Do 28. Apr 2016, 21:11
Nach allem was er mittlerweile schon gesehen, gehört und persönlich erfahren hatte, hätte ihn so ein freundlicher Geist nicht weiter verwundern sollen; dennoch war es weniger die ätherische Erscheinung der durchscheinenden Gestalt, als das vertraute Gesicht das ihm entgegengeblickt hatte. War das nur eine Einbildung oder ein Trick gewesen? Er wusste es nicht. Alles was er wusste war: Sie hatte ihn tatsächlich gerettet und während er sicher im Schoß der Erde versunken war, lediglich angesengt durch die dämonischen Feuerzungen, hatte er einige Zeit um darüber nachzudenken. Erinnerungen und Gedanken überschlugen sich und formten merkwürdige Träume, die er nicht verstand. Dann endlich spürte er die Finsternis der hereinbrechenden Nacht in seinen Knochen und entschwand der erdigen Zuflucht. Zwischen abgebrannten und versengten Häuserteilen, sah er sich unsicher um. Florine als Geist? Und ein Dämon der scheinbar keine Kontrolle über sich hatte? Dazu noch die Hunde, die Morde und diese beinahe greifbaren Lichter am Himmel, die scheinbar die Formen aller möglichen Kreaturen annehmen konnten? Wie hing das miteinander zusammen? Was hatte es damit auf sich? Er konnte sich keinen Reim darauf machen – musste er vielleicht aber auch gar nicht, denn da war schon Hans, der auf ihn zueilte. „Äh ja, ich war…“, er sah sich in den verkohlten Überresten des Hauses um, „…im Dienst und habe den Hafen untersucht. Allerdings… nun“ Er hob die Schultern. Was sollte er ihm da auch groß erklären – er war noch da, er war nicht verbrannt und die Stadt scheinbar auch nicht. Zum Glück. „Nein, danke. Mir geht es soweit gut Hans. Hat man das Feuer unter Kontrolle gebracht?“ Er sah sich erneut um und gab sich die Antwort selbst. „Hm, sieht zumindest danach aus.“ Lucien schielte auf die Schriftrolle unter dem Arm des Schreibers, während er sich die Asche von der Rüstung klopfte. „Was hast du für mich Hans? Gibt es was Neues?“
“Es freut mich zu hören, dass euch nichts passiert ist Hauptmann” Der junge Mann nickte Lucien aufmerksam zu und sah dabei auch wie dieser auf die Schriftrolle schielte. Wie als Antwort zeigte er auf das Dokument und rollte es aus. Es waren eine ganze Menge Notizen und Zahlen zu erkennen, die mit Kohle geschrieben waren. “Das? Das sind nur die Informationen über die Schäden der heutigen Nacht. Der Stadtrat will so schnell wie möglich mit dem Wiederaufbau anfangen. Wir hatten wahnsinniges Glück letzte Nacht, denn wir konnten das Feuer schnell unter Kontrolle bringen, es war beinahe ein Wunder das es nicht auf mehr Häuser und Lager übergeschlagen ist. Wahrscheinlich war das Holz zu nass.” Hans wickelte die Rolle wieder zusammen. “Eine Sache noch Hauptmann. Ein paar Leute der Wache wurden verletzt. Nichts ernstes, ein paar Verbrennungen und allgemeine Erschöpfung. Aber gestern nacht hat auch wieder ein Mord stattgefunden, eben hier im Viertel. Wir vermuten das das Feuer vielleicht gelegt wurde um die Tat zu vertuschen, was aber irgendwie nicht ins Profil dieses Mörders passt.” Der junge schreiber schien kurz in Gedanken versunken zu sein und wandte sich dann weiter an Lucien. Das folgende schien ihm erheblich schwerer zu fallen. “Da ist noch etwas...Neben dem Toten gibt es auch noch eine schwerverletzte, die junge Späherin Karla...nun sie ist im Hospital. Keiner weiß ob sie die Nacht überstehen wird, sie ist übel zugerichtet. Ein Zeuge ist bei ihr. Es heißt er hätte alles beobachtet was letzte Nacht passiert ist. Vielleicht könntet ihr euch darum kümmern.”
