Fr 15. Jul 2016, 22:56
Was um alles in der Welt ging da draußen vor? Auf der anderen Seite war sie sich absolut sicher, dass sie das gar nicht wissen wollte. Sie sah zu Jeremiah, dann trat sie näher an die beiden Drachen heran und fixierte Emilian. Sie hatte keine Ahnung, wie man in einer solchen Reaktion am besten reagieren sollte. Vernünftigerweise wäre sie am liebsten weggerannt.
Die Männer in der Halle drängten sich dicht aneinander, man hörte das Rasseln von Kettenhemden, das Schaben von Metall an den ledernen Gürteln und das Klappern von wackelnden Helmen, die auf Köpfen saßen die sich in Richtung des regelmäßigen Dröhnens drehten. Alida konnte die Angst beinahe riechen, dieses kitzelnde Vibrieren in der Umgebung, das sich auf die Brust legte und einem die Luft zum Atmen nahm. Sie roch den zarten Schweißgeruch, der sich allmählich intensivierte und die erschrockenen, panischen Blicke, die hin und wieder in Richtung der Heerführer gelenkt wurden. Pieken wurden nach vorne geschoben und Schwerknäufe fester umschlossen.
Die Unteroffiziere des Heeres warteten auf einen Befehl ihres Voivoden. Zweifelsfrei wussten sie, mit was sie es hier zu tun hatten.
Emilian neben Alida zog ebenfalls sein Schwert und starrte wie gelähmt die langgezogene Halle hinab. Rustovich und Jeremiah taten es ihm gleich. Lediglich Velya schien gänzlich unbewaffnet; ließ jedoch ebenfalls langsam und beinahe vorsichtig die Hände sinken. In aller Augen lag unsichere Anspannung. Dann sah sie etwas sehr großes, sehniges seinen Kopf durch den Durchgang stecken, durch den sie gerade eben noch den Truppen des Voivoden gegen die Skelette zu Hilfe geeilt war. Dem knochigen, geschwärzten Schädel mit mehreren Hornauswüschen und einem Maul, in das ein ganzer Mensch gepasst hätte, folgte ein sehniger und ebenfalls von dicken Knochenplatten übersäter Körper, der schier unverwundbar wirkte. Welcher Speer und welcher Pfeil sollten ein solches Ungetüm durchbohren? Welches Schwert das Fleisch zerteilen? Riesige, schwarze Klauen saßen an den fingerartigen Auswüchsen zu seinen Füßen, die sich langsam weiter in den Raum schoben. Als krönender Abschluss folgte ein langer und sich wie eine dicke Schlange windender Schwanz. Der Drache hatte sogar ein paar ledrige und Chitin verstärkte Schwingen. Konnte dieses Ding am Ende sogar noch fliegen?
Die Bestie kaute auf etwas und man hörte das widerliche Geräusch von brechenden Knochen und zerplatzenden Organen. Zwischen gallertartigem Geifer rannen ihm ganze Sturzbäche von Blut das Maul hinab. Der Drache legte den Kopf in den Nacken und schlang das restliche Stück Fleisch mit einem Bissen hinunter; einzig ein Arm hing aus einem Mundwinkel; löste sich vom Kadaver und fiel wie weggeworfen zu Boden. Der Rüstung nach zu urteilen, hatte es sich um einen russischen Infanteristen gehandelt. Die fleischgeformte Bestie hatte ihn einfach mitsamt Rüstzeug verspeist.
Rustovich sah zu Emilian. „Er frisst die Soldaten mitsamt Rüstung und Bewaffnung, verdammt. Bei Kain, wie gebieten wir ihm Einhalt?“
Alidas Erzeuger fasste, ohne den Voivoden anzusehen, in die Innenseite seines Wamses und entzog diesem die Knochenflöte, mit der er den Drachen zumindest zeitweise zur Folgsamkeit zwingen konnte. „Ich weiß es nicht aber wir müssen ihn aufhalten! Ich kann nur versuchen ihn wieder zu unterwerfen.“ Damit machte er bereits ein paar Schritte auf die Bestie zu; hielt in der einen das Schwert, in der anderen die Flöte.
Velya machte im Gegenzug dazu einige Schritte rückwärts. „Ich muss mich vorbereiten…“, murmelte er mit entsetztem Gesichtsausdruck.
