So 15. Mai 2016, 20:49
Jean schenkte ihm ein trauriges Lächeln. Lucien wusste genau, was das bedeutete: Auch wenn Jean wollte, würde es ihm wohl nicht gelingen zu fliehen. Es gab Bande, die stärker fesselten als Ketten. Die beiden Kämpfer entledigten sich ihrer Rüstung und standen nur mit Hose und Hemd bekleidet einander gegenüber. Mitru grinste erneut und entblößte seine Reißzähne.
Er stieß ein letztes Brüllen aus, dann stürzte er sich auf seinen Gegner. Lucien spürte die Wucht der Hiebe, die auf ihn niedergingen. Mit Mühe hielt er sich aufrecht und suchte all seine Kräfte in sich um den Schaden, den sie unweigerlich auf jeder sterblichen Haut hinterlassen mussten zu überwinden.
Er sah das Erstaunen in Mitrus Augen, dass er nicht mehr Wunden erhielt. Und noch mehr erstaunte die heftige Gegenwehr, die Lucien ihm entgegensetzte. So wie er einsteckte, konnte er auch austeilen. Mit rasender geschwindigkeit bewegten sich die geübten Kämpfer und standen sich in nichts nach. Beide hatten in den Zeiten ihrer Existenz gejagt, verwundet, selbst Verletzungen heilen müssen, waren besiegt worden um daraus zu lernen und besser zu werden.
Lucien spürte den einen Vorteil, den er besaß mit jedem Schlag, den er dem Hünen versetzte: Gerrits Blut schwang in jeder Faser seines Körpers, konzentrierte seine Kräfte und versetzten seinen Hieben eine unvorstellbare Gewalt.
Am Rand seines Sichtfeldes konnte Lucien Gestalten ausmachen, die sich aus dem schattigen Dickicht des Waldes schälten und langsam näherten. Sie ließen sich auf Steinen und niedrig hängenden Ästen nieder und beobachteten das Schauspiel.
Während Lucien mit Mitru rang gelang es ihm schließlich einen Mann und eine Frau näher zu erkennen.
Der dritte Beobachter war Vanya, die an Jeans Seite getreten war, sich näher an ihn heran beugte und ihm etwas zuflüsterte. Sie fuhr ihm mit den Fingerspitzen über den Nacken und Lucien erkannte, wie sein Schüler erstarrte und die Augen schloss um sich zusammen zu reißen.
Mitrus Schläge nahmen an Härte zu und beide verloren sie langsam an Kraft. Lucien sah, dass sein Großerzeuger mehrmals große Kraftanstrengungen unternahm um seine Wunden zu schließen. Dann geriet sein Gegner plötzlich zu Boden und Luciens Chance war gekommen. Mit allem, was ihm an Stärke zur Verfügung stand schlug er zu, doch erneut gelang es Mitru sich aufzurappeln. Der Hüne warf sich ihm entgegen und schleuderte ihn in den Morast. Beide rangen sie weiter miteinander, doch Mitru musste schon nach wenigen Augenblicken einsehen, dass das Manöver, das in der Regel jeden Gegner aus dem Gleichgewicht brachte und ihm unterlegen machte, bei diesem Kontrahenten das Gegenteil bewirkte, denn Luciens Kräfte überstiegen die eines gewöhnlichen Gangrel bei weitem.
Mühsam gelang es beiden wieder auf die Beine zu kommen, denn jeder nutzte jede Chanca, die ihm blieb zum Angriff. Der Kampf schien Stunden zu dauern und nicht enden zu wollen.
Lucien hörte, wie die rothaarige Frau am Rand der Lichtung rief. „Mitru, verdammt, jetzt mach ihn schon fertig!“ Der braunhaarige Mann lachte siegessicher und brüllte hinterher. „Los! Mach schon! Ich will noch mal jagen gehen bevor‘s hell wird.“ Luciens Wut wurde angestachelt. Schlag um Schlag tauschten beiden aus und langsam spürte der Hauptmann, dass Mitrus Kräfte nachließen. Der Bär ermüdete. Mit allem, was ihm an Stärke geblieben war hieb Lucien zu.
