Leif ging mit den Sachen, die er zurechtgelegt hatte, an seinem Ghul vorbei in Richtung des kleinen Abstellraums, den er für Gretlin zurechtgemacht hatte. Zugegeben, der Raum war nicht sonderlich groß, aber die Pritsche diente ihrem Zweck, ebenso die fensterlosen Mauern. Er hatte auch eine Laterne für etwas Licht dabei, die mit ein wenig Pergament abgedunkelt wurde um dem immer möglichen Rötschreck vorzubeugen. Ohne zu Klopfen trat er schließlich ein. "Ich habe gehört du bist erwacht, Gretlin. Keine Angst dir wird hier und heute nichts geschehen."
Das Mädchen, das auf der Pritsche lag, zuckte bei dem Geräusch der sich plötzlich öffnenden Tür zusammen. Sie richtete sich halb auf und ihre Hand schnellte nach oben wie um einen Schlag abzuwehren. Als sie den Nordmann erblickte ließ sie den Arm wieder sinken und rutschte mit dem Rücken an die Wand. Leif konnte erkennen, dass ihr die Bewegung Mühe bereitete. Als wären die Muskeln steif oder durch zu lange körperliche Arbeit erschöpft.
„Leif Thorson?“ Sie senkte den Kopf zu einer Verbeugung.
Leif hatte durchaus Mitleid mit der Kainitin. Sie war einfach zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen und hatte ihm vertraut, dachte er mit einem leisen Stich von Schuld. Schließlich sprach er mit fester Stimme weiter. "Verbeugungen sind weder nötig noch lege ich gesonderten Wert auf diese Form der Begrüßung, Gretlin. Euer Körper wird sich früher oder später wieder völlig normal anfühlen, keine Angst. Ein Teil von ihm ist zu Asche zerfallen als ihr in Starre gefallen seid und wurde erst wieder neu hergestellt. Deswegen dieses komische Gefühl." Er legte ihr das Kleid, welches sie einfach überstreifen konnte, auf das ihr entgegengesetzte Ende der Pritsche. Das Notizbuch setzte er daneben. "Jede Frage die du stellen willst kannst du jetzt gerne stellen, ansonsten kann ich nicht mehr tun als dich zu entlassen."
Sie ließ seine Worte auf sich wirken, bedachte ihre Bedeutung. Dann schüttelte sie vehement den Kopf. „Wenn ich hier bin bedeutet das, dass ihr geholfen habt mich zu heilen. Umso mehr sind Zeichen des Dankes angebracht und eine Verbeugung ist da nichts.“ Sie lächelte zögernd, bewegte vorsichtig die geheilten Finger. „Danke.“ Ein nachdenklicher Ausdruck machte sich auf ihrem Gesicht breit. „Was ist geschehen? Ist die Inquisition fort? Geht es allen gut?“ Ihre Worte überschlugen sich am Ende fast. Dann merkte sie, dass sie zu hastig sprach und schwieg.
Für einen Moment war Leif verwirrt. Spielte Gretlin ein Spiel? Er zog die Augenbrauen misstrauisch zusammen und ging in eine innere Verteidigungsposition. Lucien hatte ihm zwar schon gesagt das das Mädchen komisch war, aber das hier...nun ja er beschloss das ganze anders aufzuziehen. "Die Inquisition ist fort, wenn man das so nennen will, aber eine andere Frage ist viel wichtiger. Die Tremere haben euch gejagt." Eine Feststellung, keine Frage. "Wisst ihr warum? Darüber hinaus, was sagt euch der Name Sebastian von Augsburg und warum hat er euch im Teufelsturm geholfen?" Leifs Stimme war nicht aggressiv, eher geschäftsmäßig, allerdings lächelte er nicht. Die Situation, die sich hier abspielte war ihm sehr unangenehm.