Der Voivode der Voivoden biss die Zähne zusammen und brüllte zu seinen Truppen: „Verteidigungspositionen.“ Seine Schritte überholten noch die von Emilian.
Dieser wollte den Drachen der Drachen noch aufhalten aber es war zu spät. Sein knappes: „Nein, ihr dürft ihn nicht…“, konnte nicht einmal vollendet werden, da brüllte das riesige Untier seinen ganzen Hass und seinen ganzen Zorn durch die Halle, dass die Säulen und Wände bebten. Allein der Nachhall in dem Gemäuer sorgte dafür, dass die Soldaten wie kleine Kinder die Köpfe einzogen.
Dann stapfte das Monstrum einfach auf die Soldaten zu; in seinen Augen glänzte die pure, wahnsinnige Mordlust. Zu etwas Anderem war er nicht geschaffen worden.
Emilian rannte und auch Rustovich rannte nun; die Pikeniere rissen die Waffen hoch und die Armbrustschützen feuerten einen Bolzen nach dem anderen.
Sie hörte Jeremia neben sich finster lachen: „Was für eine Ironie.“ Im Lauf wandte sich ihr Erzeuger noch einmal zu ihr um; blieb dabei kaum stehen. „Du bleibst hier, Alida, es ist zu gefährlich und du bist zu geschwächt.“ Dann rannte er weiter. „Beschütz sie…“ Das ging wohl an Jeremiah.
Alida stand da wie angewurzelt, nicht in der Lage sic zu rühren. Ungläubig schüttelte sie den Kopf und betrachtete das so unwirklich scheinende Schauspiel. Ihre Hand zuckte und wollte zu ihrem Schwert greifen, aber das war Wahnsinn. Weder Mann, noch Frau, weder Kainit noch Sterblicher hatten hier in diesem Kampf eine Chance. Mit zwei Schritte war sie neben Jeremiah. „Wie um alles in der Welt ist das Vieh hier rein gekommen?“ Sie sah sich den Raum genau an. „Mir ist nach wegrennen… Verdammt. Wie können wir den Drachen aufhalten?“ Sie besah sich die Architektur des Gebäudes. Wenn schon kein Mensch in der Lage war, ihm Einhalt zu gebieten, vielleicht konnten die Mauern von Ceoris etwas bewirken?
Der Nosferatu hob die Schultern und sah sich fieberhaft im Raum um. „Wirklich witzig. Woher soll ich das wissen, Fräulein Unhold? Ich dachte das Ding begleitet schön brav den Voivoden und unseren Ritter des Ostens. Möglicherweise haben wir mit dem Brechen der Siegel, noch ganz andere Zugänge und Wege geöffnet, die sich der Drache jetzt zunutze gemacht hat.“
Aus den Augenwinkeln nahm Alida den ansonsten eher schweigsamen Velya wahr, der sich inbrünstig und in sich gekehrt auf etwas zu konzentrieren schien; dabei die Augen geschlossen hielt.
Jeremiah fluchte laut: „Ah, drauf geschissen, hier gibt es überhaupt nichts, was wir tun können! Wir müssen nach vorne und… weiß der Teufel was! Improvisieren!“ In seiner Stimmung klang Verzweiflung und Ratlosigkeit, als er sich mit einem Satz den Truppen in der Halle vor ihm anschloss. Eigentlich hätte er ja auf Alida achtgeben sollen, so wie Emilian ihn geheißen hatte, aber im Befolgen von ‚Befehlen‘ war er scheinbar nie wirklich gut gewesen. Vor ihr tobte bereits ein ungleicher und fast völlig aussichtsloser Kampf. Die Hälfte der Soldaten kamen ihr, als Jeremiah nach vorne rannte, schon wieder entgegen; die Augen weit aufgerissen, schreiend und panisch. Sie waren Veteranen vieler Schlachten, hatten unzählige Tote, Mord und Verstümmelung gesehen. Es kümmerte sie nicht vom Feind abgestochen zu werden, noch kümmerten sie die Monstren ihrer tyrannischen Herren. Aber das hier, war ein Kampf, der nicht zu gewinnen war; ein Scheusal, das selbst der härteste unter ihnen noch nie gesehen hatte, fuhr wie eine Sense durch den Weizen. Bolzen schlugen auf harte Schuppen, prallten daran ab und fielen zu Boden, Speere wurden geschleudert, verfehlten ihr Ziel oder trafen scheinbar ohne irgendeine Wirkung zu erzielen. Der Drache biss einem weiteren Soldaten den Kopf ab; so einfach wie ein Kind herzhaft in einen überreifen Pfirsich biss. Blut spritze und die Schreie der Verwundeten und Sterbenden füllte den Raum. Ein Tormentor war unter der linken Klaue begraben, während seine Gedärme sich auf dem Fußboden verteilten.
