Di 12. Jul 2016, 16:15
Thyra verließ das leicht wankende Schiff mit einem behertzten Sprung und landete auf einem knarrenden Pier aus dunklem, vom Wetter gezeichneten Holz. Der strenge Wind trieb ihr dabei die nur notdürftig geflochtenen Haare, oder zumindest das was noch davon übrig war in alle Richtungen davon. Ein Stich von Schmerz durchfuhr sie plötzlich und zeigte ihr das sie noch nicht wieder auf dem Höhepunkt ihrer Kräfte war. Ganz im Gegenteil sogar, denn die kalten und feuchten Nächte auf See hatten ihr mehr zugesetzt als sie sich gerne eingestehen wollte. Ein Gedanke fuhr ihr dabei durch den Kopf, der ihr sie in einem Moment des puren Entsetzens erstarren ließ, der nichts mit der Kälte zu tun hatte. Der Gedanke der ihr durch die Knochen fuhr war Grund genug dafür. Was wenn sie nie wieder richtig gesund werden würde? Wenn Sie nicht mehr kämpfen konnte und dann mit den Kindern, den Alten und Ehefrauen zurückbleiben musste um am Herd auf die Rückkehr der Männer zu warten damit sie Ihnen das Essen servieren und Met nachschenken konnte? Verdammter Leif! Hass und Abscheu durchfluteten sie und wurden von einem leichten Stechen begleitet, als sich die Nägel ihrer verkrampften Finger in das Fleisch ihrer Handfläche bohrte. Aber das war es nicht was sie auf ihren dunkeln Gedanken riss. Die blonde Frau nahm die unangenehme Stimme des rattengesichtigen Kapitäns erst nach einigen Worten wahr. "Ey? Du! Hey! Träumst du etwa? Wir sind da wie du vielleicht schon bemerkt hast." Er hielt die Hand auf, die in einer dicke, behelfsmäßige Bandage gewickelt war. Mit einer Bewegung schnippte sie ihm ein kleines Goldstück mit dem nicht mehr erkennbaren Profil eines vergangenen Königs zu, was aber nichts am Wert der Münze änderte. Der zweite Teil seiner Bezahlung. Die Ratte hatte es sich doch tatsächlich erdreistet seine Bezahlung in Naturalien einfordern zu wollen. Ein gebrochener Finger hatte ihn schnell gelehrt die fettigen und von der rauhen Seeluft geschundenen Hände bei sich zu lassen. Der Zwischenfall hatte sogar noch den Vorteil gehabt, dass er ihr auf dem Rest der Reise aus dem Weg gegangen war. Was für ein Ekel dachte sich Thyra noch einmal mit Abscheu, als sie sich in Richtung des festen Landes drehte. Vor ihr lag ein kleines Fischerdorf und wie um sie zu begrüßen legte sich der Geruch von frischem Fisch und Seetang auf ihre Nase. Ich bin zu Hause dacht sie schlicht und ein leichtes Lächeln, das erste seit langer Zeit legte sich um ihre Lippen. Thyra zog ihren Mantel und ihre Kapuze tief ins Gesicht und begann in Richtung ihres eigentlichen Ziels aufzubrechen. Sie hätte direkt nach Hause segeln können, aber dann wäre ihre Ankunft bemerkt worden und das wollte sie in ihrem jetzigen Zustand nicht. Sie hasste es sich die bittere Wahrheit einzugestehen, aber sie schämte sich. Nicht nur wegen ihren Verletzungen und ihrer momentanen Schwäche, sondern auch weil Sie versagt hatte. Der Verdammte war nicht nur ihrem Urteil entkommen, sondern hatte auch noch Erik auf seine Seite gezwungen, von Brunhild - sie weigerte sich diese Frau als ihre Mutter anzuerkennen - ganz zu schweigen. Ihren Gedanken folgten wütende Tränen die sie mit aller Willenskraft unterdrückte.