Gretlin setzte sich weiter auf und ließ die Beine von der Pritsche baumeln. Sie faltete die dünne Decke, die über ihr gelegen hatte vorsichtig zusammen und legte sie neben sich. Sie nickte. „Das ist gut, wenn die Leute der Inquisition fort sind. Mir scheint, sie haben hier genug Chaos gestiftet.“ Sie sah zu dem Mann auf, der immer noch vor ihr stand. „Ich weiß nicht warum man mich gejagt hat. Euer Sebastian hat mir ein paar seiner Vermutungen mitgeteilt…“ Sie presste nachdenklich die Lippen zusammen. „Ich glaube, er hat Lucien und mir nur geholfen, damit wir seinen Feind Cunradis für ihn aus dem Weg räumen… Ich hab zu Lucien gemeint, er solle den vorlauten Hexer doch einfach am Leben lassen. Der junge arrogante Schnösel hätt‘ eurem Sebastian sicher noch die Hölle heiß gemacht.“
Leif glaubte ihr nicht so recht. Vielleicht sprach sie die Wahrheit, vielleicht aber auch nicht. Der Salubri seufzte, auch wenn er mit einer solch schwierigen Situation irgendwie gerechnet hatte. Trotzdem war alles anders. Nun denn, es half niemanden den Kern des Gespräches weiter heraus zu zögern. "Also Gretlin. Du erinnerst dich doch sicherlich wie du in Starre gefallen bist oder?"
Das Mädchen schluckte schwer, senkte fast beschämt den Blick und schüttelte den Kopf. „Nein. Irgendetwas muss gewaltig schief gelaufen sein…“
Leif traute ihr im Moment noch weniger als zuvor. Schließlich fasst er einen Entschluss. Diese Sache müsste geklärt werden, denn selbst wenn sie wirklich ihre Erinnerung verloren hatte konnte niemand garantieren, dass diese nicht irgendwann wiederkommen würde. "Gut, dann werde ich euch wohl ein wenig helfen müssen, was den Ablauf der Dinge angeht." Leif schluckte unnötigerweise bevor er fortfuhr. "Ihr wart mit mir unterwegs. Schließlich habe ich euch in eine alte Ruine gelockt, angegriffen und in Starre geschlagen als ihr euch nicht freiwillig von mir habt pflocken lassen und fliehen wolltet. So viel zu den Details die ihr wissen könntet." Er beobachte Gretlins Reaktionen genau. "Aber ich schulde euch das Wissen was danach geschah. Sebastian von Augsburg, jener Tremere der irgendeine Verbindung zu euch hat, hat mich mit Magie versklavt. Er wollte euch unbedingt haben und ich hatte die Hoffnung euch gegen meine Freiheit eintauschen zu können, aber leider war es nicht genug. Das ist die Geschichte in Kurzfassung. Also es war nichts Persönliches, Gretlin, allerdings solltet ihr vorsichtig sein wem ihr dankt - gerade wenn ihr euch offensichtlich nicht an sehr viel erinnern könnt." Damit endete er seine Ausführung.
Die Augen der jungen Frau weiteten sich, zunächst vor Unglauben, dann vor Entsetzen. Sie wich auf ihrer Pritsche zurück, schien Abstand von ihm zu suchen. Ihre Augen suchten in dem kleinen Raum nach etwas, das sie zur Not als Waffe einsetzen konnte, fanden aber außer einem hölzernen Tablett auf dem ein paar Wald- und Wiesenblumen standen, nichts. Schließlich reckte sie zögernd das Kinn nach vorne. Ihre Stimme war bitter. „Wenn er euch, wie ihr sagt, mit Magie versklavt hat, warum habt ihr ihm nicht einfach das gegeben, was er wollte?“
"Weil auch ein Sklave gegen sein Schicksal aufbegehren kann." Leifs Stimme war recht emotionslos. "Weil meine Freiheit alles ist was mir in diesen nächsten und nach all den Jahren geblieben ist auch wenn der Preis dafür an meiner Seele frisst." Leif sah die Bewegungen des Mädchens, er wusste wonach sie suchte. "Ihr seid nicht meine Gefangene und wenn ihr gehen wollt, steht euch das frei." Der Salubri machte demonstrativ einen Schritt zur Seite von der Tür weg.
Sie schüttelte den Kopf. „Ich lebe noch. Demnach ist es vorerst nicht euer Ziel mich an Tremere zu verkaufen, scheint mir…“ Sie sprach eher zu sich selbst. „Ich verstehe das nicht…“ Dann sah sie wieder in seine Richtung. Ihre Stimme war leise. „Also hat er euch blutsgebunden?“
"Wie ich bereits gesagt habe es ist nichts Persönliches. Ich bin noch nicht so alt und so verrückt, dass ich Dinge ohne triftigen Grund tue. Ob ihr mir glauben wollt oder nicht, aber ihr habt vor mir nichts mehr zu befürchten. Ihr ward Sebastian zu wenig für meine Freiheit und mit anderen Tremere habe ich keinen Grund zu verhandeln." Er schaute sein gegenüber an und lachte bitter. "Ein Blutsband wäre schön, wäre einfach. Nein Sebastian hat mich in einen Blutsvertrag getrickst, der ihm nun auf alle Ewigkeit und wie es ihm gefällt Macht über mich gibt."