Der erste Teil der Information, die Hans ihm zukommen ließ verwunderte ihn nicht weiter. Ein Feuer war ausgebrochen und man hatte es gelöscht; einige Wachleute und Bürger waren erschöpft oder hatten Brandwunden davon getragen. Nichts womit man nicht fertig werden könnte und nichts, das einen groß verwundern mochte. Dass hier ein Dämon der seine eigenen Kräfte nicht zu beherrschen vermochte umging, wusste niemand und so war es auch nicht verwunderlich, dem Mörder die Schuld für die Tat zu geben. Wiederaufbau, ja… natürlich. Dann sah der Hauptmann Hans eindringlich und fast schon ungläubig an. „Noch ein Mord? Das ist nicht wirklich verwunderlich.“ Er drehte sich zu den verbrannten Überresten des Stadtteils um. „Das Feuer hingegen… man wird sehen womit das möglicherweise zu tun hat aber was Karla anbelangt….“ Er knurrte kurz ungehalten und schüttelte den Kopf. „Ich habe ihr gesagt sie soll sich aus der Sache raushalten, das Mädchen hört nie auf mich aber gut… ich hätte es ja ahnen können. Ich werde zu ihr gehen und ihr gehörig den Kopf waschen, dann wäre wohl ein Gebet angebracht.“ Seufzend kletterte er über den aschebestäubten Schutt in Richtung der Hauptstraße. „Wer ist der Zeuge?“
Hans nickte nur bei Luciens Ausführungen. Er schien die Gedankengänge des Hauptmannes zu teilen. Dann schaute der Schreiber noch einmal in seine Rolle. "Die Zeugin..." Er hatte den entsprechenden Eintrag offensichtlich gefunden. "Die Zeugin ist Brunhild, eine Schmiedin der Stadt. Sie hat sowohl die Leiche, als auch die verletzte Späherin gefunden und sich bis jetzt geweigert eine Aussage zu machen. Irgendetwas scheint sie sehr mitgenommen zu haben. Vielleicht könnt ihr ja etwas aus ihr heraus bekommen.”
Der Gangrel hielt in seinen Bewegungen inne und drehte sich in Richtung des Schreibers. Verwunderung stand ihm ins Gesicht geschrieben. „Brunhild?“ Er erwartete keine Antwort sondern seufzte nur erneut. „Danke Hans, ich werde zunächst mit Karla und im Anschluss mit Brunhild sprechen, beide sind mir bereits persönlich bekannt. Danke ebenfalls für die schnelle Benachrichtigung. Sag den Wachleuten ich bin wohlauf und schon wieder im Einsatz, du kannst ihnen auch meinen Stolz mitteilen: gute Arbeit mit dem Löschen der Brände.“ Wohin sollte das bloß alles führen? Allein das Karla nunmehr schwer verwundet war und Brunhild die nächste Zeugin zu sein schien, war so viel des Zufalls das er bereits nicht mehr daran glaubte. Vermutlich hatte Karla sich seinen Anordnungen widersetzt und Brunhild war ihr zu Hilfe gekommen. Schlussendlich beide keinen weiteren Mord verhindert, sondern wären beinahe selbst einer geworden. „Weitermachen“, sagte er ihm gewohnten Befehlston zu Hans, bevor er den Weg Richtung Krankenhaus einschlug. Karla wäre dort und wenn Brunhild nicht ohnehin an ihrer Seite wachen würde, so würde er sie sicher kurz darauf später in der Schmiede anfinden. Eilig hastete er Richtung Krankenhaus. Sture Frauen... typisch.
