ich mitbekommen habe, wäre das mehr als wahrscheinlich. Untergebene und Gefolgsleute folgen einem Anführer, der einen Kaiser zu stürzen gedenkt, nicht aus christlicher Nächstenliebe. Sie erwarten eine Gegenleistung und wollen entlohnt werden. Und wie sollte man einen fürstlichen Gefolgsmann besser entlohnen als mit neuen Lehen? Zwar wäre es möglich Friedrichs Anhänger zu enteignen und diese Grafschaften an die Getreuen zu vergeben, aber das gestaltet sich schwierig wegen der Bewohner und der Macht dieser Fürsten seit teilweise Jahrhunderten. Ein neues, reiches Gebiet, das nur darauf wartet gepflückt zu werden, weil zwei zanksüchtige 'Weiber'...“ Er betonte das Wort. „... nicht in der Lage sind ihre Domänen zu verwalten, ist eine mehr als passende Gelegenheit. 'Zu Flanderns Bestem' wird es heißen. 'Wir stiften wieder Recht und Ordnung', wird eine neue Parole, wenn sie die Herrschaft übernehmen. Und sicher wird mancher Bewohner Flanderns sich insgeheim sogar darüber freuen, sind Frauen auf dem Thron doch meistens nicht gern gesehen.“ Er seufzte. „Das, was ihr mir über das Attentat berichtet habt, beunruhigt mich zutiefst. Ich hätte zumindest erwartet, dass Friedrich, auch wenn hier alles drunter und drüber geht, wenigstens in Palästina dieser Art von Gefahr nicht ausgesetzt ist. Ich habe erwartet, der Papst und die anderen Feinde würden warten, dass der Kaiser in einem Scharmützel mit den Sarazenen verletzt oder getötet wird. Dann müsste sich keiner dieser 'Hurensöhne' selbst die Finger schmutzig machen.“ Er lachte kurz freudlos auf. „Ich kann mir schon denken, was ihre Meinung geändert hat: Friedrich hat sich bisher geweigert in die Schlacht zu ziehen. Die Heere stehen bis auf die Zähne bewaffnet und bestens ausgerüstet bereit, haben aber bisher nicht angegriffen. Er scheint den Kampf mit den Sarazenen hinaus zu zögern. Die Götter mögen wissen weshalb.“

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Lucien nickte dunkel und hatte offenbar große Mühe die Contenance zu wahren. Zuviel war geschehen das er nicht hatte verhindern können, zu viele Leben standen auf dem Spiel und eines war bereits zu Beginn dieses brodelnden Sturms, der nicht nur bald über Deutschland, sondern laut Aleisters politischer Einschätzung bezüglich aktuellen Lage auch demnächst über Flandern hereinbrechen würde, völlig umsonst erloschen. Er schwieg einige angespannte Minuten, bevor er scharf die Luft in seine toten Lungen sog. „Mit anderen Worten: Es geht Otto, dem Heiligen Stuhl und allen Mitwissern, Verschwörern, Intriganten und Günstlingen zu langsam. Friedrich hätte schon längst gegen die Sarazenen fallen sollen woraufhin man öffentlich einen tragischen aber höchst gelegenen gekommenen Tod beweint hätte, bevor man im Stillen damit anfängt die Macht sorgsam untereinander aufzuteilen.“ Der Gangrel ballte die Fäuste und grollte grimmig. „Was immer Friedrichs Angriff hinauszögert, ob es taktische oder strategische, politische oder ganz einfach persönliche Gründe haben mag, es verschafft mir etwas Zeit. Auf dem Schlachtfeld und im Kampfgetümmel lässt sich ein Kopf leichter von den Schultern schlagen als am Kartentisch. Otto, sowie der Papst als auch Bischof Martin halten sich nicht mehr zurück. Dann gibt es für mich ebenfalls keinen Grund mehr für Zurückhaltung. Sie wollen auf der großen Landkarte spielen, bitte. Das können sie haben. Es wird mir ein ganz persönlicher Genuss werden, Meister Aleister, das kann ich euch bereits jetzt sagen.“ Erhob den Kopf leicht an und seine Augen leuchteten unwillkürlich in einem widernatürlich-rötlichem Schein. „Ich benötige eine rasche und sichere Passage nach Jerusalem, mein Freund. Wenn nicht mehr in dieser Nacht, dann spätestens in der nächsten. Wir müssen das Schlimmste verhindern, solange wir noch können.“ Er legte ihm entschlossen die Hand auf die breite Schulter. „Ihr werdet mir doch in dieser gemeinsamen Sache gewiss Unterstützung zukommen lassen?“

