15. April
Er irrte dunkle Wege entlang. Irgendetwas trieb ihn an. Er wusste, er musste schneller wandern, laufen, rennen. Aber es war gleich. Er würde zu spät kommen, dessen war er sich bewusst. Irgendwo hörte er das Tropfen von Wasser. Gar nicht fern… wie Regen auf Blätter… war das Regen?
Es war nicht mehr weit.
Die Dunkelheit hatte ihn ganz und gar umfasst. Er tastete sich weiter und verlor dabei wieder Zeit. Er hatte das Gefühl, dass ihm kalter Schweiß den Rücken hinab ran, aber das konnte nicht sein, oder? Vielleicht nur die Feuchtigkeit?
Er fuhr mit den Fingern vorsichtig über die vertrauten Rillen in der alten Steinmauer und betätigte damit den Mechanismus, der die Geheimtür in Bewegung brachte. Sie schwang lautlos auf und gab den Blick in eine niedrige fackelbeschienene Eingangshalle frei. Teppiche an den Wänden und am Boden sorgten dafür, dass er sofort begann sich zu Hause zu fühlen. Aber dennoch… irgendwie…
Er ging weiter und bemerkte, dass seine Schritte langsamer, vorsichtiger, wurden. Er schob die Tür zu seinem Schlafgemach auf
Und stand in seinem Zimmer. Helles Tageslicht brach durch die Fenster und malte an den Stellen, an denen es durch die dünnen Stoffe schien, bunte Farbmuster an die weißgetünchten Wände.
In der rechten Ecke stand sein Bett mit weichen Decken und Kissen ausgelegt, alte Schwerter von fernen Zeiten und Ländern hingen zur Zierde darüber. Daneben stand ein großer mit Intarsienarbeiten verschönerter Schrank aus weißem Ahornholz und an der linken Seite ein großer Schreibtisch mit einer weit darauf ausgebreiteten Weltkarte. Über einer Waschschüssel mit darüber angebrachtem Spiegel erkannte er sein Gesicht: ernste Züge, den bekannten drei Tage Bart, die tiefen grauen Augen.
Dann bemerkte er sie plötzlich: die Gestalt im Schatten hinter dem Schreibtisch. In einen schwarzen Mantel gehüllt. Die Kapuze tief ins Gesicht gezogen. Trotzdem wusste er, dass er beobachtet wurde .Die Gestalt wartete, ließ ihn ein- und ausatmen.
Dann schlug sie die Kapuze zurück. Er wusste, wessen Angesicht ihm aus dem Dunklen entgegen blicken würde. Er hatte es oft genug in seinen Träumen gesehen und in dem ein oder anderen hatte er dabei ein Schwert in der Rechten gehalten um es dem Mann in das gleichmäßig schlagende Herz zu stoßen:
Sebastian von Augsburg
>Es freut mich, dass du hierher gefunden hast. Ich habe lang auf dich gewartet.< Er seufzte. >Ich dachte immer, von allen Bewohnern Brügges wärest du mein größter Feind. Ich hatte dich aus Wut, Zorn und dem Wunsch nach Rache für diese Rolle vorgesehen, aber ein anderer hat deinen Platz eingenommen. Das Schicksal spielt einem manchmal interessante Streiche, nicht wahr?<
Er machte eine einladende Geste Richtung Schreibtisch. >Tritt ruhig näher. Dir wird nichts geschehen. Dies hier ist nichts… ein Sommerhauch… eben noch verspürt, im nächsten Moment dahin geweht. Doch lassen wir die Poesie.< Ein Lächeln breitete sich auf seinen blassen Lippen aus. >Dies ist nichts als ein Traum und dieser Traum wird dich an deine Grenzen führen, so wie Träume es manchmal zu tun pflegen wenn man tränenüberströmt aufwacht und sich nicht erinnert aus welchem Grund einem dies widerfährt, nicht wahr? Geh deinen Weg und du wirst wieder erwachen. Oder bleibe…<
Der Blick seiner grauen Augen bohrte sich in die seinen. >Dies hier… < Er deutete auf mehrere Gegenstände, die in zarte Seide gehüllt auf dem Schreibtisch lagen. > ist die Auswahl deiner Waffen. Wähle!< Nun stand er dem Zauberer direkt gegenüber. Nur die Holzplatte trennte beide voneinander.