“Ich gebe eure Anweisungen weiter Hauptmann” Mit einer kurzen Verbeugung, die ihm sichtlich Mühe kostete verabschiedete sich Hans und ging wieder seiner Arbeit nach, indem er mit einem kleinen Kohlestift in seine Schriftrolle zu kritzelten begann. Nach kurzen Zeit hatte Lucien das Hospital auch schon erreicht und bereits beim Näherkommen hörte er, dass es dort sehr geschäftig zuging. Der ursprüngliche Bau war ein viereckiger Sandsteinbau in einem besseren Viertel der Stadt. In der Mitte des Gebäudes gab es einen Hof in welchem Kräuter gezogen wurden und ein Brunnen sauberes Wasser aus großer Tiefe förderte. Inzwischen beschränkte sich die Heilstätte aber nicht mehr nur auf seine ursprüngliche Ausdehnung. Über die Jahrzehnte hatte man, ermöglicht durch reiche Spenden dankbarer Bürger, Adliger und Reisender denen man hier geholfen hatte, weitere Gebäude gekauft. Inzwischen war der ganze Straßenzug mehr oder weniger Teil des Hospitals und die unterschiedlichen Flügel enthielten Unterrichtsräume, Lager, Werkstätten um Medikamente herzustellen sowie eine kleine Bibliothek. Die Schriften zur Heilkunst die darin gesammelt wurden, erfreuten sich inzwischen über die Stadt- und Grafschatsgrenzen hinaus zunehmender Bekanntheit und nicht selten kamen Studierende aus Paris oder London um in Bestimmte Werke Einsicht zu erhalten. Der Kopf des ganzen war dieser Tage Balduin van de Burse, der die Position übernommen hatte nachdem sich Leif aus den Geschäften des Hospitals zurückgezogen hatte. Lucien hatte einmal von Leif gehört, dass der gute Mann inzwischen mehr mit Organisation zu tun hatte, als eigentlich irgendwem mit seinen Heilkünsten beizustehen und das das auch der Grund war wieso er seinen Platz freigemacht hatte. Der Salubri hatte einfach keine Lust jeden Tag Listen und Unterreichtspläne durchzugehen, während andere die eigentliche Arbeit der Heilkunst übernahmen. Beim Eintritt in das Gebäude sah Lucien schon, dass es drunter und drüber ging. Überall liefen junge Heiler und Helfer in ihren braunen Kutten umher, trugen kleine Flaschen mit mit verschieden farbigen Tränken, Bandagen oder kuriose Instrumente. Es gab wohl keine offensichtliche Ordnung im inneren des Gebäudes an der man sich orientieren konnte.
Es war doch immer wieder verwunderlich, wie sich die Dinge in der Stadt doch entwickelten. Wenn man Nacht für Nacht durch die Straße patrouillierte, mit Gerrit und den anderen Karten spielte oder den gelegentlichen Krieg über sich ergehen lassen musste, kam man gar nicht mehr recht dazu festzustellen wie emsig und fleißig Brügge sich doch in den letzten Jahren gemausert hatte. Der Bau des Doms, die Vergrößerung des Krankenhauses, das mittlerweile auch schon fast zu einer Schule für Heilkundige geworden war, genossen die Anerkennung und das Wohlwollen vieler Besucher und Bürger. Die Stadt wuchs und gedieh, das war schwer zu leugnen und mit der Anzahl der Schwestern, Heiler und Angestellten des Hauses, wuchs auch der Papierkram; er kannte das von der Wache. Je komplexer und größer etwas wurde, desto größer wurde auch der Aufwand es am Laufen zu halten. Irgendwann brauchte man auch Zeit sich seinen persönlichen Dingen zu widmen und wenn man noch gute Leute wie Balduin hatte… ja, Leif hatte schon einiges geleistet mit dem Krankenhaus und es in gute Hände gelegt. Der Gangrel drängte sich entschuldigend zwischen Auszubildenden und Schwestern vorbei, bestaunte den üppigen Kräutergarten und erkundigte sich nach Karla und deren Gesundheitszustand. Hoffentlich hatte sie sich nicht den buchstäblichen Tod geholt. Dummes Mädchen. Nun, vielleicht tat er ihr auch Unrecht und die ganze Sache war gänzlich anders verlaufen. Er würde es bald erfahren.
