Das seltsam elektrisierende Gefühl pulsierte in dem hohen Raum wie das stete Schlagen eines Herzens, schwoll an und ebbte ab. Leif konzentrierte seine übersinnlichen Fähigkeiten auf die seltsamen Wellen. Er sah sich im Raum um und erkannte ein Regal, dass durch die Maserung des Holzes und die Einlegearbeiten besonders hervorstach. Der verwischte Staub am Boden ließ ihn sofort schlussfolgern, dass dort vor einiger Zeit Schritte hingeführt hatten.
Leif trat näher. Es handelte sich um eine hohe, gläserne Vitrine, in deren Inneren zahlreiche fest versiegelte Dokumente lagen. Manche hatten multiple Versiegelungen, die die Schlussfolgerung erlaubten, dass sie durch mehrere Hände gehen würden, bis sie den eigentlichen Bestimmungsort erreichen würden.
Leif erkannte zunächst keine Öffnung.
Dann jedoch fiel ihm an einer der Seiten ein Siegel aus Eisen auf, das mit ausgesprochener Kunstfertigkeit hergestellt worden war. In dessen Mitte erkannte er Blut.
Er war töricht gewesen, dachte sich Leif im Stillen. Natürlich lagen die Dokumente nicht einfach offen zugänglich herum, sondern wurden wieder von einer Hexerei der Tremere beschützt. Er hatte über die Jahre eine ganze Menge über die okkulten Geheimnisse dieser Welt erlernt, aber er war weit davon entfernt die arkanen Geheimnisse von Magi oder Tremere wirklich zu verstehen. Trotzdem musste man wie bei jedem Schloss irgendwie Zugriff auf das erhalten können was man zu beschützen dachte. Es brachte alles nichts. Er musste etwas versuchen, denn er hatte nicht viel Zeit. Das Blut in der Mitte des Siegels war vielleicht ein Hinweis. Vielleicht musste man ein Opfer bringen. Das war die beste Spur die Leif hatte. Ohne zu zögern biss er sich mit seinen Fängen ins Handgelenk und ließ einige Tropfen seiner Vitae auf das Siegel tropfen.
Mit einem Klacken sprangen die Verstrebungen der Vitrine auf und gaben ihren Inhalt frei. Die Dokumente lagen frei zugänglich vor ihm.
Ein Stein der Erleichterung fiel dem Salubri von der Brust. Leif hatte nur diese eine Chance, weshalb er nicht lange zögerte und die Dokumente einsteckte um sie unter seine Kleidung zu schieben. Es war wie Glücksspiel, da er nicht wusste, ob er wirklich etwas erbeutet hatte, was von Nutzen war, aber es war die einzige Chance. Er schaute sich um und ergriff die Flasche mit dem magischem Pulver was er zuvor aus den Räumlichkeiten des Regenten mitgenommen hatte. Es war Zeit ein wenig für Ablenkung zu sorgen. Ohne groß zu überlegen begann er kleine Mengen der Substanz auf ein nahegelegenes Bücherregal zu werfen, in der Hoffnung das sich die Schriften, Papyri und Dokumente Feuer fangen möchten.
Er verteilte das Pulver, das sofort alles mit einem weißen Glanz überzog. Doch nichts geschah.
Leif hielt nach etwas Ausschau mit dem er das Pulver entzünden konnte. Er spähte nach Kerzen und konzentrierte sich in diesem Moment auf das schwache Glühen, das den Raum erhellte.
Auf einem Kamin aus seltsam weiß schwarzem Stein glühte eine runde Kugel von Innen heraus. Als Leif seine Hand näherte konnte er keine Wärme ausmachen.
Er war unter Zeitdruck. Wieviel von den drei Minuten war wohl noch übrig? Leif wusste es nicht und machte sich auf die verzweifelte Suche nach etwas womit er die Bibliothek würde anzünden können. Die kleine Kugel, die er schließlich fand, wirkte unscheinbar und doch fremdartig. Was hätte er in diesem Moment nicht für eine normale Kerze oder ein Stück glühende Holzkohle gegeben. Zu verlieren hatte er allerdings nichts, weshalb er die Kugel aus dem Kamin nahm und schließlich mit voller Wucht auf das mit Magnesium behandelte Bücherregal schleuderte. Vielleicht war das magische Feuer das offenbar in der Kugel brannte genug um ihm zu helfen, selbst wenn es nicht heiß war.
Es war zum Verzweifeln. Es geschah wieder nichts. Die Glaskugel zersprang nicht, sondern rollte wie die Murmel eines Kindes unter eines der Bücherregale.
