Mo 16. Okt 2017, 17:54
Alida sah den Mann an und griff die Zügel ihres Pferdes ein wenig fester. Sie antwortete, was sie vorher mit den beiden Wachmännern und Hendrik besprochen hatte: „Dünkirchen, Calais, danach Boulogne oder Dover, je nachdem was sich ergibt. Wir besuchen verwandte und befreundete Kaufleute.“ Sie ließ ein paar belanglose Floskeln über das Wetter, die Beschaffenheit der Straße und das Umland fallen und erkundigte sich höflich nach der Familie des Bauern und dessen Ziel um die Zeit der Reise ein wenig kürzer werden zu lassen.
Der ältere Bauer war nicht ungeübt in Smalltalk, was Alida verriet, dass er sicherlich nicht selten selbst auf Märkten seine Waren feilbot. Er wirkte höflich und wenig aufdringlich. Als die Sprache zum Ziel seiner Reise kam, antwortete er direkt. „In Calais lebt mein Bruder. Wir ziehen zu ihm und ich hoffe mir eine Existenz als Schreiner aufbauen zu können. Ich bin zwar mein ganzes Leben freier Farmer gewesen, aber nicht ungeübt in Holzbearbeitung. Mein Weib fürchtet diesen Schritt, aber ich glaube am Ende wird sich zeigen, dass wir alles richtig gemacht haben, falls es zum Krieg kommt.“ Der Mann richtete seine Augen auf die gut gepflasterte Straße, die im fahlen Mondlicht beinahe leuchtete. Am Horizont konnte Alida die warmen Lichter eine Gaststube ausmachen, die man gut geführt, nicht überteuert und einigermaßen sauber in regelmäßigen Abständen zwischen Brügge und Calais finden konnte. Der Bauer, der die ganze Zeit neben ihr geritten war, schien seine Schritte zu diesem Ziel zu lenken.
Sie nickte ihm aufmunternd zu. „Ich wünsche euch viel Erfolg bei eurem Unterfangen. Es muss ein großer Schritt gewesen sein, aber die Stadt wird euch sicher dafür entlohnen.“
Er zuckte nur mit den Schultern. "An eine Entlohnung glaube ich erst, wenn es soweit ist." Ihr Reisebegleiter verfiel in überlegtes Schweigen. Die beiden Nonnen, die mit ihnen unterwegs waren, tuschelten noch immer leise, schienen sich aber ebenfalls auf ein Bett zu freuen. Alida musste nun entscheiden, ob sie ebenfalls hier absteigen wollte oder noch ein Stück reiten würde. Die Pferde würden sie gewiss noch ein Stück tragen.
Alida verabschiedete sich mit einigen wohlmeinenden Floskeln von den anderen Reisenden. Bis zum nächsten Gasthaus würden sie mit Sicherheit noch kommen. Die Nacht war jung und es wäre schade so viel Zeit zu vergeuden. Nach einer kurzen Unterredung mit den Wachmännern ritten sie weiter.
Alida hatte keine Probleme während ihrer Reise nach Calais. Sie waren drei Nächte unterwegs, da der Hochsommer nur wenige Nachtstunden für Kainiten übrig ließen. Man konnte stolz auf die gut gepflegten Straßen und Gasthäusern sein, an denen die Brügger ebenfalls recht großen Einfluss hatten. Sichere Handelswege brachten Menschen, Waren und damit Wohlstand, was Infrastruktur zu einer lohnenden Investition machte. Auch Kainiten profitierten von all dem. Die Gasthäuser waren alle mit fensterlosen Kellerzimmern ausgestattet, die Reisen zumindest an der Nordseeküste von Frankreich und Flandern ein kleines bisschen sicherer für die Kinder der Nacht machten.