Ein Jüngling in brauner Kutte, die lustigerweise genau die gleiche Farbe hatte wie die kurzen Haare, verbeugte sich kurz vor Lucien und führte ihn dann stumm in eines der Zimmer. Der junge Mann war vielleicht 15 Jahre alt, aber er gehörte bereits zur neuen Generation der brügger Bevölkerung, die sich nicht einmal mehr an den Krieg um Brügge erinnerten. Über Zehn Jahre lag der ZWischenfall nun schon zurück. Die Zeit verging wie im Flug. Der Ort zu dem er geführt wurde, war ein wenig abseits von den anderen Zimmern und eine massive Tür sorgte für eine gewisse Privatssphäre die man so nicht überall im Hospital genoss. Wahrscheinlich war der Raum reichen Kaufleuten und Adligen vorbehalten, die eine etwas weniger öffentliche Schaustellung ihrer Leiden durchaus mit ein paar zusätzlich Münzen zu belohnen wussten. Der junge Mann öffnete die Tür und ließ Lucien eintreten. Dann ging er auch schon wieder seinen Aufgaben nach. Der Raum roch streng. Blut, Schweiß und der Geruch von versengtem Leder mischen sich mit scharfen Kräutern und blumigen Salben. Eine beinahe überwältigende Mischung für die feinen Sinne des Gangrel. Im Raum waren neben einem großen Tisch, der mit einem Leinentuch abgedeckt war noch drei Gestalten. Balduin beugte sich über den sich nicht bewegenden Körper von Karla und Brunhild saß mit dem Rücken zu ihm. Sobald er näher trat sah der Gangrel die Wunde. Die Späherin hatte sich einen sauberen Schnitt in die Brust zugezogen, der bis an das rechte Auge ihres Gesicht reichte. Die Wunde war tief, tödlich und es schien an ein Wunder zu Grenzen, dass sie überhaupt noch am Leben war. Balduin hatte gerade die Verbände gewechselt und schüttelte beinahe entschuldligend den Kopf als er den Gangrel sah. Brunhild hingegen wirkte völlig abgekämoft und kommentierte die Anwesenheit des Hauptmannes nur mit einem kurzen Zucken ihrer Augen. Sie war voller Asche, die Haare hingen ihr strähnig ins Gesicht und sie wirkte in sich gekehrt. Lucien hatte sie so noch nie gesehen.
Der Gangrel versuchte die vielen verschiedenen Gerüche, die ein geradezu explosives Gemisch für seine feine Nase ergaben tunlichst zu ignorieren und hob mit einem kurzen Seitenblick, einen kleinen Holzstuhl aus der hinteren Ecke des Raumes, um sich mit einem bedächtigen Seufzen neben Brunhild zu setzen. Mit spitzen Fingern, zog er sich die Handschuhe aus und warf sie achtlos vor sich auf den Boden. Den Kopf in die Hände gestützt, strich er sich nachdenklich übers Gesicht. Nein, so hatte er Brunhild wirklich noch niemals zuvor gesehen und was immer sie in dieser Nacht erlebt haben musste, es hatte ausgereicht um jemanden wie sie gänzlich aus der Fassung zu bringen. Für gewöhnlich war die resolute Frau mit beinahe allen Wassern gewaschen aber wer würde über sie urteilen wollen? Dämonen, Geister und mörderische Hundewesen liefen durch die Straßen. Zusammen mit den wundersamen Erscheinungen am Nachthimmel, ergab das eine ganz und gar unerklärliche Mischung. Zum Teufel nicht einmal er hatte eine Ahnung, mit was er es eigentlich zu tun hatte und wie man es bekämpfen konnte. Nach wie vor wurde munter weiter gemordet und seit neuestem auch verbrannt. Eine ganze Weile lang schwieg er, dann ergriff er leise das Wort. „Das sieht übel, wirklich übel. Es ist wirklich ein Wunder, das sie überhaupt noch hier liegt und nicht sechs Meter unter der Erde; hartes Mädchen. Eine andere hätte es zerrissen.“ Es entstand eine kurze Pause, in der er Brunhild länger in Augenschein nahm. Natürlich wollte beide Frauen schonen aber wie man bereits festgestellt hatte, würden diese Morde nicht aufhören im Gegenteil: Es wurde schlimmer. Er brauchte Antworten – umgehend. „Was ist passiert Brunhild? Das mag nicht der rechte Zeitpunkt sein aber ich hab den Geist gesehen, als auch das Wesen, das für die Brände verantwortlich ist. Die ganze Sache wird immer verwirrender und wir müssen es aufhalten. Was hast du gesehen?“ Seine grauen Augen fixierten die Nordfrau.