Fünf Gegenstände lagen ausgebreitet: mehrere kleine ecSo real und doch so unwirklich fühlten sich seine Bewegungen an, als ob eine unsichtbare Macht ihn voran treiben würde an einen Ort, der ihm merkwürdig vertraut und gleichzeitig doch so fremd war. Eine Nacht, die wievielte? Es spielte keine Rolle mehr, gelegentlich ließ er sich dazu herab ein paar sterbliche Bürger nach dem Jahr zu fragen oder einen Blick in Alidas Aufzeichnungen zu werfen, Kobalt versah seine Ratsaufzeichnungen auch immer vorbildlich mit einem Datum – bedeutungslos. Im Grunde bedeutungslos, neue Zeiten bedeuteten einfach nur neue sterbliche Errungenschaften, Kriege die gefochten und Allianzen die gebrochen wurden. Leben und Tod wurden zu einer Fußnote für emsige Chronisten, die verzweifelt versuchten ihre Fußstapfen im Strom der ewig voranschreitenden Zeit zu hinterlassen. Er würde überdauern, er würde all dies überdauern ohne einen Tag zu altern. Liliane würde verzweifeln, Alida würde ihn fragen, was er gedachte mit dieser unendlichen Zeit anzufangen, er selbst lebte hauptsächlich im Moment, auch wenn ihn die äußeren Umstände neuerdings oft dazu zwangen ein Stück weit über die Spanne einiger Wochen hinaus zu blicken.
Der versteckte Mechanismus, der feuchte Regen oder Schweiß, der ihm den Rücken hinunter lief, die fackelerleuchtete Eingangshalle in Gerrits Untergrundnest, ein schier endloses Labyrinth an feuchten, tropfenden Gängen und mittlerweile üppig und behaglich eingerichteten Schlaf- und Arbeitsräumen, Waffenräumen und Schmieden, Lagermöglichkeiten und Versammlungspunkten. Es war alles hier, das auch sonst wie üblich hier war und dennoch fühlte es sich anders an.
Als er die Tür zu seinem Schlafraum öffnete fiel ihm, als ob der Gedanke eine längere Zeit gebraucht hatte, sich durch seine Gehirnwindungen zu graben und eine kleine, innere Stimme zu formen, plötzlich ein das er weder schwitzen noch außer Atem sein sollte und das er eigentlich kaum mehr als eine Schlafkoje besaß, abgedeckt mit einem schweren Vorhang. Sonnelicht, weißes, blendendes Sonnenlicht das durch große Fenster fiel und frisch getünchte Wände, die eine heimelige Atmosphäre versprühten. Ein Licht, das ihn normalerweise ein respektvolles Unwohlsein und innere angespannte Vorsicht beschert hätte, todbringend, alles verzehrend. Es machte ihm nichts aus. Und aus all diesen unwirklichen und merkwürdigen Eindrücken wurde ihm schlagartig klar: Wo immer er war, es war nicht das Hauptquartier der Wolfsbrigade, es war nicht der Untergrund der Diebesgilde und schon gar nicht seine Schlafkoje. Der kunstvoll gefertigte Schrank, sowie die Weltkarte die über dem Schreibtisch ausgebreitet lag waren ihm nicht geläufig und sein Gesicht, das sich im Spiegel über der Waschschüssel reflektierte sah merkwürdig lebendiger aus, als er es gewohnt war.