Schließlich stand Alida vor den Toren von Calais. Die Stadt war eine wichtige Hafenstadt und galt als Brücke nach England, auch wenn ihr Wohlstand stark von der aktuellen Beziehung zwischen England und Frankreich abhing. Im Moment war sie im Aufschwung. Beide Länder hatten Frieden, auch wenn es Gerüchte gab, dass der junge König von England Heinrich III seine Augen auf das Festland gerichtet hatte. Hendrik schloss zu Alida auf und schaute durch die immer noch geöffneten Tore. „Das ist also Calais. Wo werden wir unterkommen und wann brechen wir nach England auf Alida? Hast du schon einen Plan? Gibt es hier ein Schiff von unserer Familie?“
Auch Alida besah sich die langen von eng aneinander liegenden Häuser gesäumten Straßen und die Stadttore, durch die sie soeben geritten waren. Dann blickte sie zu Hendrik, der trotz der fortgeschrittenen Tageszeit recht fest im Sattel zu sitzen schien. „Wir suchen hier zunächst mal nach einer Gaststätte, die der weiße Keiler heißt. Morgen früh können sich unsere beiden Wachmänner nach einer Überfahrt umhören. Ich glaube nicht, dass derzeit eines unserer Schiffe vor Anker liegt, aber das bekommen die beiden sicher auch rasch in Erfahrung gebracht. Wäre natürlich angenehmer für uns.“ Sie schmunzelte. „Tu mir den Gefallen und unternimm morgen bitte keine Streifzüge ohne unsre Wachleute. Wir beide kennen uns hier sicher gleich wenig aus und wer weiß, ob wir einander sonst je wieder finden. In den nächsten Tagen sollten wir dann Dover und Canterbury erreichen. Aber behalt unsere Ziele bitte geheim.“
Ihr junger Begleiter nickte zustimmend, während er sich in den verwinkelten Gassen und Straßen umsah. "Kein Problem, Alida." Er lächelte breit. Die Architektur in Calais war bei weitem weniger homogen als in Brügge und insbesondere französische, aber auch viel englische Einflüsse sorgten für ein recht einzigartiges Flair. Die Taverne „Zum weißen Keiler“ war recht einfach zu finden und die Beschreibung eines lokalen Bewohners führte sie in Richtung Hafen zu einem mittelgroßen Gebäude aus Holz. Möwen kreisten und kreischten, während die Brandung des Hafens ihren eigenwilligen Gesang zu begleiten schien. Die Luft war hier direkt am Wasser weniger warm und roch nach Salz und Algen.
„Dann haben wir wohl unser Ziel für heute Nacht erreicht.“ Alida sprang aus dem Sattel und besah sich das Wirtshaus und die Leute, die ein und ausgingen etwas näher. Sie wandte sich an den Älteren der beiden Wachmänner. „Könntet ihr bitte im Inneren nach geeigneten Zimmern für den Rest der Nacht bis zum morgigen Abend fragen?“ Sie griff nach ihren Habseligkeiten und begann das Pferd von der nicht allzu schweren Last zu befreien.
Das Haus hatte sicherlich schon bessere Tage gesehen, war aber weit davon entfernt als Bruchbude oder Kaschemme zu gelten. Der Stallbursche sprang sofort auf als er die kleine Reisegruppe bemerkt hatte und verschwand im Inneren des Gasthauses. Es dauerte nur wenige Momente bis er wieder aus der Tür trat, nur um ihnen demonstrativ auszuweichen. Ihr Wachmann kam so schnell wieder, wie er gegangen war und schüttelte mit dem Kopf. „Es gibt keine freien Zimmer mehr. Wir müssen uns wohl etwas anderes für die Nacht suchen.“
Alida nickte. „Da lässt sich wohl nichts machen.“ Sie rief nach dem Stallburschen. „Junge, da euer Haus bereits voll ist. Wo können wir sonst unterkommen? Und wie kommt’s dass bereits alles vergeben ist?“
Der Junge zuckte zusammen als hätte ihn ein Peitschenhieb getroffen, als Alida ihn ansprach. Er schien nach Worten zu ringen, fing sich dann aber recht schnell. Der Junge war genauso groß wie Hendrik, auch wenn sich Alida sicher was das er maximal 10 Jahre alt war. Er zuckte mit den Schultern. „Die ganze Stadt ist voller Gasthäuser sucht euch eins aus.“ Der Stallbursche schien nicht weiter antworten zu wollen oder zu können und verdrückte sich ins Innere des Stalls. „Ich habe Arbeit...Entschuldigt mich.“
Alida schüttelte ungläubig den Kopf. War dieser Ton in Calais üblich? Irgendwie erschien ihr das alles doch komisch. Sie dreht sich erneut zu ihrem Wachmann um, der zuvor im Gasthaus nach den Zimmern gefragt hatte. „Begleitet mich bitte kurz ins Innere.“ Dann ging sie zur Tür uns stieß sie auf.
Ihr Wachmann nickte nur und ging ohne ein weiteres Wort seiner Pflicht nach. Das Innere der Gaststube war beinahe leer. An lediglich zwei Tischen unterhielten sich ein paar Reisende. Der Kamin war ob der Hitze nicht in Betrieb und die Stube war lediglich von ein paar wenigen Kerzen erleuchtet. Der Patron der Bar säuberte lustlos ein paar Becher und gähnte laut. Alles in allem machte der weiße Keiler einen sauberen und gepflegten Eindruck, auch wenn im Moment nicht viel los war.