Auch wenn ein kleiner Stich der Enttäuschung durch Leif zuckte, war er nicht sonderlich überrascht. Die Hexer waren subtiler mit ihren magischen Spielzeugen. Er fischte die Kugel unter dem Bücherregal hervor und drehte sie in der Hand. Blut hatte ihm schon zuvor geholfen, vielleicht war dies wieder der Preis den man zu bezahlen hatte. Ohne zu zögern legte er die Sphäre auf den Boden und tropfte Blut aus seinem Handgelenk über das Artefakt.
Wieder geschah nichts. Leif konnte sich denken, dass dies noch Magie der alten sterblichen Meister gewesen sein musste. Tremere verfügten soweit er wusste nicht über die Möglichkeit Gegenstände zum leuchten zu bringen. Aber wer kannte schon alle Geheimnisse der kainitischen Hexer?
Nirgendwo war ein brennender Gegenstand zu erkennen. Dennoch hatte Leif das Gefühl, dass es irgendwie die Möglichkeit geben musste, das Pulver zu entzünden. Er war sich fast sicher.
Plötzlich schoss ihm ein Gedanke durch den Kopf. Der Kamin… Der ganze Kamin bestand aus Feuerstein, den er nur zu gut aus seiner Heimat kannte.
Irgendwann hatte er doch noch einen Einfall. Vielleicht könnte er ja ein Feuer auf dem altbekannten Weg erzeugen. Der Kamin war seine letzte Chance.
Leif suchte aus dem nächsten Bücherregal ein Papyrus und begann die Feuersteine aufeinander zu schlagen. Ein paar Funken würden wahrscheinlich reichen um das trockene Schriftstück anzuzünden. Es dauerte nicht lange bis die Flamme groß genug war und kurz darauf warf er das Papier in Richtung des Magnesiums.
Das kleine Stück Papyrus verzehrte sich zunächst, dann wuchs die kleine Flamme zu einem leuchtend weißen, gleißenden Ball an. Das Licht war so hell, dass Leif für einen Moment die Augen schließen musste. Die Hitze, die plötzlich mit rasender Geschwindigkeit rund um ihn herum entstand war verzehrend.
Leif legte den Arm über Augen und Gesicht um sie vor dem Licht und der Hitze zu schützen und zog sich zurück. Er hatte die Ablenkung, die er wollte, aber noch war er nicht ganz fertig. Er hatte noch ein wenig des Pulvers übrig und begann es auf den weitere Bücher mit dem weißen Staub zu überziehen bis die Phiole alle war. Dann suchte er nach einem Versteck. Er würde wohl nicht mehr lange dauern, bis jemand die sich anbahnende Katastrophe bemerkte.
Leif hatte Angst. Große Angst. Sein Tier übernahm die Kontrolle ohne sich lange aufbäumen zu müssen, doch im Gegensatz zur Gewalt und dem Wahnsinn zu dem es sonst bereit war wollte es jetzt nur weg. Ohne Sinn und Verstand rannte Leif von dem Feuer weg in Richtung des Teils der Bibliothek die noch nicht in Flammen stand. Der Salubri hatte im Moment keine Kontrolle über das was mit ihm oder um ihn passierte.
Noch während er hinaus rannte, kam ihm der geduckt vor sich hin trippelnde Bibliothekar entgegen. „Herr Claude? Was ist geschehen?“ Er sah besorgt aus.
Alles war rot. Leif hielt weder an noch konnte er dem Bibliothekar antworten. Jetzt ging es nur um ihn, darum sein eigenes Unleben zu retten.
Hinter sich konnte Leif das Aufschreien des Mannes hören. „Oh, mein Gott. Was um alles in der Welt?“ Was der Alte im Anschluss tat, darüber konnte Leif nur mutmaßen, denn er war schon zu weit weg um noch ein Wort zu hören. Nur das lodernde Knacken und Zischen des Feuers hallte wie Donner in seinen Ohren.
Er durchquerte die Eingangshalle und ein einzelner rot gewandeter Schreiber sah ihm verdutzt hinterher als er hinaus hetzte. Allerdings wagte er nicht das Wort an den Gefolgsmann von Meister Leonhardt zu wenden. Er setzte seine Feder erneut auf dem Dokument ab, das er gerade verfasste und schrieb weiter.
Endlich erreichte Leif die rettende Dunkelheit der Nacht. Er war im Innenhof angelangt.
