Mo 20. Apr 2015, 17:41
Lucien kommentierte die Sache mit den anderen Leuten im Turm gar nicht weiter sondern nickte nur nachdenklich. Vermutlich war sie einfach nicht die einzige, die sich an den Überresten bedienen wollte. Dragas Turm war bei Tageslicht geschliffen und zerstört worden und es waren Menschen gewesen, die ihrer Wut und ihrem euphorischem Sieg über Ostbrügge damit Ausdruck verleihen wollten. Was Menschen gebrauchen könnten, das wurde entwendet, an kainitische Artefakte oder Schriften hatte natürlich keiner gedacht. Nicht das er erwartet hätte, Draga hätte diese einfach offen herumliegen gelassen. Als sie ihm die Phiolen zeigte, erstarrte der Gangrel und fixierte die kleinen Glaskolben mit abgestoßenem Blick, ließ sich sein eigenes Blut überreichen. "Die anderen Phiolen hätte ich ebenfalls gerne", erwiderte er mit festem Blick. "All dieses Blut gehört weder dir noch mir aber ich möchte es auch in niemand anderes Händen wissen. Jeden einzelnen dieser Kainiten kenne ich persönlich und ich werde dafür Sorge tragen, dass niemand sich ein weiteres Mal an ihrem Blut vergreifen kann." Die Bücher waren ein weiteres Kapitel über das er nachgedacht hatte. Vielleicht mochte sie nur eine bibliophile Sammlerin sein, vielleicht aber auch eine Spionin. Wer immer sie auch sein mochte, die Bücher waren allesamt so wie sie waren, besser in den Katakomben von Brügge aufgehoben als bei ihr. "Ich urteile für gewöhnlich recht schnell und bin bald mit einer Meinung zur Hand aber die Geschichte hat mich gelehrt dass man bei der Beurteilung von Kainiten nicht zu voreilig sein sollte. Das gilt auch für die Kinder des Mondes. Ob ihr dem Ruf der eurem Clan anhängt gerecht werdet oder nicht wird sich wohl erst zeigen." Er lehnte sich weiter zurück und betrachtete das Mädchen eingehend. Sie sah weder aus, als könne sie es mit ihm aufnehmen, noch so als würde sie für den Feind arbeiten aber was immer ihre Gründe sein mochten. Die Bücher konnten nicht dort bleiben wo sie waren. "Die Bücher sind also so gut wie unauffindbar sagst du? Dir ist klar dass ich dir diese Schwarten nicht einfach so überlassen kann oder? Erstens befinden sie sich in meiner Domäne und zweitens sind die Dinger viel zu gefährlich als dass ich dich damit herumlaufen lassen könnte. Das sind Tremere Manuskripte, also äußerst heiße Ware wenn man so will."
Sie lehnte sich in dem Stuhl zurück aber an ihrer Körperspannung erkannte er die Vorsicht und Wachsamkeit, die sich in ihr bereit machte, als Lucien ihr mitteilte, dass er nicht beabsichtigte sie mit ihren Schätzen wieder ziehen zu lassen.
„Nichts für ungut, Wolf. Aber ich kenne dich nicht und du meine Wenigkeit auch nicht. Warum sollte ich dir Dinge überlassen von denen ich nicht weiß ob du sie für deine Zwecke missbrauchst? Mit solchen Gegenständen spielt man nicht! Ich überlasse dir das Blut von dem ich annehme, dass es das deinige ist, aber sicher nicht das von anderen Kainiten auf dass du es möglicherweise meistbietend an den nächsten Tremere verscherbelst. Nichts für ungut…“ Sie ließ ihre Hand auf ihrer Tasche ruhen. „Und bezüglich der Bücher gilt das gleiche.“ Wieder legte sich für einen kurzen Augenblick ein abschweifender Gesichtsausdruck auf ihre Züge und in ihrer Stimme lag ein Vorwurf „Ich hab die Bücher ja noch nicht einmal gelesen!“
Er tippte ungeduldig mit den Finger auf der eigens angefertigten Tischplatte und hob eine Augenbraue. Allerhand, das Mädchen war vorsichtig und weniger verrückt als man annehmen musste. Und sie hatte scheinbar auch nicht viel für Tremere übrig. Lucien beugte sich wieder etwas nach vor und nickte. "Gut, das ist ein Argument. Dann lass mich dir erzählen wo du hier bist kleine Gretlin vom Clan des Mondes. Dieser Wald gehört zur Domäne Brügge und diese wird von einem Rat regiert, bestehend aus Lucien Sabatier, Gerrit dem Alten, Alida van de Burse und Lilliana von Erzhausen. Dieser Rat regiert, wenn auch nicht beständig in dieser Form, die Geschicke der Stadt schon einige Jahrzehnte lang und zählte zuvor ein weiteres Mitglied in seinen Reihen: Draga Nefedov." Er pausierte kurz damit sie seine Erzählungen kurz verarbeiten konnte. "Diese Draga war aber mit dem Konzept des Rates nicht einverstanden und zog sich nach Ostbrügge zurück, genau an den Punkt an dem heute die Ruine steht kleines Mädchen. Früher war es eine Festung, genannt Drachenfeste. Draga hat wo sie nur konnte versucht der Domäne zu schaden und den Rat zu zerstören um selbst über Brügge zu herrschen und es sich ihrem Voivodat - ich nehme an du bist mit dem Konzept vertraut - hinzuzufügen." Lucien legte den Kopf leicht schief. "Und noch viel früher, als die Stadt noch von einem Marionettenprinz regiert wurde und der Rat sich zur Führung aufschwang, musste ein Tremere vernichtet werden der eine Menge okkulte Schriften und Material gehortet hatte, unter anderem auch Blut von den ortsansässigen Kainiten - natürlich um sie mit seiner Zauberei zu vernichten. Diese Gegenstände hat Draga an sich genommen als sie ging um sie dereinst gegen Brügge zu verwenden." Er deutet auf die Bücher und das Blut. "Richtig, das was du hier in Händen hälst, sollte mich und den Rat vernichten. Deshalb und weil wir die Tremere verabscheuen, müssen wir die Bücher entweder verwahren oder vernichten." Lucien sah sie lange und unerbittlich an. "Diese Tatsache ist nicht diskutabel."