Meister Aleisters Augen verengten sich skeptisch, so dass sie fast unter den dichten Augenbrauen verschwanden. Auch wenn er über die Hilfe, die Lucien Friedrich hatte zukommen lassen, wusste, schien er, ein Magus, nicht so schnell Vertrauen zu einem Kainiten zu fassen. „Ihr, ein Abkömmling Kains selbst, wollt euch auf den Weg nach Jerusalem machen und auf der Seite des Kaisers kämpfen? Ein ungewöhnliches, seltenes Angebot für einen Untoten...“ Der Blick wurde eindringlicher und schien fast etwas von den Kräften des Auspex in sich zu haben. Er schien etwas zu suchen. Dann hoben sich die Brauen wieder, der Blick klarte auf und er schien gefunden zu haben, was er suchte. Aleister nickte „Verzeiht meine Skepsis... Die Handlungsweisen vieler Kainsabkömmlinge, insbesondere der untoten Hexer, haben mich misstrauisch werden lassen. Nichtsdestotrotz, es ist zum Besseren, wie mich das Beispiel vieler Magi gelehrt hat, die nicht so glücklich waren zu hinterfragen... Eure Beweggründe sind Loyalität, Gerechtigkeitssinn und das Begleichen alter Rechnungen...“ Wieder folgte das Nicken, nachdem er seine Vermutungen aufgezählt hatte. „Es gibt Schlechtere...“
Lucien blinzelte nicht während der Erzmagus ihn prüfend und womöglich gar schon „magisch“ hinsichtlich der Aufrichtigkeit seiner Worte hin beäugte. Es war ihm im Grunde seines Herzens auch offen gestanden relativ gleichgültig. Wichtig für ihn selbst war nur zu wissen wer der Feind war, und wie er auf schnellstem Wege zu ihm gelangen könnte. In ihm glühte erneut ein alter Hass; eine alte Rechnung wie Aleister so treffend formuliert hatte und diese war mehrfach aus, gerade in diesem Moment geradezu lächerlich wirkenden Gründen, viel zu lange offengeblieben.
Aleister deutete auf einen Raum, der sich dem Zimmer im hinteren Bereich anschloss. „Folgt mir!“
Der Hauptmann folgte ihm ohne Widerwillen. „Es gibt bei Weitem schlechtere Beweggründe Meister Aleister aber die meinen sind insofern nicht schädlich, als dass sie diesem fragilen Kartenhaus aus diversen Bünden und Abkommen, vor als auch hinter dem Vorhang des Übernatürlichen die weitere Möglichkeit zur Existenz einräumen.“ Lucien schmunzelte bitter. „Ich bin sicher nicht so ‚gut‘ wie ihr mich gerne sehen würdet und auch lange nicht so altruistisch aber ich bin kein von Egoismus und Macht getriebenes Monster – noch nicht. Diese Sache bringt für alle nur Probleme und es wird Zeit, dass wir sie aus der Welt schaffen. Wenn die Sicherheit meiner Domäne es verlangt und ich unnötiges Leid und Schmerz verhindern kann, dann soll es so sein.“
Seine Schritte führte den Erzmagus in die hintere, mit Büchern bis zur Decke voll gestellte Kammer, die nach altem Pergament und Papyrus roch. Lucien erkannte überall Spuren von Staub: Die Bücher wurden offensichtlich Tag für Tag und Nacht für Nacht von Bücherwürmern und anderen Parasiten zersetzt und diese hinterließen nichts als feines helles Puder: das Destillat vergangenen Wissens.