Thyra schüttelte nur den Kopf. Sie wusste das es an der Zeit war aufzubrechen, denn hier zu stehen und dunklen Gedanken nachzugehen würde niemanden weiter bringen, sie selbst schon gar nicht. Mit einigen schnellen Schritten, die sie mehr aus dem Atem brachten als sie sich eingestehen wollte ließ sie das Fischerdorf hinter sich. Es gab einen kleinen Pfad der nach Aros, ihrem Ziel führte. Die Stadt war vor beinahe 200 Jahren überfallen und bis zum Grund niedergebrannt worden, zumindest hatte man ihr das erzählt. Das neue Aros war aber schnell wieder zu beachtlicher Größe herangewachsen und verschrieb sich nunmehr nur noch dem Handel. Die alten Zeiten der Raubzüge und Eroberung waren endgültig vorbei und der Reichtum der Stadt fußte nun nicht mehr auf Blut und Tod sondern auf dem Meer und seinen Schätzen. Die Heide schien die blonde Wanderin begrüßen zu wollen, denn der verhangene Himmel brach auf um einige Sonnenstrahlen durchzulassen, während der Wind ihr eine frische, nach Salz duftende Brise entgegen wehte. Thyra erlaubte sich das erste Mal ein kleines Lächeln. Sie liebte die Länder ihrer Heimat. Die struppig-rauhen Heiden mit ihren Mooren und kleinen Wäldern oder das eiskalte, klare, nach Eisen schmeckende Wasser der Quellen sowie die endlosen Sanddünen die sich weiß dem grauen Himmel und dunklem Meer entgegen zu stellen schien. Wahrscheinlich würden die meisten Menschen dieses Land eher als rau, unerbittlich und trostlos empfinden, aber für sie gab es keinen schöneren Platz auf dieser Welt. Deshalb war sie auch so verwundert als sie in der Ferne die hölzernen Wälle der Stadt ausmachen konnte und sich ihr Magen zu einem schmerzhaften Klumpen zusammen krampfte.
Sie zog die Kapuze tiefer ins Gesicht, als sie schließlich die salzverkrusteten Wälle passierte, die sich seit jeher dem rauhen Wetter der See entgegenstellen. Thyra wollte nicht erkannt werden, nicht so schwach und verunstaltet wie sie jetzt war. Das war auch der Grund gewesen wieso sie sich nicht direkt in Aros hatte absetzen lassen, denn der Hafenmeister war Teil ihrer Familie und hätte sie sofort erkannt und dann sofort nach jemandem schicken lassen. Nein so viel Aufmerksamkeit ertrug sie im Moment nicht und Thyra konnte nur seufzen. Sie wusste einfach nicht wie es weitergehen sollte. Was würde mit Erik geschehen und auch Brunhild wenn die Familie von ihrem Verrat erfahren würde? Je näher sie ihrem Ziel kam, desto weniger wusste sie was sie überhaupt erzählen würde und das Gefühl das damit einherging machte ihr mehr zu schaffen als ihr physisches Unbehagen. Sie seufzte und trat durch das mit Schnitzereien verzierte Tor. Die Stadt war voller Leben und ein absoluter Gegensatz zu seiner menschenleeren Umgebung. Thyra musste ungewollt ein wenig Lächeln als sie zwei junge blonde Frauen, mit milchweißer Haut am Rand des Marktplatzes sitzen sah um ein paar letzte Sonnenstrahlen zu genießen, die der graue Himmel gnädigerweise aus seinem Wolkengefängnis entkommen ließ. Der Moment der Freude war aber schnell wieder verflogen, als ihr bewusst wurde wie wenig diese Mädchen doch von der Dunkelheit wussten die die Nacht beherrschte und nur auf einen Moment hoffe um zuzuschlagen. Vielleicht in einem anderen leben Leben dachte sie gedankenverloren. Sie folgten den sauberen Straßen die zur Stadtmitte führten und schließlich erreichte sie die große Halle in welchem sie ihre Familie finden. Das Gebäude selbst war eher wuchtig als schön, aber trotz allem reich mit Runenmustern und verschiedensten Schnitzereien verziert. Hier in Aros waren Holz und Felle bei weitem prominentere Baumaterialien als die Ziegel und Steine die in Brügge so beliebt waren.