Ihre Augenbrauen verzogen sich zu einem nachdenklichen Strich. „Ein Blutsvertrag? Ein mächtiges Stück Hexenwerk… Was will der Tremere von euch?“ Die Angst hatte einer anderen Regung Platz gemacht, die bei dem Mädchen deutlich ausgeprägter zu sein schien: Interesse und Neugier.
"Leider weiß ich nicht, was er wirklich will. Er war nie sonderlich gesprächig was seine Pläne oder Absichten anging und bevorzugte es in den ungünstigsten Gelegenheiten aufzutauchen und sich im Hintergrund überlegen den Bart zu zwirbeln. Aber die Bedingung von der ich weiß ist, dass ich ihm immer dann Zuflucht gewähren muss wenn er es wünscht." Leif wusste nur vage warum er dieses Wissen mit einer völlig Fremden teilte, allerdings war ihm klar das die Hauptmotivation die Schuld für seine Tat war und sie als Unbeteiligte in die ganze verkorkste Verbindung zwischen ihm und Sebastian mit hineingezogen wurde.
Das Mädchen nickte. „So viel habe ich mittlerweile mitbekommen: Der Gute muss in den eigenen Reihen genug Feinde haben. Sollte er je wieder hier auftauchen ist das doch perfekt für euch: Gib ich Zuflucht und dann setz ihn gefangen oder tu, was immer dir beliebt mit ihm…“ Wieder schüttelte sie den Kopf. „Nein, ich vermute, der Kerl ist schlauer und hat vorgesorgt. Mit sowas rechne ja selbst ich.“ Sie grinste schief.
"Ich will ihn weder festsetzen, noch vernichten, noch möchte ich sonst irgendetwas mit dem Kerl zu tun haben. Sicher er hat vorgesorgt - nette Details Kleingedrucktes, dass er wohl vergessen hat zu erwähnen als er mir den Vertrag als "Rettung" und "gegenseitiges Geschäft" vorgeschlagen hatte, als ich im Folterkeller der Tremere gefangen war." Bei den Worten 'Rettung' und 'Geschäft' spuckte Leif beide Male Blut auf den Boden. "Ich will nur, dass der Kerl mir meine Freiheit zurück gibt und dann aus meinem Leben verschwindet - aber das wird er wohl nie tun, weil er zu sehr fürchtet, dass ich mich rächen würde." Leif schlug auf eine der Wände ein. "So, dies ist meine Geschichte. Wenn du keine weiteren Fragen hast kannst du gerne gehen - deine Bücher habe ich auch noch hier."
Gretlin war bei diesen Worten bereits an seiner Seite. Mit erwartungsvollem Ausdruck nahm sie ihre Bücher entgegen als wären es heilige Schätze. Liebevoll strich sie über einen der Einbände.
„Ich hatte schon Angst, ich würde sie nie zu lesen bekommen. Ich habe soviel für diese fünf riskiert. Es wäre eine Schande…“ Sie stand vor dem Nordmann, der sie wohl um Haupteslänge überragte und sah zu ihm hoch. „Ich schlage dir etwas vor: kein Geschäft oder irgendwas, aber vielleicht sowas wie einen Handel: Du versuchst nicht mehr mich in zwei Hälften zu hacken oder mir sonst ans Leder zu wollen, versuchst nicht mich an wahnsinnige Tremere zu verkaufen, lässt mich in Zukunft unversehrt… und sollte ich irgendwann herausfinden, wie man aus einem Blutvertrag raus kommen kann wirst du der erste sein, dem ich dieses Wissen mitteile. Einverstanden?“
Leif nickte nur, er reagierte weder auf ihren intimen Umgang mit den Büchern, noch auf ihre Aktionsfreude. Gretlin konnte eins klar werden. Der Mann vor ihr war irgendwie abgestumpft und gebrochen und es schien ihn nicht sonderlich zu interessieren, wem sie die Wahrheit erzählte über das, was mit ihr passiert war. Aber er schien ihr nichts Böses mehr zu wollen. Er nickte noch einmal und zeigte ihr dann den Ausgang aus dem Keller.