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Aleister trat zu einem der Regale, zog ein in Leder gebundenes Werk hervor, legte es auf einen Sockel und vollführte eine Geste mit der rechten Hand als würde er beabsichtigen ein unsichtbares Instrument zu spielen. Ein seltsames, rötliches Licht flammte auf, das an Feuer erinnerte und verebbte wenige Sekunden später. Aleister schürzte die Lippen als Zeichen, dass er nachdachte, schloss das Buch dann sorgsam mit beiden Händen und presste es noch einige Augenblicke länger als nötig zusammen. Er murmelte einige unverständliche Floskeln, die wie das Gemurmel eines tief Schlafenden klangen, dann reichte er es Lucien. „So... Ich habe alles Wissen meiner Bibliothek über die Länder der Levante und Wissen, das euch sonst noch hilfreich sein sollte, in diesem Buch gebannt. Wenn ihr einen Tropfen eures Blutes darauf fallen lasst, ist es an euch gebunden und das Wissen keinem sonst zugänglich. Merkt euch folgende Worte.“ Er nuschelte unverständliche Silben in einer Lucien nicht vertrauten Sprache. „Diese Worte werden es euch öffnen.“
Er schritt gemeinsam mit dem Magier durch den Raum und sah sich misstrauisch um. Nicht das er Aleister einen Verrat oder dergleichen zugetraut hätte, aber seit sich Flandern mit der Magie und Zauberei beschäftigt hatte, beziehungsweise mit dieser in Konflikt geraten war, hatte er ein zutiefst zwiegespaltenes Verhältnis zu derlei Mächten. Schief grinsend musste er aber eingestehen, dass diese teils verrottende, teils noch gut erhaltene Bücher- und Schriftensammlung aus magischem und nicht-magischen Wissen den guten Gerrit sicher sehr erfreut hätte. Den anderen Nosferatu wohl ebenfalls; ihm war gerade der Name entfallen. Etwas schräg zu Aleister stehend, stand Lucien mit verschränkten Armen und betrachtete in einer Ambivalenz aus geradezu kindlichem Erstaunen und widerstrebender Abscheu wie der Meister die magischen Worte sprach, die richtigen Bewegungen vollführte und Kräfte in einer ihm unbekannten Sprache anrief, die in einer Welt jenseits dessen lagen, was sich der ehemalige Räuber je hätte ausmalen können. Als er angewiesen wurde das Buch an sich zu nehmen, dass nunmehr fast wie durch ein Wunder binnen eines Lider Schlages mit allem gefüllt zu sein schien was es über die örtlichen Gegebenheiten seiner Mission zu wissen gab, zögerte er einen ungläubigen Augenblick lang. „Mein Blut? Ihr wisst schon, dass das Blut von Kainiten…“ Er hob den Blick in Richtung des Meisters und verzog dann kopfschüttelnd einen Mundwinkel nach oben. „Vertrauen ist schwer dieser Tage und Nächte, aber wenn wir uns nicht gegenseitig vertrauen können, dann ist meine Reise schon gescheitert noch bevor sie begonnen hat. Lucien ritzte sich mit einem seiner Eckzähne den Finger auf, rieb die viskose, tiefrote Flüssigkeit über den Einband des Buches, welches er so vorsichtig entgegennahm, als könne es jeden Moment in Flammen aufgeben. Mit zusammengekniffenen Augen, versuchte er sich die Worte zu merken und wiederholte sie leise und eindringlich immer und immer wieder, bis er das Gefühl hatte sie auswendig zu können.

