Mo 11. Jan 2016, 13:19
Bevor Lucien sich für die tägliche Ruhe bettete, warf er noch ein weiteres Mal einen Blick auf die von Sebastian zur Verfügung gestellten 'Ritualgegenstände'. Ein paar abgegriffene Tarot-Karten und eine simple Kerze mit einem Stück Kreide. Wahrscheinlich war es falsch dem Hexer zu vertrauen und diese merkwürdigen Dinge, einfach so ohne weiteres in Empfang zu nehmen aber was blieb ihm schon anderes übrig? Er hatte nicht mehr mit Jean in Kontakt treten können und wenn es auch nur eine kleine Chance gab mit ihm in Kontakt zu treten, musste er zumindest alles versuchen. Der Gangrel ergriff also die Kreide und malte ein dickes Kreuz auf den blanken Fussboden. Im Anschluss stellte er die Kerze in die Mitte seiner Zeichnung und positionierte die Karten darunter. Anschließend kniete er sich etwas kopfschüttelnd vor sein Werk und entzündete den Docht. Als die Flamme aufloderte, verzog sich sein Mund zu einem Grinsen. Zu wem sollte er beten? Wenn sollte er jetzt lobpreisen? Er hatte schon vor einer Ewigkeit mit Göttern und Götzen abgeschlossen, selbst Kain war nur ein merkwürdiger Mythos. Lächerlich. Es war einfach lächerlich und doch... wenn es Aussicht auf Erfolg versprach, musste er es versuchen. Er schloss die Augen und legte die Hände auf die Oberschenkel, konzentrierte sich auf seinen Wald, die Tiere, Düfte und Geräusche darin. Im Grunde fokussierte er seinen Geist auf 'Mutter Natur', wenn man diese als allegorische Figur sehen wollte. Es mochte vielleicht 30 Minuten gedauert haben, dann löschte er den Kerzenschein und ging zu Bett, bevor noch der erste Sonnenstrahl am Horizont erschienen war.
Lucien spürte, dass ihn wieder etwas zog. Von irgendwoher hörte er diese Stimme. Zunächst leise, dann wurde sie lauter, gut vernehmbar. Jean… Sein ‚Neffe‘ rief nicht nach ihm, das wurde dem Gangrel schon nach wenigen Herzschlägen klar. Das war ein Schmerzensschrei.
Lucien schlug die Augen auf und erkannte um sich herum nur Dunkelheit. Es war feucht, frostig. Die Kälte der winterlichen Dezembernacht drang durch seine lederne Rüstung, ließ jedes einzelne Haar auf seinem Körper aufstellen. Eiskaltes Wasser floss durch seine Lederstiefel und umhüllte seine Füße bis zur Hälfte der Waden. Eisige Luft füllte seine Lungen mit jedem Atemzug und wurde als weiße Wolke wieder aus seinem Mund entlassen. Das hier war keine Umgebung für einen Menschen, das war Lucien sofort bewusst. Er hörte das Tröpfeln von Wasser von der Decke, roch Schimmel, Moder und Rattenkot. Dann war da das Fließen von brackigem, stinkendem Wasser um ihn herum.
Er schlang die Arme aus einem Reflex heraus um sich. Mein Gott, wie schrecklich es sein musste noch so sehr auf Körperwärme angewiesen zu sein. Nicht das er es besonders erheiternd fand, wenn ihm selbst noch als Gangrel Körperteile einfroren, das störte nämlich empfindlich den Bewegungsapparat aber das war mit dieser beißenden Kälte nicht zu vergleichen. Wie schwach die Sterblichen doch eigentlich waren, selbst sein Atem kondensierte. Atem.. Luft, Sauerstoff und er stank gewaltig nach Rattenkot und allerlei Unrat. Lucien unterdrückte ein Würgen und sah sich um. Was für ein Alptraum. Und selbst in diesem Alptraum war ihm beinahe schon klar wo er sich befand: Die Kanäle unter Gent. Er kannte all diese Gerüche aus Brügge, nur hatten er und Gerrit es in den letzten Jahrzehnten geschafft, die Ratten in eine Ecke der dunklen Gänge zu treiben und den größten Gestank, von ihrer Zuflucht fern zu halten. Wenn man so wollte hatten sie etwas 'sauber' gemacht. Hier war das allerdings nicht der Fall, es war nach wie vor eine stinkende, eiskalte Kloake zur Winterzeit, scheußlich. Er watete einige Meter durch das brackige Wasser und suchte eine Stelle, an der er an 'Land' gehen könnte. Er durfte keine Körperwärme mehr verlieren. Auf einem schmierigen Untergrund, leerte er seine Stiefel aus und schnürte diese enger. Gott, die Kälte auf seinen bloßen Fussohlen war unerträglich. Jean musste unendlich leiden und würde unweigerlich sterben, sollte er diesen Verhältnissen noch länger ausgesetzt sein. Eine Erkältung oder Lungenkrankheit, konnte für Sterbliche den Tod bedeuten. Selbst Leif war das eine oder andere Mal schon nicht in der Lage gewesen jemanden zu retten. Manchmal war das Sterben unausweichlich. Er würde es nicht soweit kommen lassen und schritt weiter den Gang entlang.
Lucien erkannte schließlich die Umgebung um sich herum als er in das Licht einer Fackel trat, die neben einer Tür angebracht war. Das hier war die Kanalisation einer Stadt. Die Bereiche, die niemals ein Menschfreiwillig aufsuchte. Die Tür war von merkwürdigen Zeichen bemalt ähnlich denen, die er im Zimmer von Sebastian gesehen hatte. Er roch den Duft von Blut, der ihm unangenehm süß aufstieß. Wieder war der Schrei aus der anderen Richtung zu hören. Die Kanalisation war undurchsichtig, labyrinthartig und hinter jeder Kurve konnte ein Angreifer lauern.
