Sa 16. Jan 2016, 10:39
Mitte April 1223Die Sonne war vor etwa einer dreiviertel Stunde hinter dem Horizont versunken. Die Leute gingen in den Straßen der Stadt noch immer ihrem Tagwerk nach, die ersten machten sich langsam auf den Weg nach Hause. Alle atmeten tief ein, spürten zum ersten Mal in diesem Jahr die warme Luft, die die Winterkälte vertrieb und selbst in der Nacht nicht verschwand. Die Bauern hatten ihre Wintermäntel abgelegt, die Adeligen die Pelze, die Bürger ihre tief ins Gesicht gezogenen Mützen. Kinder liefen johlend einem Ball hinterher. Man konnte sogar den Gesang von einigen Vögeln zur Abendstunde vernehmen, der seit scheinbaren Ewigkeiten nicht mehr zu hören gewesen war. Das Kommen und Gehen der Jahreszeiten, war schon immer ein Schauspiel gewesen, dem Leif eine ganze Menge abgewinnen konnte. Frühling war insbesondere interessant zu beobachten und es war interessant zu beobachten, wie die Stimmung der Menschen ebenso erwachte wie, wie die im Schlaf liegende Natur. Der Salubri ließ sich treiben und beobachtete was sich um ihn herum abspielte. Er hatte im Moment eine ganze Menge Zeit, insbesondere weil er im Moment keiner feste Arbeit nachging. Aber das war auch gut so, denn es war Zeit sich wieder ein wenig mehr auf sich selber zu besinnen und die turbulenten Zeiten hinter sich zu lassen. Schließlich atmete der Nordmann die Frühlingsluft einmal tief ein und ging in Richtung des Marktplatzes mit dem Belfried, der zu jeder Tages- und Nachtzeit einen schönen Anblick bot. Nicht, dass er wüsste wie der Turm im Sonnenschein aussah, dachte Leif schmunzelnd. Einige Marktstände an denen Bauern gerade ihre Ware verkauft hatten wurden langsam zusammen geklappt und die Tische und Bänke auf Wagen geladen. Für die Bewohner des Umlands bedeutete der Abend noch eine kürzere oder weitere Heimreise. Einige Bürger waren glücklich über die erfolgreich erledigten Einkäufe. Einige Frauen waren um einen Blumenstand versammelt und bewunderten die neuen Pflanzen, die seit einigen Jahren im Zentrum von Brügge auf dem ehemaligen Schlachtfeld des Krieges wuchsen und zum ersten Mal in diesem Jahr ihre Blüten zeigten.
In der Nähe des Belfrieds erkannte Leif Jan van Hauten und den jungen van de Burse, die gerade das Gebäude verlassen hatten und über irgendetwas debattierten. Hinter einem der Stände bewegte sich kaum merklich eine Gestalt und kam nach einem kurzen Zögern auf ihn zu. Alidas ehemaliger Ghul Georg. Leif beobachtete seine Umgebung zwar genau, aber aber dabei beließ er es auch für das Erste. Die Blumen waren schön, allerdings hatte Leif an Pflanzen ehr ein Interesse wenn sie einen Nutzen hatten, sei er heilkräftiger oder ernährender Natur. Er kannte die Gewächse von seinen Reisen durch den nahen Osten und war überrascht, dass sie überhaupt in diesem Klima gediehen. Als er die anderen Kainiten sah, die gerade aus dem Belfried kamen zog sich Leif ein wenig mehr in die Schatten zurück. Jan van Hauten und Frederik. Der Salubri überlegte. Sie waren die nächste Generation von Brügge, beide mit bereits mit Ämtern und Würden versehen, hatten ihre eigenen Rechte und Pflichten in dieser Stadt und doch waren sie noch so jung. Er schüttelte kurz den Kopf. ‘Jugend’ war wohl ehr eine Frage der Perspektive. Dann war da noch Georg, Alidas Kind. Leif erinnerte sich noch an sein letztes Zusammentreffen mit dem Mann, damals als Andrei in Brügge gerichtet wurde. Der jugendlich aussehende Mann kam auf ihn zu und blieb in Armeslänge stehen. Sein Mund war zu einem skeptischen Strich verzogen und der Blick drückte Skepsis, wenn nicht Besorgnis aus. „Leif?