Das Mädchen betrachtete ihn lange, schien etwas zu suchen, schüttelte dann wieder wie zu sich selbst den Kopf. Ein Geräusch ließ sie herumfahren.
Leif hörte eilige Schritte hinter sich. „Karl- Christian!“ Von irgendwoher war die eisige Stimme von John zu hören, der mit Mühe die Wut unterdrückte, die in ihm zu brodeln schien. Der blonde Junge erschien wenig später in der Tür, lehnte lässig am Türrahmen und hielt Leif schließlich ein geöffnetes, ehemals versiegeltes Dokument hin. Er zog bei Gretlins Anblick eine Augenbraue in die Höhe und verzog abschätzend die Lippen. Seine hellen Augen richteten sich auf den Heiler. „Der Absender sollte mal besser Lesen und Schreiben lernen, scheint mir.“ Mit diesen Worten entwischte er bereits wieder aus dem Raum und duckte sich geschickt als Johns Arm nach ihm greifen wollte und schoss durch den langen Flur davon.
Der alte Ghul war außer Atem. Er sah hinter Karl-Christian her, dann in Richtung der beiden Kainiten. „Verzeih, Leif. Ich hatte beabsichtigt dir den Brief in einem günstigeren Moment zu geben. Er wurde heute bei uns hinterlegt.“ Wieder ging sein Blick in Richtung Flur. Er verkniff sich die Worte, die ihm auf der Zunge lagen.
Leif war nicht überrascht von der Reaktion des Jungen. Er hatte diese Dinge schon häufiger erlebt. Wortlos nahm er den Brief entgegen, öffnete ihn aber nicht gleich. Mehr zu sich und zu John sprach er die nächsten Worte, auch wenn Gretlin ihn gut verstehen konnte. "Sobald der Junge 12 Jahre alt ist werde ich ihm irgendeinen Ritter zum Knappen geben. Dort wird er vielleicht ein wenig Disziplin lernen und, wer weiß, vielleicht wird er sogar einmal sein eigenes Gut mit Land haben. Er ist klug und sein martialisches Talent kann er als Ritter am besten positiv nutzen." Dann schüttelte er den Kopf, wie um die Gedanken an den Jungen zu vertreiben und las den Brief der ihm übergeben wurde.
Leif
Verzei mir, das ich so lange Zait benötigt hab diese Zailn zu schraibn. LangZeit erschin mir di Ferbindung di den Prif uiberbringd nischt sischer. Nun jedoch habe ich gewishait, wende misch jedoch als Middler an disch, da isch di toire Rose nischt in gefaa bringn moischte. Ich bin in maine Haimat zuruig gekert unt obwol ich misch sischer wente schaind auch hir di Situatjon ales andere als rosig zu sain. Ich benoitige tringent Hilfe. Bite uiberpring ir diese Zailn. Si sol, wen es ir moiglisch ist, zu Noimond zur Mitde der Nachd auf dem Margtplats von Richmond auf misch wartn. Ich werde da sain.
Hochachdungsfol
Will Adale
Mit einem hatte Karl wohl Recht, dachte sich Leif im Stillen. Will sollte vielleicht wirklich mal besser Lesen und Schreiben lernen, aber sei es drum. Er hatte öfters an seinen Clansbruder gedacht und war innerlich froh von diesem zu hören. Leider würde es zu lange dauern erst Lilliana, die schon seit langem abgereist war, zu finden. Man würde das Zusammentreffen in Richmond verpassen. In weniger als ein paar Sekunden hatte Leif einen Entschluss gefasst. Er würde gehen und schauen ob er seinem Clansbruder helfen konnte. Schließlich blickte er auf. "John?" Er wartete bis er die volle Aufmerksamkeit seines Ghuls hatte. "Pack ein paar Sachen für eine Reise zusammen, wir brechen noch heute Nacht nach England auf."
John zog eine Augenbraue in die Höhe. „Nach England?“ Er schwieg wie meist und behielt seine Gedanken für sich. Er senkte eine Sekunde lang die Lider um seinem Herren verstehen zu geben, dass er bereit war umgehend den Befehl auszuführen. Dann trat er wieder aus dem Raum, ein kurzer Blick nach rechts, wohin der Junge verschwunden war, dann schritt er nach links Richtung Ausgang.
Gretlin zögerte einen Moment. „Gibt es irgendwelche Probleme, da ihr so zügig aufbrechen müsst? Kann ich euch irgendwie behilflich sein?“
Er drehte sich zu Gretlin um. "Nein, ihr könnt mir wohl nicht helfen. Ich muss nach England, da ein Freund von mir vielleicht in Gefahr ist."