Sie lehnte sich nah zu ihm vor. Wieder einmal hatte er das unangenehme Gefühl, dass sie eine von Menschen ansonsten geachtete zwischenmenschliche Distanz missachtete. „Wolf? Die Bücher und das Blut hab ich unter Einsatz meines Unlebens da aus der kleinen Festungsruine der Frau Nefedov geschmuggelt. Wenn ich sie gelesen habe, magst du sie haben…“ Sie fuhr sich mit der Zunge kurz über die Lippen und zeigte dabei schmunzelnd ihre weißen Zähne. „Und wenn ich die Besitzer des Bluts ausfindig machen kann, dann erhalten sie ihre Phiolen zurück. Aber Ich kann sie dir trotzdem nicht überlassen. Auch wenn ich dich mit deinem Wolf hier ausgesprochen sympathisch finde. Schon allein weil du mir vorhin aus der Klemme geholfen hast. Du selbst hast mich in deine Domäne eingeladen. Also mach mir jetzt keinen Vorwurf, dass ich hier bin.“ Sie erhob sich und sah noch einmal zu dem Krug auf dem Tisch. „Danke für das Wasser. Sieht sehr erfrischend aus.“ Sie grinste.
"Ich sollte gehen. Wer weiß, ob da draußen nicht die netten Leute von vorhin rumstreunen.
Seine Augen verengten sich zu kleinen schmalen Schlitzen als er ihren Worten lauschte. Mit einer Hand deutete er auf den Stuhl. "Setzen." Dann schüttelte er beinahe ungläubig den Kopf. "Du bist ja genauso stur wie Alida, kaum zu glauben alle Achtung aber das löst dein und mein Problem nicht, Welpe. Du willst die Bücher lesen die du unter Einsatz deines Unlebens entwendet hast, nun gut." Er kratzte sich leicht am Kinn und nickte anschließend. "Das wird mir zwar nicht gefallen aber gut, hier ein Vorschlag: Ich begleite dich zurück zur Ruine und wir kümmern uns um deine Freunde. Im Anschluss zeigst du mir die restlichen, versteckten Schriften. Und ich gebe dir mein Wort darauf, dass du sie alle in Ruhe lesen darfst in den Katakomben von Brügge. Du musst wissen Gerrit hat mittlerweile eine recht stattliche Sammlung an allen möglichen kainitischen Schriften zusammengetragen und vielleicht lässt er dich sogar den Rest lesen wenn du brav bist. Anschließend wird alles was wir finden sorgfältig verschlossen und verwahrt und du kannst den Besitzern persönlich ihr Blut zurückgeben. Wie klingt das?"
Gretlin wandte sich zu ihm um und in ihren Augen funkelte Zorn. „…Vielleicht lässt er mich den Rest lesen, wenn ich brav bin?... wir kümmern uns um meine Freunde…? Bin ich vielleicht wahnsinnig mich noch einmal in die Reichweite ihrer Bögen zu begeben? Ein Hinweis: Nein!!! … Ich? zeige dir die restlichen versteckten Schriften? Wieso sollte ich? Weil ich in deiner Domäne bin und du dich für größer und stärker hälst als mich? Vergiss es!“ Sie griff zu dem erstbesten, was sie finden konnte und hielt den Pfeil, den sie zuvor auf den Tisch gelegt hatte in der Hand und streckte ihn wie eine Waffe vor sich, wenige Zentimeter von Luciens Gesicht entfernt. Dann ließ sie die Hand plötzlich sinken, musterte das Holz und die Federn. Sie blickte sich noch einmal im Raum um, betrachtete die handgeschnitzten Figuren auf dem Kamin. „Lucien? Ich vermute, du kennst dich mit Schnitzen aus?“ Mit einem Kopfnicken deutete sie in Richtung der Feuerstelle. „Was ist das für ein Holz?“
Ihre Reaktion war etwas unerwartet. Nun, gut möglich das er sie vielleicht ein wenig geängstigt, ja ihr vielleicht sogar unabsichtlich tatsächlich ein wenig gedroht hatte. Es steckte allerdings keine Böswilligkeit dahinter, rein gar nicht. Er hatte lediglich eine zufriedenstellende Lösung für sie beide zu finden versucht, ohne es wieder auf die altbekannte Art und Weise zu versuchen. Man musste ja nicht immer gleich handgreiflich werden. Lilliane wäre stolz gewesen obwohl er sich dennoch gerade Leif wünschte. Was würde er ihr wohl sagen um sie zum Umdenken zu bewegen? Der Pfeil vor seinem Gesicht irritierte ihn nur mäßig, man hatte ihm schon weitaus bedrohlicheres vor die Nase gehalten; da war ihre plötzliche Frage umso merkwürdiger. Lucien benötigte lange um das Holz richtig zuzuordnen. Er musste den Pfeil in die Hand nehmen und hätte zunächst aufgrund der dunklen Verfärbung auf Nussbaum getippt, aber der Russ, der über dem Holz lag ließ sich problemlos abwischen. "Eberesche", sagte er trocken und abwartend.
Das Mädchen grübelte, bis sich auf die Unterlippe, suchte etwas in ihrem Kopf. Sie schloss die Augen um sich weiter zu konzentrieren. Dann rezitierte sie als hätte sie den Text auswendig gelernt: „Ein Pfahl aus Ebereschenholz im Eichenholzfeuer erlischt, mit Blut durchtränkt, für immer das tote Herz durchsticht“… Das Ritual der verspäteten Ruhe.“ Angst lag auf ihren Zügen.
Lucien schüttelte nur ungläubig den Kopf und hob die Schultern. Was zum Teufel erzählte sie ihm da und was hatte das mit den Büchern oder dem Blut zu tun? Er betrachtete den Pfeil eine Weile, konnte aber nichts Außergewöhnliches daran entdecken - nun, die Spitze war aus Holz gewesen, das war vielleicht ungewöhnlich. Es war zwar nicht Usus aus Eberesche Pfeile herzustellen aber das Holz war hart und dennoch biegsam, die Flugeigenschaften wurden dadurch nicht sonderlich negativ beeinflusst. "Was zum Teufel faselst du da Gretlin? Ich hab schon verstanden, dass dir mein Angebot nicht zusagt aber was soll dieser Ebereschenunsinn? Wir sind in einem Wald, da findest du eine Menge Holz, Kleines. Ich hab hier auch Buche, Fichte, Birke... was immer du willst."