Vladimir Rustovich war in seiner Zulos-Gestalt und wirkte selbst in dieser Form größer, erhabener und imposanter als alle anderen Unholde. Er schwang seinen brachialen Zweihänder als wäre er ein Küchenmesser und fügte dem Drachen tiefe Wunden zu. Es braucht wohl offensichtlich allein übermenschliche Kraft um ihn überhaupt verwunden zu können. Der dicke Schwanz versuchte immer wieder nach dem Kainiten und seiner Leibwache zu schlagen; verfehlte aber. Pieken wurden in den Boden gerammt und mit dem eigenen Gewicht spießte der Drache sich beim nach vorne schnappen auf; brüllte seinen Schmerz den Angreifern ins Gesicht. Jeremiah war bei den Verteidigern angelangt; griff nach einer fallengelassenen Armbrust und hob sie an, zielte und schoss. Der Pfeil sauste heran und spickte dem Drachen die Schnauze. Vermutlich hatte er auf die empfindlichen Augen gezielt. Irgendwo in der Menge konnte sie auch Emilian sehen, der auf der Flöte zu spielen begann. In diesem Tumult hätte man sein Spiel nicht einmal im Ansatz hören können, aber offenbar gelang ihm das Unfassbare: Der Drache bäumte sich kreischen und grollend auf, schüttelte den Schädel und wich ein kleines Stück zurück. Die Verteidiger setzten nach.
Alida schüttelte verzweifelt mit dem Kopf. Das alles war so vergeblich. Dieser Kampf war aussichtslos, wenn nicht ein Wunder geschehen würde. Die Tremere wären begeistert über das Schauspiel. Panisch versuchte sie sich zu sammeln. Irgendwo waren die Katapulte mit denen die Wachmänner der Tremere ihren Angriff hatten beginnen wollen.
Sie rannte in den aussichtslosen Kampf, die Truppen zu unterstützen, wo keine Hoffnung mehr war. „Dieser Kampf ist noch nicht verloren. Fasst eure Schwerter und folgt mir. Da vorne sind Katapulte. Los!“ Die flüchtenden Soldaten beachteten ihre ersten Versuche wieder Ordnung und Disziplin in die Formation zu brüllen nicht weiter. Unablässig stoben sie an ihr vorbei, selbst wenn diese Feigheit vor dem Feind ohnehin später von Rustovich persönlich geahndet werden würde. Das heißt, falls überhaupt irgendjemand diese Nacht überleben würde.
Sie riss sich zu sammeln, suchte nach dem Blut von Emilian, das ihre Adern durchströmte und ließ es in ihre Muskeln fahren um sich auf den Kampf vorzubereiten. Erneut veränderte sie ihren Körper und nahm noch im Laufen die monströse Form des Zulo an, die ihr bei ihrem Kampf im Osten bereits mehrfach gute Dienste geleistet hatte. Der zweite Versuch die Männer zum Kampf zu motivieren, war da schon etwas eindringlicher. Sie baute sich in voller Größe vor den Deserteuren auf und den ersten, der an ihr vorbeistoben wollte, packte sie am Rüstgeschirr und schüttelte ihn knurrend. Mit der Fratze eines regelrechten Monsters brüllte sie die nachfolgenden Kameraden an, die erschrocken stehen blieben und sich nicht rührten. Sie stieß den Mann am Geschirr zurück und fauchte eindringlich: "An die Geschütze dort drüben, sonst reiß ich euch die Köpfe ab und benutz sie als Geschoss!“
Die Soldaten sahen einander an und nickten dann wie in Trance. Offenbar hatte Alida das einzig richtige gemacht: Sie hatte ihnen einen einfachen, auszuführenden Befehl gegeben, der selbst unter diesen, wenig rosigen Aussichten den militärischen Drill reaktivierte. Befehlsketten und Drill waren in solchen Zeiten wirklich zu etwas nütze. Geschütze bedienen schien gerade eine fantastische Idee, wenn die andere Option die seltsame weibliche Tsimiske in Zulogestalt beinhaltete.