Der Hauptmann wusste, das er sich in dieser surrealen Traumlandschaft nicht auf seine Kräfte verlassen konnte. Ja, Aufwachen, das konnte er von sich aus; hatte er es doch auf mysteriöse und wohl auch magische, dabei jedoch nach wie vor völlig unerklärliche Weise von Jean gelernt. Damals, als dieser nur ein Knabe gewesen war und er selbst die Bestie außerhalb der Stadtmauern. Aber dies war ein anderer Traum, der möglicherweise anderen Gesetzmäßigkeiten folgte. Trotzdem wollte er es nicht riskieren, die mit merkwürdigen Zeichen versehene Tür, ohne weiteres zu berühren. Er kannte die Zeichen von Sebastian und auch davor schon hatte er ähnliche Zauberrunen an anderen Orten gesehen. Lucien glaubte sich zu erinnern, das Oriundus seinerzeit auch solche Schutzsiegel angebracht hatte, genau wie die Mönche im Kloster, als man zur heiligen Lanze aufgebrochen war. Immer wieder diese Tremere Magie. Er suchte nach seinen Handschuhen und zog diese an. Dann hob er vorsichtig die Fackel aus ihrer Verankerung, damit sie ihm Licht spenden möge. Wie armselig. Für gewöhnlich hätte er noch in völliger Finsternis jede Bewegung erkannt, nun war er völlig von Gegenständen und Werkzeugen abhängig. Nicht einmal die nächste Ratte konnte er fragen, damit sie ihm den Weg weisen würde. So bitter es klingen mochte aber er würde den Schreien so gut es ging folgen müssen und es war ihm klar, wer da schrie. Er versuchte die Tür mit den Schutzsiegeln zu öffnen, langsam und vorsichtig; sich immer weiter mit der Fackel in der Hand durch die Finsternis um ihn herum nach vorne tastend. Man durfte ihn nicht erwischen oder entdecken, das war seine wohl einzige Chance um herauszufinden wo Jean sich befand. Er würde sich so gut es ging, alles einprägen müssen obgleich ihm in der Realität, ganz andere Fähigkeiten zur Verfügung stünden.
Lucien griff nach der Klinke der Tür und drückte sie herunter. Sie öffnete sich nicht. Er spürte einen seltsamen Widerstand, der um so fester wurde je mehr er sich gegen die Tür stemmte… wie eine Kraft, die sich ihm entgegen drückte und dann Kontakt zu seiner Haut, seinen Muskeln aufzunehmen begann. Etwas presste sich gegen ihn, so wie er gegen das verstärkte Holz drückte und begann ihn wie unglaublich kräftige Fäuste zu zerquetschen.
Lucien ließ die Klinke los.
Der Schrei war erneut aus der anderen Richtung, den Gang weiter hinunter, zu hören. Eine Ratte huschte an seinem Stiefel vorbei, stellte sich auf die Hinterpfoten, witterte nach ihm und huschte dann erneut in die Dunkelheit.
Er stöhnte unterdrückt auf und verkrampfte die Hand, als er die Türklinke überrascht los ließ. Diese Magie war stärker als er es gewohnt war, selbst mit Handschuhen lastete ein ungeheuerlicher Zauber auf dieser einfachen Tür. Vermutlich wirkten die Runen auch um einiges stärker auf ihn, da er ja in der Realität des Traumes wieder sterblich war. Einen normalen Menschen, hätte diese Tür unter Umständen umgebracht. Was für ein Glück, das er anscheinend ohnehin den falschen Weg gewählt hätte. Er wandte sich in die Richtung, welche die Ratte eingeschlagen hatte, konzentrierte sich für einen kurzen Moment und ging dann weiter. Immer den Schreien nach. Er würde sie zahlen lassen, jeden einzelnen. Lucien Sabatier hatte nicht viele Sterbliche um die er sich wirklich sorgte, im Grunde nur einen einzigen. Aber er würde dafür Sorge tragen, das nachdem er hier unten fertig war, nur noch Blut durch die schimmelnden Becken laufen würde und Asche an der Wand kleben würde. Und wenn er damit fertig war, würde er die Hintermänner suchen und jeden einzelnen höchstpersönlich töten. Jeden einzelnen.
Lucien schritt weiter. Das Wasser füllte in diesem Bereich der Kanalisation den ganzen Boden aus und es gelang ihm nicht trockenen Fußes durch den Gang zu kommen. Das Wasser war eiskalt. Eines konnte er sich denken: Das hier war ein Traum, keine Frage, aber dennoch mochte das, was hier geschah Auswirkungen irgendeiner Art auf die Realität haben.
Die Dunkelheit wirkte intensiver, finsterer. Das Licht drang hier kaum einen Meter weit. Vor sich hörte er ein Aufplatschen, wie das Geräusch von Schritten durch das eisige Wasser. Dann verstummte das Geräusch mit einem Mal. Vor ihm war es still.
Er hatte keine Wahl. Was immer dieser Traum auch als abstraktes Spiegelbild der Realität veranstalten würde, er konnte nur weiter gehen, in der Hoffnung Jeans Aufenthaltsort zu finden und gar einen Blick auf seine Häscher zu werfen. Das Platschen beunruhigte ihn mehr als üblich, denn das konnte im Grunde nur eines bedeuten: Die Vorhut hatte ihn entdeckt und war gerade dabei Meldung zu machen oder ein paar spaßige Überraschungen vorzubereiten. Zeit genug für die eine oder andere Falle, gab es allemal. Er würde extrem vorsichtig sein müssen. Langsam kämpfte er sich Meter für Meter durch das eiskalte Wasser. Nun, er würde zumindest nicht krank werden, wenn er wieder aufwachte.
