Mi 8. Mai 2019, 10:29
„Die Künste, die ich ausübe sind nicht geheim, lediglich etwas kompliziert und kräftezehrend, was viele Kainiten die begabt genug wären von mir zu lernen abschreckt.“ Die Sammlerin lehnte sich auf ihrem Stuhl zurück und machte es sich bequem. „Als ich mein erstes Jahrhundert als Tzimisce hinter mir hatte, begann ich wie so viele unseres Blutes vor mir mit meiner Menschlichkeit zu ringen. Das Tier gewann mehr und mehr Macht über mich und hinterließ seine Spuren auf meiner Seele. Ich begann in dieser Zeit viele Dinge aus meinem sterblichen Leben zu vergessen und als es mir nicht einmal mehr gelingen wollte das Gesicht meiner Mutter vor meinem inneren Auge heraufzubeschwören, begann ich nach Wegen zu suchen um das wenige, was von meinen sterblichen Tagen übrig war zu konservieren.“ Die bleiche Tzimisce schien in Plauderstimmung zu sein und wirkte abwesend als sie ihre Geschichte erzählte. „Ich lernte in Rom von einer Ventrue die Kräfte der Beherrschung und dachte, damit mein Ziel erreichen zu können. Das war allerdings nur ein Anfang, denn ich verstand irgendwann, dass eine Erinnerung alleine nicht reicht.“
„Es waren die Emotionen dahinter, die den großen Unterschied machten. Die Erinnerung an einen Sonnenaufgang ist nichts anderes, als ein Bild davon oder ein Gedicht was jemand über dieses Ereignis geschrieben hat. Schön, aber am Ende ohne echte Bedeutung. Aber stellt euch vor, ihr könntet noch einmal das Kribbeln der Wärme auf eurer Haut spüren, sobald die goldenen Strahlen euch berühren und in ihr warmes Licht tauchen.“ Die Sammlerin lächelte selig. „Ganz so als wäre es erst gestern gewesen. Irgendwann hatte ich diesen Durchbruch mit Hilfe von Auspex und Fleischformen erzielt. Unsere übernatürliche Wahrnehmung hilft mir die Gefühle zu identifizieren, die ich suche und die Macht der Beherrschung schafft ein Gefäß für diese, um sie greifbar zu machen. Erst mit der Gabe des Formens ist es mir am Ende aber möglich diesem Amalgam aus Wille und Traum eine physische Form zu geben um sie für immer bewahren zu können, wenn ich das möchte.“
Wie um ihre Worte beweisen zu wollen, griff sich die Sammlerin an die Schläfe und zog einen im tiefen zinnoberrot gefärbten Strahl aus ihrem Kopf. Er war halb flüssig, halb gasförmig und wie aus dem nichts zauberte sie ein leeres Fläschchen von irgendwo hervor, um die Erinnerung darin aufzufangen. Sie verkorkte die Phiole vorsichtig und stellte sie neben das giftig-grün schimmernde Gefäß. „Rückblicke wie diese hier sind es die mir in den letzten Jahrhunderten geholfen haben geistig gesund und überhaupt vital zu bleiben.“ Sie zeigte auf rötlich schimmernde Flasche. „Nehmt sie an euch. Sie mag euch einmal eine Stütze nach einer besonders dunklen Nacht sein.“ Die alte Tzimisce schien schließlich wieder das den Faden ihres eigentlichen Themas aufzunehmen. „Für die Wiederherstellung von Alyssa‘s wahrer Erinnerung müssen wir allerdings gar nicht so weit gehen. Jeder, der ein bisschen was von Beherrschung versteht ist in der Lage dies zu tun. Diese verfluchte Nacht war der Kern von Alyssas Wahn und ich habe ihn wie bereits gesagt entfernt. Das erlaubt uns auf diese Erinnerung zuzugreifen, auch wenn das Mädchen selbst leider schon ihr Ende gefunden hat. Wir könnten versuchen hinter den Schleier zu schauen, aber das geht, nur wenn diese Erinnerung ein Teil von euch wird und ihr mich in euren Geist lasst. Ich kann die Kräfte für den Erfolg meiner Idee nötig sind, nämlich nicht an mir selbst anwenden. Die Disziplin der Beherrschung ist mächtig, aber sie hat auch ihre Einschränkungen.“
Alida wich einen Schritt zurück. Misstrauisch sah sie zu den Phiolen, dann zu der Sammlerin. Sie hasste es, wenn jemand versuchte in ihren Geist einzudringen. Emilian hatte es mehr als einem Jahrhundert des öfteren ohne ihre Zustimmung getan um die Wahrheiten ans Licht zu fördern, die sie vor ihm zu verbergen suchte. Sie hielt sich selbst mittlerweile für jemanden, der es verstand eine ganze Weile seine Gedanken für sich zu behalten, aber einer uralten mächtigen Kainitin wie der Sammlerin würde auch sie nicht lang widerstehen können. Sie zögerte, nickte dann aber.