Brunhild schien ob seiner Worte zuerst ein wenig, ungläubig, gar verwundert zu sein. Scdhließlich stieß einen tiefen Seufzer aus. “Hört euch meine Geschichte bitte bis zum Ende an Hauptmann. Ein paar Sachen mögen verrückt klingen, aber was ist schon normal in dieser Welt, in der wir uns tagtäglich bewegen.” Brunhild hob den Kopf. Sie schien wieder ein wenig mehr bei sich zu sein, denn ihre Stimme klang fester. Dann wurden sie von Balduin unterbrochen. “Entschuldigt bitte, aber ich habe vorher noch ein paar Informationen bezüglich Karla. Wollt ihr es gleich oder später hören Hauptmann?”
Lucien rückte den Stuhl etwas zurecht und nickte Balduin auffordernd zu. „Danke dass du dich so gut um sie kümmerst, allein was mit freiem Auge erkennbar ist, hatte sie wohl mehr als großes Glück. Ich…“ Er suchte nach den richtigen Worten. „Ich wollte zunächst gar nicht nach ihrem Zustand fragen, denn es ist wohl offensichtlich dass… es nicht allzu gut um sie steht.“ Sein Blick glitt von Brunhild zu Balduin und wieder zurück; blieb dann bei dem Heiler. „Wie schlimm ist es?“
Balduin schaute erst auf seine Patientin und dann wieder auf den Gangrel. “Es ist noch zu zu früh etwas ganz Genaues zu sagen, aber ihre Chancen stehen nicht gut. Selbst wenn wir der Schnitt verheilt wird sie wohl nie wieder sie selbst sein. Der Angriff hat tiefe Wunden in ihrem Kopf hinerlassen und sie reagiert nicht auf einfache Reize. Das sind schlechte Zeichen. Aber etwas ganz Genaues werden wir wohl erst wissen wenn ein paar Tage vergangen sind. Im Moment können wir nicht viel für sie tun.“
Der Gangrel schloss die Augen und vergrub das Gesicht abermals ein wenig in den Händen; stützte das Gesicht auf. Brunhild schien nicht die einzige zu sein, der die ganze Situation zuzusetzen schien. Er mochte Karla; hatte sie immer gemocht und für ihre unverfälschte, direkte Art geschätzt. Sie war im Grunde ein wenig wie er: stur, dickköpfig, ein wenig arrogant aber mit dem Herzen am rechten Fleck. Ein Herz das im Gegensatz zu seinem noch schlug. Langsam nickte er. „Wenn es irgendetwas gibt, das ich tun kann…. gib mir Bescheid und ansonsten…“ Er seufzte. „Hat Leif sie schon gesehen? Wie schätzt er die Lage ein? Ist Abwarten momentan unsere einzige Möglichkeit? Du weißt es gibt nichts was ich mehr hasse, als stoisch nur die Hände in den Schoß legen zu können.“
Balduin antwortete ihm prompt. “Ich habe schon nach Leif schicken lassen. Er wird irgendwann heute noch eintreffen, aber er hält sich momentan in Gent auf. Sollte ich mehr wissen, werde ich es euch sofort wissen lassen Hauptmann.” Schließlich packte er seine Sachen zusammen und wusch sich die Hände in einer irdenen Schüssel, aus der ein starker Essiggeruch kam. Als er an Brunhild vorbeiging legte er ihr kurz die rechte Hand auf die Schulter und nickte ihr zu, so als würde er sie ermutigen wollen. “Ich glaube ihr zwei solltet euch jetzt wirklich unterhalten.” Dann mit wenigen