Die Soldaten wandten sich um und stürzten zu den Ballisten, die man vorzeitig aus dem Weg geräumt, aber noch nicht zerstört hatte. Routiniert begannen sie gemeinsam die schweren Kriegsgeräte ein wenig weiter in den Raum zu schleifen und auszurichten. Es dauerte nicht lange und die ersten Waffenmannschaften hatten einen Bolzen geladen. Einer anderen fielen die Bolzen beim Einlegen fast zu Boden, so sehr zitterten die Hände. Einige fluchten laut aber für Diskussionen blieb keine Zeit. Sie erwarteten den Feuerbefehl, während weiter vorne einer der Tormentoren sein Leben aufgespießt auf dem Schwanz des Drachen aushauchte.
Rustovich brüllte über die Masse: „Sieg oder Tod! Es gibt keine Alternative! Bringt ihn zu Fall!“
Emilian veränderte offenbar geschickt die Tonfolge der Beinflöte, die dem Drachen immer neue Schmerzensschauer abverlangte. Bedauerlicherweise hielt ihn das zwar immer wieder ein bisschen davon ab, allzu gut mit Klauen und dem gewaltigen Maul zu zielen, es machte ihn allerdings auch verzweifelt rasend. Alle wussten das, niemand hatte einen besseren Vorschlag. Der Mann an der Balliste wartete auf ein Zeichen seines Leutnants und dieser Leutnant, war in diesem Augenblick eine über zwei Meter große Bestie, mit Namen Alida van de Burse; der Drache des Westens.
Alida sah mit Erleichterung, dass die Soldaten im Gegensatz zu ihr in der Lage waren die Katapulte zu bedienen. Sie wirkten routiniert und jede Hand saß. Ein letztes Mal überprüfte sie die ungefähre Zielposition der Geschütze, dann gab sie den Befehl. „Feuer!“
Solche Geschütze wie Ballisten und Katapulte zu bedienen und schlussendlich damit auch zu treffen, erforderte nicht nur einiges an Erfahrung, sondern dazu noch eine besonders gründliche Ausbildung. Beides hatte Alida nicht vorzuweisen und dennoch konnte man sich hier nicht einfach nur auf Richtschützen verlassen. Jeder Bolzen, der sein Ziel verfehlte, konnte der letzte sein, den diese Männer in ihrem Leben abfeuern würden. Es musste sitzen.
So verließ sie sich auf ihre Künste im Bogenschießen, erfasste geistesgegenwärtig die Distanz, Winkel und das ungefähre Gewicht der Projektile und ließ entsprechend nachjustieren. Die Katapulte feuerten und zwei der schweren Bolzen schlugen auch tatsächlich in der breiten Brust des Drachens ein. Es knackte laut, als ob irgendwo ein alter Baum mitsamt Wurzeln ausgerissen werden würde und das Ungeheuer hatte zwei dicke Lanzen in seinem geformten Wanst stecken. Brüllend und tobend kreischte es ob der Schmerzen und der Pein, den die Flöte verursachte und fegte mit seinem Schwanz über das Heer. Mehrere wurden getroffen, einige konnten sich mit einem Sprung retten. Von den Getroffenen erhoben sich manche mit schmerzverzerrten Gesichtern, wieder andere blieben sich krümmend liegen. Unter anderem ihr Erzeuger, der die volle Wucht des Schlages abbekam. Wie eine Puppe wurde Emilian durch die Luft geschleudert und gegen die Wand geworfen, an der er hart aufprallte und daran zu Boden glitt.