Ein Traum, dachte Lucien bei sich, als er die kaum merkliche Bewegung der in dunklen Roben gehüllten Gestalt bemerkte und sich etwas schärfer die Luft einatmend, zu eben jener umdrehte. Atmen, Lungen die sich gierig mit Sauerstoff füllten… nein, das war mitnichten die Realität. Aber es war auch zu real für einen Traum und als er die Gestalt in den Roben endlich erkannt hatte, wurde ihm auch schlagartig bewusst woran das liegen mochte – Sebastian von Augsburg, der „Augsburger“ wie er ihn mittlerweile abwertend betitelte. Der Hexenmeister, Ursurpator und Stiefellecker der Tremere Blutschänder. Der Mann, der es geschickt geschafft hatte Leif Thorson in seine Gewalt zu bringen, mit Lügen oder scheinheiligen Versprechungen. Der Mann, der wohl nach all den Jahrhunderten den meisten Groll auf ihn hegte und diesen wohl im geheimen, beinahe zärtlich zu pflegen wusste. Lucien grinste verächtlich.
„Willkommen? Und du hast lange auf mich gewartet Hexer? Nun, das würde voraussetzen, dass ich freiwillig hier bin oder einer freundlichen Einladung gefolgt wäre – nichts wäre weiter von der Wahrheit entfernt. Sag mir Augsburger warum bei allen Niederhöllen besuchst du mich schon in meinen Träumen? Zu gefährlich mir Auge in Auge gegenüber zu treten?“ Lucien trat einige Schritte näher an den Tremere heran und schüttelte abfällig den Kopf. „Oh, dein größter Feind also? Darf ich dich daran erinnern das du es warst der sich dazu entschlossen hat mich als seinen Feind zu erachten? Es war dein Zorn und deine Entscheidung mich dazu zu machen, jetzt lebe gefälligst damit. Ich hatte nie ein Problem mit dir, bis du dich erneut selbst dazu entschlossen hast dazu zu werden. Du hast deine Entscheidungen getroffen Tremere und hattest stets die Wahl, lebe damit ob untot oder als blutgeknechteter Saftbeutel.“ Kurzzeitig wurde der Gangrel stutzig. „Ja, ich habe auch ebenfalls vernommen was am Kloster deiner Brut geschehen ist, Gerrit… „, er pausierte kurz, „Gerrit hat mir alles davon erzählt und auch das er bedauerlicherweise nicht dazu in der Lage war, es damals schnell und sauber zu beenden. Such dir deine Feinde wie du willst kleiner Sebastian – dir bleibt nur eine Möglichkeit offen: Nimm deinen Fluch von Leif und lass die Finger von Brügge und der Politik dort, verzieh dich in das finstere Loch deiner Hexerkollegen und lass nie wieder etwas von dir hören, das ist alles was ich dir anbieten kann. Ansonsten wirst du sterben, egal ob es Gerrits Äxte oder meine Klauen sind die dich zerreißen. Das ist mein letztes und einmaliges Angebot.“
Der Gangrel dessen Augen sich bei seinen eigenen Worten zusehends verfinstert hatten, machte einige bedrohliche und schnelle Schritte Richtung Tisch und kam davor zu stehen, als Sebastian die mit Seidentüchern abgedeckten Gegenstände präsentierte. „Ein Sommerhauch? Ein poetisches Werk? Was soll der Schwachsinn, willst du mich töten dann tu es und zögere nicht länger, willst du mich ziehen lassen dann lass mich gehen aber hör auf deine Zaubererspielchen mit mir zu spielen. Wenn das hier ein Traum ist, kannst selbst du mir nichts anhaben denn hättet ihr die Macht dazu, hätte sich eure Brut schon längst zum mächtigsten Clan der Nächte aufgeschwungen.“ Lucien stützte die Hände demonstrativ auf der Tischkante auf und funkelte Sebastian einschüchternd an, während er sich ein Stück weit nach vor lehnte. Nur Zentimeter trennten sein Gesicht von dem des Tremere. Sein Gesichtsausdruck spiegelte Unsicherheit wieder, er schien die Situation einzuschätzen. Schließlich nickte er ohne den Blick von Sebastian zu wenden. „Gut Tremere, dieses eine Mal spielen wir wieder nach deinen Regeln. Sollte das noch mal vorkommen, ist das dein sicheres Todesurteil, ganz ohne Vergeben und Vergessen, Absolution oder Entscheidungsalternativen die dir offen stehen. Also…. was hast du hier für einen merkwürdigen Unsinn in diesen Traum geschleppt?“ Sein Blick glitt hinab auf das Tuch und versuchte zu erahnen, was sich darunter verbergen mochte.