Lucien war vorsichtig, setzte sorgsam jeden Fuß vor den anderen. Plötzlich vernahm er ein Geräusch von der rechten Seite. Eine Gestalt stürzte sich aus einer winzigen Seitennische auf ihn. Lucien sah das Aufblitzen von Metall. Ihm war klar. Sein Gegner war bewaffnet. Und er spürte die eiserne Entschlossenheit mit der dieser kämpfte. Die Klinge war exakt gezielt. Lucien blieb nur eine einzige Wahl: Ausweichen. Der Schlag folgte präzise, war direkt auf seinen Hals gerichtet. Es gelang ihm im letzten Moment nach links auszuweichen. Die Schwertschneide wurde von den metallenen Beschlägen seiner Rüstung zum größten Teil abgefangen. Dennoch spürte er, wie sich die Klinge in seinen Oberarm bohrte und seine Muskeln zerstritt. Lucien spürte Blut, das warm und schmerzhaft aus seinem Arm floss. Er hatte seit Jahrhunderten keinen Schmerz mehr gefühlt, der diesem gleichkam. Lucien kannte den entscheidenden Unterschied: Diese Verletzungen waren im Gegensatz zu denen, die er in seinen kainitischen Nächten kannte, tödlich.
Lucien entschloss sich zu dem, was ihm am sinnvollsten erschien. Mit der Fackel in seiner Linken stieß er nach seinem Gegner. Wenn er ihn wirklich verletzen wollte, dann musste er auf das Gesicht zielen. Er holte mit der Fackel aus und erkannte im Licht des Feuers ein Gesicht.
Er biss die Zähne zusammen um nicht aufzuschreien als er das altbekannte Gesicht von Jean im Schein der Flamme erkannte. Im letzten Moment gelang es ihm die Fackel ein winziges Stück weit vorbei zu lenken, sodass die pechgetränkte Fackel sein Mündel nicht verletzen würde. Der Gangrel selbst war um einiges schlechter dran, denn dickes Blut sickerte über seine dicke, verstärkte Kleidung, wo die Klinge sich in sein Fleisch gebohrt hatte. "Jean verdammt... ich bins, Lucien verdammt", zischte er und spuckte die Worte gepresst hervor. Nur nicht zu laut aufschreien um dann doch noch jemand anders aufzuwecken.
Jeans Augen weiteten sich erschreckt. Er versuchte das Schwert herum zu reißen, doch es gelang ihm nur mit Mühe. Das Schwert durchschnitt Luciens Kleidung ohne Schaden zu machen am Halsbereich. Panisch blickte Jean auf die Klinge in seiner Hand und warf sie fast mit Abscheu zu Boden. Dann wandte sich der Blick der grauen Augen zu Lucien. Sein Gegenüber war diesmal wohl so um die 15 Jahre alt. „Verdammt, Lucien. Es tut mir so leid. Ich dachte…, ich wollte nicht…“ Er sah sich nach links und rechts um, dann atmete er tief auf. Erleichterung war in seiner Gestik zu erkennen.
Lucien atmete ebenso erleichtert aus und stützte sich auf seine Knie. Trotz der Kälte, lag ihm der pure Angstschweiß auf der Stirn. Das war knapp gewesen, mehr als knapp und ein Handicap würde er dennoch davon tragen. "Schon gut...", brachte er keuchend hervor und versuchte sich zu beruhigen. Das Blut tropfte noch immer in den dreckigen Kanal. Der Hauptmann zückte seinen Dolch und zerschnitt sich die Kleidung, sodass er einen handlichen Stofffetzen hatte, mit dem er die Wunde erstversorgen konnte. Kein Vergleich zu den Heilkünsten Leif Thorsons aber was blieb ihm schon anderes übrig. Als die Wunde verbunden war und er merkte, das sein Arm schon halb taub vor Schmerz und Kälte geworden war, lächelte er grimmig. Ja, so war das wenn man getroffen wurde und nicht mehr darüber lachen konnte. Und das war nur das zaghafte Streifen eines kurzen Schwertes gewesen, kaum der Rede wert. Die Untoten mussten wirklich wahre Monster sein, wenn er daran dachte mit welcher Kraft beispielsweise ein Gerrit zuschlug. "Ich dachte selbst du würdest bereits zur gegnerischen Vorhut gehören. Offenbar befinden wir uns in den Katakomben unterhalb von Gent." Er nickte in Richtung des Schwertes, das Jean fallen gelassen hatte. "Heb es auf, mein Arm ist nicht mehr zu gebrauchen und du wirst uns beide verteidigen müssen falls notwendig. Konntest du dich hier unten schon etwas umsehen?"
Lucien betrachtete Jean eingehend und seine Augen wirkten ungläubig. Ja das war eine junge Version seines Mündels und ja, der Junge hatte sofort wieder das Schwert ergriffen. Dennoch war da eine Restunsicherheit und Nervosität, die er dem Hauptmann der Tagwache nicht zugetraut hätte. Das war nicht Jean Sabatier wie er ihn kannte. Viel zu oft war er schon in Gefahr gewesen, viel zu viele Auseinandersetzungen hatte er bestritten und wie man auch hier wieder einmal gut sehen konnte: Wäre Lucien nicht unsterblich gewesen und mit den Vorzügen des Untods 'gesegnet', so wäre nicht einmal sicher ob Jean ihn nicht in einem Schwerkampf besiegen hätte. Natürlich war diese Umgebung alles andere als einladend und die Umstände recht aussichtslos, dennoch hatte er Jean mehr zugetraut. Er legte ihm die Hand auf die Schulter und drehte ihn zu sich heran, sah ihm dabei fest in die Augen. "Ja, sie sind hier irgendwo aber das heißt noch lange nicht, das wir uns von der Angst übermannen lassen sollten. Was ist los mit dir? Du wirkst... unkonzentriert. So kenne ich dich nicht. Was ist hier passiert?"