Wieder hielt sie ihm den Pfeilschaft vor die Nase. Sie ließ sich in den Sessel sinken, wirkte plötzlich müde. „Das ist ein thaumaturgisches Ritual, wenn ich mich richtig entsinne. Man schwärzt einen in kainitisches Blut getauchten Ebereschenpfeil über Eichenholzrauch. Das gesamte Ritual dauert 5 Stunden. Wenn es gelingt damit die Haut eines Wesens zu durchdringen und die Spitze dabei abbricht dann wandert der abgebrochene Splitter unabdingbar ins Herz seines Opfers.
Für einen Sterblichen bedeutet das den Tod… Ich glaub hier hast du deine Antwort, warum sie mit Holzpfeilen durch die Gegend schießen…“ Sie drückte ihm den Pfeil in die Hand. Lucien erkannte die abgebrochene Spitze des Pfeils, der vor nicht allzu langer Zeit noch in seiner Schulter gesteckt hatte.
Lucien wirkte plötzlich sehr gefasst und ruhig. Wenn er der Verrückten Glauben schenken konnte, dann würde dies bedeuten, dass die Leute an der Ruine Tremere gewesen waren oder zumindest von solchen entsandt. Sollte dies tatsächlich in dieser Form möglich sein und er hatte eigentlich keinen Grund daran zu zweifeln nachdem was er von Oriundus gesehen hatte, dann bedeutete diese kleine lächerliche, abgebrochene Pfeilspitze auf kurz oder lang sein Verderben. Nun zumindest eine lange ausgedehnte Totenstarre stand ihm unmittelbar bevor und niemand konnte sagen wann er einfach umfallen würde. Es konnte gleich oder in ein paar Stunden kurz vor Sonnenaufgang passieren. Niemand könnte es mit Gewissheit sagen. Es war schon fast wieder witzig, das er einen Schwerthieb oder Dolchstoß ohne große Probleme abschüttelte aber jetzt an einem Stück Holz scheitern sollte. Der Gangrel sah sie eindringlich an, seine Stimme war tödlich ruhig. "Wie hält man es auf?"
Sie lachte ohne Humor auf. „Durch einen erfahrenen Chirurg, der sich gleich nach dem Eindringen ans Werk macht und den Splitter herausschneidet. Aber die Verletzungen, die dabei entstehen sind für Sterbliche meist tödlich, für uns… na ja…Es dauert meist nicht allzu lange bis das Ritual wirkt.“ Sie sah zu Boden
Lucien achtete genau auf seinen Körper und spürte, dass sich etwas in ihm bewegte. Es war als hätte man eine eiserne Nadel in seinen Körper eingepflanzt, die von einem unsichtbaren Magneten angezogen durch seine Muskeln und Sehnen wanderte und schmerzhaft am Knochen vorbeischliff. Er spürte den Holzsplitter, der sich fast unmerklich bewegte und Lucien wusste, was der Magnet war, der so unvorstellbar an diesem verfluchten Stück Ebereschenholz zerrte: Sein Herz.
Lucien ließ keine Zeit mehr verstreichen. Was hatte er sich da wieder eingebrockt? Ein Mädchen, das in Dragas Ruine eindrang um Bücher zu stehlen, wollte er vor vermeintlichem Gesindel retten und was hatte er bekommen? Eine verrückte Bücherfetischistin und einen Holzpfeil, der von den Tremere verflucht worden war und dessen Spitze sich nun unaufhörlich seinem Herzen näherte. Er fasste das Mädchen grob am Arm und zerrte sie hinter sich zur Tür hinaus, wies sie hastig an die Bücher mitzunehmen. "Wir werden jetzt in die Stadt gehen, zum Krankenhaus dort arbeitet Leif Thorson, der beste Arzt und Heiler den ich kenne. Wenn er das Ding nicht aus mir rausbekommt, dann niemand." Er warf hinter ihr eilig die Tür ins Schloss und sperrte zweimal ab, warf dann den Schlüssel mit einer schnellen Bewegung hinter sich in den Wald. "Falls ich unterwegs zusammenbrechen sollte hast du vielleicht Glück und entkommst deinen Häschern aber ich würde nicht darauf wetten, so wie die ausgerüstet sind. Ich weigere mich in meinem eigenen Wald draufzugehen weil ich mich für dich eingesetzt habe. Ahnst du jetzt ein bisschen was diese Bücher heraufbeschwören?"
Sie ließ sich wortlos hinter ihm herziehen aber Lucien merkte, dass es ihr schwer fiel mit ihm Schritt zu halten. Sie hatten erst wenige hundert Meter zwischen sich und die Hütte gebracht als er plötzlich Gestalten zwischen den Bäumen, seinen Bäumen ausmachen konnte. Es waren mehrere, mindestens sechs. Sie waren in dunkle Umhänge gehüllt, die ihre Gesichter verbargen. Lucien hörte das Lachen einer Frau. „Putzig! Sie glauben tatsächlich, sie könnten entkommen. Lauft nur, Welpen, lauft! Dann geht es nur noch schneller.“ Ihr kehliges Lachen brach sich an den bemoosten Felsen.