(3 Erf. - Gegenstände über die er mehr wissen will: 1. Die Kiste, 2. Die Eisenstange, 3. Die Steine)kige Steine, eine längliche Metallstange, eine Kiste, eine Blume und ein flacher, ungefähr handtellergroßer flacher Gegenstand.
„Du irrst, Sabatier. Dies hier ist dein Traum, nicht mein magisches Werk. Ich weiß nicht, warum ich in dieser Nacht ebenfalls hier bin. Oft trifft man hier in dieser Art von Traum diejenigen zu denen man ein wie auch immer geahndetes emotionales Band geknüpft hat. Ich war vor langem bereits hier und ich habe damals einen Weg aus diesem Traum gefunden. Ich kann dir nun die Richtung zum Ausgang weisen, den Weg musst du selbst gehen.“
Seine Augen fixierten die von Lucien ohne einen Zoll zurück zu weichen.
„Warum ich das tue? Warum ich nicht einfach beschließe zu erwachen? Das wäre einfacher, nicht wahr? Zum einen, weil es in dieser Art von Träumen möglich ist sich an sein sterbliches Dasein zu erinnern und zu fühlen, was man längst vergessen geglaubt hatte… und zum anderen…“
Ein Lächeln, das nur seine Lippen und nicht seine Augen erreichte breitete sich über seinen Zügen aus. Er atmete ein und lange wieder aus. Lucien spürte den Lufthauch.
„… wäre es doch eine Schande, wenn mein allerliebster Erzfeind für immer in seinen Träumen wandeln würde ohne dass ich meine gerechte Rache erhalten habe, oder?“
Er griff zu einem Becher Rotwein, der links von ihm auf dem Schreibtisch stand.
„Auf Jakob! Prost!“
Dann schwieg er und betrachtete die Gegenstände. Lucien erkannte ein eisernes Kurzschwert, einen Koffer, wie ihn Ärzte oder Apotheker für Medizin verwendeten und zehn Runensteine, die wohl dafür da sein konnten einen Blick in die Zukunft zu erahnen.
Lucien hob den Blick leicht von den Gegenständen um erneut misstrauisch und sichtlich verärgert in Sebastians Augen zu blicken. Die Bewegung seines grimmigen Hauptes, war ein kaum merkliches, ungläubiges Kopfschütteln. "Was soll das bedeuten? Heißt das, dies hier ist weder dein noch mein Traum, sondern unsere gemeinsame Traumlandschaft in der wir uns befinden? Wer hat uns dann hierher gebracht? Wer... " Er schüttelte erneut verwirrt den Kopf und fasste sich dann wieder.
"Nun gut Hexer, sei es drum. Ein Traum den du bereits kennst, ein Traum dem du schon einmal entflohen bist, wer oder was immer dich hier damals und nunmehr uns beide hier zusammen geführt hat." Er beobachtete wie der Tremere den Becher an die Lippen hob und ihm theatralisch zuprostete. "Auf deinen Jakob, möge er in Frieden ruhen. Was immer das Schicksal für ihn bereit gehalten hätte, der Tod war weitaus gnädiger und das kann ich dir ruhigen Gewissens mitteilen." Lucien griff zum Tuch und zog mit einer flinken Handbewegung das Kurzschwert hervor, hielt die Schwertklinge knapp vor sein Gesicht und warf einen prüfenden Blick auf dessen Schärfe. "Das Schwert mein lieber Sebastian, die Zukunft können wir nicht wissen und Heilung von Wunden ist nicht mein Metier doch die Klinge ist dieser Nächte allgegenwärtig." Erneut sah er gefassten Blickes zu Sebastian.
"Im übrigen hast du recht. Es wäre viel zu einfach hier mit dir zu verotten, wir sehen uns auf dem Schlachtfeld mein Lieber, da wo alles begann wird auch wieder alles enden, egal an was wir uns aus unseren sterblichen Tagen erinnern oder nicht - zeig mir den Weg, Hexer."