Jean schüttelte ungläubig den Kopf, versuchte sich zu sammeln. „Verdammt, Lucien, was tust du hier? Du bist doch in Brügge. Zumindest solltest du dort sein, oder?“ Wieder wich sein Blich ab, fixierte unbestimmte Punkte in der Schwärze des Kanalisationsschachts. Der Gangrel riss ihn herum. "Jean, wir sind uns zuvor schon in einem Traum begegnet. Du hast mir erzählt, warum du nach Gent zu Balduin aufgebrochen bist und das dich jemand angesprochen hat, weil er dich für mich gehalten hat. Du hast mir außerdem von deinem Verfolger erzählt, dem du nicht hinterhergekommen bist und den du nicht stellen konntest. Erinnerst du dich? Konstantin ist nach Brügge geritten und hat mich alarmiert worauf ich mich auf den Weg gemacht habe, als wir uns im Traum begegneten, war ich gerade beim Speckfürst untergekommen." Lucien schüttelte besorgte und irritiert den Kopf. Der Junge, denn Mann war er in diesem Traum wohl keiner, war völlig panisch und sogar leicht in einer Art Schockzustand. "Ich bin in Gent und habe nach dir gesucht, allerdings bei Balduin nicht gefunden - wo bist du Jean? Und was geht hier in der Stadt vor sich? Sind es die Nosferatu die du hier unten fürchtest?"
Jean schüttelte ungläubig den Kopf, sah Lucien wieder an. Er versuchte sich zu konzentrieren. „Ich… verstehe nicht…“ Er umgriff den Schaft seines Schwerts so fest, dass die Knöchel weiß wurden. „Ich weiß nicht… das alles ist zu real um ein Traum zu sein.“ Er kniff sich in den Arm. „ich müsste doch aufwachen, wenn es weh tut, oder?“ Verzweiflung lag in seinen Zügen. „Ich habe versucht meinen Verfolgern zu entkommen. Ich war bei Balduin, aber auch da wurde ich von ihnen entdeckt und verfolgt. Der eine hat einer alten Küchenmagd, die schreien wollte die Kehle herausgerissen und dabei nur gegrinst, an ihrem Blut gerochen und sie dannangewidert auf den Boden geschmissen. Die Frau hieß Oriunde, war ein herzensguter Mensch und seit Jahrzehnten im Dienst der Grafen…“ Jean riss sich zusammen, konzentrierte sich auf das Hier und Jetzt. „Ich bin geflohen um keine weiteren Bewohner des Schlosses zu gefährden. In einer Sackgasse habe ich mich den Männern schließlich gestellt. Ich wusste, ich hatte keine Chance zu entkommen…“
Panisch fixierte er die grauen Augen des Hauptmanns, schien sicher gehen zu wollen, dass Lucien ihn wirklich verstand. „Ich war um Meilen besser im Kampf als diese untrainierten dunklen Gestalten. Ich hab einem den Kopf von den Schultern geschlagen und der wurde innerhalb weniger Sekunden zu Asche. Einen anderen habe ich schwer verwundet. Wunden, die kein Mensch je überstehen könnte, doch er hat sich nur amüsiert auf eine Kiste gesetzt und dem letzten der Angreifer, einem schwarzhaarigen Hünen, und mir beim letzten Kampf zugesehen. Ich hab dem Anführer schließlich beide Hände, …nein Klauen, abgehackt… und der Kerl hat nur angefangen zu lachen. Er stand da und hat gelacht und gelacht. … Er meinte dann, wir hätten für diese Nacht genug gespielt… Ich wäre ein würdiger Gegner…würdig… beschissene Belanglosigkeiten. Dann meinte er zu dem anderen, den ich vorher verletzt hab, es wäre genug. Er gab ihm ein Zeichen und irgendwie hat der Verletzte mich gepackt. Der ohne Hände hing an meiner Kehle…“ Unbändiger Hass loderte in den Augen des jungen Mannes auf. „Sie haben irgendetwas anderes gemacht und irgendwie ist es mir dann gelungen, dem anderen ein letztes Mal das Schwert in die Seite zu rammen. Ich konnte abhauen, bin hierher geflohen… Aber bevor ich im Schacht verschwand hab ich noch einen Blick auf den schwarzhaarigen Anführer werfen können: Seine Hände waren wieder da und er grinste von einem Ohr zum anderen.“ Jean schüttelte sich. Ob vor Grauen oder Kälte war nicht zu erkennen.