Seine Augen glühten im Dunkeln und durchbrachen die finstere Nacht, erhellten den Weg vor ihm und ließen immer wieder kurz flackernd die Umrisse der verhüllten Gestalten zwischen den Bäumen auftauchen, die sie entweder verfolgt und erfolgreich gefunden oder aber bereits zuvor einen Hinterhalt vorbereitet hatten. Sechs Tremere waren genau sechs zu viel in seinem Wald aber das Mädchen war eine Behinderung und es konnte jeden Moment soweit sein. Zweifelsohne würden sie ihn vernichten wenn er erstarrt vor ihnen lag, selbst der dümmste Tremere auf Gottes Erden könnte eins und eins zusammenzählen und sich schnell einen Reim darauf machen, wer der Wolf war den sie angeschossen hatten. Er hatte keine Zeit, keine Zeit für einen Kampf gegen zu viele Gegner und auch keine Zeit sich einen kongenialen Plan auszudenken. Soweit er es beurteilen konnte, blieb ihm nur die Flucht nach vorne oder die Suche nach einem sicheren Versteck. Er erwog mit der Erde zu verschmelzen aber sollte er dabei in Starre fallen, würde dieses Versteck sich selbst auflösen. Alles was er bewerkstelligen konnte wäre unnütz und so müsste sein Wald die beiden verbergen oder seine Beine so schnell laufen, dass sie beide die Stadt erreichten bevor es zu Ende ging. Er sah sich im Laufen nach einem Versteck um, versuchte sich die Landschaft vor seinem geistigen Auge vorzustellen. Es war sein Wald und niemand kannte sich in ihm so gut aus wie er.
Lucien rannte und rannte. Der Splitter fraß sich durch seinen Körper und er bemerkte, dass die Frauenstimme Recht hatte. Desto schneller sie liefen, desto müheloser fand der Splitter seinen Weg. Vor ihm am Waldrand erkannte er die hohen Festungstürme von Brügge. Einer davon war noch immer im Wiederaufbau. Die Fahnen auf den Turmspitzen wehten leicht im Wind und er erkannte seine Männer, die auf den Zinnen patrouillierten. Er spürte, dass das Mädchen, das er neben sich an der Hand hinterher gezerrt hatte plötzlich ins Stolpern geriet und nicht mehr auf die Füße kam. Und dann brach auch er zusammen als hätte man ihm mit einem Mal die Kontrolle über seine Beine, seine Nerven, jeden Muskel seines Körpers beraubt. Der Schmerz, der sich in sein Herz fraß war unbeschreiblich. Eine Gestalt kam näher, musterte den am Boden Liegenden. Aus dem letzten Augenwinkel erkannte er den gutaussehenden blonden Mann wieder.
Dieser blieb vor ihm stehen, holte mit dem Fuß aus und versetze ihm einen Tritt zwischen die Rippen. „Scheiß Brügger Bevölkerung. Wie ich diese arroganten Kainiten hier in Flandern hasse.“ Bevor er ein weiteres Mal ausholen konnte, war die schwarzhaarige Frau neben ihm und stellte sich in seinen Weg. „Cunradis. Nein.“ Dann wurde Luciens Blickfeld schwarz.
Lucien erwachte einige Zeit später. Die Schmerzen an seinen Handgelenken waren schier unerträglich. Das Licht in dem kalten dunklen Verlies war dämmrig und kam von einer einzelnen Kerze, die man auf den Resten eines alten Fasses abgestellt hatte. Daneben lehnte die Tasche des Mädchens in die sie die Bücher gepackt hatte. Schimmel bedeckte die feuchten Wände. Er erkannte ein großes offenes Fenster zu seiner Rechten und draußen in der Tiefe eine dunkle Landschaft, die von einem Vorhang aus laut prasselndem Regen eingehüllt wurde. Das Wasser tropfte durch die zerbrochenen Deckenbalken ins Innere. Offensichtlich hatte man ihn in ein Verlies im Turm eingesperrt. Er spürte die seltsame lautlose Aura des ehemaligen Voivodats. Wieder einmal die alte Festung… kam es ihm in den Sinn.
Man hatte ihn in einer Zelle mit eisernen Ketten an den Händen wenige Zentimeter über dem Erdboden aufgehängt und an dem Ausmaß der Qualen, die ihm seine Arme bereiteten erkannte er, dass er schon seit Stunden so hängen musste. Er wollte sich bewegen, sich freikämpfen, aber ein dicker Pflock, den man ihm ins Herz gerammt hatte verhinderte jegliche Bewegung.
An einer Wand hatte man das Mädchen angekettet. Sie war ebenfalls gepflockt und sah mit leeren Augen auf die grauen Steine der Zellenmauer. Er vernahm die Stimmen von mehreren Leuten, die sich im Zimmer befanden. Die melodische Stimme, des Mannes, den man zu Beginn der Nacht Cunradis gerufen hatte, fauchte einige Männer an. „Hermann, Gerot, Ingo. Ihr verteilt euch draußen und bewacht das Gelände! Und wehe, draußen geschieht irgendetwas ohne, dass ihr davon etwas mitbekommt, wie vorhin. Noch einmal lassen wir eine solche Nachlässigkeit nicht durchgehen.“ Die Wachmänner verbeugten sich und verließen den Raum. Einer murmelte noch: „Verzeiht, Meister Cunradis. Es wird nicht wieder vorkommen.“ Drei Gestalten betraten die Zelle: die schmale ausgehungert wirkende Gestalt der schwarzhaarigen Ludmilla, ein gutaussehender blonder Mann, offensichtlich Cunradis und dann ein kräftiger Mann mit halblangem braunen Haar: Sebastian von Augsburg.
Ludmilla beugte sich zu der jungen Frau hinab, stieß ihr ohne Zögern ein Skalpell in die Halsschlagader und fing das Blut in einer Glasphiole auf, die sie an Cunradis weiter reichte. Dann trat sie zu Lucien und stieß ebenfalls zu. Der Schmerz war erträglich, aber Lucien spürte die unbändige Wut auf seine Hilflosigkeit, die in ihm hochbrach und nur von dem Pflock zurück gehalten wurde. Auch das Gefäß mit seinem Blut wurde an den blonden Mann weiter gereicht.