Rustovich brüllte und die Tormentoren ergriffen die am Boden liegenden Pieken der Gefallenen, rammten sie dem Ungetüm in den zuckenden Schwanz. In dem Tumult konnte sie auch Jeremiah ausmachen, der gerade zu ihrem Erzeuger eilte und diesen mit einem raschen Ruck schulterte. Als Alida in die Richtung der beiden blickte, sah sie zwischen Schreien, dem allgegenwärtigen Geruch von Blut und dem langsamen Sterben der Soldaten eine Handkurbel mit einer dicken Kette. Dann erkannte sie die Mechanik hinter der Gerätschaft. Über ihr, das merkte sie erst jetzt, war ein gigantischer Kronleuchter von hochgradig überdimensionierten Ausmaßen. Spitze angeschliffene Kristalle waren fest in dem Konstrukt vorbaut, welches aktuell aber kein Licht spendete. Ein wohl platzierter Schlag müsste die Kette zerschlagen und würde den Leuchter nach unten rasen lassen. Ein weiterer Blick verriet ihr, dass der Drache sich genau in diesem Moment darunter befand. Es gäbe nur diesen einen Versuch. Und jetzt, da die Flöte ihn zu wahnsinnigem Zorn angepeitscht hatte ohne ihn noch schmerzen zu können, kämpfte die Bestie nur umso verbissener.
Alida wusste gegen wen sich der Drache zu allererst wenden musste, jetzt, da das Flötenspiel, das ihn so gepeinigt hatte, beendet war. Sie konnte das nicht zulassen. Sie schrie die Männer an. „Nachladen und Feuern!“, dann sprintete sie los.
Die Soldaten an ihrer Seite rissen die Bolzen hoch, luden die Geschosse ein und kurbelten als gäbe es kein Morgen. Und wenn sie versagen würden, entspräche dies sogar der traurigen Wahrheit. Alida ließ die Macht ihrer Vitae durch den ohnehin kolossalen Körper laufen und fühlte die unbändige Kraft der übermenschlichen Geschwindigkeit durch ihre Adern rasen. Wie ein Pfeil schoss sie auf das Schlachtengetümmel zu, vorbei an den Sterbenden, Gedärmen, Brüllen, Dröhnen und Fauchen.
Rustovich hielt das Biest noch zurück aber auch ihn verließen langsam die Kräfte und viel Auswahl an der direkten Front hatte der Drache nicht mehr; irgendwann wäre der Voivode der Voivoden das einzige direkt angreifbare Ziel. Sollte der Feind nicht, wie von Alida in höchstem Maße angenommen, ohnehin Rache an seinem Peiniger suchen: Emilian. Emilian, der ohnehin schwer verletzt war.
Der Drache brüllte als weitere Bolzen in ihn einschlugen und die gepanzerten Platten durchschlugen; war gespickt mit unzähligen kleinen Pfeilen, die wie Nadeln wirkten und Ballistengeschosse, die wie Speere aussahen.
Für einen Drachen ist im Grunde alles nur lästig, aber allmählich schien es sogar tatsächlich weh zu tun. Seine roten Augen erkannte eine viel zu schnelle Bewegung, die seine Aufmerksamkeit fing, denn offenbar war er ohnehin just genau in die Richtung unterwegs, die Alida prophezeit hatte. Die Aufmerksamkeit richtete sich auf Jeremiah, der den bewusstlosen Emilian auf dem Rücken trug.
Durch das Schreien und metallene Klirren hörte man den Nosferatu noch fluchen: „Scheiße, scheiße, scheiße…“. Er nahm die Beine in die Hand. Gleich hatte sie die Seilwinde mit der Kette erreicht, da schoss der Schwanz durch den Pulk aus Soldaten, schrammte bei einigen vorbei, die stöhnten und ächzten und versuchte akkurat sie zu treffen. Einfach, weil sie in seinem Blickfeld war. Und weil sie sich von der Menge aus kleinen Ameisen abhob.