Lucien verankerte seine Pechfackel in einem breiten Riss in der Kanalisationsmauer, sodass der Schein des Feuers die direkte Umgebung in flackerndes Licht tauchen würde. Nur einen Moment später umfasste er mit beiden Händen die Schultern von Jean und zog ihn näher an sich, sah ihm fest in die Augen. "Jean, du darfst dich nicht von diesen magischen Kunststückchen täuschen lassen. Das hier ist ein Traum, ein kalter, dreckiger und von mir aus sehr real wirkender Traum aber mehr auch nicht. Es sind Fantasiegebilde und Trugbilder die man uns vorgaukelt! Du träumst und auch ich träume; wir begegnen uns, wie immer das auch möglich ist in diesem Traum. Ich bin in Gent! Leif und Lilliane sind in Gent! Wir wissen das Übles im Gange ist und wir werden dich retten, darauf hast du mein Wort!" Er zwang Jeans Blick in den seinen. "Du darfst dich nicht in diesem Irrsinn verlieren hörst du? Alles was du erlebt hast, mag wahr gewesen sein, selbst die Geschichte mit den wieder nachwachsenden Händen und deiner Flucht. Nur augenblicklich, bist du mit mir in einem Traum... ein Traum, mehr nicht Jean! Sie dir das an..." Lucien riss den Arm hoch, der mit einem breiten Stück Stoff abgebunden war, der sich langsam rot färbte. "Blut.. warmes, frisches Blut. Jean, ich bin tot und ich blute nicht mehr. Das hier ist nur ein Traum, erschaffen von einem widerlichen Hexer der uns in den Wahnsinn treiben will. Du musst deine Gedanken wieder ordnen, konzentriere dich."
Jean schluckte, nickte. Dann riss er plötzlich das Schwert hoch, fixierte einen Punkt im Dunkeln irgendwo hinter Lucien gelegen und ging in Kampfposition.
Von hinten war ein Lachen zu hören, tief, dunkel, das von den Wänden zurück geworfen wurde. Dann die raue Stimme, die nach Steinen klang, die einen Geröllhang hinunter rollten. „Das muss dann wohl Lucien Sabatier sein…“ Die Stimme hatte einen Akzent aus dem Norden und er sprach den Namen des Hauptmanns falsch aus. „Luzjen Sabtje. Du glaubst also, du holst ihn hier wieder raus?“ Wieder war das Lachen in Luciens Rücken zu vernehmen. Dann war die Stimme grimmig und leise. „Vielleicht solltest du aufhören Versprechungen zu machen, die du nicht halten kannst.“
Er riss die Fackel aus der Verankerung und drehte sich mit dem flackernden Licht in seiner Hand, in Richtung der lachend-grollenden, danach flüsternden Stimme. "Oh, ich habe bereits Erfahrung mit Kanälen und Katakomben, merkwürdigen Träumen und Rettungsoperationen. Ich wäre mir nicht so sicher, das ein Scheitern unvermeidlich wäre." Seine Hand ließ die Fackel etwas in der Dunkelheit hin und her gleiten, um die Umgebung auszuleuchten. "Und mit wem haben wir das Vergnügen? Die nächsten Herrscher von Gent nehme ich an?"
Hinter Lucien hatte sich ein breitschultriger Hüne von einem Mann aufgebaut, der sich ein wenig ducken musste um überhaupt in die Kanalisation zu passen ohne mit dem Kopf anzustoßen. . Dennoch nahm sein Körper dabei eher etwas von einem gefährlichen, lauernden Raubtier an. Die roten Augen glühten wie Kohlen in der Dunkelheit. Er war in dreckverkrustete dicke Winterkleidung gehüllt, sein Haar fettig und verfilzt.
Das Lächeln ließ seine weißen spitzen Zähne im Fackelschein aufblitzen. Dann war wieder das dröhnende Lachen zu vernehmen. „Falsch geraten. Dieser Moloch von einer Stadt interessiert mich weniger als die Rattenpisse in diesem Drecksloch. Ich bin dann wohl derjenige, der deine leeren Versprechungen vereitelt, Kettenhund.“ Er trat einen Schritt näher ins Licht.
Der Hauptmann beäugte den Fremden argwöhnisch und mit unverkennbarer Geringschätzung. Seine Fackel immer noch ein Stück weit vor sich haltend, nickte er schließlich und verzog das Gesicht zu einem schiefen Lächeln. Wenn ihm dieser verdammte Arm nur nicht so gebrannt hätte, wäre es vielleicht sogar noch ein wenig breiter geworden. "Wenn du nichts auf dieses verschimmelte Drecksloch gibst, dann wird es dir sicher nichts ausmachen den Jungen gehen zu lassen. Er bietet dir keinen Vorteil und darum musst du auch nichts vereiteln, Gossenmischling." Sein Blick glitt kurz zu Jean. "Suchst du Lucien Sabatier, dann hast du ihn gefunden. Die Frage ist nur was du von dieser Stadt willst, wenn es nicht die Herrschaft ist." Ein abermals schiefes Grinsen stahl sich in sein Gesicht. "Oder tust du das nur für jemand anderen? Du wirst doch nicht etwa auch an einer hübschen Kette hängen?"
Lucien erkannte, an einem winzigen Zucken um die Mundwinkel des Hünen, das etwas an dem, was er gesagt hatte, seinen Gegner verwirrt hatte. Er spuckte vor Lucien aus.
„Weder die Stadt noch du sind für mich von Interesse, Kettenhund.“
Der Mann wandte den Blick von Lucien zu Jean. „Wo versteckst du dich?“ Er öffnete die Hände, schloss die Umgebung mit einer Handgeste ein. „Wo sind wir hier? Die Gosse dieser gräßlichen Stadt? Das hier ziehst du der Welt da draußen vor? Das ist ein Scherz, oder?“
Jeans Angst war schlagartig verflogen und er trat einen Schritt näher auf den Riesen zu. „Ich ziehe dieses Drecksloch deinem Anblick vor!“ Seine Stimme bebte vor Zorn.