Sie nickte, schien zu verstehen. „Ich war schon seit einigen Jahren nicht mehr in England, aber die politischen Begebenheiten, die derzeit dort im Land herrschen sind alles andere als ungefährlich. Das Land war so kurz vor einem Bürgerkrieg… nun ja, die Plantagenets waren ja auch schon immer eine sehr hitzköpfige Familie. Richards Schwester Mathilde, Ottos Frau, hatte ganz den Charme und das Äußere ihrer berühmten Mutter…“ Gretlin schwieg abrupt, biss die Lippen aufeinander, schüttelte den Kopf. Dann schluckte sie. „Ich habe, so scheint mir, schon lange kein Englisch mehr geredet.“ Sie nickte Leif zu um sich zu verabschieden.
Er nickte Gretlin zu. Die Zeit würde zeigen wie sich ihre Verbindung zueinander entwickeln würde. Aber wenigstens gab es so keine Lügen. Die Karten lagen offen und das war gut so. "Wir werden sehen, was die Zukunft bringt, Gretlin. Wir werden sehen."
Das Mädchen ging Richtung Ausgang, blieb an einem der Bücherregale stehen, bewunderte die vielen Werke über Heilkunst, die dort aufgereiht standen. Sie berührte mit dem Zeigefinger einen der ledernen Einbände in der Reihe „Heilkräuter des Nordens“. Ihr Blick wanderte zu Leif. „Verzeiht meine Dreistigkeit, aber darf ich mir das hier ausleihen?“
Leif nickte nur. "Ihr könnt es sogar behalten, denn ich habe noch eine weitere Kopie in meiner Zuflucht. Seid aber vorsichtig. Die Eintragungen zu Wacholder und Scharfgabe sind nicht wirklich vollständig in diesem Buch erfasst und alle Wunderwirkungen, die der Mistel darin zugeschrieben werden sind sogar gänzlich falsch. Wir werden uns wohl Wiedersehen, Gretlin." Mit diesen Worten drehte sich Leif zu einem Tisch auf dem allerlei Heilgegenstände lagen und packte eine Tasche für die Reise zusammen.
Gretlins Augen strahlten. „Ein altes Werk. Sicher schon einige Tatsachen, die längst überholt sind. Ich bin gespannt, was es zu erzählen hat.“ Sie wandte sich zum Gehen und verschwand wenig später. Leif war allein in den steinernen Gemäuern
Die Gedanken von Leif drehten sich nicht mehr lange um Gretlin sondern planten bereits die Reise. Er musste vorher noch Lucien, Gerrit und die Seinen unterrichten, aber das konnte er schnell per Nachricht erledigen. Viel wichtiger war die Frage von wo man auf die Insel übersetzten würde, vielleicht von Calais aus.
Es dauerte wohl rund eine Stunde bis John erneut in den Kellergewölben erschien. „Verzeih, dass ich dich stören muss, Leif, aber ich würde empfehlen die Abreise auf den Beginn der morgigen Nacht zu verschieben. Es ist bereits jetzt zwei Stunden nach Mitternacht und da ich annehme, dass es sich um eine längere Reise handeln mag, benötige ich noch ein wenig Zeit um alles für eine Abreise fertig zu machen. Sollte es jedoch dein Wille sein kurz vor der Dämmerung aufzubrechen, dann werde ich selbstverständlich alles organisiert haben.“
John nickte. "Es wird alles für die Abreise bereit sein." Dann machte er auf dem Absatz kehrt und verschwand.
Leif bereitete noch einige Nachrichten vor, damit die, die es etwas anging auch wüssten wo er war und machte sich dann bereit die Reste für seine Reise zu organisieren.