“ Er ließ seinen Blick über das Treiben auf dem Marktplatz streifen fixierte dann den Nordmann. „Ich hoffe, du verzeihst, aber ich schenk mir hier in der Öffentlichkeit das mit dem Verbeugen. Würden die Leute wohl etwas befremdlich finden…“ Keiner beachtete den braunhaarigen Mann näher und das schien ihn ein wenig zu beruhigen. “Georg.” Leif nickte nur kurz mit dem Kopf. “Verbeugungen bedeuten mir nichts und ich vermute Alida ebensowenig, weswegen ich von ihrem Kind eine ähnliche Einstellung erwarten. Ich schlage vor, jetzt und für die Zukunft sparen wir uns diese Höflichkeiten einfach.” Leif schaute Georg kurz interessiert an. “Kann ich dir irgendwie helfen?” Georg nickte. Er sah so aus als hätte er nichts anderes von seinem Gegenüber erwartet. „Alida hat mich gebeten nach dir zu suchen.“ Man konnte Georg ansehen, dass es irgendetwas an der Geschichte gab, dass ihm ganz und gar nicht zu gefallen schien. „Hast du einen Moment um dich mit ihr zu treffen?“ Leif hatte den wagen Eindruck, dass der ehemalige Ghul es begrüßen würde, wenn Leif einfach kurz verneinen würde.
“Alida?” Erst hatten sie jahrelang nichts mehr miteinander zu tun und jetzt in letzter Zeit so viel. “Es wäre wohl kaum höflich eine solche Bitte abzuschlagen, weswegen ich es auch nicht tun werde.” Er schaute sich Georg inzwischen ein wenig interessierter an. “Du musst mich aber nicht eskortieren. Ich bin sicher du hast etwas Besseres zu tun, als mich durch die Stadt zu führen.” Es war offensichtlich, dass Leif Georgs Unmut bemerkt hatte und vermutete das es mit dem Botengang zu tun hatte. Georg seufzte, ließ ein nachdenkliches Nicken folgen. „Ich dachte mir, dass ihr ja sagen werdet. Nun denn.“ Er machte auf dem Absatz kehrt und schritt fast etwas zu hastig über den weiten Marktplatz vorbei am Belfried. „Ich weiß, dass Ihr keine Eskorte braucht, aber vielleicht ‚nen Stadtführer… Die van de Burse haben überall in der Stadt ‚nen Schuppen, ‚en Lager oder ‚n Geschäftsgebäude. Da kann man als nicht Eingeweihter gern mal ‚n wenig durcheinander kommen.“ Sie ließen das Zentrum der Stadt schnell hinter sich, durchquerten die wohlhabenden Viertel der Stadt, dann diejenigen der Handwerker. Man roch das Feuer von Schmieden, die Chemikalien der Färber und Tuchwalker, frisch gebackenes Brot. In der Nähe des Hafenviertels blieb der Tsimisce kurz stehen, beobachtete seine Umgebung und hielt schließlich auf ein mehrgeschossiges altes Fachwerkhaus zu. Die Fensterläden waren geschlossen und soweit man erkennen konnte brannte in keinem der Fenster ein Licht. Georg zog einen Schlüssel aus der Tasche und schloss die hölzerne Eichentür auf. „Das alte Handelskontor der Familie. Hier werden täglich die Geschäfte getätigt. Das gute Haus is’ wohl an die 150 bis 200 Jahre alt… und steht immer noch.“ Er hielt Leif die Tür auf, ließ den Heiler eintreten, folgte und entzündete in dem dunklen Raum fast blind eine Kerze, die er sogleich hinter einen Glasschirm stellte.