Schritten war der Heiler aus dem Raum getreten und Lucien hörte noch wie die massive Tür sorgfältig geschlossen wurde. Dann setzte Brunhild schließlich an. “Alles fing damit an, dass Karla sich nicht an eure Anweisungen halten wollte Hauptmann. Wie ihr selbst sagt sie ist stur. Sie hatte erfahren, dass in dieser Nacht wieder ein Mann aus der Haft entlassen wurde, der zwar angeklagt wurde, es bezüglich seiner Schandtaten aber keine Beweise gab. Das perfekte Opfer also. Sie heftete sich an dessen Fersen, hielt es für eine gute Idee so herauszufinden wer der Mörder war und als ich erfuhr das sie sich auf den Weg gemacht hatte bin ich ihr hinterher, auchb wenn ich schon gespürt hatte das es zu spät war.” Brunhild stand auf und ging zu dem Tisch der mit dem Leinentuch abgedeckt war. Sie zog es herunter und darunter kam die Leiche eines älteren Mannes mit grauem, fettigen Haar zum Vorschein, dessen Gesicht in purem Entsetzen versteinert schien. Das war aber noch nicht das auffälligste. Beide Arme fehlten ihm, genauso wie der ganze Unterkiefer. Ein wahrlich schauriger Anblick. “Der Mörder hatte sein Opfer gefunden und Karla dazu. Sie schien die Bestie aufhalten zu wollen, aber ich weiß es nicht genau denn ich bin erst zu beiden gestoßen als es schon zu spät war.” Burnhild setzte sich wieder und schluckte einmal schwer. “Es war ein riesiges Biest auf vier Pfoten, aus Schatten und Rauch und es hatte sich auf ein kleines Gebäude zurückgezogen, schien seine Umgebung zu beobachten.” Brunhilds Stimme begann plötzlich ein wenig zu zittern. “Ich..ich war so wütend. Ich wusste das das Wesen für alles verantwortlich ist und habe Feuer gegen es eingesetzt. Ich wusste ich habe keine andere Chance, aber etwas war dieses Mal anders. Ich habe die Beherrschung über meine Kraft verloren und das Feuer ist sehr viel größer geworden als ich beabsichtigt hatte.” Brunhield schwieg kurz, schien sich zu sammeln. “Dann war die Schattenbestie verschwunden, wie vom Erdboden verschluckt. Ich weiß nicht ob ich sie erwischt habe aber ich bezweifle es. Alles was ich noch mitbekommen habe war diese verdammte Melodie von der man inzwischen im Zusammenhang mit den Angriffen spricht. Dann… ja dann begann das Feuer eine Schneise der Verwüstung durch den Hafen zu ziehen. Diese verdammten Nordlichter, ich verliere die Kontrolle über meine Gabe nicht einfach so!” Brunhild schaute kurz weg, schien sich zu gleichen Teilen zu schämen und schuldig zu fühlen. “Ich habe dann versucht zu helfen indem ich das Feuer unter Konrolle halte so gut es eben geht, damit es sich nicht weiter ausbreitet. Irgendwann bin ich ohnmächtig geworden und hier aufgewacht. “ Sie schaute Lucien mit einem traurigen Blick an. “Also Hauptmann ich weiß nicht was ihr gesehen haben wollt, aber für das Feuer bin ganz alleine ich verantwortlich.” Ein Träne blitzte in ihren grauen Augen die sie aber mit aller Wut und Trotz die sie aufbringen konnte unterdrückte.