Die nächste Nacht brach an. Leif spürte gleich, dass sich eine laue Septembernacht über die Stadt legte. Die Luft war noch warm, versprach jedoch schon etwas von der Kühle des kommenden Herbstes in ihren Tiefen. Tausend Gerüche lagen in der Luft. Der Pferdemist aus dem benachbarten Stall, der betörende Duft von Herbstastern irgendwo in einem Garten, gärender Apfelmost und irgendwo frisch gebackenes Brot. Und über allem das intensive Aroma des fließenden Wassers der Kanäle, die die Stadt wie Adern durchzogen. Leif merkte sofort, dass alles für die Abreise bereit war. Alle waren zu seiner Verabschiedung zusammen gekommen. Nur das Gesicht von Karl-Christian fehlte. Zwei Pferde waren gesattelt, ein drittes trug den Ballast der Reise auf seinem Rücken. John stand bereit
Leif verabschiedete sich ohne großes Federlesen. Es war nicht das erste Mal und würde auch nicht das letzte Mal sein dass er auf Reisen ging. Die Abwesenheit von Karl bemerkte er zwar, kommentierte er aber nicht weiter. Außerdem würde Brunhild schon durchgreifen wenn der Junge es übertreiben würde. Mit einem weiteren und letzten Nicken verschwand Leif in die Nacht, zusammen mit seinem Ghul John.
Leif war noch nicht weit geritten, als er bereits das Geräusch eiliger Schritte vernahm. Aus dem Schatten einer dunklen Gasse löste sich der Umriss einer Frauengestalt, schmal und eher zierlich. Die grauen Augen des Mädchens, das er gestern noch aus seinem Kellerzimmer entlassen hatte, sahen zu ihm auf. Sie verbeugte sich leicht, fixierte ihn dann erneut. „Verzeiht, dass ich eure Abreise verzögere, aber könnte ich euch kurz unter vier Augen sprechen?“
Leif stieg mit einer Anmutigen Bewegung vom Pferd und nickte nur kurz. Sie gingen in eine Seitengasse. Er fragte schließlich neugierig. "Worum geht es denn?"
Sie fasste ihn vorsichtig am Ärmel seines Hemds und zog ihn ein wenig näher zu sich heran. Dann drückte sie ihm mit einer festen und bestimmten Geste das Buch in die Hand, das er ihr gestern geschenkt hatte. Es trug den Titel „Heilkräuter der nordischen Inseln“. Leif hatte es schon seit so langer Zeit in seinem Besitz, dass er sich kaum noch erinnern konnte, woher er es hatte. Das Buch war abgewetzt und vergilbt.
Sie legte mit einer merkwürdigen Geste seine Finger um den Einband. „Das Buch kennt euch. Bücher, die einen kennen sollte man besser behalten.“
Leif nickte nur. Er hatte Verrückteres gehört als diese Dinge und wusste auch das Gretlin eine Obsession mit Büchern hatte. Sei es drum. Ein wenig Lektüre für den Weg mochte nicht unbedingt schaden. "Danke Gretlin. Ich werde es mitnehmen. Gibt es sonst noch etwas?"
Es dauerte einen Moment bis sich Leif erinnerte. Er öffnete den Buchdeckel und las die Widmung in der Sprache seiner Heimat. „Zu Ehren des Einäugigen und des Blitzeschleuderers. Und für den einzigen und besten Anführer, den man sich auf einer Reise vorstellen kann.“ .Das Werk war von einem jungen Heiler verfasst worden, der sie damals auf ihren Reisen nach Island und zu den anderen Inseln begleitet hatte. Der Arbeit des Mannes war von mittelmäßiger Qualität gewesen, aber er war mit einer Inbrunst bei der Sache, die seinesgleichen suchte. Er war wenige Monate nach dem Kampf in dem viele Männer und auch Knut verwundet worden waren an einem Fieber verstorben.
Gretlin sah ihn eindrücklich an, schwieg jedoch
Ein sanftes Lächeln breitete sich auf Leifs Zügen aus und ließ ihn trotz seiner alterslosen Erscheinung irgendwie jünger wirken. Wie hatte er das nur vergessen können. Immer noch mit einem Lächeln nahm er das Buch an sich, dieses Mal fester und verstaute es in seiner Tasche. Leif nickte Gretlin noch einmal zu, dieses Mal freundlicher und irgendwie glücklicher.
Sie presste die Lippen aufeinander, unschlüssig, ob sie noch etwas sagen, oder lieber schweigen sollte. Schließlich entschied sie sich für Ersteres. „Es muss eine spannende Reise gewesen sein. Mit einer guten, seetüchtigen Mannschaft, guten, verlässlichen Kameraden…“ ein schwaches Lächeln legte sich über ihre Lippen. „Auch wenn mich die ganzen Kräuter dazwischen mitunter verwirren.“
Leif war verwirrt, holte das Buch noch einmal heraus und blätterte darin.