Sebastian baute sich vor ihm auf. Er war nur wenig kleiner als Lucien und seine Stimme hatte einen auffallend neutralen Ton angenommen. „Lucien Sabatier… So sehen wir uns wieder. Wir haben noch eine alte Rechnung offen. Schön, dass du bei uns vorbeischauen wolltest.“ Er verschränkte die Arme vor der Brust und betrachtete ihn lange mit nachdenklichem Blick. Dann wandte er sich zu Cunradis um und streckte die Hand aus um die Flaschen entgegen zu nehmen. Dieser tat als hätte er nichts bemerkt und begann Lucien abzutasten und nach verborgenen Gegenständen zu durchsuchen. Man hatte dem Hauptmann bereits jede Waffe abgenommen, seine Rüstung war verschwunden und anscheinend war ihm nur ein dünnes Hemd und seine Hose geblieben. Nicht mal mehr die Stiefel waren irgendwo zu erkennen. Er vernahm die Stimme von Sebastian: „Cunradis! Gib mir die Proben!“ Wieder reagierte der Angesprochene nicht und durchsuchte stattdessen das Mädchen. „Conradis“ Wut lag in der Stimme. Sebastian wandte sich an die schwarzhaarige Frau: „Ludmilla. Warte bitte draußen auf uns. Geh schauen, dass alles sicher ist.“ Die Frau nickte und verschwand aus der Tür. Mit einer Stimme in der unterdrückter Zorn mitschwang fuhr er Cunradis an. „Raus aus der Zelle!“ Er verschloss die Zellentür von außen nachdem beide hinausgetreten waren. „Was soll das? Ich leite die Mission und du! bist mir Gehorsam schuldig. Her mit den Phiolen!“ Lucien vernahm die melodische zornige Stimme. „Nein! Ich vertraue euch nicht, Sebastian. Damit ihr es ein für allem Mal wisst! Ich halte euch für einen Verräter in unseren eigenen Reihen. Die Mission damals im Zentralmassiv… wart vielleicht ihr für das Scheitern verantwortlich?“ Sebastians Stimme war eisig. „Wie kannst du es wagen??? Wie bereits alle unsere Anführer festgestellt haben, bin ich über jeden Zweifel erhaben. Ich habe meinen Wert und meine Loyalität für die Tremere mehr als ein Mal unter Beweis gestellt.“ Cunradis zischte zurück: „Ja, und mittlerweile ist fast jeder von diesen Alten tot. Verdächtig, oder?“ Sebastians Augen schienen Blitze abzuschießen. „Sei vorsichtig, Cunradis, wen du dir zum Feind machst! Du bist ein unfähiger Ableger des Primogen der Frankfurter Tremere, aber dein Erzeuger sitzt nicht fest im Sattel. Friedrich Barbarossa ist euch in seiner Stadt nicht wohl gesinnt. Und du kannst nichts! Nicht die einfachste Thaumaturgie, nicht das einfachste Ritual. Und du wagst es mich zu bedrohen?“
Der blonde Mann machte einen Schritt auf ihn zu: „Eure Behauptung ist falsch. Ich bin mittlerweile ein geübter Thaumaturg. Und eines ist sicher: Ich hab keine Angst vor euch, Sebastian. Auch wenn ihr Primogen des Gildenhauses von Augsburg sein mögt. Ich weiß, dass das Mädchen hier etwas mit euch zu tun hat. Zufälligerweise seid ihr beide, ihr Sebastian und Margarete von Bacharach, zum ersten Mal gleichzeitig am 21. Mai 1120, in den verloren geglaubten Aufzeichnungen des Frankfurter Gildenhauses erwähnt. Damals wart ihr noch ein Sterblicher, wenn ich euch daran erinnern darf. Und die geheimen Unterlagen hab ich zufälligerweise gefunden.“ Er funkelte Sebastian an. „Da staunt ihr, was? Auch wenn keiner von den Alten, die die Aufzeichnungen verfasst haben, mehr unter uns weilt, könnt ich wetten, dass ich nach einer ausführlichen Befragung mittels Auspex und zur Not auch Folter einiges herausfinden werde, dass mir hilft zu beweisen, was ihr wirklich im Schilde führt.“
Der braunhaarige Hexenmeister lachte auf aber Lucien hörte den Hauch eines Zweifels in dem selbstbewussten Lachen. „Cunradis. Ist euch irgendwas über das Mädchen bekannt? Die Erkundigungen, die ihr euch eingeholt habt waren nicht sehr ergiebig, oder? Sie ist Malkavianerin und weiß nichts. Gar nicht!“ Wieder huschte ein selbstgefälliges Lippen über die Lippen des blonden Mannes. „Das wird sich zeigen. Ich bin gespannt, ob ihr Blut wirklich das einer Malkavianerin ist, wie ihr behauptet und wie ihr damals in einem Dokument das nun über 20 Jahre alt ist, festgehalten habt. Vielleicht hat sie ja auch gar keine Amnesie und alles ist nur ein Trick“
Sebastian starrte den jungen Mann so lange an bis dieser den Blick abwandte. „Es wird Zeit dieses aberwitzige Gespräch zu beenden. Ich werde draußen gebraucht!“
„Ich hoffe, dir ist bewusst, welche Konsequenzen dein Verhalten haben wird?“
„Nur, wenn ich falsch liege. Aber ich bin mir sicher, dass ich recht habe!“
Sebastian schüttelte den Kopf, war scheinbar nicht länger gewillt weiter in dem Raum zu verweilen. „Dann geh doch bitte zu unseren beiden Gästen und entpflock sie, damit dein Verhör später auch besonders effizient wird.“
Furcht trat in Cunradis Blick. „Ich geh doch nicht in die Zelle und reiß zwei Kainiten den Pflock aus dem Herzen. Sie werden mich in ihrer Raserei zerfleischen.“ Sebastian lachte ohne Amüsement auf. „Cunradis? Du bist wirklich eine Schande für deinen Erzeuger und für alle Tremere. Meine Warnung gilt erneut! Pass auf, wen du zu deinen Feinden zählst!“ Er schüttelte den Kopf streckte seine Hand in Richtung Zellentür und zog die Handfläche mit einer langsamen Geste zu seinem Körper. Lucien spürte wie der Pflock ohne eine einzige Berührung aus seinem Herz gerissen wurde, er hörte das Schreien und Aufbäumen des Mädchens, der es ebenso erging. Dann verschwamm alles um ihn herum in einer Woge aus roter blinder Wut.