Der Hauptmann nickte Balduin noch im Gehen zu und sah dann zu Brunhild. Leif würde bald kommen. Es war nicht so, dass er Balduin nicht für fähig hielt aber wann immer es einen Moment gegeben hatte, in der jemand unsägliches Leid hatte erdulden müssen, wann immer jemand dem Tode nahe war oder knapp seinen Verwundungen zu erliegen drohte, war der letzte Ausweg der Weg zum Meister der Heilkunst. Er hörte sich die Geschichte von Brunhild in aller Ruhe an; nickte gelegentlich. Natürlich war es doch so gekommen, wie er es bereits erwartet beziehungsweise Karla eingeschätzt hatte nur dann…. Dann wurde sein Gesichtsausdruck plötzlich starr und ganz und gar leblos. Seine grauen Augen sahen an Brunhild vorbei und gingen in die Leere. Dann allmählich, begann er heiser zu atmen obwohl er es nicht musste, zu keuchen obwohl keine Luft mehr in seine Lungen gelangen musste. Mit einem unkontrollierten Satz, war er von seinem Stuhl aufgesprungen, warf diesen in der Bewegung um und machte ein paar unbeholfene Schritte rückwärts. Er starrte Brunhild nur weiter an und seine Lippen bewegten sich tonlos. „Brunhild…“, krächzte er verkrampft. „Ich war auf der Suche nach der Bestie und traf auf zwei monströse Hunde. Den einen schnitt ich die Beine längst bis zum Kiefer durch mit meinem Schwert, den anderen….“ Sein Blick fiel auf Karla. „Den anderen erwischte ich an der Flanke bis zur Brust, dann rettete ich mich auf ein nahes Hausdach, da ich dachte es würden noch mehr von der Meute herbeieilen. Schlussendlich kam ein Dämon aus Feuer auf mich zu, der die Hunde sah und wütend wurde; mit Feuerzungen auf mich schoss und die ganze Umgebung in ein Hölleninferno verwandelte.“ Er brauchte lange bevor er die Worte formen konnte. „Brunhild, der Feuerdämon warst du und ich war das die Schattenbestie in deinen Augen. Diese Hunde waren Karla und der alte Mann…. Ich habe den Mann getötet… und beinahe auch Karla…“ Hilfesuchend sah er zu Boden und geriet leicht ins Wanken; hielt sich an einem nahen Schrank fest. Er hatte schon einiges getötet: Diebe, Mörder, ehrbare Leute, Monster und Kreaturen, andere seiner Art. Aber er hatte dabei immer einen Grund gehabt, er hatte immer die richtigen Leute getötet oder zumindest die, die er beabsichtigt hatte zu vernichten. Jetzt, hatte er Unschuldige getötet. Falsche Ziele, unwürdige Ziele. Er hatte zum ersten Mal, tatsächlich auf ganzer Linie versagt. Der Hauptmann sackte gegen den Schrank gelehnt zusammen. „Man.. man hat mit unseren Sinnen gespielt… man hat uns geblendet…“
Brunhild schien erst nicht zu realisieren was er sagte und sprang dann plötzlich, ebenso wie der Gangrel vom Stuhl auf und hielt ihn wie einen Schild zwischen sich und den Hauptmann. Ein Schwall Hitze schien von Ihr auszugehen dann sammelte sie sich wieder und ließ den Stuhl sinken. Der Raum kehrte zu einer normalen Temperatur zurück. "Verzeiht...Das war nicht meine Absicht..." Ihre Stimme klang noch immer zweifelnd. "Was in allen 9 Reichen..." Sie schaute hin und her, zwischen der Leiche und Karla. "Was passiert hier Hauptmann? Und was hat dieser Geist und diese Melodie damit zu tun?" Sie setzte sich wieder hin und atmete einmal tief durch. "Haben die Nordlichter auch Auswirkungen auf euch so wie auf mich?" Die starrte auf ihre Hände und zwang sich dann wieder den Hauptmann anzusehen. Lucien spürte das sie ihre Vorsicht noch nicht gänzlich abgelegt hatte.