Das Buch war nach wie vor das gleiche, das er vor über einem Jahrhundert von dem Heilkundigen geerbt hatte, der gewollt hatte, dass Leif, der das Wissen, das er angesammelt hatte zu schätzen wusste, es erhalten sollte. Leif überflog die Buchseiten und betrachtete die Seiten, bei denen jede einem anderen Kraut gewidmet war. Bis auf die Widmung ganz zu Beginn enthielt es keine persönlichen Informationen.
Leif packte das Buch wieder ein und verabschiedete sich schließlich von Gretlin. Er wollte nicht noch mehr Zeit verlieren als eh schon. "Ich werde die Augen offen halten ob ich etwas Interessantes für dich auf der Insel finde, Gretlin." Dann stieg er wieder auf sein Pferd auf.
Das Mädchen sah zu ihm hinauf, schien noch etwas sagen zu wollen, schloss dann jedoch den Mund, verkniff sich ihre Worte und nickte nur. Sie blieb im Schatten der Straße zurück während Leif davon ritt.
John wartete bereits auf ihn und zog fragend eine Augenbraue in die Höhe.
Leif sah die Frage in Johns Augen und antwortet gleich. "Gretlin hat mir nur ein Buch wiedergegeben, da es eine Widmung enthielt von der sie dachte, dass sie mir wichtig sein könnte." Leif blickte zur Straße. "Also was denkst du? Calais?"
John blickte geradeaus auf die Straße. „Calais ist wahrscheinlich eine gute Wahl. Ist man des Französischen mächtig, eröffnen sich einem dort gute Überfahrtsmöglichkeiten. Die Schiffe legen dort häufig an und es gelingt ohne großes Aufsehen zu erregen überzusetzen.“ Seine Stimme war tief und ruhig, beherrscht wie immer.
"Dann auf nach Calais, würde ich sagen. Je weniger Zeit wir verlieren desto besser." Sie ritten einige Zeit bis Leif schließlich das Wort ergriff. "Ich habe dich nicht gefragt John, aber wie fühlst du dich ob der Tatsache das du nach England zurückkehrst?"
Der alte Mann hielt sich etwas gerader, saß so hochgewachsen im Sattel, dass man seine Jahre nicht hätte erahnen können, wenn man ihn von weitem gesehen hätte. „Der Weg führt einen dahin, wohin er einen nun einmal führt. Ich war des Öfteren in England und des Öfteren fort von dort. Ich vermute meine Schritte werden noch ein ums andere Mal den Boden der Insel berühren und sie auch wieder verlassen.“
Leif blieb eine ganze Weile stumm und schien zu überlegen. "Wahre Worte." Auch wenn nicht viel damit anzufangen war, wie der Salubri sich im Stillen dachte. "Eine andere Frage hätte ich allerdings auch noch. Wer war eigentlich der Kainit, dem du gedient hast, bevor wir ich auf dich gestoßen bin?"
Nach wie vor war der Blick des Ghuls in die Ferne gerichtet. „Ich habe in meinen Jahren dem einen und anderen Kainit gedient. Es waren viele. Manchen diente ich lang, anderen nur wenige Tage, so wie es das Schicksal für sie vorherbestimmt hatte.“ Sein Blick ging zu Leif und seine grauen Augen schienen ihn kurz zu durchdringen. „Bis ich in dir meinen neuen Herren fand hat es dieses Mal lange gedauert. Ich habe kostbare Zeit vergeudet. Wenn man jung ist geht man oft fälschlicherweise davon aus, dass dem ewig so sei. Verzeih mir eine Frage meinerseits, Leif. Du konntest das Mädchen von deiner Harmlosigkeit überzeugen, oder?“
Leif überlegte eine Weile und dachte dabei über die Worte seines Ghuls nach. "Hm, ich denke schon, dass ich sie im Moment überzeugen konnte. Ich dachte die ganze Zeit, sie spielt ein Spiel, aber ich glaube nicht mehr, dass es so ist. Die Zeit wird zeigen ob wir die Situation vergessen können oder nicht."
Das Gesicht wandte sich ihm wieder zu und der Anflug eines Lächelns zuckte um den linken Mundwinkel. „Es hätte mich auch ein wenig enttäuscht, wenn es dir nicht gelungen wäre.“
Leif schaute noch einmal eine Weile in den Sternenhimmel. "Zeit ist in der Tat kostbar, auch als Kainit, denn nur weil man nicht mehr altert heißt es nicht, dass die Zeit um einen herum still stehen bleibt. Sag mir John - strebst du den Kuss an? Den letzten, den finalen Schritt in das Ungewisse?"