Die schweren Türen wurden ihr ohne weitere Fragen von zwei großen, blonden Kriegern geöffnet die sie ins Innere der Halle geleiteten. Vertraute Gerüche von heißem Fett das in Kohle tropfte, frisch vergorenem Met und Rauch aus den offenen Talglampen erfüllten ihre Sinne. Die Lautstärke der Umgebung resultierte aus ihren feiernden Verwandten, die sich alle an der großen Tafel versammelt hatten und ihr Mahl genossen. Das Bild was sich ihr bot erfüllte sie mit neuer Zuversicht, denn sie kannte diese Menschen und wusste wofür sie standen. Sie war endlich zu Hause und mit schnellem Schritt ging sie zum Ende der Halle wo sie aller größter Wahrscheinlichkeit nach ihren Vater finden würde. Sie sollte sich nicht täuschen und da war er. Genauso groß und aufmerksam wie eh und je beobachtete er das Treiben und schien wie immer alles unter Kontrolle zu haben.
Etwas irritierte sie aber an seinem Anblick. Er saß auf dem Thron, der eigentlich dem Oberhaupt der Familie vorbehalten war und das war immer noch Ulfarth. Zugegeben der Anführer der Kinder von Vidarr war schon alt, aber noch immer von scharfem Geist und eisernen Willen. Ihrem Vater stand diese Anmaßung seinen Platz einzunehmen, wenn auch nur für kurze Zeit einfach nicht zu und sie wunderte sich wo der alte Mann eigentlich war. Ihre Gedanken widmeten sich aber schon bald anderen Themen, denn im Moment spielte das keine Rolle. Die Kapuze noch immer tief ins Gesicht gezogen ging sie in Richtung der Erhöhung auf der er sich befand und verbeugte sich. “Vater. Ich bin zurück.” Ihre Stimme klang hölzern und zitterte ein wenig, das hörte sie sogar selbst. Warum verunsicherte sie dieser Mann nur so sehr? Sollte er als ihr als ihr Vater nicht eigentlich ein Gefühl von Sicherheit und Geborgenheit geben? Zwei stechend blaue Augen suchten ihren Blick und ein breites Lächeln, eher das eines Jungen als eines erwachsenen Mannes breitete sich auf seinen Zügen aus.
Mit einer schwungvollen und geschickten Bewegung auf die wohl selbst ein junger Krieger neidisch sein konnte erhob er sich von dem Thron. Sein Alter war ihm wahrhaft nicht anzusehen. Ohne weitere Vorwarnung schloss er sie in die Arme. Das Zeichen der Zuneigung war recht wild und Thyra konnte spüren wie sie unter Schmerzen zusammen zuckte. Der Mann ließ von ihr ab und schaute neugierig. Etwas blitzte in seinen Augen auf und schließlich griff er nach ihrer Kapuze, aber wie geschlagen zuckte sie vorher zusammen. “Vater bitte…” Sie suchte nach Worten. Die Präsenz des Mannes vor ihr schüchterte sie nach wie vor ein und sie musste sich zusammenreißen um ihrer Stimme Festigkeit zu verleihen. “...es ist eine Menge passiert und ich habe noch sehr viel mehr zu berichten.” Sie seufzte tief. “Ich habe Mutter und Erik gefunden...und...und ebenso den Ahnen.” Sie wandte ihren Blick vor Scham ab, denn ihre Wortwahl würde ihrem Vater signalisieren was sie meinte. Sie hatte den Ahnen nämlich nicht besiegt, getötet oder in die Knie gezwungen sondern einfach nur gefunden. Ihr Vater wurde schlagartig ernst und sie spürte wie sein stechender Blick zum ersten Mal die Schatten der Narben wahrnahm die inzwischen ihr Gesicht zeichneten. Er nickte. “Ich verstehe.” Mit sanftem Druck den sie in ihrem Rücken spürte wurde Thyra in einen angrenzenden Raum dirigiert. Er war weniger imposant mit Waffen und Fellen eingerichtet als zuvor die Haupthalle, aber er war gemütlich, in der Mitte befand sich eine offene Feuerstelle und vor allem konnten sie hier offen reden. Eine blonde Frau die Thyra nicht kannte, vielleicht eine Dienerin stand in der Ecke während sie auf ein Handzeichen ihres Vaters verschwand. Dann setzte sie sich auf eine mit grauem Wolfsfell ausgelegte Bank und suchte nach Worten um ihre Erzählung zu beginnen. Gerade als sie zu einer ersten Erklärung ansetzten wollte sah sie wie ihr Vater eine Hand hob und ihr gebot zu schweigen. Er beobachtete sie einfach nur, ihre Narben, ihre Kleidung und sie fühlte sich als würde sie auf der Anklagebank eines Richters und nicht bei ihrer Familie sitzen. Wie sehr sie solche Momente hasste. Schließlich wurde die Spannung aufgelockert als die Dienerin mit einem Teller zurückkehrte. Haferbrei, Nüsse, Blaubeeren, rote Früchte und Skyr.