Leif sagte nichts und gab Georg nur zu verstehen, dass er ihm folgen würde. Schließlich als sie das Haus erreichten antwortete er kurz. “Du würdest dich wundern was nach 150 bis 200 Jahren sonst noch so stehen kann.” Schließlich trat er mit dem Tzimisce in das Fachwerkhaus ein. Tzimisce...warum waren es eigentlich immer Tzimisce dachte er sich noch im Stillen. Der ehemalige Ghul stieg im spärlichen Licht der Flamme eine Holztreppe hinauf, wandte sich an deren Ende nach links und öffnete die zweite Tür auf der rechten Seite. Er tat dies mit so routinierten Bewegungen wie sie Blinde in ihren eigenen vier Wänden aufwiesen. Keine Frage: Hier kannte sich der braunhaarige Mann aus. Wieder hielt er Leif die Tür auf. „Nur herein spaziert in die gute Stube.“ In seinem Tonfall lag ein Hauch von Sarkasmus. Leifs Augen gewöhnten sich in einer einzigen Sekunde an die dämmrige Umgebung. Große Bücherregale waren an den Wänden angebracht und beinhalteten gigantische Wälzer mit Verträgen, Lieferbeständen, Notizen, Kosten, Nutzen… eine eigene Sprache, die die Familie van de Burse für gewöhnlich fast fließend beherrschte. Georg schritt an ihm vorbei und platzierte die Kerze auf einem breiten Schreibtisch, der wohl tagsüber für Verhandlungen genutzt wurde. An einem gegenüberliegenden Fenster verharrte Alida und sah in die Nacht hinaus. Als die beiden Männer sich umwandten versuchte die ein freundliches Lächeln, aber es schien ihr nicht so ganz zu gelingen. Sie nickte Georg dankbar zu, der mit skeptischem Gesichtsausdruck nach einem der dick gepolsterten Stühle griff, diesen zur Seite zog und dann ohne zögern darin Platz nahm. Die blonde Frau trat auf Leif zu. „Danke, dass du Zeit hast und Georg hierher gefolgt bist.“ Sie kaute auf ihrer Unterlippe, wie immer ein Zeichen dafür dass sie nachdachte.
Er folgte Georg über die knarrenden Treppen und hielt sich vorsichtig an seinen Führer, der sich in den Räumlichkeiten so gut auskannte. Schließlich erreichten sie den Raum und Leif war sofort ein wenig besorgt, oder zumindest vorsichtig. Wenn Alida ihn sprechen wollte, ging es normalerweise um etwas wichtiges. Beide waren nicht gut im gegenseitigen Smalltalk. “Alida.” Leif nickte ihr kurz zu. “Was gibt es?” Alidas und Georgs Nervosität schien ihn inzwischen ein wenig anzustecken und er war nicht mehr ganz so ruhig wie zu Beginn des Abends. „Du fragst dich sicher, was diese Nacht- und Nebelaktion soll, oder? Nun… Es geht um diesen Tsimisce, der vor einigen Jahren die Stadt heim gesucht hat.“ Sie deutete auf den braunhaarigen Mann. „Georg hat mir damals berichtet, dass dieser Andre 20 Wachmänner abgeschlachtet hat, dazu viele andere Bewohner Brügges, Frauen Kinder, Verbündete von ihm, die Stadt ausgeraubt haben. Er ist nachdem er für 50 Jahre aus der Stadt verbannt wurde weiter gereist, hat Paris, Frankreich, Spanien besucht…Sie verschränkte die Hände vor der Brust. „Er ist wieder hier. Ungefähr 30 Meilen von hier um nicht unsere Grenzen überschreiten zu müssen.“ Es war an der Reaktion des Nordmannes offensichtlich, dass ihn diese Nachricht überraschte. Er setzte sich ebenso wie zuvor Georg auf einen der gepolzerten Stühle und atmete einmal unnötigerweise aus. “Andrei?” Leif schüttelte kurz den Kopf. “Was ist es eigentlich was die Mitglieder deines Clans so sehr an dieser Stadt interessiert? Sie scheinen fast besessen von diesem Flecken Erde zu sein.” Leif sprach offensichtlich seine Gedanken laut aus. “Was will er denn? Hat er dich etwa kontaktiert? Ihr hattet ja damals nicht das Vergnügen.”