Sein Mitreisender schürzte leicht die Lippen, schmunzelte. „Leif? Möchtest du mir in dieser Nacht gar noch einmalige Angebote unterbreiten?“ Der seltsame Humor war unüberhörbar.
Den ersten Teil der Worte Johns ließ Leif unkommentiert, ging aber direkt auf den zweiten ein. "Nicht in dieser Nacht. Auch nicht in diesem Jahr. Einige der Kainiten der Stadt könnten etwas dagegen haben, wenn ich sie mit meinen Kindern überfluten sollte." Leif schwieg für einen Moment. "Davon abgesehen, würde ich nie wieder jemanden verwandeln, der nicht darum gebeten hat und es stellt sich die Frage, ob du in einen aussterbenden Clan ohne Aussichten auf eine bessere Zukunft hineingeboren werden möchtest." Gerade im letzten Satz war auch Leifs Galgenhumor nicht zu überhören.
„Welch rosige Zukunftsperspektiven, nicht wahr? Eine Frage stellt sich für dabei in erster Folge: Nicht, ob ICH den Kuss möchte, sondern, was DU dafür möchtest? Oder vergibst du die von Gott, unserem Herrscher, an seinen braven Sohn Kain verschenkten Gaben einfach aus christlicher Nächstenliebe?“ In seinem Schmunzeln lag ein tiefer Sarkasmus.
Leif lachte. Erst leise und dann herzhafter so dass es dumpf über die dunklen Straßen schallte. "Oh John, du kennst mich nun schon all diese Jahre und vielleicht sogar besser als jeder andere." Der Salubri wurde schlagartig wieder ernster. "Deswegen frage ich dich - hast du mich je erlebt, dass ich ein Krämer oder Marktschreier bin? Handel ist Alidas Domäne, nicht die meine. Ich tue die Dinge, die ich will. Glaubst du wenn du etwas hättest, das ich haben möchte, dass ich es mir nicht schon längst genommen hätte? Nein, der Kuss ist keine Münze die ich eintausche oder Zeichen meiner Mildtätigkeit - es ist ein Akt, so viel intimer und bindender als alles andere, den ich nur dann jemanden gebe, wenn ich denke, dass es hier und jetzt an der Zeit ist. Und lass mich dir etwas verraten: erst ein Mal habe ich den Kuss auf diese Art und Weise verschenkt- alles war richtig und einmal war es ein Fehler." Leif war so offen zu John wie zu sonst niemandem - die schicksalshafte Nacht in Dover hatte für immer ihre Spuren hinterlassen, ebenso wie das Geheimnis, das beide teilten.
John zog die Brauen in die Höhe und wieder lag das Lächeln auf seinem Gesicht. „Leif, es mag sein, dass Handel die Domäne eines anderen Kainiten ist, da sprichst du wahre Worte. Du bist aus einem gar anderen Holz geschnitzt. Und dennoch, man mag mir meine Anmaßung verzeihen, vermute ich doch, dass jeder ob sterblich oder unsterblich seine persönliche Gegenleistung anstrebt und einfordert. Aber die Zukunft wird mich mit Sicherheit eines Besseren belehren. Er blickte zum Zenit und blickte zu den Herbststernbildern Pegasus, Andromeda und Perseus, dann wieder auf die Straße.“ Ich werde deine Worte überdenken, Leif Thorson.“
"Wir werden sehen, John, wir werden sehen. Viele Dinge mögen passieren zwischen Heute und morgen aber genau diese Ungewissheit bringt auch einen Reiz. Im Moment sollten wir uns darauf gefasst machen das wir auf Probleme stoßen. Was auch immer Will Adele zugestoßen sein mag - es betrifft uns nun bald auch." Leif schaute sich die Sternbilder an, die in seiner alten Sprache so anders hießen als bei den Griechen und setzte seinen Weg fort. Welch Wahnsinn trieb ihn eigentlich an, dachte der Salubri ruhig und ein wenig resigniert? Welch Wahnsinn hat einen Giftmörder und einen Mann, der seinen Enkel für ein paar extra Lebensjahre getötet hatte, nur auf die Reise geführt, jetzt einen hoffentlich Unschuldigen retten zu wollen. Die Welt selbst schien wahrlich verrückter zu sein als sich so mancher Malkavianer in seinen kühnsten Träumen auszumalen traute...