Der Magus schritt anschließend erneut durch den Raum, schnupperte hier und dort an Büchern und alten Gläsern, schien aber nicht zu finden, was er suchte. Irgendwann schien sich Ungeduld in ihm auszubreiten, die er jedoch niederzwang. „Ich hatte meinen letzten Schüler gebeten aufzuräumen. Leider hatte er stets eine andere Art der Ordnung als ich und er war manchmal ein wenig unbelehrbar.“
Während Aleister die Unordnung seines ehemaligen Schülers durchwühlte stieg beim Gedanken an Helmut erneut der unbändige, zügellose Hass in ihm auf, den er mühevoll hinunterschluckte. Tief in ihm grollte eine mitleidlose, abgrundtief böse und kaltherzige Bestie, die angekettet war an die Glaubensgrundsätze seines Weges. Er musste sie weiterhin zügeln und in kontrollierte Bahnen lenken, wollte er Erfolg haben. Der Feind wartete nur auf den ersten, kapitalen Fehler.
Der Erzmagus begann nun ein paar Schubladen zu durchstöbern und ließ sich schließlich sogar schwer ächzend auf den Knien nieder. Dann stieß er ein Seufzen aus, das an das Brummen eines Bären erinnerte und zog ein Kästchen aus einer rabenschwarzen Nische unter dem Schreibtisch hervor. „Da hätten wir es also...“ Ein kurzer Handgriff öffnete es und förderte zwei schwarze Federn hervor, die von einem seltsamen, kaum merklichen Glanz umhüllt waren. Er reichte eine an Lucien.
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„Dies wird euch eine rasche Überfahrt gewähren. Sobald ihr an der Küste des Mittelmeeres seid und diese Feder vom Wind erfasst wird, werden euch die Stürme direkt dorthin lenken wohin ihr wollt. Kein Hafen wird angefahren werden müssen, denn die Winde wissen, wohin sie euch lenken, bei Tag und bei Nacht. Mehr vermag ich derzeit nicht zu tun um euch nach Palästina zu bringen...“ Er sah den Gangrel eindringlich an. „Soll ich jemanden über eure Abreise informieren?“
Noch während er das magische Buch sicher in seinem Wams verstaute, betrachtete er die unscheinbar wirkende Feder genauer und nahm diese nach einiger Verwunderung ebenso an sich. Magie war schon etwas… Seltsames.

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„Mächtige und vorteilhafte Geschenke, ich danke euch Meister Aleister, und verspreche euch sie weise und nutzbringend einzusetzen. Für die gemeinsame Sache.“ Er nickte entschlossen und lächelte schmal in die Richtung des Meisters. „Palästina. Dann muss ich wohl den nächsten Hafen in Italien ansteuern. Genua würde eine Umschiffung des Stiefels bedeuten, soweit mir bekannt ist,. Also bleibt nur Venedig übrig, denn ich darf keine Zeit mehr verlieren.“ Grübelnd verzog der Hauptmann das Gesicht. „Die Stadt der Toten also: sei es drum. Alles was ich brauche ist ein Schiff.“ Als er den Kopf wieder hob, deutete er auf einen nahestehenden Schreibtisch mit einigen Rollen Pergament, sowie Federkiel und Tinte. „Wenn es euch recht ist, werde ich ein kurzes Schreiben aufsetzen, das ihr für mich nach Brügge bringen lassen könntet. Auf dem schnellsten Wege versteht sich. Er erwartete die Erlaubnis des Magiers und nahm dann am Tisch Platz; ergriff eilig den Federkiel. „Aber da ihr ja über so… mannigfaltige Fähigkeiten verfügt, bin ich mir beinahe sicher, dass mein Brief den Empfänger schon erreicht hat bevor ich auch nur die Hälfte meines Weges hinter mir gelassen habe“, fügte er schmunzelnd hinzu. Magie… er wusste immer noch nicht was er davon halten sollte.
Nachdem er seine knappe Zusammenfassung der bisherigen Ereignisse um die aktuellen Geschehnisse erweitert hatte, faltete er das dünne Pergament und versiegelte es ohne erkenntliches Zeichen. Der Brief war an Alida adressiert. Das hatte sehr einhellige Gründe: Gerrit besaß keine wirkliche Anschrift, Leif war als Heiler nicht mehr permanent im Krankenhaus anzutreffen und Liliane war vermutlich wieder auf Auslandsreise. Da blieb nur der gute, alte Drache, der noch in Brügge sitzen würde, wenn die Hölle längst zugefroren wäre. Er reichte das Schreiben an Aleister weiter. „Bringt dies bitte zu Alida van de Burse, der Händlerin aus Brügge in Flandern.“ Vielsagend streckte er dem Erzmagus die Hand entgegen. „Informiert all jene, die ihr für wichtig und nützlich genug erachtet uns in dieser Sache beizustehen. Ich danke euch für alles ,Meister Aleister.“ Etwas leiser fügte er hinzu: „Helmuts Tod wird nicht umsonst gewesen sein, das verspreche ich euch. Ich werde ihn rächen.“ Dann machte er auf dem Absatz kehrt, um das Anwesen des Magiers eilig zu verlassen und zu Ajax zurückzukehren, dem ein höllischer, kräftezehrender Ritt bevorstand. Er würde noch sorgsam einen extra großen Sack Äpfel kaufen müssen.