Mitru taumelte mehrere Schritte nach hinten und hob schützend und einhaltgebietend die Hand. Seien Stimme war leise durch die Erschöpfung doch immer noch laut und auf der ganzen Lichtung vernehmbar. “Es ist genug, Wolf. Du hast deinen Anspruch durchgesetzt!“
Der Hüne vollführte eine ungelenke Bewegung in der man wohl so etwas wie eine Verbeugung vermuten mochte. Dann richtete er sich wieder zu seiner vollen Größe auf. Ein Grinsen erschien auf seinen Zügen und seine Stimme senkte sich zu einer vertraulicheren Lautstärke. „Respekt… Wie nennt man dich noch mal? Kettenhund trifft es nicht. Da habe ich mich unweigerlich getäuscht.“ Wieder folgte so etwas wie ein grummeliges Lachen. „Schattenwolf? Nicht wahr?“
Es war ein harter und schier ewig andauernder Kampf gewesen aber Lucien hatte schlussendlich triumphiert. Ob es wirklich Können, reines Glück oder eine Kombination beider Faktoren gewesen war, die ihn schlussendlich den Sieg davon trugen ließen, konnte er beim besten Willen nicht sagen. Aber was sollte ihn das in diesem Moment auch kümmern? Er hatte gesiegt und Mitru den Jäger, seinen Großerzeuger besiegt; sich gegen alle Hindernisse durchgesetzt und ihm schlussendlich sogar Respekt abgerungen. Das war eines der natürlichsten Dinge unter den Wilden: Respekt und Anerkennung, Lob und die seltene Bewunderung seines Clans, musste man sich erarbeiten und verdienen. Er grinste schief und erinnerte sich noch gut an jenen Abend, an dem Gerrit und er sich mit dem jeweiligen Blut des anderen zugeprostet hatten und angewidert das Gesicht verziehend getrunken hatten. Ja die Stärke des Alten war schon wirklich gewaltig und er schickte ein paar gemurmelte Dankesbekundungen in die Kanalisation unter Brügge. Danach kam er auf Mitru zu und richtete sich ebenfalls etwas mühselig auf; verbeugte sich ebenfalls vor ihm und streckte ihm die Hand entgegen. „Du bist ein Ehrenmann, Mitru, der Jäger, und hast gut gekämpft. Den Führungsanspruch über deine Leute kann dir so schnell niemand streitig machen und dennoch…“ Er sah in Richtung Jean. „… dennoch muss ich meinen Preis fordern und Jean mit zu mir nehmen. Vielleicht wird er sich eines Tages tatsächlich für diesen Weg entscheiden aber wenn, dann ist es alleine seine Entscheidung.“ Er schüttelte ihm die Hand, sah ihm dabei tief in die Augen und ging dann wieder in Richtung Jean, wo er sein Rüstzeug und seine Waffen wieder an sich nahm. „Gehen wir nach Hause, Junge…“, sagte er mit einem müden Lächeln und klopfte Jean auf die Schulter. „Genug Keilerei für eine Nacht. Tut gut dich wieder zu sehen, wirklich.“
Jean sah erleichtert aus und fast ebenso erschöpft als hätte er selbst an dem Kampf teilgenommen. Man sah ihm an wie sehr er um Lucien gebangt hatte. „Ich wusste, dass du es schaffen würdest“, kam die leise, kaum hörbare Erwiderung.“
Lucien konnte erkennen, dass bei Mitrus Worten auch die anderen Kainiten der Gruppe anerkennend das Haupt gesenkt hatten. Ihr Anführer war besiegt worden und das allein war wohl keinem der Anwesenden je gelungen. Auch Vanya schenkte ihm ein wissendes Lächeln, das verriet auf wen sie gesetzt hätte.