Thyra spürte erst in diesem Moment wie sehr ihr Magen knurrte. Ihr Vater lächelte, beinahe als wollte er sich entschuldigen. “Ich dachte mir du hättest vielleicht Hunger. Alles was wir zu besprechen haben kann auch noch einen Moment länger warten.” Thyra wusste das es nie sonderlich viel brachte die Entscheidungen des Mannes vor ihr zu hinterfragen oder zu diskutieren deshalb lehnte sie sich einfach zurück und schloss die Augen, während sie den säuerlich-cremigen Geschmack des Skyrs und die Frischen Früchte auf ihrer Zunge genoss. Mit einem Seufzer beendete sie ihre Mahlzeit. Wie sehr sie das vermisst hatte, dann setzte sie sich wieder auf und sah das ihr Vater sie keinen Moment aus den Augen gelassen hatte. Er hatte etwas von einem Raubtier und sie spürte wie ihr ein eiskalter Schauer über den Rücken glitt. Dann gab er ihr die Erlaubnis zu beginnen. “Jetzt erzähl mir alles Thyra. Erzähl mir was passiert ist und lass kein einziges Detail aus. Jede einzelne Information die du uns geben kannst ist Gold wert und mag am Ende darüber entscheiden ob wir gewinnen oder verlieren.” Ihr Vater war angespannt und freudig ob all jener Dinge die sie zu berichten hatte, egal wie geduldig und zurückhalten er sich geben mochte. Sie atmete tief ein. Es gab keinen Grund all das noch länger herauszuzögern und so begann sie zu erzählen. Sie ließ nichts aus, nicht das kleinste Detail. Sie begann mit allem das passiert war als sie in Brügge angekommen war, ihrer Jagd nach den Schatten, die Zusammenkunft mit Brunhild und Leif sowie ihre lange Genesungszeit und all die Geschichten die ihr Karl und Balduin ihr erzählt hatten. Bis zum bitteren Ende stellte ihr Vater keinerlei Fragen und unterbroch sie auch nicht im Gegenteil, er forderte sie nur mit verschiedensten Handzeichen auf fortzufahren bis sie alles berichtet hatte.
Schließlich schwieg sie und die Stille die sich im Raum ausbreitete wurde beinahe unerträglich. Sie wusste nicht wie er jetzt reagieren würde, ob in Freude, Ärger oder irgendeiner Gefühlsregung dazwischen, denn die Pläne die hinter den blauen Augen entwickelt worden konnte niemand erraten außer er selbst. Dann lehnte er sich vor und das Grinsen eines Jungen dem man gerade ein lange gewünschtes Spielzeug geschenkt hatte breitete sich auf seinen Zügen aus. Sie spürte wie er seine Hand auf die ihre legte. “Thyra.” Sie wusste, dass er ihre volle Aufmerksamkeit verlangte und sie zwang sich daher ihm in die Augen zu schauen.. “Alles was du erfahren hast, alles was du mir erzählt hast darfst du niemals irgendjemandem erzählen. Du redest nur mit mir über das was geschehen ist, insbesondere bezüglich deiner Mutter und deinem Bruder. Hast du mich verstanden?” Sie war überrascht, fast schockiert. Wollte er die Sache etwa unter den Teppich kehren? Trotzdem nickte sie nur, beinahe mechanisch. Irgendwann war sie wieder gefasst genug um sich ein paar Worte abzuringen. “Aber warum? Willst du denn nichts unternehmen wir wissen wo er ist wir…” Er unterbrach sie mit einem Kuss auf die Stirn und einem Lachen. “Oh meine kleine dumme Thyra.” Er tätschelte ihren Kopf wie den eines Hundes. Sie fühlte sich gedemütigt, denn anscheinend hatte sie etwas Offensichtliches übersehen. “Natürlich werden wir etwas unternehmen. Aber jetzt ist nicht die Zeit die Dinge zu überstürzen. Was glaubst du warum Leif Thorson noch immer in dieser Welt wandert? Wie er es geschafft hat deine Mutter