„Wenn dies euer Wille ist, dann helfe ich euch gerne.“ Alidas Gegenüber nickte. „Ihr müsst das Fläschchen mit Alyssas Erinnerung zu euch nehmen und nein ihr geht damit keinen Bluteid zu mir ein, das schwöre ich euch.“ Die Sammlerin hielt Alida eine ihrer bleichen Hände hin, damit diese sie ergreifen könnte. „Im ersten Moment werdet ihr sozusagen zu eurer ehemaligen Verwandten selbst. Danach ist die Erinnerung ein Teil von euch und mag dann nach und nach verblassen, bis ihr sie vielleicht irgendwann vergesst, oder sie wieder entfernt wird. Aber bevor ihr diese Entscheidung trefft, werden wir erst einmal der Wahrheit auf die Spur kommen.“
Alida sah sie fragend an. „Ich werde davon ausgehen, dass ich diese Erinnerung tatsächlich erlebt habe obwohl ihr mir dies alles erzählt habt?“
Die Sammlerin nickte. „Zuerst werdet die Ereignisse durch Alyssas Augen sehen und spüren was sie gespürt hat. Danach werden sich die Erinnerung anfühlen als hättet ihr sie selbst erlebt, auch wenn ihr immer noch wisst, dass es nicht die euren sind. Es ist wie gelesene Worte die dann zu einem Teil von euch werden. Bevor es aber dazu kommt, werde ich euch in eurem Geist aufsuchen um die echte Erinnerung zu finden.“
Wie die fremdartige Tzimiske bereits angekündigt hatte, behagte Alida der Gedanke an eine fremde Erinnerung ganz und gar nicht. Sie fragte sich, das Gespräch mit Leif noch immer im Kopf, was wohl schlimmer war: einer Erinnerung beraubt zu werden oder eine in den Geist eingepflanzt zu bekommen? „Warum entfernt ihr die Erinnerung, wenn ihr euer Werk getan habt nicht gleich?“
"Wenn ihr das wünscht, dann kann ich das in eurem Fall tun. Ich vermeide es nur manchmal bei schönen Erinnerungen, da die Extraktion einer Erinnerung viel Blut und Willen kostet."
„Nach allem, was ihr erzählt habt, handelt es sich bei Alyssas Erinnerung nicht um etwas Schönes… Ich verzichte dankend.“ Ihr Lächeln nahm etwas raubtierhaftes an.
"Dann seid ihr also bereit?"
Die Händlerin sog tief und lang die Luft ein, nickte dann.
Die Sammlerin nickte ebenfalls. „Gut. Macht euch auf eine Vielzahl von Bildern und Gefühlen gefasst. Dieser Erinnerung ist nicht konstant, sondern ein Amalgam vieler Momente und Gegebenheiten. Konzentriert euch, haltet nach mir Ausschau und führt mich zu euch, sobald ihr meine Präsenz spüren könnt.“
Alida versteifte sich und nickte erneut.
Die dürre Hand der Sammlerin ergriff schließlich die von Alida. In den kleinen Händen stecke eine ungewöhnliche Kraft, das konnte Alida spüren. Mit der anderen Hand hielt ihr die alte Tzimisce das giftgrüne Fläschchen hin. „Trinkt.“
Die Händlerin stellte sich darauf ein einen widerwärtigen Geschmack auf den Lippen zu spüren. Sie entkorkte den Flakon und führte das giftgrüne Etwas an die Lippen.