Er schüttelte nur den Kopf; irgendetwas schien in ihm gerade zerbrochen worden zu sein. Das größte Raubtier der Wildnis rings um Brügge, der große Hauptmann der Nachtwache hatte die falschen Ziele getötet. Schlimmer noch: Er hatte beinahe eine Verbündete ausgelöscht oder sie auf jeden Fall für alle Zeit verkrüppelt und vielleicht sogar geistig beeinträchtigt. Er hatte aus der stolzen, freien Karla ein Wrack gemacht, sollte sie überhaupt die nächsten Nächte überstehen. „Ich weiß es nicht Brunhild aber als das Feuer sich legte und ich aus der Erde wieder hervorkam, habe ich einen Phoenix in den Lichtern gesehen und die besagte Melodie. Du bist mit der Legende des Phoenix vertraut?“ Lucien lächelte schwach. „Ich habe nicht die geringste Ahnung was das alles zu bedeuten hat. Heißt das am Ende geschehen diese Morde nur, weil irgendjemand etwas glaubt zu sehen, das er bekämpfen muss? Und dennoch sind es immer Straftäter, die ihrer Strafe entgehen…. Mörder… wie ich einer bin.“ Langsam erhob er sich und sah zu Karla. „Ich habe den Geist gesehen, kurz bevor du mich verbrennen wolltest. Er reichte mir die Hand und sagte, er würde mir helfen. Das Ding hatte das Gesicht einer alten… Liebschaft aus sterblichen Tagen aber was kann man mittlerweile schon glauben?“ Erneut schüttelte er den Kopf. „Ich habe keine Ahnung was hier vor sich geht aber diese Melodie und die Lichter spielen sicher eine Rolle. Nur: Wo fange ich an zu suchen? Wo ist die Quelle all diesen Wahnsinns?“
Brunhild schien eine Weile über Lucien's Worte nachzudenken und schüttelte dann nur den Kopf. "Ich kann mir keinen Reim darauf machen. Die Lichter geben mit Kraft, meine Gaben waren noch nie so stark wie jetzt wo die Lichter am Himmel stehen. Die Bilder aus Rauch die ich heraufbeschworen habe falls ihr euch erinnert - so geschickt gelang es mir noch nie. Aber offensichtlich bedeutet die größere Macht auch eine schwierigere Kontrolle wie ich an Hafen sehen konnte. Was die Bilder angeht habe ich keine Idee." Sie schüttelte den Kopf, strich sich mit eine Hand über das Gesicht. "Aber der Geist - ich habe keine Ahnung wieso sie das Gesicht eurer Liebschaft annimmt und euch geholfen hat. Immerhin scheint sie ja den anderen Opfern des Mörders nicht geholfen zu haben." Sie seufzte. "Vielleicht seht ihr euch noch einmal alle Beweise an, aber wenn ich ehrlich bin weiß ich nicht was hier gerade geschieht."
Er schwieg für einen sehr langen und bedachten Moment. Brunhilds Fähigkeiten schienen zugenommen zu haben, bis zu dem Maße, da sie keine Kontrolle mehr darüber zu haben schien. Sollten die Nordlichter akkurat das zutage fördern und verstärken, das in einem selbst schlummerte? Wenn es sich so verhielt, dann war es vielleicht sein schattenhafter Begleiter, den er aus dem Abgrund mitgebracht hatte, der nunmehr sein Unwesen trieb. Vielleicht zeigte das Licht einem auch nur einfach die Wahrheit über die Dinge oder verbog diese zu einem Bild, das jeder für sich selbst nur deuten konnte. Der Hauptmann atmete schwer ein und aus. „Dann geht es dir wie mir und wohl allen anderen in dieser Stadt. Niemand kann sich einen rechten Reim drauf machen aber es muss aufhören. Sonst…“ Sein Blick glitt erneut zu Klara, wandte sich dann aber fast schmerzhaft wieder von ihr ab. „Sie wollte nur helfen und du wolltest sie nur beschützen, ich mache niemanden von euch einen Vorwurf, dem einzigen dem ich nicht vergeben kann, bin ich selbst. Diese Bürde muss ich selbst tragen und sie wiegt schwer auf jemandem, der es gewohnt ist die richtige Beute zu jagen. Falls sie wieder hergestellt wird, hat sie ein Anrecht darauf zu erfahren was die Wahrheit ist. Die ganze Wahrheit, dann soll sie selbst urteilen.“ Lucien machte ein paar Schritte auf die Eingangstür zu. „Ich kann nicht versprechen, dass ich irgendetwas bewegen kann, ich wüsste nicht einmal wo ich hingehen sollte aber ich muss es versuchen. Für heute Nacht, werde ich noch einmal die Beweise durchforsten und nach versteckten Hinweisen suchen, vielleicht haben wir etwas übersehen. Falls dir noch etwas auffällt – du findest mich in meinem Haus. Ich brauche… etwas Ruhe.“ Dann verließ er das Krankenhaus und machte sich auf zu seinem Anwesen in der Stadt. Er hätte auch in den Wald gehen können, die einsame Wildnis hätte ihm sicher gutgetan aber dann wäre er zu weit weg gewesen, falls wieder eine Gräueltat passiert wäre. Er verschloss die Tür und setzte sich schwer an den Küchentisch; versuchte seine Gedanken zu ordnen. Was hatte er übersehen? Was hatte er vergessen? Wohin führte das alles?