Nachdem der rote Schleier der rasenden, unbändigen Wut über ihn vorüber gezogen war, natürlich nicht ohne eine weitere Spur des Tieres auf seinem Körper zu hinterlassen, konnte sich Lucien erst wirklich eingehend im Raum umsehen. Dragas Turm oder das, was davon noch übrig war, ganz ohne Zweifel. Es mochten nicht die Verliese sein, in denen er vor einigen Jahren von dem Türken auf seine Weiterreise per Schiff vorbereitet worden war, denn diese hatte man längst verschüttet und zum Einsturz gebracht aber er befand sich ohne Zweifel in der Ruine von Drachenfeste. Seine Arme brannten von der kraftlosen, erzwungenen Hängerei an den soliden Eisenketten und sein Mund fühlte sich elendig trocken an. Wenigstens war die Pfeilspitze nicht mehr dabei zu seinem Herzen zu wandern, was ihm zugegeben jetzt auch nicht mehr wirklich weiterhalf. Ein Seitenblick zu Gretlin, machte schnell deutlich, dass sie sich in der genau gleichen Position befand wie er und wie er aus dem Gespräch von Sebastian und Cunradis heraushören konnte, auch bei weitem mehr erzählen könnte als sie vor ihm bereit gewesen war zu tun. Zugegeben, er hatte nicht erwartet Sebastian auf dem Gebiet von Draga anzutreffen, noch dazu in der Begleitung einiger hochrangiger deutscher Tremere aber wenn es um unschätzbares, magisches Wissen ging, hatten sich die Bluthexer ja immer schon darin ausgezeichnet besonders gierig und ruchlos zu sein. Insofern war diese Begegnung gar nicht so verwunderlich. Wenngleich Sebastian sich offenkundig in der Hierarchie der Verräter nach oben gearbeitet hatte, wurde ihm bisweilen immer noch direkt misstraut und diese Sache mit Gretlin und ihrer gemeinsamen Erwähnung als Sterbliche in irgendwelchen Überlieferungen war äußerst suspekt. Hatte sich der verhasste Sebastian nun schon Feinde in den eigenen Reihen gemacht? Nun, er hatte andere Probleme. Aber er schwor dass er wenn es ihm die Situation erlauben würde, jeden einzelnen Tremere auf seiner Flucht zur Hölle schicken würde. Sein Blick ging Richtung Gretlin und seine Stimme war rau und kalt. "Du hast gelogen oder mir zumindest nicht die ganze Wahrheit erzählt, Hexe. Wer bist du und was hast du mit Sebastian von Augsburg zu schaffen? Rede, denn viel Zeit bleibt uns nicht. Es besteht sogar eine verschwindend kleine Möglichkeit, dass ich dich rette also überleg dir gut was du sagst Mädchen. Sehr gut."
Sie funkelte ihn wütend an. „Ich soll gelogen haben? Ich habe keine Ahnung wer diese Hexer sind. Und ich habe auch so lang ich mich erinnern kann nichts mit ihnen zu tun gehabt! Alles was ich gesagt habe ist die Wahrheit. Ich weiß nicht was sie von mir, oder von dir wollen. Vielleicht hat es mit mir ja nur nebensächlich zu tun?“ Ihr Blick war eine Herausforderung. „Scheinbar seid ihr ja ein alter Freund von diesem Sebastian aus Aschaffenburg oder wo immer der herkommt.“
Lucien musste unweigerlich grinsen und ein hämisches, kehliges Lachen unterdrücken um nicht gleich die gesamte Tremerebelegschaft hier bei sich zu versammeln. Hatten die Tremere nicht von einer Amnesie gesprochen? Nun, vielleicht hatte das dumme Gör am Ende doch nicht gelogen sondern wusste es einfach nicht besser. Tolle Aussichten waren das, gefangen vom verhassten Hexer und seiner Bande und eingesperrt mit einer Frau die alles wusste, sich aber an nichts erinnern konnte. "Augsburg und wenn er könnte würde er mich auf der Stelle töten, selbiges gilt in meinem Fall für ihn. Es gibt kaum jemanden der in Brügge mehr verachtet wird als er... aber sei‘s drum." Lucien zwang die Vitae in seinem Leib ihn zu durchströmen um seinen Leib in einen durchsichtigen Nebel zu verwandeln aber es gelang ihm nicht. Irgendetwas behinderte ihn und ließ ihn auch nicht sein Blut in die Areale seines Körpers lenken in denen er es im Moment benötigte.
Das Mädchen sah ihn an und ein wenig schien sie sich zu beruhigen. „Herr. In welchen Schlamassel bin ich jetzt wieder geraten? Eine Blutfehde zwischen einem Gangrel und einem Tremere. Womit hab ich das verdient? Und da sag ich doch noch immer brav sonntags drei Mal meine Vater Unser Auf. Tja… dass sollt ich mir wohl in Zukunft genau überlegen…“
Lucien ließ den Kopf hängen und rüttelte erneut an seinen Ketten. Keine Chance, die Magie der Tremere hatte den Ort hermetisch abgeriegelt. Keine seiner übernatürlichen Fähigkeiten funktionierte, und die Vitae in seinem untoten Körper ließ sich nicht an die richtigen Stellen lenken, sodass er die Möglichkeit gehabt hätte seine Fesseln einfach zu zerreißen. Er verzog die Lippen zu einem missmutigen, schmalen Etwas und spuckte aus. "Halt einfach den Mund Gretlin. Je mehr du plapperst desto schneller kommen die uns den Gar ausmachen. Da hilft dir auch kein Gott, Allah oder Abraham mehr. Unsere Kräfte funktionieren in diesem Raum nicht und ohne sie können wir eine Flucht vergessen. Genieß den salzigen Geruch des Regens und freu dich auf die Bluthexer Folter."
Sie verzog den Mund. "Bist du immer so gut drauf? Unglaublich. Lass mich raten: Der amüsante Höhepunkt eines jeden Festbanketts: Lucien Sabatier." Sie verdrehte die Augen konnte sich aber ein Grinsen nicht verkneifen.
"Ich hasse Festgelage und feine Herrschaften in sündig teuren Tuchen, die sich zu fader, ewig gleicher Musik gegenseitig den Hintern abwischen und Honig ums Maul schmieren. Aber das tut hier nichts zur Sache. Wir haben ein Problem, das wir nicht lösen werden können falls du es nicht bemerkt haben solltest und wenn du nicht zufällig auch über ein paar magische Tricks verfügt seh ich eher Schwarz für uns... aber ich vergaß ja, du hast es ja vergessen bevor es überhaupt passiert ist hm?"