Gutmütig als spräche er mit einem Schuljungen schüttelte der Mann den Kopf. „Heißblütig, tapfer und ein Kämpfer bis zum letzten Tropfen Blut. Du bist hier vergeudet, junger Wolf. Bis du das eingesehen hast, tu mir den Gefallen, und verreck nicht an ‚ner Lungenentzündung.“ Der Mann schnupperte und grinste dann zu einer Ratte, die die witternde Nasenspitze aus einem Loch steckte. Er deutete mit dem Daumen auf das Tier. „ich hab meine Freunde überall. Du kannst dich nicht verstecken.“
Der Hauptmann sah zwischen dem merkwürdigen Mann, der offensichtlich ein Kainit sein musste und Jean hin und her. Sein Instinkt hätte stark auf einen Gangrel oder Nosferatu getippt - der Wortwahl nach zu urteilen, wohl eher ersteres. Weitaus bedeutsamer aber war die Tatsache, dass weder die Stadt noch er selbst dem Wilden etwas zu bedeuten schienen. Eher war es noch Jean, der die Aufmerksamkeit auf sich zog und irgendetwas an den Ausführungen des Mannes, ließen ihn glauben er wäre auf der Jagd nach seinem Mündel. Auf der Jagd nach einem Sterblichen, der ihn soweit beeindruckt hatte, dass man ihm den Kuss weitergeben konnte. Er versteckte sich und wurde gesucht, war vergeudet und sollte an keiner Lungenentzündung sterben, weil er noch wertvoll war. Nur eben nicht in diesem Zustand. Es war schmeichelnd, dass jemand aus seinem eigenen Clan Jean für den Kuss erwogen hatte und gleichzeitig völlig undenkbar. Kühl fuhr Lucien dazwischen. "Erstens: Dieser Sterbliche ist nichts für dich, denn er unterliegt meinem eigenen persönlichen Schutz. Du bekommst, was immer du von ihm willst nur über meine Leiche und damit meine ich meine wirkliche, körperliche Leiche." Er machte einen Schritt nach vorne. "Zweitens: Wenn du mit diesem ganzen politischen als auch magischen Chaos, das gerade in Gent umgeht nichts zu tun hast dann verrate mir doch wer du bist und was du dann in diesem Loch zu suchen hast. Abgesehen von Jean hier."
„Dieser Sterbliche unterliegt deinem persönlichen Schutz? Dann verschwinde besser, denn deine Leiche will ich genauso wenig wie die Stadt und den Dreck hier. Du willst meinen Namen, Hund? Mitru, der Jäger. Merk ihn dir, damit du weißt, wer dir in deiner letzten Stunde den Kopf von den Schultern trennen wird, wenn du dich in Dinge einmischst, die dich nichts angehen.“ Wieder ging er einen Schritt auf die Brügger zu, fuhr mit einem breiten boshaften Grinsen die Klauen aus.
„Also, wo bist du, Junge? Du hast einen Tag Vorsprung, aber sag’s mir lieber gleich, denn ich werde dich finden. Und bevor ich hier mit dir ‚spielen‘ werde…“ Er spreizte die Klauen und schloss die Finger kurz zu Fäusten um anzudeuten, wozu Klauen alles in der Lage waren. „Du kannst dir einiges an Schmerzen ersparen.“ Sein Blick wanderte von Jean zu Lucien. „Oder soll ich mir deinen alten Lehrmeister vornehmen? Er sieht derzeit nicht wirklich gesund aus… eine leichte Beute. Weißt du, was mit Kainiten geschieht, die man im Traum tötet, junger Wolf.“
Jean war mit einem großen Schritt nach vorne getreten, baute sich vor Lucien auf. „Ich hab keine Ahnung, aber was immer es ist, schlag es dir aus dem Kopf.“ Er hob drohend die Waffe, fixierte die messerscharfen Klauen seines Gegners.
Lucien konnte diese sichtbare Provokation natürlich keinesfalls auf sich sitzen lassen. Schon allein deshalb nicht, weil Jean bedroht wurde. So war es nunmehr auch an ihm sein eigenes Schwert zu ziehen und sich mit einem schnellen Satz an seinem Mündel vorbeizubewegen. Selbst dann noch, wenn sie beide in diesem seltsamen Traum 'nur' menschlich wären und ihr Kontrahent, ohne Frage über sämtliche, todbringende Fähigkeiten der Untoten verfügen mochte. Die blitzende Klinge seines vom Meisterschmied gefertigten Klinge, die mit seinem eigenen Blut in einem heidnischen Ritual veredelt worden war, zeigte blinkend auf den Kainiten. "Ich habe keine Ahnung was du von dem Jungen willst aber du kommst nur über mich an ihn heran. Wenn du also nicht der jämmerliche Feigling bist für den ich dich halte, so fordere ich dich außerhalb dieses lächerlichen Traumes heraus. Es ist schon armselig für jemanden deines Kalibers 'Jäger', dich in der Sicherheit von Bluthexer Magie zu wiegen. Stell dich mir, so wie es ein wahrer Jäger tun würde. Keine Spielchen, keine Tricks. Oder sind dir deine Eier schon abgefault?" Er grinste. "Und was deinen unglaublich feinsinnigen Plan angeht: Wie wäre es wenn du uns ein wenig erleuchten würdest, ich habe keine Ahnung warum du diesen ganzen Unsinn veranstaltest wenn dir im Grund alles und jeder egal ist, Mitru."