Der Inhalt des Fläschchens schmeckte nach nichts. Es kribbelte nur ein bisschen in ihrem Rachen. Danach dauerte es allerdings nur Sekunden, bis sich Alidas komplette Wahrnehmung und Welt völlig veränderten. Ihr Geruchs- und Geschmackssinn schien plötzlich ganz andere Dinge wahrzunehmen, sie spürte ihr Herz schlagen und die die letzten Strahlen einer untergehenden Sonne auf ihrer Haut. Alida, nein Alyssa ging im schnellen Schritt auf den van de Burse Kontor zu. Sie hatte Fehler bei einer Abrechnung gemacht und schämte sich dafür.
Das Bild änderte sich sofort wieder. Alyssa und damit Alida selbst kam sich nutzlos vor. So viele Cousinen und andere Frauen in ihrem Alter hatten eigene Familien und Kinder. War etwas mit ihr nicht in Ordnung, weil sie diese nicht hatte?
Eine neue Situation formte sich in Alidas Geist und wieder waren die neuen Erinnerungen gefüllt mit einer Reihe von Zweifeln, Scham und Gelegenheiten, die Alida, nein Alyssa so gerne vergessen hätte. Alida hatte plötzlich Angst als ihr eigener Ghul zu versagen, den Anforderungen nicht gerecht werden zu können. Die ganze Situation schien paradox.
All diese kleinen Momente bereiteten Alida aber nicht auf das vor was kam. Ein kleiner, düsterer Raum erschien. Es roch nach Branntwein und billigem Bier. Alida saß nackt auf dem Rand eines Bettes und hatte Schmerzen. Sie konnte nicht neben sich blicken, wo ein Mann, nein nicht irgendein Mann, ihr Bruder seinen Rausch ausschlief. Sie wollte sich übergeben, war verzweifelt und wusste nicht wie sie in diese Situation gekommen war. Gab es einen Ausweg? Sie wusste keinen und Verzweiflung stieg in ihr auf und schnürte ihre die Luft zum Atmen ab. Alyssa oder war es doch Alida brach auf dem dreckigen Dielenboden zusammen.
Alida wurde speiübel. Die Unmenge an schlechten Erinnerungen war viel und es war nicht leicht sie zu ertragen. Sie zwang sich immer wieder daran zu denken, dass dies alles nicht real sei, aber es fiel ihr merklich schwer.
Alida, nein Alyssa hatte sich übergeben und gerade als sich eine neue Erinnerung in ihrem Kopf formen wollte, spürte die blonde Tzimisce eine neue Präsenz an ihrer Seite. Die Fremdartigkeit und Wildheit der Sammlerin stach aus dem Brei von Gedanken und Gefühlen heraus wie eine Insel im Wasser, aber irgendwie hatte ihre Anwesenheit etwas ordnendes, etwas, dass es Alida ermöglichte wieder die Herrin ihrer eigenen Sinne zu werden und so konnte sie das erste Mal von der Erinnerung zurücktreten und sie als Beobachterin und nicht Protagonistin erleben. Die Zeit schien stillzustehen, Alyssa lag zusammengekauert auf dem Boden und Alida stand über ihr. Sie waren nicht mehr verbunden. Die Sammlerin schritt auf sie zu. „Eure Kontrolle ist beeindruckend. Nicht viele können sich dem Strom der Erinnerung entziehen. Schon gar nicht beim ersten Mal.“ Die Sammlerin war nicht genau die alte Tzimsice, die Alida vor wenigen Sekunden in den alten Gewölben von Flussfall zurückgelassen hatte. Hier handelte es sich um ein idealisiertes Abbild bleichen Frau. Irgendwie anmutiger und schöner.
Die Händlerin trat einen Schritt zurück um mehr Abstand zwischen sich und die beeindruckende Erinnerung zu gewinnen, was selbstverständlich nicht hilfreich war. Vor manchen Dingen konnte man nicht fliehen und Erinnerungen gehörten in den meisten Fällen dazu. „Alyssas Erinnerungen sind eindrücklich. Ich wünschte ich hätte vorher davon gewusst. Ich bedauere, dass ich ihr nicht helfen konnte.“