Sebastian sah Lucien an als er nach dem Kurzschwert griff und ein kaum merkliches Lächeln glitt über seine Züge. Es handelte sich um eine silberne scharfe Klinge altertümlicher Machart. Sauber und scheinbar niemals zuvor berührt.
"Selbstverständlich vertraut ihr auf die Macht der Waffen. Sabatier."
Er schnaubte verächtlich: "Wenn ihr den Tod dem Unleben vorzieht, dann sei euch gerne gestattet, dem euren ein Ende zu bereiten. Eine Wahl, die ihr anderen nicht lasst, nicht wahr?" Sein Blick glitt über die Waffe. "Sei's drum. Wir werden nicht hier verrotten. Keine Angst. Aber eins sei euch bewusst, Sabatier: Wir beide werden uns nie auf dem Schlachtfeld begegnen. Ihr werdet mich eines Tages richten, mit euren KLauen, euren Zähnen oder vielleicht noch einem Schwert, wenn euer Hass euch blind vor Zorn gemacht und euch schier um den Verstand gebracht hat. Aber seid euch dann im Klaren darüber, dass ich es sein werde, der diesen Zeitpunkt gewählt hat!"
Sebastian wandte sich ab und sein schwarzer Umhang schuf einen dunklen Fleck, wie ein Loch im hellen sonnendurchfluteten Raum. Er öffnete die Tür nach draußen und Lucien war einen Moment geblendet.
Er konnte vor dem Haus, das seinem im Wald von Brügge ähnelte, hohe lichte Bäume erkenne, deren Laub gerade begann sich golden und kupfern zu verfärben. Vögel sangen in den hohen Zweigen und die letze warme Luft des Sommers schien sich am saftigen Gras des Waldes festsaugen zu wollen um dem Herbst noch nicht Einlass gewähren zu müssen. In zarten Spinnweben glitzerte der Tau. In einem angebauten Stall hinter dem Haus wiehrte ein Pferd.
Sebastian zeigte mit einer Hand nach Westen. "Dort befindet sich Brügge. Ihr kennt den Weg. Auch wenn ihr ihn sonst des Nachts zu wandern pflegt." Er machte eine allumfassende Geste: "Aber die Welt steht euch offen. Im Norden ist das Meer. Im Südosten gelangt ihr nach Brüssel. Der Südwesten führt euch in eure Heimat. Ihr seid doch Franzose, Sabatier, nicht wahr?"
Sein blick war bohrend als wollte er nach Luciens Gedanken greifen, er wandte sich dann jedoch einer Spinne zu, die im Zentrum ihres Netzes saß und mit raschen Bewegungen ihre Beute einwickelte.
Er ging einige Meter weiter zu einem steinernen Becken, dass eine Quelle umfasste und griff in das kalte Wasser. Er zog einen ungefähr handtellergroßen Gegenstand hervor und reichte ihn dem Hauptmann der Stadtwache.
"Ein Geschenk von Leif." Es handelte sich um einen silbernen Spiegel.
Lucien zog die Mundwinkel süffisant nach oben und schenkte dem Hexer, einen gelangweilten beinahe genervten Blick. „Ist euch schon einmal aufgefallen das ihr euren ach so verdammenswerten Zorn, mit Zorn vergelten wollt? Wählt euren Zeitpunkt und erfreut euch daran solange ihr noch könnt – aber nicht zulange, sonst werden andere euch diese Entscheidung abnehmen.“ Der Gangrel drehte das altertümliche aber neuwertige, frisch geschliffene Schwert in seiner Hand und verstaute es an seinem Gürtel. Als Sebastian die Tür öffnete war es ihm, als ob er aus seiner Hütte im Wald treten würde - abermals so vertraut und doch so fremd. Das warme, helle Licht der Sonne und der auffrischende Wind, der sanft durch die Baumwipfel der sich verfärbenden Bäume strich, zauberte ein genussvolles Lächeln auf seine Lippen. Das sich so etwas so derartig real anfühlen konnte? Vielleicht war ja doch ein wenig Magie in diesem ganzen faulen Zauber. Unlängst des Hauses, vernahm er ein altbekanntes Wiehern und ohne das Pferd auch nur gesehen zu haben, war ihm klar, es musste sich um den guten, alten Ajax handeln.