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BeitragVerfasst: Do 28. Jun 2018, 10:46 
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Lucien verließ das seltsame Anwesen des Magus, das sich zurück in eine Ruine zu verwandeln schien sobald er den Fuß über die Schwelle gesetzt und das Gebäude verlassen hatte. Zielstrebig schritt er auf die zuvor menschenleere Gasse mit dem verlassenen Hinterhof zu, in der er Ajax abgestellt hatte. Ein Geräusch ließ ihn mit einem Mal den Kopf in die Höhe reißen und genau lauschen. Zwei kaum vernehmbare Worte hatten seine volle Aufmerksamkeit auf sich gezogen: 'Hauptmann' und 'Bischof Martin'. Leise näherte er sich den Geräuschen, die aus einer anderen Seitengasse kamen.
Er erkannte schließlich zwei Männer, in dunkle Gewänder gekleidet, die sie annähernd mit den Schatten der Straße verschmelzen ließen. Sie trugen etwas Längliches zwischen sich, das in weiße Tücher gehüllt worden war. Es erinnerte ihn aufgrund der Form an eine Leiche, wie sie so oft, vor allem in den Zeiten von Seuchen von Totengräbern beseitigt wurde. Das Gespräch war in geflüstertem Flämisch und so leise, dass Lucien es nur mit größter Anstrengung vernehmen konnte, als er vorsichtig näher schlich.

Der vorderste Laufende hatte eine tiefe, rauchige Stimme und er sprach hastig. „Es ist eine Schande, dass mir der Brügger Vampir entwischt ist. Ich hab ihn eindeutig in die Ruine gehen sehen. Ich hätte ihn gehabt, sag ich dir.“
Der andere schnaubte verächtlich. Sein Flämisch enthielt den Dialekt aus Brabant. „Hast du aber nicht. Du hast versagt, wie unser Meister bereits kundgetan hat. Sei froh, dass du wenigstens hierbei zur Hand gehen kannst und dich dabei nicht ebenso unfähig angestellt hast. Du kennst ja die Bestrafung.“
Das sofort einsetzende brummende 'Ja' ließ aufgrund seines aggressiven Klangs keinen Zweifel daran zu, dass der Angesprochene verstanden hatte, aber nicht gewillt war, sich weitere Einzelheiten anzuhören.
Kaum hatte er der verzauberten Behausung seines magischen Verbündeten den Rücken gekehrt und war in den dunklen, kaum erleuchteten Gassen zwischen den engen Häuserzeilen verschwunden um sich auf ohne weitere Verzögerung auf den langen, beschwerlichen Weg zu machen, da bahnte sich bereits das nächste Unheil an. Eng an eine rußgeschwärzte Häusermauer nahe der Seitengasse gepresst, lauschte er mit spitzen Ohren den stapfenden Schritten und dumpfen Stimmen im Dunkeln. Flandrisch, daran gab es keinen Zweifel. Selbst den örtlichen Dialekt konnte er noch zuordnen. Teufel auch! Er hätte es wissen müssen, schließlich hatte ihn doch schon beim Einreiten in die Stadt das merkwürdige Gefühl beschlichen, er hätte einen Verfolger hinter sich. Und er hatte sich nicht geirrt. Sein Instinkt ließ ihn nie im Stich obgleich er es vorgezogen hätte bereits früher entsprechend gehandelt zu haben.
Eine ganze Zeit verging bis der vordere erneut ansetzte. „Was glaubst du, passiert mit dem hier? Brüssel? Oder will der oberste Meister ihn in Akkon solange er dort weilt?“