Alida erreichte die Seilwinde; sprang flink zur Seite als der massige Schwanz neben ihr in die Mauer einschlug und dicke Felsbrocken aus ihr riss, die polternd neben ihr aufschlugen. Einer der Brocken war so massiv, dass er ihr bei einem Treffer wohl den Schädel zertrümmert hätte. Das Untier schrie seinen unbändigen Hass hinter ihr hinaus während es sich allmählich aufrichtete um zu einem Sprung anzusetzen. Das Schwert ihres Großerzeugers fuhr auf die massive Eisenkette hernieder und Funken stoben mit der Wucht des Schlages. Ungläubig sah sie, dass zwar eine dicke Kerbe im Metall zu finden war und der Leuchter bedrohlich schwankte, aber noch reichte es nicht aus das Kettenglied völlig zu zerstören. Als ob sie es hätte kommen sehen, duckte sie sich auf den Boden um gerade noch rechtzeitig dem nächsten Schwanzschlag auszuweichen, der wie ein Schwert die volle Länge der Mauer entlangschrammte und mächtige Furchen ins Gestein zog. Ihre Sicht war getrübt vom aufsteigenden Schutt und Rauch aber mit dem nächsten Schlag durchtrennte sie die Kette vollständig. Das unermessliche Gewicht des Leuchters riss das Metall entzwei, und mit einem bösartigen Rasseln ging der Kristallluster, der beinahe so breit war wie die halbe Halle hernieder und prallte mit einigen Tonnen Gewicht, genau mit den spitzen Zacken voraus, auf den Schädel des Drachen. Es ging alles sehr schnell; der Leuchter bohrte sich mit den Kristallen direkt durch den Panzer des Monsters, drang in umgeformtes Fleisch vor und drückte ihn durch das Gewicht und die Geschwindigkeit nach unten. Im Grunde hatte sie den Feind gerade mit unzähligen, todbringenden Speeren aufgespießt und buchstäblich am Boden festgenagelt. Er brüllte wie von Sinnen, war aber schon in der nächsten Sekunde totenstill. Der Schädel wollte sich noch heben; die Klauen kratzten über den steinernen Boden und hinterließen ackerfurchengroße Löcher in den verlegten Platten. Ein letztes Ächzen, dann kippte das Untier ein wenig zur Seite und rührte sich nicht mehr. Aus unzähligen kleinen und größeren Wunden floss das Blut und sammelte sich in roten Pfützen unter dem Konstrukt. Vor allem der Schädel war ein einziges Stück blutenden Fleisches und Panzerchitin.
Einige Sekunden vergingen ehe die Verteidiger überhaupt bemerkten was genau geschehen war, aber dann brach ein Jubelrufen und Geschrei aus, dem man die Erleichterung und Freude mehr als deutlich anmerkte. „Er ist tot, der Drache ist tot!“, schrie ein Soldat. „Der Kronleuchter hat ihn erschlagen!“ Rustovich, immer noch in seiner Zulo-Gestalt sagte nichts; stützte sich auf sein bulliges Schwert und schloss zunächst für einen Moment die Augen. Die Männer weinten Siegestränen des Glücks, umarmten sich gegenseitig und waren kaum zu bändigen. Sie hatten überlebt.
Jeremiah schüttelte nur den Kopf und hatte Emilian im Schoss liegen. „Hol mich doch der Teufel, sie hat’s tatsächlich geschafft…“, murmelte er und hatte Mühe überhaupt zu sprechen.
Völlig erschöpft atmete Alida, einem lange vergangenen Reflex folgend, tief ein. Sie sah die rote Fleisch- Blutmasse, die bis vor wenigen Augenblicken ein totbringendes Ungetüm in Drachengestalt gewesen war und die jubelnden Soldaten und spürte eine gewaltige Last von ihren Schultern fallen. Der Drache war anscheinend besiegt. Ohne einen weiteren Blick in diese Richtung zu wenden, hastete sie zu Jeremiah und ging neben dem Nosferatu in Rittergestalt und ihrem bewusstlosen Erzeuger in die Knie. Sie schluckte und schob Emilian vorsichtig das blutverklebte Haar aus der Stirn.
Ihr Erzeuger bewegte sich leicht als sie ihn schlussendlich erreichte und schlug unsagbar langsam die Augen auf, als er ihre Hand an seiner Stirn spürte. „Entweder ich bin endgültig tot oder wir haben gewonnen“, lachte er sie aus blutverklebtem Gesicht an und hustete sogleich.
Der Nosferatu an seiner Seite stützte ihn ein wenig und erwiderte das Lächeln mit einem breiten Grinsen. „Alle Rippen gebrochen aber die Vitae wird euch gleich wieder aufrichten, Herr Rustovich.“
Emilian hob die Hand an Alidas Wange und strich vorsichtig darüber. „Victorovich, zum Rustovich eigne ich mich nicht besonders; da gibt es andere.“ Sein Blick glitt zu dem toten Kadaver des Drachens, der von unzähligen Kristallgirlanden aufgespießt seinen unheiligen Lebensatem ausgehaucht hatte. Mehrere Soldaten piekten vorsichtig mit Speeren nach ihm; einige versuchten sich um die Verletzten zu kümmern, von denen es zahlreiche gab.