Sie verzog das Gesicht als hätte man sie geschlagen. Offensichtlich hatte er diesmal ins Schwarze getroffen und sie wirklich verletzt. Sie biss die Lippen aufeinander und legte den Kopf in den Nacken an die kalte Zellenwand. Sie schwieg.
Eine Stunde verging. Lucien hörte plötzlich, wie sich die Tür erneut öffnete. Eine einzelne Gestalt erschien und er erkannte die Umrisse von Sebastian. Er schritt zu den Gitterstäben und blieb in einigem Abstand stehen. Seine Augen hefteten sich auf das Mädchen und seine Stimme war leise „Hallo Gretlin. Es ist lange her, dass wir uns zuletzt gesehen haben.“ Die Angesprochene zischte ihn an. „Ich hab euch noch nie gesehen und kenne euch nicht!“ Lucien glaubte so etwas wie Traurigkeit in dem Blick des Hexenmeisters auszumachen Er starrte sie erneut an, doch sie wandte den Blick ab. Sie schien über etwas, das man zu ihr gesagt hatte nachzudenken. Ihre Stimme war leise aber wütend „Es ist mir egal, ob ihr das zugleich befürchtet und gehofft habt. Hört auf damit!“ Wieder vergingen einige Sekunden. Dann sprach sie ihn erneut an. „Wer sagt, dass eine Unterhaltung in Gedanken sicherer ist, Hexer?“ Sie sah zu Lucien. „Er hat mir grad in Gedanken erklärt, ihr wäret jemand, dem man nicht vertrauen kann. Jemand, der immer nur auf seinen eigenen Vorteil aus ist. Ein Verräter, der gemeinsam mit einem kämpft und einem dann sobald der Kampf entschieden ist die Kehle raus reißt.“ Sie wartete gar nicht erst Luciens Antwort ab sondern funkelte den Hexer an. „Er hat mir ohne zu zögern geholfen und sich in Gefahr gebracht. Das, was ihr zu sagen habt, könnt ihr auch laut sagen!“
Lucien schüttelte den Kopf. "Nein er hat Recht, ich bin ein ausgemachter Halunke. Ich bin ein Schurke und Tunichtgut der einst Männern und Frauen überfallen, ausgeraubt und manchmal sogar getötet hat. All dies tat ich um zu Überleben und habe es nie bereut, so wie ich es noch immer tue und nicht bereue. Weint der Wolf um den Hirsch den er erlegt? Nein. Ich bin direkt und gradlinig und habe kein Interesse um politischem Firlefanz. Das Maul hab ich immer weit offen aber wer mich kennt kann eines mit Gewissheit sagen: Man misst mich an meinen Taten." Damit sah er Sebastian mit glühenden Augen an und grinste spöttisch. "Willst du es nicht zu Ende bringen Hexer? Die Sonne geht bald auf und dir bleibt nicht mehr viel Zeit. Welch Ironie mich hier in diesen Überresten einer Tzimiscefestung zu töten aber das Schicksal ist manchmal recht launenhaft."
Die Augen des Hexers waren voller Wut. „Wie kannst du es wagen meinen Bruder mit einem Stück Jagdbeute zu vergleichen? Er hat an eurer Seite gefochten! Für die gleiche Sache! Gegen den gleichen Feind! Und ihr habt ihn kaltblütig ermordet!“ Der Hexer griff mit der linken Hand um die Gitterstäbe und der Hauptmann war sich sicher, wenn nicht das Eisen zwischen ihnen gewesen wäre hätte er ihm die Faust ins Gesicht gerammt. „Man misst euch nach euren Taten, Sabatier?“ Er spuckte aus, Lucien direkt vor die Füße. Er schien um die Beherrschung zu kämpfen und zu seiner gewohnten Ruhe zurück zu finden. Er atmete tief ein, seufzte lang und sah in Richtung der jungen Frau. „Nun gut, wenn du es so willst, Gretlin.“ Er musterte kurz den Gangrel. „Du erinnerst dich also nach wie vor an nichts? Es scheint, du hast dir unser letztes Gespräch auch nicht aufgeschrieben…“ Sie sah ihn ungläubig an. „Woher wisst ihr?“
„Gretlin, ich weiß einiges. Warum wohl bist du hier?“ Sie schüttelte den Kopf. „Wo sollte ich sonst sein? Es ist Zufall. Ich habe in den Aufzeichnungen, die ich in Brüssel gefunden habe von diesem Ort und der Bibliothek, die nie gefunden wurde gehört und…“ Sebastian unterbrach sie mit einer raschen Handbewegung. „Ich meine nicht dieses ehemalige Voivoidat. Du bist nicht von hier. Du bist aus der weit entfernten Pfalz, aus Bacharach. Es ist kein Zufall, dass du hier direkt vor den Toren von Brügge bist. Du bist hier, weil jemand dir vor langer Zeit gesagt hat, dass du nach Brügge gehen sollst. Wenn es irgendwo jemanden gibt, der dir helfen kann, dann wirst du denjenigen in Brügge finden. Ich weiß, du vertraust mir nicht und das musst du auch gar nicht. Aber: Geh einfach nach Brügge! Es ist nur eine Stadt. Wo du bist ist doch gleichgültig, oder? Da kannst du genauso gut dort sein. Brügge soll schön sein.“
Ihre Augen verengten sich zu Schlitzen. „Das ist eine Falle, oder? Warum sollte ich auf euren Rat hören?“
In Sebastians Augen lag der Anflug von Hoffnungslosigkeit. „Kein Tremere wagt sich hinter die Mauern. Du wärst dort sicher.“
Lucien hob müde den Kopf. "Er hat Recht, Gretlin. Die Tremere sind unsere erklärten Erzfeinde. Es gibt viele Domänen, welche die Tremere verachten und missbilligen aber in Brügge werden sie gehasst. Es gibt nicht viele Orte an denen du sicherer wärst als hinter den steinernen Mauern unserer florierenden Stadt." Er hustete kurz, seine Kehle fühlte sich trocken an. "Erinnerst du dich an das, was ich dir bei unserer Flucht sagte? Geh ins Krankenhaus und frag nach Leif Thorson. Sag ihm Lucien Sabatier hätte dich geschickt. Wenn es jemandem gibt der überhaupt mit dieser Krankheit fertig wird, dann vielleicht er. Einen Versuch ist es auf jeden Fall wert."