„Ich hab keine Ahnung, aber es steht uns nicht zu solche Fragen zu stellen.“

„Ich kann mich doch wohl fragen...“
Eine dritte, klare und Stimme war plötzlich aus den Schatten der vor den beiden liegenden Straße zu vernehmen, deren Besitzer nach wie vor im Dunkeln stand und der Lucien seltsamerweise bisher nicht aufgefallen war. „Man sollte nur fragen, wenn man die Antwort erfassen kann. Euch nützt sie nichts, also schweigt so lange! Die Jahre mögen erweisen, ob ihr würdig seid in die oberen Reihen aufzusteigen.“
Auch die beiden Männer zuckten zusammen und hätten beinahe ihr schweres Bündle fallen gelassen.
„Meister Nathaniel? Meister Johannes?“ Offenbar musste sich noch eine weitere Person hinter der im Schatten verborgenen aufhalten. Beide Träger begannen mit einer Verbeugung, die sie fast das Bündel fallen ließ und die durch eine harsche Geste der Gestalt beendet wurde, die nun aus der Schwärze, auf die Mitte der Straße und damit ins Mondlicht trat.

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Ihr folgte tatsächlich eine weitere Person.
Das Gesicht des ersten, des Sprechenden, den die beiden Träger mit 'Meister Nathaniel' angesprochen hatten, war Lucien unbekannt, aber der Zweite war ihm mehr als vertraut: Hans. Der ehemalige Schreiber hatte die Schultern durchgestreckt, hielt den Rücken gerade, das Haupt erhoben. Anhand der Gestik ließ sich vermuten, dass er einer derjenigen war, die hier die Befehle erteilte.

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Wieder war es der erste Träger, der leise mit einem Blick auf das Bündel flüsterte. „Meister Nathaniel, verzeiht meinen Zweifel, aber ich hätte nie vermutet, dass ihr in der Lage sein könntet, einen Abkömmling von Julia Antasia selbst zu bannen. Jemand so Mächtigen...“
Der Fremde vollführte mit der behandschuhten Linken eine wegwerfende Geste. „Dieser hier war jung, unerfahren, zu selbstüberzeugt und leichtsinnig. Es ist eine hohe, von Gott gegebene Kunst, aber es mag gelingen, wenn man in der Lage ist, sie mit ihren eigenen Waffen zu schlagen. Und wenn man des rechten Glaubens ist. Merkt euch das, vertraut in die Weisheit der Oberste, lernt und übt euch in Geduld. Der Herr hat noch Großes mit euch vor.“ Er nickte ihnen zu, wie der wohlwollende Lehrer seinen Schülern und fuhr dann fort. „Bringt ihn zunächst zum Lager. Alles andere hat euch im Moment nicht zu kümmern.“