„Das Angebot gilt, Kettenhund.“ Der schwarzhaarige Riese schüttelte dann den Kopf, ignorierte Lucien, und fixierte Jean. „Wolf, ich werde dich finden. Und ich werde dich noch von meinen Worten überzeugen. Den ersten Schritt bist du mit meiner Hilfe ja bereits gegangen. Das hier ist nichts für jemanden wie dich.“ Voller Ekel ließ er den Blick über Schimmel, Dreck und Kot wandern. Jean hielt noch immer die Klinge fest in der Hand. Lucien erkannte Schweißperlen auf seiner Stirn, die im Gegensatz zu dem Raureif in seinem gefrorenen nassen Haar stand. Jean sah auf Luciens verletzten Arm und schüttelte den Kopf. „Nicht hier, Lucien“ Er schob sich an seinem Lehrmeister vorbei.
Wieder glitzerten die Zähne während Mitru grinste. „Nun denn, dann lass uns spielen.“ Mit einer rasend schnellen Bewegung war bevor Jean richtig reagieren konnte, auf den Jungen zu gesprungen, holte von unten aus um ihn am Kinn zu treffen. Jean wich aus, drehte sich halb nach links und hieb mit der Klinge nach den Beinen des Mannes. Ein Sprung, den der Riese mit Leichtigkeit ausführte, brachte ihn in Sicherheit. Jean war im nächsten Augenblick schneller, stach seinem Gegner tief die Klinge in den Bauch, der diesen Stich, das war Lucien bewusst, absichtlich entgegen genommen hatte um in Jeans Reichweite zu gelangen. Er holte mit der Faust aus und schlug dem Jungen direkt ins Gesicht. Blut lief Jean von einer Platzwunde aus der Stirn über das linke Auge, trübte seine Sicht und spritzte aus seiner Nase direkt auf das Wams und ins Gesicht des Jägers. Genussvoll leckte dieser sich das Blut von den Klauen.
Lucien stand mit der Klinge bereit. Er zielte auf das boshafte, selbstgerechte Grinsen des schwarzhaarigen Mannes, doch dieser wich mit einer Selbstgefälligkeit zur Seite, die einen rasend werden lassen konnte.
Jean nutzte den Moment, den Lucien ihm verschafft hatte, holte mit der Klinge aus, zielte auf dessen Bauch um im letzten Moment die Schwertspitze nach oben zu ziehen: Mit einem grässlichen reizenden Geräusch trennte er dem Kainit die rechte Hand vom Unterarm. Mitru wirkte für einen winzigen Sekundenbrachteil überrascht. Jean trat nach den Füßen des Gegners, brachte diesen aus dem Gleichgewicht. Mit Erstaunen taumelte der Jäger nach vorne, konnte nicht mehr ausweichen. Jean holte aus und hieb seinem Gegner mit einem kräftigen Rundumschlag den Kopf von den Schultern.
Mitru verschwand im gleichen Augenblick. Jean sah zu Boden, suchte nach Asche oder irgendetwas anderem doch nichts war von dem Kainit zurück geblieben. Er rutschte mit dem Rücken an eine Wand und dann erschöpft zu Boden. Er kam mühsam im brackigen Wasser zu sitzen, zitterte und zerrte an einem Stück Stoff, dass er schließlich von seinem Gürtel losbinden konnte. Noch immer tropfe das Blut aus der Kopfplatzwunde und seiner Nase. Er rieb so vorsichtig wie es ihm möglich war über sein Gesicht, aber der Schmerz war schier überwältigend. Dem Hauptmann war klar, dass die Nase gebrochen war. Er ließ das Taschentuch wieder sinken und sah Lucien müde an. „Und, was passiert mit so unsterblichen Scheißkerlen, wenn man sie im Traum tötet?“
Lucien hatte das Schauspiel nur verfolgt, ohne groß Eingreifen zu können. In seiner derzeitigen Verfassung, war er dem Kainiten mehrfach unterlegen. Wenigstens hatte sein vergeblicher Angriff gereicht um Jean die notwendige Zeit zu verschaffen einen wohlplatzierten Schlag zu landen, der mit etwas gekonnter Beinarbeit, schlussendlich zur Enthauptung ihres Gegners führte. Es war alles so schnell gegangen und Lucien kniete sich nun schnaufend neben den verwundeten Jean. Er griff an dessen Kinn und drehte es leicht, platzierte die Fackel abermals in einer Kerbe in der Kanalwand. "Der Bastard hat dir die Nase glatt durchgebrochen, dafür hast du ihn einen Kopf kürzer gemacht." Der Hauptmann tauchte den Stoffstreifen in das brackige aber eiskalte Wasser und drückte es Jean vorsichtig auf die Nase. Anschließend tupfte er leicht mit einem Ärmel über die Kopfwunde. "Nichts was man nicht wieder in Ordnung bringen könnte. Ein paar Tage dienstfrei und ein paar kühle Tücher. Leif macht das schon keine Sorge. Wegen der Nase fragen wir Alida. Vielleicht gefällt‘s Marlene ja auch? Sieht verwegen aus? Jean der Kainitenmörder." Er grinste aufmunternd, wusste aber natürlich im selben Moment das die Situation gänzlich an Humor verloren hatte. Für einige Momente war der Gangrel sehr schweigsam, dann hob er die Schultern. "Ich weiß nicht was mit ihnen passiert aber wenn du dich erinnern kannst, dann hatten Dinge die im Traum passiert sind auch ein Äquivalent zur Realität. Vermutlich wird er eine Zeit lang in Starre verbringen. Endgültig vernichtet wird er eher nicht sein." Er kümmerte sich weiter um Jeans Kopfverletzung während er sich mit ihm unterhielt. "Er hat dich an sich gebunden nicht wahr? Sein Blut... es ist in dir..."