Dafür, dass das Gasthaus restlos ausgebucht war, hätte sie ein lebhafteres Treiben in der Wirtsstube vermutet. Sie ging direkt auf den Wirt zu und sprach ihn an. „Verzeiht, guter Mann. Wir sind weit geritten und auf der Suche nach einer Bleibe. Ich bin hier mit einem Mann namens Harris Baker verabredet und hätte die Gelegenheit gerne genutzt um bei euch meinen müden Rücken auszuruhen. Leider seid ihr, wie mir berichtet wurde, bereits ausgebucht. Vermögt ihr mir vielleicht zu sagen wo wir stattdessen unterkommen können? Vielleicht eine Bleibe in der Nähe, damit ich bei euch im Anschluss auf Harris Baker warten kann?“
Der Wirt schien ebenso zusammenzuzucken wie der Stallbursche zuvor. Mit lauten Klirren zerbrach der Tonkrug, den der Mann zuvor noch poliert hatte. „Hier gibt es keinen Harris Baker und Gaststuben gibt es in der Stadt ja wahrlich genug. Also wenn es weiter nichts gibt, ich habe zu tun.“ Er drehte sich ein Stück von Alida weg. Der Mann schien ein schlechter Lügner zu sein, denn er schwitze stark und hatte ihr die ganze Zeit nicht in die Augen geschaut.
Alida durchbrach den Geist des Wirtes ohne Probleme. Es dauerte nur einen Moment um die unwichtigen Bilder und Gedanken von dem zu trennen was sie suchte. Zwischen Rezepten, Zahlen und einfachen Sorgen eines Tavernenbetreibers sah sie, was er zu verbergen suchte. Zwei bullige Männer bedrohten den Mann und seine Familie während sie nach Harris Baker fragten. Er sollte vergessen, dass der Gast existierte und sich um seine eigenen Dinge kümmern. Vor noch nicht einer Stunde hatte er die erstickten Schrei eines Mannes aus seinem Keller gehört und fürchtete sich seitdem, was er dort vorfinden mochte. Eine weitere Anweisung gaben ihm die bulligen Männer noch. Er sollte eine blonde Frau, die in Begleitung eines Kindes und wahrscheinlich einiger Wachen reiste, abweisen. Der Mann war ein Nervenbündel und betete mit aller Innbrunst zu Gott, dass dieser ihn von diesem Wahnsinn erlösen mochte.
Alida schluckte mit Mühe den bitteren Geschmack im Mund herunter. Sie wusste nicht recht, wie sie antworten sollte, was sie sagen konnte, um den Mann nicht noch weiter zu verwirren. Schließlich beugte sie sich näher heran und senkte die Stimme zu einem Flüstern. Sie sah ihn mit besorgter Miene an. „Baker ist im Keller abgestiegen, oder? Zwei Männer sind gekommen, die nach ihm und mir gefragt haben. Ist es nicht so?“ Sie wartete die Antwort nicht ab. „Lasst mich in den Keller gehen und nach ihm sehen. Ich weiß, ihr wollt, dass dieser Albtraum einfach endet. Vielleicht können wir noch irgendetwas für ihn tun…“ Sie zögerte eine Sekunde. „Schickt euren Burschen nach der Stadtwache. Sie kann in sicher 15 Minuten da sein, oder?“
Alidas Worte schienen einen Damm bei dem Mann gebrochen zu haben und große Tränen begannen lautlos über seine Wangen zu laufen und sich in dem grauen Bart zu verfangen. Seine Stimme war nicht mehr als ein Flüstern. „Er hat einen Raum im oberen Stockwerk. Sie haben ihn in den Keller gezogen...Ich hole die Wache. Das hätte ich gleich tun sollen.“ Er schluckte schwer, sagte dann aber nichts mehr und deutete aber mit dem Kopf zu einer Tür hinter dem Tresen, die wahrscheinlich in den Keller führte.
Alida zögerte nur eine Sekunde, wandte sich dann an den Wachmann: „Geht bitte raus und schaut nach Hendrik.“ Er war kein gut ausgebildeter Kämpfer auch wenn er sich grob im Umgang mit dem Schwert verstand: ihn mitzunehmen war ein Risiko, das sie nicht eingehen wollte.“ Sie dankte dem Wirt noch ein Mal nickend, dann trat sie zu der Tür, auf die er gedeutet hatte und schritt hindurch. Kaum, dass sie aus dem direkten Blickfeld der Wirtsstube gelangt war zog sie ihr Schwert und versuchte so leise wie möglich zu schleichen.
Die Wache war schnell nach draußen verschwunden und Alida auf dem Weg in den Keller. Den Moment als sie die kleine Holztreppe nach unten schlich, roch sie etwas ganz deutlich. Blut. Sie schlich ohne einen Laut von sich zu geben und sah zwei bullige Männer, die einen Gefesselten durchsuchten. Plötzlich riss einer den Kopf nach oben und verschwand durch einen zweiten Eingang, in welchem wohl normalerweise Waren angeliefert wurden. Wahrscheinlich führte er direkt auf die Straße. Der zweite Mann reagierte erheblich langsamer und rutschte zusätzlich dazu in einer Blutlache aus. Die Kerzen in dem kleinen Keller flackerten durch den neu entstanden Luftzug.
Alida hatte das Schwert bereits in der Hand und zögerte keine Sekunde. Sie versuchte die Situation auszunutzen und demjenigen, der ausgerutscht war, so schnell als möglich die Klinge Richtung Herz oder Hals zu richten um ihn zu bedrohen.