Überall hörte man jammern, stöhnen und schreien. Es war im Gegensatz zu dem bösartigen Donnergrollen und Brüllen von vorhin geradezu ‚ruhig‘, wenn man die Sterbenden ausblendete. Eine blutige, schmerzliche Ruhe, für die man einen hohen Preis gezahlt hatte.
„Wie…?“, fragte ihr Erzeuger Alida mit einem leichten Ächzen, als der Nosferatu den Unhold an Alida lehnte und sich erhob. Jeremiah wollte die beiden offenbar alleine lassen.
Alida nickte Jeremiah dankbar zu, dann schüttelte sie, an Emilian gewandt, leicht den Kopf. Am liebsten wäre sie dem Tsimiske um den Hals gefallen, aber sie hielt sich angesichts der Menschen, die jubelnd ihre Erleichterung kund taten, zurück. „Ist doch egal. Ich würd‘ sagen: Mit vereinten Kräften. Der Drache rührt sich nicht mehr. Das ist es, was zählt.“ Sie beugte sich zu ihm und küsste ihn mit den rissigen, blutleeren Lippen auf die Stirn.
Seine kalten Lippen berührten die ihren und küssten sie innig. In ihrer Umarmung konnte die Tzimisce förmlich spüren, wie die Vitae in seinem toten Körper arbeitete und sich langsam daran machte Rippe für Rippe, Knochen für Knochen wieder ineinander zu fügen und offene Wunden zu schließen. Als er seine eigenen Arme wieder bewegen konnte, ergriff er ihre Hände und erhob sich schwerfällig und etwas wackelig. „Der Kronleuchter… eine wirklich gute Idee“, stellte er dann überrascht fest. „Aber bei so einem Kampf, hat man meistens nicht viel Zeit sich einen fundierten Schlachtplan zu überlegen. Wir hatten Glück, das hätte auch anders ausgehen können.“
Einige Soldaten befreiten den Gang von den Verletzten und stapelten die Toten, sodass niemand den Durchgang blockieren würde, der ohnehin vom gigantischen Drachenkadaver halb versperrt wurde.
Alida ging zu einem der Toten, riss den Kadaver zu sich heran und saugte in tiefen Zügen das letzte Blut aus dessen Adern. Sie spürte die ängstlichen Blicke einiger Soldaten im Rücken und dachte sich, was für ein ungewöhnliches Gefühl es war offen als Kainit agieren zu können ohne sofort die Traditionen gebrochen zu haben. Es machte manches um so viel einfacher und sie verstand nur zu gut warum ihre Clansmitglieder im Osten auf dieses Privileg nicht verzichten wollten. Sie ließ ihren Körper zurück in ihre eigentliche Gestalt schrumpfen und fuhr sich mit einem Stück ihres Mantels über Gesicht und Arme um sich das restliche Blut notdürftig abzuwischen. Ihr Anblick hätte wohl fast jeden Brügger Bürger entweder in Angst und Panik schreiend in die Flucht getrieben oder dazu geführt, dass man erneut zeitnah die Inquisition eingeladen hätte.
Rustovich, mittlerweile wieder in seiner altbekannten Gestalt, stand bei Velya in der Nähe der Throne und gab Anweisungen an seine Soldaten, die sich zunächst schon einem Freudentaumel hingeben wollten, den der Voivode der Voivode mit einer raschen Handbewegung unterbunden hatte. Noch war Ceoris nicht völlig gesichert und Vladimir Rustovich somit nicht ganz zufrieden.
Emilian küsste Alidas Hand und lächelte, während sie sich den beiden langsam näherten. Er war immer noch etwas wackelig; allein schon die pure Gewalt mit der ihn der Schwanz des Ungetüms getroffen hatte, hatte seine Wirkung nicht verfehlt, selbst wenn der Körper des Unholds schneller heilte als ein Mensch es jemals vermochte. Zum Glück stützte sie ihn.