Gretlin sah ihn mit weit geöffneten Augen an. Sie hätte wohl mit allem gerechnet aber nicht damit dass Lucien dem Tremere Recht geben würde. Dann sah sie wieder zu Sebastian.
„Was wollt ihr Tremere von mir?“
Wieder vernahm Lucien das Seufzen. „Manch einer, wie Cunradis, geht davon aus, dass du Erinnerungen in deinem Kopf verborgen hältst, die ihnen einige Erkenntnisse bringen könnten. Andere wollen dich in den Diensten der Tremere aufgrund deiner Fähigkeit, verlorene Bücher auf zu spüren. Für einen Clan der Gelehrten, wie wir es sind ist diese Eigenschaft dein Gewicht in Gold wert. Einige wären wohl auch einfach nur erfreut, wenn du nicht mehr in der Lage wärst die Nächte nach Büchern zu durchstöbern in denen eventuell Wissen enthalten ist, das nicht für deine Augen bestimmt ist und das unliebsame Dinge über sie selbst enthält.“ Er sah sie eindringlich an.
„Hör zu, Gretlin. Ungefähr 500 Schritt von hier nach Norden, gibt es einen kleinen Hafen. Dort sind einige wenige Boote vertäut. Über den Landweg kannst du heute Nacht von uns verfolgt werden. Meine Leute finden deine Spur wie Bluthunde aber auf dem Wasser bist du in Sicherheit. Brügge ist nicht weit.“ Er lauschte nach einem Geräusch, das er vernommen hatte und seine Stimme wurde eindringlich. „Gretlin, pass auf dich auf, ja?“ Sein Blick wanderte zu Lucien und auch wenn er es unterließ in seinen Geist einzudringen enthielt sein Blick eine eindringliche Botschaft. Dann stand er einfach nur da und musterte den Hauptmann, atmete tief ein und wartete.
"Wegen deinem Bruder...", Lucien pausierte kurz, schien die richtigen Worte finden zu wollen. “Es tut mir leid. Die Umstände zwangen mich dazu so zu handeln wie ich es tat. Der Untod ist nicht die Lösung von Problemen sondern beschwört eine ganze Reihe noch größerer Probleme mit sich herauf. Ich denke, das weißt du so gut wie ich. Diese Existenz ist keine Belohnung oder Erlösung. Wer in diesem Glauben lebt, irrt gewaltiger als er es sich vorstellen kann." Der Gangrel hustete. "Sie zu das du sie hier rausbekommst, sonst endet sie genau wie dein Bruder als Spielball höherer Mächte auf die weder ich noch du Einfluss nehmen können."
Sebastian schien erstaunt über die Worte des Gangrels und ein winziges Nicken war schlussendlich zu erkennen. „Den Kuss sollte man nie verschenken, da gebe ich euch Recht und es mag Unheil heraufbeschwören wenn man es dennoch tut… aber was ist mit einem gegebenen Wort? Mit Loyalität …?“ Dann biss er die Lippen aufeinander und auch Lucien vernahm das Geräusch. Die Tür wurde plötzlich rapide aufgerissen und Cunradis stand im Torbogen und schien fast enttäuscht, dass er nicht so etwas wie eine Befreiungsaktion von Seiten Sebastians auf frischer Tat ertappen konnte. Er schritt näher und blieb neben dem Hexer stehen. „Na, Sebastian? Planst du schon wie du sie entkommen lassen kannst? Vergiss nicht, ich habe nach wie vor ihr Blut.“
Sebastian sah den blonden Mann an. „Aber nicht doch Cunradis. Gleich morgen sobald die nächste Nacht einbricht werden die beiden erneut gepflockt und dann macht sich unser Zug auf den Weg nach Rotterdam. Dort im Gildenhaus werden wir alle Informationen von den beiden erhalten, die uns eventuell etwas nützen mögen. Vielleicht lässt sich der Gangrel in unserem steten Kampf mit Brügge ja noch für unsere Zwecke verwenden. Er soll deren Bewohnern ja recht wichtig sein…“ Cunradis blickte etwas irritiert aufgrund der freundlichen Antwort in Sebastians Richtung. Dieser klopfte ihm auf die Schulter und lächelte süß. „So, junger Adept. Nun ist es an dir und deinen besonderen Fähigkeiten: Das Ritual, das auf der Zelle liegt und jeden Kainit daran hindert seine übermenschlichen Fähigkeiten einzusetzen erlischt mit dem letzten Schlag der Glocke um Mitternacht. Dann muss es erneuert worden sein. Und diese einfache, aber verantwortungsvolle Aufgabe überlass ich dir. Hier ist alles, was du brauchst“ Er drückte ihm eine dünne Holzplatte, ein Stück Kohle, einige runde Steine und 4 Nadeln in die Hand. „Beeil dich ein wenig, junger Thaumaturg, und gesell dich zu uns wenn du dieses kleine Ritual beendet hast. Dann planen wir Folter und so weiter…“ Er lächelte ihn noch einmal mit einer überschwänglichen Freundlichkeit an, ließ den Blick kurz auf den beiden gefangenen Kainiten ruhen und verließ dann den Turm.
Lucien ließ die Augen in Richtung des Mädchens gleiten und nickte kaum merklich in Sebastians Richtung. Es war klar, was er damit aussagen wollte. Sollten sie sich befreien können, würde er dafür Sorge tragen das Gretlin wohlbehalten den kleinen Hafen, nördlich des ehemaligen Voivodats und dann Brügge erreichen würde. Es war ein Geschäft, das er wort- und tonlos gerade mit dem Hexer geschlossen hatte. Sein Leben für ein anderes. So war es unter Kainiten solange man denken konnte.