und deinen Bruder in seinen Bann zu ziehen bis sie alles verraten wofür unsere Familie steht? Nein eine direkte Konfrontation bringt uns nicht weiter nur Klugheit und gut durchdachte Pläne, aber darum musst du dich nicht kümmern. Ich bin sehr stolz auf dich, denn nur du meine starke und unabhängige Tochter hast ihm wiederstehen können.” Thyra fühlte sich schlecht trotz des Kompliments und der lobenden Worte. Nur ihr Vater schaffte es das sie sich so konfliktet fühlen konnte. Er hatte sie in einem Atemzug als dumm und stark zugleich bezeichnet, aber wahrscheinlich schlossen sich beide Eigenschaften in seiner Wahrnehmung nicht einmal aus. Allerdings hatte sie keine Zeit mehr ihren Gedanken weiter nachzuhängen, denn ihr Vater sprach weiter. “Jeder einzelne Schritt den wir nun unternehmen muss genau durchdacht und ausgeführt werden. Ich habe einen Plan mein Kind aber du musst dich nicht weiter sorgen. Tu einfach nur was ich sage und diese Jagd wird bald ein Ende finden.” Sie nickte wieder und spürte wie die Entäuschung wie eine Welle über sie herein brach. Natürlich würde ihr Vater sie nicht in seine Pläne einweihen. Das tat er ja niemals, aber sie konnte das Gefühl trotz allem nicht abschütteln das er sie auch für ihr Versagen bestrafte. Dann erhob er sich. “Komm mit Tochter.” Seine Stimme war entschlossen. Thyra folgte ihm, strich sich den Mantel einigermaßen glatt und zog sich die Kapuze wieder über den Kopf. Sie spürte an dem Blick ihres Vaters im Rücken das er das Versteckspiel nicht gut zu heißen schien, auch wenn er nichts weiter dazu sagte. Sie erreichten wieder die lärmende Haupthalle und ihr Vater lud sie dazu ein die Szenerie kurz zu beobachten. Ein Lächeln umspielte ihre Lippen als sie sah wie die Männer und Frauen ihren Spielen nachgingen und frisches Bier tranken, oder einander Geschichten erzählten und manchmal einfach nur zuhörten. Sie hatte diese Zusammenkünfte vermisst und die Vertrautheit der Situation verursachte ein wohliges Gefühl in ihrem Magen das nichts mit dem Met zu tun hatte welches sie zu ihrer Mahlzeit getrunken hatte.
Plötzlich zuckte sie zusammen, genauso wie der Rest des Raumes. Ein Tonkrug wurde auf dem Boden zerschmettert, dann noch einer und ein weiterer. Ihr Vater warf schließlich den letzten auf den Boden den er noch in der Hand hielt und grinste dann. Sie wusste er hatte etwas vor. “Brüder und Schwestern hört mir zu es gibt etwas das ihr wissen müsst.” Eine Stille die man fast schneiden konnte breitete sich in der Halle aus. Thyra war einmal mehr fasziniert als ihr Vater mit seiner Rede begann. Sie kannte wenige Menschen die sich seinem Charisma entziehen konnten, denn sie wusste, dass die Ruhe die sich ausbreitete nichts mit dem zerbrochenen Geschirr zu tun hatte, sondern mit Respekt vor seiner Person. Dann ohne Vorwarnung riss er ihr die Kapuze vom Kopf und auf Raunen ging durch die Menge. Der Schock hielt sie aufrecht, aber trotz allem fragte sie sich wieso er das getan hatte? Er musste doch wissen wie verraten und nackt sie sich gerade fühlte und sich nicht einfach umzudrehen und dieser Situation zu fliehen kostete sie einiges an Kraft. Sie hörte die donnernde Stimme.. “Meine Tochter ist eine Heldin.” Er schrie beinahe. “Sie hat gegen unseren Ahnen gekämpft und ist mit wertvoller Kunde und unter großen Anstrengungen zu uns zurückgekommen während ihr hier gesessen und getrunken, gerauft und euch vergnügt habt.”