Jean sah ihn an und fast so etwas wie Verzweiflung war in seinem Blick zu erkennen. „Ich weiß es nicht. Ich erinnere mich nicht. Ich weiß nicht, was er getan hat…“ Er wischte sich das Blut von den Lippen. „Wenn ich je über die Macht verfüge mich ihm ernsthaft entgegen stellen zu können.“ Hass und Wut glommen in seinen Augen auf. „Manchmal hasse ich es nie euer Level erreichen zu können. Ganz egal, wie gut ich werde, ich werde nie wirklich eine Chance gegen euch haben.“ Der Junge ballte die Hände zu Fäusten. Er legte den Kopf gegen die Wand und schloss die Augen. „Wenn ich hier aufwache muss ich hier raus. Die Kanalisation… das hier kann tödlich enden…“
Lucien schüttelte den Kopf. Was für den Traum galt, das galt auch für die Realität. Hier in diesem eisigen, stinkenden Kanal, würde Jean bald seinen Verletzungen und körperlichen Belastungen erliegen. Die Wunden, der Blutverlust, der Schmerz und diese Umgebung würden ihn auf kurz oder lang töten. Zwar wusste er nicht was mit Sterblichen passierte, die im Traum umkamen aber er hatte auch kein Bedürfnis es herauszufinden. Jedenfalls nicht dann, wenn Jean darin involviert war. Er musste den Jungen hier herausbekommen. Unverzüglich. "Vermutlich wurdest du nicht nur an ihn gebunden und geguhlt, sondern man hat dir auch die Erinnerung daran genommen. Was immer sie mit dir angestellt haben, es wird dich über kurz oder lang entweder töten oder in den Abgrund des Untods ziehen. Warum auch immer dieses selbstgefällige Arschloch Interesse an dir hat, er ist stur und eisern in seinem Entschluss. Das gehört alles zum Plan. Du wirst Kainit oder Ghul, gebrochen und gebunden ohne es zu wissen und dann versuchen sie das, was sie in Gent versuchen auch in Brügge." Er sah sich in der finsteren, stinkenden Leere der Kanalisation um. "So hat es wohl auch in Gent angefangen. Nach der Reihe haben sie alle verdreht und gefügig gemacht, das war alles von langer Hand geplant." Er legte die Hände auf Jeans Schultern. "Du kannst aufwachen wenn du willst, zumindest aus diesem Traum. Ich habe diese Fähigkeit von dir erlernt und kann nun jederzeit aufwachen. Du kannst das auch! Du musst es nur wollen und dich konzentrieren." Lucien erhob sich langsam.
"Und vergiss niemals was es bedeutet an unser Level heranzukommen. Du siehst all die Vorteile, all die Macht und Fähigkeiten aber sie dich um.... das ist es, womit du dich dann dein ganzes Leben herumschlagen musst. Keine Abende um den Kamin mit Frau und Kind, keine Saufgelage mit den Freunden nach getaner Abend, kein Sonnenlicht, keine Spaziergänge zu Mittag mehr. Mir hat wohl nichts Besseres passieren können, denn die Welt hätte mich nicht vermisst aber du..." Und damit sah er ihn ernst an. "Dich würde das Leben vermissen, Marlene würde dich vermissen und deine zukünftigen Kinder. Und schließlich und endlich bin nur ich daran Schuld, dass du dich damit beschäftigen musst. Ich hätte dich niemals in all das hineinziehen dürfen." Er seufzte. "Aber gut, nun ist es einmal so und wir müssen das Beste daraus machen. Wo bist du in der Realität Jean? Wo und wie kann ich dich finden? Gib mir eine Spur und ich hefte mich auf sie."
Jean hatte die Augen geschlossen. Ob er alle Worte von Lucien aufnehmen konnte war dem Hauptmann nicht klar. Er schien einer Ohnmacht nahe. Kurz wurde er noch einmal wach. „Lucien? Ich weiß nicht genau, wo ich bin, aber wahrscheinlich die Kanalisation… nach dem, was man hier zu sehen bekommt. Ich versuch hier raus zu kommen. Wo soll ich hin?“
"Versuch aufzuwachen, konzentrier dich auf die Realität. Konzentrier dich auf deinen Willen und deinen Wunsch aufzuwachen." Seine Stimme war laut und hallte durch die Kanalisation. Es war ihm schlichtweg egal ob sie gehört werden würden. "Und wenn du wach bist, versuch dich bis zu Balduin durchzuschlagen. Ich traue Borluut nicht und auch nicht Camargue. Schon gar nicht der Königsfamilie oder sonst irgendjemandem. Der einzige von dem ich weiß, dass er vertrauenswürdig ist, ist Balduin. Er hat noch genug Einfluss um dich in Sicherheit zu bringen oder unseren Feinden weitere Schritte zu erschweren. Ich werde dich dort treffen, gleich morgen. Wenn ich dich nicht bei ihm finde, komme ich in die Kanalisation. Und ich bringe den Alten mit. Dann räumen wir auf.. ich verspreche es dir."
Jean schmunzelte kaum sichtbar. „So wie ich derzeit aussehe, werde ich wohl wenig wegräumen. Ich werde weggeräumt…“ Dann schloss er die Augen. Wenige Sekunden später war er fort und auch Lucien wurde aus dem seltsamen Traumgebilde gerissen, zurück in ein weiches, warmes Bett. Er befand sich in einem sauberen, nach Blumen und frisch gereinigter Wäsche duftenden Zimmer. Draußen herrschte der Winter mit Eis, Frost und Erstarrtheit, doch hier drin ging die Welt einen anderen Weg, geschaffen von der wohlwollenden Hand einer kainitischen Bruhjah. Lucien fiel in einen tiefen traumlosen Schlaf.