Noch während Sebastian ihn über die verschiedenen, möglichen Ziele seiner traumähnlichen Reise aufklärte, ging er Richtung Stall und tätschelte seinen treuen Brabanter liebevoll, strich ihm mit fast väterlicher Fürsorge über das weiche Fell. Anschließend öffnete er den Verschlag und führte Ajax ins Freie, wo er ihm Sattel und Zaumzeug umlegte. Als der Augsburger gerade in das steinerne Becken griff und diesem, einen zunächst eigentümlich anmutenden Gegenstand entnahm, schwang sich Lucien in den Sattel und ritt ein Stück näher an den Tremere heran. Wortlos sah er sich in allen Richtungen um und nickte dann bestimmt. „Franzose… das war einmal kleiner Sebastian. Was spielen Länder noch für eine Rolle außer der Tatsache, dass man sich des Nachts nostalgisch darüber unterhalten kann? Die Wege sind mir im Übrigen bekannt auch wenn ich sie nur im dunklen Zwielicht eines fahlen Monds kenne ja.“
Neugierig ließ sich Lucien den runden, handtellergroßen Spiegel reichen – wagte es aber nicht hineinzublicken. Misstrauisch beäugte er den Hexer. „Ein Spiegel? Von Leif? Was soll das bedeuten? Ist er auch hier mit uns? In diesem Traum? Wie ist so etwas nur möglich?“ Kopfschüttelnd umwickelte er den Spiegel mit einem dünnen Tuch und verstaute ihn anschließend in seinen Satteltaschen. Für einen Moment begutachtete er den jungen Sebastian und musst dann erneut ungläubig grinsen. „Pff… Diese lächerlichen Traumgebilde werden wohl nie ein Ende haben solange ich nicht den Weg hier raus finde was? Na dann, bringen wir es hinter uns. Ich reite nach Brügge, was immer dort auch sein soll – und solltet ihr Leif sehen, könnt ihr ihm ausrichten das ich dorthin unterwegs bin. Ihr habt ja jetzt so ein … inniges Verhältnis habe ich gehört.“ Daraufhin gab er Ajax die Sporen und sprengte den lehmigen Waldpfad, Richtung Brügge davon.
Sebastian verschränkte nur die Arme und lachte. Lucien konnte ein "Viel Glück," das ihm hinterhergerufen wurde vernehmen.
Lucien ritt auf seinem Brabanter durch den lichten Herbstwald. Die Sonne hatte den Zenit überschritten und brach durch das bunte Blätterdach. Lucien war überrascht wie schnell der Hengst bei hellem Tageslicht über die Wege zu galoppieren vermochte. Er spürte die Anstrengung, die der Ritt seinem sterblichen Körper abverlangte. Sein Atem ging schneller, sein Herz hämmerte im Takt der Schritte des Pferdes, Schweiß klebte seine Leinenkleidung an seinen Rücken und seine Muskeln begannen zu brennen. Er hatte das Gefühl sie seit Ewigkeiten nicht benutzt zu haben. Und dennoch spürte er, dass er Teil des Lebens um ihn herum war, nicht einfach nur ein stiller Beobachter.
Die Baumstämme standen nun in immer größerem Abstand und machten langsam Feldern mit Gemüse und goldenem Korn Platz. Bauern bestellten ihre Äcker oder gönnten sich eine Mittagspause mit Bohneneintopf oder was auch immer sie in ihrem würzig duftenden Tongeschirr mitgebracht hatten und grüßten ihn respektvoll von unten wenn er an ihnen vorüber ritt. Ein Bauer zog gar den großen Strohhut von seinem kurz geschorenen Schädel, senkte das Haupt mit den Worten: "Meister Sabatier." bevor er erneut zur Sense griff.