Wortlos und schweigend verfolgte er weiterhin das Gespräch der beiden und als die beiden Gestalten aus der Finsternis nahe der Leichenträger ihre Anwesenheit preisgaben, musste er sich sehr im Zaume halten nicht doch noch umgehend einen waghalsigen Sturmangriff zu wagen. Dieser Nathaniel und das dazugehörige Gesicht sagten ihm nichts, aber Hans den Schreiber würde er noch in der Mittagssonne am überfüllten Markplatz von Aachen wiedererkennen. Hans der Feigling, Hans der Mörder, Hans der Verräter. Der kleine, liebe Hans, der sich offensichtlich ordentlich gemacht hatte, wenn man den durchgestreckten Rücken und die beinahe soldatisch aufrechte Haltung betrachtete. Auch ihr kleines Zusammentreffen in Brügge änderte wohl nichts an der Tatsache, dass sich ‚Meister Johannes‘ sehr sicher und zuversichtlich fühlte, wenn man seinen aufrechten Rücken und die beinahe soldatische Haltung näher betrachtete. Er hatte wohl allen Grund dazu, schließlich hatten seine Häscher ihr Ziel erreicht: Helmut, der Spion des Erzmagiers Aleisters, war tot und seine Geheimnisse ruhten nun mit ihm in seinem Grab. Dumm nur, dass Hänschen scheinbar dazu gelernt hatte und sich bereits gedacht hatte, dass nun er selbst, Lucien, alles von Helmut erfahren hatte, was es zu wissen gab. Das setzte ihn natürlich prompt auf die Abschussliste des Verräters. Seine Fingerknöchel knackten als sich seine Finger in die dicken Lederhandschuhe pressten und er fest die Zähne zusammenbiss. Hier wäre ein Moment, auf den viele lange gewartet hatten und doch war es nicht der geeignete Zeitpunkt. Er musst warten, die Lage sondieren und auskundschaften. Er musste geduldig, vorsichtig und gezielt vorgehen, wie das Raubtier das die Beute umkreist. Was der Titel ‚Meister‘ in Zusammenhang mit Hans und Nathaniel bedeutete, wusste er nicht genau. Es konnte ein kirchlicher Titel eines Ritterordens sein oder der einer Geheimorganisation aber offenbar war man hierarchisch strukturiert. Es gab obere Wissende und untere Ausführende, die zu kuschen hatten, wie überall auf der Welt. Die ‚Leiche‘ in den schweren Stofftüchern, welche die beiden mit sich trugen, musste wohl ein Kainit sein, schlussfolgerte der Gangrel. Allerdings sagte ihm der Name Julia Antasia zunächst nichts. Es war sehr gut möglich, dass es bekannte Kainiten außerhalb seiner eigenen Domäne gab, die diesen Namen trugen und von einer Linie abstammten, die eine gewisse Reputation vorzuweisen hatten. Immerhin zeigten sich die beiden Lakaien zutiefst beeindruckt von der Tatsache, dass dieser Nathaniel einen vermutlich Neugeborenen gepfählt hatte. Dumme Sterbliche.
„Das Kind Julia Antasias…“, murmelte Lucien mit zusammengekniffenen Augen, während seine Gedanken wie ein Mahlwerk in seinem Schädel rumorten. Wer immer es sein mochte, er konnte ihn oder sie nicht Hans überlassen. Und wenn es sonst schon keinen Grund gäbe etwas für diesen armseligen Neugeborenen zu tun, dann reichte es für ihn aus zu wissen, dass Hans direkt Bischof Martin unterstellt war. Und bei diesem würde er einiges auf sich nehmen um tüchtige Arschtritte verteilen zu dürfen. Er musste unbedingt mehr erfahren. Auch mehr über diesen großen Meister, der offenbar derzeit noch in Akkon weilte. Handelte es sich dabei um Martin selbst, der gedachte von dort aus überzusetzen? Oder gab es noch ganz andere ‚Meister‘ über Hans und sogar Martin selbst, die mit noch unsichtbareren Fäden ihre Marionetten dirigierten? War es vielleicht Otto, der Kainit selbst, oder ein ganz neuer Mitspieler in diesem verfluchten Reigen? Sie hatten ihn zumindest noch nicht entdeckt und seine Fährte offenbar verloren, was ihm einen klaren Vorteil verschaffte. Demnach musste ‚Meister Hans‘ wohl bedauerlicherweise noch ein wenig auf ihn warten, denn was immer hier abseits des Augenscheinlichen vor sich ging, es bestand eine geringe Chance, dass dieser arme, gepfählte Tropf unter dem Tuch ihm Auskunft geben könnte. „Wissen ist Macht hat der Alte immer gesagt…“, säuselte Lucien mit einem gefährlich schiefen Grinsen, als er sich lautlos von der Mauer abstieß und danach anschickte den beiden Leichenträgern zum 'Lager' zu folgen. Jetzt durfte man nur noch hoffen, dass es sich dabei um kein Heerlager handelte.

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