Die altbekannte Stimme in der schwarzen Rüstung, beinahe am Höhepunkt seiner Macht angelangt und den süßen Duft des Sieges schon riechend, bellte Befehle an die umliegenden Soldaten. „… und sag Andrej, dass er die Hälfte der Nachhut herbeordern soll. Wir brauchen Verbandsmaterial, Medizin und heilkundige Männer. Für die Toten, lasst einen großen Karren vorspannen, aber sammelt vorher die Rüstungen und Waffen ein.“ Der Drache der Drachen, gönnte den Männern offenbar keine Verschnaufpause. Sich selbst genauso wenig. Als er Alida aus den Augenwinkeln wahrnahm, drehte er sich in ihre Richtung und nickte anerkennend. „Das war gute Arbeit, Alida van de Burse. Gemeinsam konnten wir die Bestie vernichten, wo andere vielleicht keinen Ausweg mehr zu finden dachten. Ihr habt eine rasche Auffassungsgabe und kennt keine Furcht.“ Auf seine fahlen Lippen legte sich ein leichtes Schmunzeln. „Möglicherweise habe ich mich mehr in euch getäuscht als ich dachte. Ihr habt tatsächlich etwas von einem Drachen.“
Alida schüttelte leicht den Kopf. „Ihr irrt, wenn ihr das vermutet. Ich würde in solchen Momenten vor Angst am liebsten auf und davon rennen. Aber das ist keine Lösung. Auch wenn einem die Furcht Hand und Verstand lähmen will, muss man tun, was in einem solchen Moment getan werden muss. Ihr habt würdig und tapfer gekämpft, Voivode der Voivoden.“ Sie senkte den Blick udn strich sich das Haar nach hinten.
Rustovich lachte laut und klopfte Alida fast schon väterlich auf die Schulter. „Und ihr tut gut daran Furcht zu zeigen. Nur ein Narr hätte keine Angst, denn diese ist es, die wir schlussendlich überwinden müssen um daran zu wachsen. Ich spreche nur selten Komplimente aus, Alida van de Burse, also nehmt das meine an. Euer Einsatz kam genau richtig. Emilian hier hat den Drachen abgelenkt, ich habe ihn zurückgehalten und ihr habt ihm den Todesstoß versetzt. Ausgezeichnet!“ Der dunkelhaarige Mann wirkte tatsächlich zufrieden; hob aber eine Augenbraue, als er Emilians kritischen Blick bemerkte.
„Oh, ich weiß, was ihr mir sagen wollt, Ritter. Man hätte auch ohne den Drachen den Sieg davongetragen, dann wäre vielen unsagbares Leid oder der Tod erspart geblieben. Aber ich frage euch: Wie wären wir dann an den steinernen Wächtern vorbeigekommen? Wer hätte die Elementare abgehalten? Nein, ohne die Bestie hätten wir es niemals soweit geschafft. Die Belagerung hätte noch Monate angedauert; Zeit, die den Tremere zugutegekommen wäre.“
Ihr Erzeuger seufzte leicht und nickte resignierend. „Ich will nicht leugnen, dass die Wächter in der Festung eine schwierige Herausforderung gewesen wären, wenn wir keinen Dra….“
Rustovich unterbrach ihn. „Es wäre aussichtslos gewesen und die Verluste, die ich heute hier hinnehmen musste, sind verschmerzbar. In der Schlacht am Klausenberg haben wir dreimal so viele verloren. Das war eine Schlachtbank, verglichen hiermit.“
Offenbar musste es einige ganz besonders gefährliche Wächter am Haupttor gegeben haben und nur ungern, erinnerte sich Alida an die kleinen, lebendigen Flämmchen zurück, die sie um ein Haar gebraten hätten. Sollte es davon größere und mächtigere Exemplare geben, wäre ein Ungetüm wie der Drache tatsächlich eine angemessene Antwort. Aber Taktik hin oder her, heute und hier hatte man gewonnen…
Wenn sie da nicht, nachdem ihr Blick bei der Ansprache Rustovichs leicht über die Schulter gewandert wäre, um schnell nach Jeremiah Ausschau zu halten, eine Bewegung erkannt hatte, von der sie sogleich annehmen musste, sie habe sie sich eingebildet. Der Drache… bewegte sich kaum merklich. Das Ende des monströsen Schwanzes zuckte leicht.