„Der gute Andre war damals anscheinend recht enttäuscht darüber mich nicht angetroffen zu haben. Und diesen Umstand möchte er gerne korrigieren. Er hat mich zu sich eingeladen, mich um ein Treffen gebeten.“ Leif schwieg für eine ganze Weile und schaute Alida nur zweifelnd an. "Und? Gehst du? Und wenn du gehst, was versprichst du dir denn davon?" Sie ließ sich ebenfalls in einen freien Stuhl sinken. „Ich bin alles andere als erbaut darüber. Ich will mich nicht mit diesem Unhold treffen, aber… nun ja… wie drück ich das am Besten aus? Ich habe nicht unbedingt einen guten Stand im Osten und ich vermute es wäre für Brügge und alle Bewohner besser wenn ich versuchen würde Frieden mit den Tsimisce im Osten zu schließen. Andrei verfügt über viele Kontakte, Verbündete…“ Leif konnte ein wenig begeistertes Schnauben aus der Richtung von Georg vernehmen. Offensichtlich war er ganz anderer Meinung. Alida fuhr fort. „Er hat mich eingeladen, sichert freies Geleit zu. Für mich und eines meiner Familienmitglieder. Das einzige kainitische Familienmitglied, das ich habe ist Frederik.“ Sie schluckte. „Frederik ist ein fähiger Toreador, aber er ist kein Kämpfer und wäre schneller Asche als ich zuschauen könnte.“ Wieder schwieg sie. „Ich wollte fragen ob du mit mir gehen würdest.“ "Deine Intention ist nobel Alida, aber Tzimisce aus dem Osten spielen immer nach ihren Regeln, insbesondere solche wie er. Das hat er beim letzten Mal klar gemacht als er hier war. Sie werden sich nehmen was sie wollen, Frieden oder nicht." Leif schien nachzudenken und schüttelte nur mit dem Kopf. Auch er schien eine ganz eigene Meinung bezüglich dieses Themas zu haben. "Ich glaube deine Reise ist vergebens, aber wenn du denkst das es hilfreich ist habe ich keine Einwände dagegen...Was deine Begleitung angeht - ich bin keines deiner Familienmitglieder Alida. Ich hätte kein Problem damit mit dir zu gehen, aber wenn man die Bedingungen des Tzimisce genau auslegt..." Er ließ den Rest des Satzes ungesagt und hob nur kurz die Schultern. Alida sah zögernd in Richtung Georg, der die Fäuste geballt hatte, dann wieder zu Leif. „Ich bin in der Lage dich wie Frederik aussehen zu lassen. Und von allen Kainiten hier in dieser Stadt bist du derjenige, der nach einigen Nächten wieder ganz der alte sein ist. Du bist der Einzige hier, der vom Blut her stärker ist als die fleischformerischen Kräfte, die ich wirken kann.“
Leif sagte lange Zeit nichts und schüttelte schließlich nur mit dem Kopf. "Es tut mir Leid Alida. Aber unter diesen Umständen muss ich leider Ablehnen. Ich lasse niemanden mit dieser Disziplin an mir herumspielen. Das hat nichts mit dir zu tun, aber auch wenn ich in ein paar Tagen wieder aussehe wie vorher ist das keine Option für mich." „Es gibt Schlimmeres als das… Aber ich verstehe was du denkst… ich habe mich auch lange gegen diese Disziplin gewehrt.“ Georg beugte sich nach vorne. „Und das war auch gut so. Diese Disziplin bringt nichts und auch wirklich gar nichts Gutes mit sich. Wenn du schon der Meinung bist, dass du gehen solltest, dann nimm’ Frederik oder mich mit. Dann brauchst du auch gar nicht erst an solche Perversionen zu denken. Alida, Netter Nachmittag mit Kuchen und Tee? Das ist Irrsinn. Einem Unhold wie Andrei kann man nicht trauen.“ Alida schüttelte vehement den Kopf. „Nein, die Disziplin ist nicht nur schlecht. Sie eröffnet einem viele Möglichkeiten… Das solltest du mittlerweile auch einsehen, Georg.“ Sie funkelte ihn an, doch er blickte nur wütend zurück und schließlich wandte sich Alida wieder Leif zu. „Ich kenne jemanden, der mir geraten hat zu diesem Treffen zu gehen. Diese Person weiß genug über Andrei um zu der Erkenntnis gelangt zu sein, dass er in seinem seltsamen Rahmen ein Ehrenmann ist… Und Tsimisce ist die Gastfreundschaft heilig.