Es gab wenig, dass er im Moment tun konnte dem Feuer zu helfen oder die Schreiber daran zu hindern die Ausbreitung zu verhindern. Feuer war der Erzfeind seiner Art und es war besser eine Naturgewalt wie diese nicht herauszufordern. Er musste den Plan weiter verfolgen. Die Ablenkung war geschaffen und jetzt ging es darum Trajan zu befreien. Alles andere war sowieso nur ein Bonus gewesen.
Leif schlich langsam über den menschenleeren Hof. Das plötzlich einsetzende Gekrächzt der Krähen machte ihm bewusst, dass er zumindest von deren scharf blickenden Augen gesehen worden war. Einer der Vögel erhob sich von seinem Platz am Dachfirst und ließ sich im Sinkflug wenige Meter von Leif entfernt auf einer hölzernen Tonne nieder. Mit schiefem Kopf beäugte er die graue Kutte, in die Leif gehüllt war.
Leif ging einfach weiter. Er hatte keine Möglichkeiten oder Fähigkeiten sich das Tier gewogen zu machen. Seine einzige Chance blieb mit geradem Rücken in Richtung des Gefängnisses zu gehen. Vielleicht würde das Tier ja von seinem Verdacht ablassen...
Tatsächlich sah der Vogel Leif hinterher, hüpfte ein paar Schritt in seine Richtung, erhob sich um auf einer Mauer schräg vor Leif zu landen, verharrte dann jedoch und sah dem Vermummten nach ohne sich weiter zu rühren. Leif hatte den Turm erreicht.
Der Salubri wusste das er schon genügend Aufmerksamkeit auf sich gezogen hatte, also suchte er nach einem Fenster durch das er einsteigen könnte. Die Türen wurden sicherlich bewacht und vielleicht konnten seine Fertigkeiten als Dieb ihm hier ein wenig weiterhelfen würden.
Es gab nur in zwanzig Metern Höhe ein winziges Fenster. Also blieb nur eine Möglichkeit: Leif stieg eine steile Wendeltreppe mit hohen Stufen hinauf. Niemand stellte sich ihm in den Weg. Schließlich erblickte er vor sich eine schwere Eichentür. Dahinter waren Stimmen zu vernehmen, die ihm bekannt vorkamen. Der Klang war beherrscht und amüsiert.
„Trajan, mein Freund… Falls das überhaupt dein Name ist… Es wird Zeit, dass du dein Wissen mit uns teilst. Ich bin bereit jeden einzelnen in diesen Kerkern vor deinen Augen so lange zu foltern bis er zu Asche zerfällt, wenn du nicht kooperierst. Auch wenn es eien Schande wäre. Es soll Kainiten gegeben haben, die aus diesen Mauern wieder hinaus gekommen sind… Du könntest einer davon sein…“
Schwiegen folgte.
Der Ton des Mannes aus der Ostmark, verlor ein wenig an der gewohnten Beherrschung als Gerhard weiter sprach. Er klang drohend. „Ich verbringe jetzt schon so viele Tage mit dir, Trajan. Ich weiß alles über deine Jugend und Kindheit in diesem verfluchten kleinen Garnisionsstädtchen Xanten, aber alles danach… Bei Kain! Ich will wissen, wie du das machst… Wie schaffst du es, diese Dinge zu verbergen?“ Der Schlag einer Faust auf einen Tisch folgte. „Ich könnte mit deinem Freund beginnen… Wie heißt der Kerl? Arminius? Würde es dir gefallen seine Asche vor dir liegen zu sehen?“
Es machte Leif wütend diese Unterhaltung zu verfolgen. Wieder ein Tremere, der sich die Dreistigkeit herausnahm Leute zu bedrohen, zu verängstigen und zu foltern. Möge die ganze Brut der Hexer doch in der Hölle schmoren. Er griff an seine Seite, unter den schmutzigen Mantel und hielt die wohlvertraute Form seines Axtgriffs in der Hand. Meister Gerhard... verdammter Usurpator...es war genug. Er zog die Kapuze über den Kopf und ohne weitere Vorwarnung trat er ein: "Meister Gerhard, es gibt etwas das eurer Aufmerksamkeit bedarf." Er ging die wenigen Schritte in beinahe gebückter und respektabler Haltung vor. Dann schlug er ohne Vorwarnung auf den Mann ein.