Sie erkannte das Muster hinter seiner Taktik. Er wollte das sich ihre Verwandten schuldig fühlten, denn dann wäre es einfacher sie zu etwas zu bewegen was sie vielleicht sonst nicht gerne tun würden, insbesondere wenn er ihnen einen Ausweg anbot die vorherige Scham wieder gut zu machen. Ihr ganzes Leben hatte sie erlebt wie gut ihr Vater mit Worten umgehen konnten und wie einfach die meisten Menschen ein paar wohlgewählten Formulierungen erliegen konnten, einfacher sogar als einem Schwert oder einer Axt. Er sprach mit seiner tiefen und melodischen Stimme weiter, die der ihres Bruders so sehr glich. “Doch trotz allem was passiert ist haben wir nun eine Chance, eine die nah ist und reif geerrntet zu werden! Eine Gelegenheit von der wir schon seit Jahren nicht mehr zu träumen wagten.” Er verstummte und Thyra konnte spüren wie die Spannung stieg. Inzwischen hätte man in der zuvor lärmenden Halle eine Nadel fallen hören. Er sprach weiter, aber dieses Mal sehr viel leiser und Thyra sah wie sich selbst jene Köpfe die zuvor nur höfliches Interesse gezeigt hatten inzwischen gespannt das Schaupiel verfolgten und keine Silbe durch Unaufmerksamkeit verpassen wollten. “Ich und meine heldenhafte Tochter werden zum nächsten Vollmond mit unseren Getreuen nach England reisen um die Jagd zu beginnen.” Plötzlich sprang er mit einem Schlusssprung auf und den Tisch und ging auf den Mittelpunkt der Tafel zu. Tönernerne Becher und glasierte Teller zerbrachen in lautem Scheppern unter den eisenbeschlagenen Stiefeln. Er flüsterte fast und wurde langsm aber stetig immer lauter bis er schrie. “Wollt ihr das die Drachenschiffe wieder zur See fahren um die Dunkelheit die überall lauert zurück zu drängen? Nehmen wir unser Schicksal wieder an und hören auf uns in dieser Halle zu verstecken? WERDET IHR MIR FOLGEN UND EUREN SCHWUR ERFÜLLEN?” Er riss sich sein Hemd vom Körper und auf seiner nackten Schulter konnte man das schwarze, tätowierte ‘V’ als physisches Zeichen ihres Schwurs sehen. Er grinste überzeigt. “Ich Ragnarson werde diese Jagd beenden. Ich Ragnarson werde nach dem Tod von Ulfarth als neuer Anführer unsere Familie gegen unseren Ahnen und seine Verbündeten in den Krieg führen. Also WERDET IHR MIR FOLGEN? FÜR FAMILIE? FÜR UNSERE VERPFLICHTUNGEN? FÜR UNSERE EHRE?” FÜR DIE KINDER VON VIDARR UND ALLES WOFÜR WIR STEHEN?” Wie aus einem gemeinsamen Mund brach Jubel und Zustimmung aus und Thyra konnte nur noch ein Wort unter all der Aufregung ausamachen. Ragnarson! Ragnarson! Ragnarson! Sie hörte aber all das schon nicht mehr denn ihre Gedanken überschlugen sich wie heute schon so oft. Ihr Vater war der neue Anführer? Und was wollte er in England? Warum wollte er dort hin und nicht nach Brügge? Das machte doch überhaupt keinen Sinn, was hatte er nur vor? Die Schreie der Zustimmung und Euphorie die das junge blonde Mädchen umgaben waren wild, beinahe einschüchternd - insbesondere aber ansteckend. Trotzdem fiel es ihr schwer sich der Situation einfach so hinzugeben. Warum fühlte sich nur alles so falsch an? Sie musste sich wieder hinsetzten und nutze das allgemeine Chaos der Situation sich ihre Kapuze wieder über den Kopf zu ziehen. Sie sollte sich gut fühlen, glücklich sein aber warum überwog dann nur das Empfinden gerade einen riesigen Fehler begangen zu haben?