Jean fügte erklärend hinzu „Gunnhild“ und deutete auf die Rothaarige, „Armin“. Sein Blick wanderte zu dem Braunhaarigen. „Vanya kennst du bereits. Der Rothaarige ist Wulfar, Kind von Mitru.“ Er sah sich kurz auf der Lichtung um und sein Blick verdüsterte sich. „Es gibt eigentlich noch Öystein, aber keine Ahnung wo der sich rumtreibt.“
„Wusstest du das?“ Der Gangrel lächelte ihn weiterhin schief und etwas gespielt ungläubig an. „Ich war mir da nicht so sicher.“ Sein Blick glitt über die versammelte Gruppe aus Kainiten; fing das wissenden Grinsen seiner Erzeugerin auf und erwiderte es zaghaft. „Nun, wenigstens scheinst du nicht der einzige gewesen zu sein. Du hast die Waffen weise gewählt Jean, unter anderen Umständen wäre dieser Kampf sicher gänzlich anders ausgegangen. Du hast sicher auch deinen Teil dazu beigetragen.“ Ein erneutes Nicken seines Kopfes, bekräftige diese Aussage und tatsächlich entsprach sie der Wahrheit. Hätte man mit dem Schwert oder den Klauen gekämpft oder andere Disziplinen eingesetzt; er hätte gar nicht wissen wollen, was er alles zu sehen und spüren bekommen hätte. Nacheinander nickte er nachdenklich, als er die Namen vernahm und sah beim letzten wiederum fast etwas höhnisch zu Jean. „Öystein? Öystein ist tot, er zog es vor eine Wölfin zu quälen, die vor kurzem erst ihren ersten Wurf hinter sich gebracht hatte. Die Welpen hätte er auch noch mehr zum Vergnügen als wegen des Hungers geschlachtet. Und schlussendlich…“ Mit einer kräftigen Handbewegung streifte er sich einen schweren Lederhandschuh über. „.. habe ich ihn dann geschlachtet.“ Er räusperte sich und ging in Richtung der Gruppe aus Gangrel. „Warte noch kurz auf mich Jean“, warf er ihm über die Schulter hinweg zu.
Vor der Gruppe angekommen, nickte er allen einschließlich Vanya respektvoll zu und verbeugte sich ein kleines Stück. „Brüder und Schwestern, ihr habt allesamt hart gekämpft und unserem Clan Ehre erwiesen, euer Anführer ist ein wilder Kämpfer, dem es nicht an Erfahrung und Können mangelt. Heute Nacht habe ich ihn gefordert und gewonnen, doch ging es mir nicht darum andere Ansprüche geltend zu machen, als die über diesen Sterblichen dort. Der Kampf war hart aber fair; ein ehrenvolles Duell unter Kriegern. Mein Weg wird mich jetzt wieder in meine Domäne führen aber ich möchte euch allen freies Geleit durch den Brügger Wald erlauben, sofern ihr diesen passieren wollt oder müsst. Ihr seid willkommene Gäste innerhalb, als auch außerhalb der Stadtmauern, solange ihr meinen Anspruch auf meine Gebiete achtet. Was Öystein betrifft… er ist tot. Er quälte eine Wölfin und wollte ihre Jungen verschlingen, das war unnötig. Aber ich bin sicher, dass ihr auch gut ohne ihn auskommen werdet. Euch allen noch viele erfolgreiche Jagden und Nächte. Kommt gut über den Winter. Ennoia mit uns allen.“ Damit verbeugte er sich noch einmal und ging dann zu Jean; zog diesen mit sich. „Gehen wir. Das wird noch ein langer Marsch und ich muss unterwegs noch jemanden abholen, der allein keine Chance zum Überleben hat.“ Er grinste. „Genau wie du damals aber auch wie du, wird er eines Tages mehr als dazu in der Lage sein für sich selbst und dann auch für andere zu sorgen und zu kämpfen.“
Mitru kam ein letztes Mal auf ihn zu, legte ihm seine Hand, die eher einer Pranke glich, auf die Schulter. „Ich hoffe, unsere Wege werden sich irgendwann ein weiteres Mal kreuzen, Kindeskind. Die Weiten meines Domäne werden dir offen stehen solltest du sie je durchwandern wollen.“ Ein grimmiger Zug legte sich auf seinen Mund. „Zunächst jedoch muss ich dafür sorgen, dass die Hexer, die sich in Teilen meiner Domäne eingenistet haben, brav wieder verschwinden… Damit werde ich wohl einige Zeit zu tun haben.“ Er ging auch zu Jean und nickte ihm wohlwollend zu. „Du wärest einer der würdigsten Anwärter für den Kuss gewesen, die ich je gehabt habe und nie habe ich jemanden erlebt, der mir im Traum als auch in der Wirklichkeit so viel Widerstand entgegen gesetzt hat.“ Er schmunzelte. „Jetzt weiß ich zumindest, wer dich das gelehrt hat.“
Er trat noch ein Mal zu Lucien und deutete auf Jean. „Der Junge ist eine Bereicherung und ein Geschenk. Es wäre eine Schande, wenn er nicht eines Tages den Kuss erhalten würde. Aber das…“ Er nickte Lucien zu „… ist jetzt deine Aufgabe. Ennoia mit uns allen.“