Leif gelang es die Tür aufzureißen und unter seiner Kapuze einen Blick ins Innere zu erspähen. Auf einer Truhe zu seiner Rechten saß Leonhardt, die Füße lässig übereinandergelegt und entfernte mit einem Dolch Dreck unter den Fingernägeln. Er war voll in seine Beschäftigung vertieft und sah irritiert auf Leif, als dieser ohne abzuwarten eintrat. „Was? “ Ihm gegenüber hatte sich ein älterer Schreiber an einem Pult niedergelassen und mit der Dokumentattion begonnen, die er mit Tinte und Feder festhielt. Bei Leifs Eintreffen fuhr er ruckartig nach oben, so dass die Tinte überall hin schwappte und sein Gewand von oben bis unten bekleckerte.
In einer Art eisernem Käfig hatte man Trajan befestigt. Das Metall war so eng, dass es ihm Beine und Brustkorb einschnürte und eine Bewegung absolut undenkbar war. Direkt davor war die dünne Gestalt von Gerhard auszumachen, der sich abrupt umwandte und Leif mit seinen hellen Augen fixierte.
Er regierte um einiges rascher und machte einen Sprung nach hinten. Obwohl Leif nicht in der Lage gewesen war, den Schlag präzise zu platzieren, war das Geräusch seiner Axt, die in den Boden eindrang, erschütternd. Gerhard schenkte Leif ein erfreutes Lächeln. „Ein weiterer Besucher? Welche Freude. Jetzt muss man nicht mal mehr nach den Einhörnern Ausschau halten- sie kommen schon zu einem. Wenn es nur immer so einfach wäre…“ Er sah zu dem Jüngeren. „Leonhardt? Schreiber! Ich bin hier beschäftigt. Kümmert euch um unseren Neuzugang.“
Leonhardt war sofort dabei sein Schwert zu ziehen. Der Schreiber war noch immer etwas perplex, griff jedoch auch zu seiner Klinge.
Verfluchter Wahnsinn!! Seit wann hatte er Probleme jemanden mit seiner Axt zu treffen? Das alles war alles andere als ideal und wo zur Hölle war eigentlich Matthias? Zwei Gegner waren schwieriger als einer, aber Leif hatte sich schon größeren Gefahren entgegengestellt. Es war wichtig seine Unterzahl aufzuheben, weshalb er begann auf den Schreiber einzuschlagen. Leonhardt konnte warten...hoffentlich...
Gerhard wandte sich um. Ganz offensichtlich war er davon überzeugt, dass seine beiden Handlanger mit Leif mühelos fertig werden würden. Er konnte die eindringliche Stimme des Mannes aus den Salzburger Landen hören. „Und der da? Liegt dir an dem etwas? Ein Schüler von dir? Wir werden jeden einzelnen deiner Schüler erwischen, sofern noch einer der Strauchdiebe draußen rumschleicht. Bis eure ganze dämonische Brut ausgelöscht ist. Und es wird mir eine Freude sein auch das letzte bisschen Seele und Verstand aus seinen Adern zu saugen, glaub mir. Das, was ihr nicht mehr braucht wird uns stärken… Ihr seid verdammt und euer Untergang gewiss. Glaubst du wirklich, Trajan, dass du hier heute Nacht raus kommst? Nichts weiter als ein neuer hoffnungsloser Versuch!“ Er lachte gewinnend auf.
Die Stimme Trajans war ruhig und überlegt. „Gerhard von Salzburg. Ihr könnt mich nicht besiegen, ganz gleich, was ihr tut. Versucht mich zu vernichten, ihr werdet scheitern.“
Erneut folgte das Lachen Gerhards. „Ob das wohl auch Saulot kurz vor seiner Vernichtung zu Tremere gesagt hat?“
Dieses Mal war es an Trajan zu lächeln. „Vielleicht sollten wir Saulot fragen, wenn er Tremere besiegt und ihn endgültig unterworfen hat.“ Er fixierte den Hexer. „Vernichte mich, wenn du glaubst, du vermagst es, aber damit wirst du mich nur stärker machen.“
Eine plötzliche Erkenntnis machte sich auf den überraschten Zügen des Usurpatoren breit. „Das könnt ihr nicht! Das wagt ihr nicht“
Die Antwort folgte nach einigen schicksalsschweren Sekunden. „Doch, das tue ich.“
Derweil ging Leifs Axt auf den noch immer völlig überrumpelten Schreiber nieder, der vergeblich versuchte sich mit einem Sprung auf die Seite zu retten. Leifs Axt traf ihn am Arm. Der Angriff von Leonhardt, obwohl perfekt gezielt, prallte an seiner fast unverwundbaren Haut ab.