In der Ferne ragte hoch die Stadtmauer von Brügge gen Himmel. Lucien bemerkte, dass sie im Vergleich zu seiner Erinnerung höher war. Die Schießscharten waren verbessert worden, es gab einen mit Ziegeln überdachten Wehrgang und ehemals baufällige Anteile waren restauriert worden. Die Flaggen der Stadt leuchteten bunt am blauen Himmel.
Lucien kam näher und bewunderte das mächtige Eichentor. Davor saßen zwei Männer mit langen Hellebarden, die interessiert zusahen, wie sich das Pferd und sein Reiter näherten. Einer der beiden kontrollierte gerade einen Wagen und die Fuhrleute bevor sie in die Stadt durch gewunken wurden. Der andere hielt schließlich inne und kam mit einem breiten Grinsen auf ihn zu: "Meister Lucien. Ihr seid schon zurück? Hattet ihr Erfolg? Waren nur Gerüchte, so wie ihr vermutet habt, oder?" Es handelte sich um Joachim ohne Schwert, der demonstrativ seine Rechte auf ein in einer Lederscheide steckendes Schwert ruhen ließ.
Lucien bewunderte die große Stadt Brügge bei Tageslicht - natürlich war es nicht sein Brügge, die Stadt war nur eine Traumlandschaft, wie real sie ihm auch erscheinen mochte. Dennoch musste er zugeben, dass sie selbst hier im Traum, so im hellen Sonnenschein wirklich prächtig aussah. Zudem hatten sich auch die Verhältnisse nicht verändert, er war offensichtlich immer noch der Hauptmann der Nachtwache. Na, zumindest etwas schien in diesem merkwürdigen Traum vertraut zu bleiben. Er zügelte sein Ross und kam kurz vor Joachim stehen, begutachtete zufrieden, wie dieser seine Hand and die Hüften stemmte - ein Schwert in der Scheide. Zumindest hier machte der Narr, keine Fehler. Lucien nickte kurz und schien sich nichts anmerken lassen zu wollen. Irgendwie war es merkwürdig, es war doch nur ein Traum - sollte er in einem Traum lügen können? Würden sich die Figuren wie in der Realität verhalten? Er wusste es nicht aber er müsste es darauf ankommen lassen.
"Gerüchte? Joachim... was für Gerüchte?" sagte er, gespielt abwesend und grummelnd.
"Hm..." er überlegte kurz. "Die Gerüchte mit dem Wolfsrudel in den Wäldern. Einige Händler, die vor ein paar Tagen mit ihren Wagen auf dem Weg nach Brügge waren haben Wolfsgeheul vernommen und waren verängstigt. Einige Mitglieder der Händlergilde haben sich dafür ausgesprochen 30 Jäger anzuheuern und die Meute auszurotten. Ihr wisst ja wie das mit den Viechern ist, Meister. Im Frühling bis Herbst friedlich. Und im Winter wenn der Hunger kommt gierig und ohne Furcht. Na ja. Bis zum Winter ist ja noch lang hin." Er nickte. "War gar keine schlechte Idee, dass ihr mich zum Tagdienst habt versetzen lassen. Hier ist zwar tagtäglich um einiges mehr los, aber die jungen Dinger die tagsüber unterwegs sind, schau’n einen mit Rüstung und prächtigem Schwert immer hinterher. Da hat man automatisch ‚nen Stein im Brett..." Er bemerkte den kleinen Fehler in seinen Worten. "Natürlich erst nach Feierabend, Meister." Er schaute ertappt und wechselte das Thema. "Wohin führt euch denn nun euer Weg heute am Erntedankfest? Der Gottesdienst ist bereits beendet, aber eure Pflichten werden vom Herrn sicher so vergolten, dass ihr nicht zu jeder Messe anwesend sein müsst."
Lucien nickte leicht zu den Worten Joachims, seine Gedanken überschlugen sich, äußerlich ließ er sich aber nichts anmerken. War das nur die Logik des Traums? Das er hier angeritten kam um zu verkünden, bei den Wölfen handle es sich nur um Gerüchte? Oder warn die Wölfe Teil der Prüfung bzw. des Weges aus dieser Traumlandschaft hinaus? Schwierig zu sagen. Er beschloss es erst einmal dabei bewenden zu lassen, bezüglich der Wölfe als auch bezüglich Joachims Aussage. "Solange du deinen Dienst ordentlich versiehst kannst du Weibern nachsehen soviel du magst - nur nicht das Schwert vergessen und den Kopf einschalten."
Er stieg von seinem Pferd und nahm Ajax am Zügel bevor er sich weiter ins Zentrum der Stadt aufmachte. Ein lockerer Blick über die Schulter bevor er sich im Gedrängel verlor. "Besorgungen Joachim, Besorgungen. Ich muss noch zum Schmied und dergleichen. Immer schön die Augen offen halten." Zugegeben, er hatte keine Ahnung wohin er sollte aber es war ein Traum, irgendwas würde schon passieren, warum also nicht einfach weiter ins Zentrum gehen? Er machte Ajax am Stall zu einem Wirtshaus fest und warf dem Stallburschen eine Münze zu, sah sich dann den Markt zum ersten Mal bei Tageslicht an
"Jawoll, Herr. Schwert und Kopf. Immer dabei." Er tastete an das Schwertgehänge und dann tippte er sich leicht an die Stirn. Er rief Lucien, der sich im Gedränge der Menschen verlor hinterher: "Hat der Schmied heute zum Erntedanktag nicht zu?" Lucien konnte noch schwach vernehmen, wie Joachim laut zum andern Wachmann rief: "Ja, damals als der Hauptmann und ich allein sechs Angreifer auf der Burgmauer abgewehrt haben. Ich habe ihm damals das Leben gerettet. Ja, ohne mich wär’ er heut nicht hier, der Gute." Seine Stimme wurde leiser und verklang im Lärm der Menge.
Der Hauptmann der Stadtwache führte sein Pferd durch die belebten kopfsteingepflasterten Strassen. Die Bewohner hatten große Körbe voller Speisen dabei, die sie zum wohl demnächst folgenden Festschmaus zu ihren Freunden und Familien mitbrachten. Lucien roch schweren Rotwein, frisch gebackenes Brot, würzigen Käse, eingelegten Fisch und frische Trauben, Äpfel und Birnen. Ab und an hoben manche Passanten die Köpfe und nickten ihm freundlich zu. Ajax verlangsamte seine Schritte in der Menge automatisch. Sie kamen nur noch schwerlich auf der Hauptstraße voran.
Das Leben gerettet? Naja von irgendwelchen Geschichten musste man als Wachmann ja auch leben - er ließ dem Jungen seinen überschwänglichen, wenngleich auch etwas falschen Stolz. Er erinnerte sich zurück an die prahlerischen Tage, als er mit dem alten Onger unter der alten Steinbrücke gesessen hatte und der ihm erzählt hatte, wie sie den Bürgermeister von Osnabrück samt Gattin ausgenommen hatten und der Werfel seinen Gürtel vergessen hatte... ja, so kleine Geschichten vertrieben einen in der eintönigen Monotonie des Wartespiels oft die Zeit. Der Gangrel, der in diesem Traum keiner war grinste leicht und ließ sich von einem riesigen Wirrwarr an verschiedenen Sinneseindrücken und Düften verwöhnen. Unter anderem Umständen wäre ihm schon schlecht davon geworden aber hier war er wieder sterblich, eine Erinnerung, süßer als Honig. Wie lang war es her, dass er etwas gegessen oder getrunken hatte? Blut, Blut war das einzige was es seit Jahrhunderten gab und es war gut so.
Aber in diesem Traum, waren alle Regeln umgedreht. Blut verlor seinen Reiz, die Luft zum Atmen war notwendig und Essen eine große Verlockung. Er flanierte an den Ständen entlang, nickte einigen Bewohnern zu und kaufte sich schlussendlich an einem Stand eine dicke Scheibe Speck, etwas Käse und Brot. So ausgerüstet, ließ er sich mit einem Humpen Bier an einem Tisch nieder.
Er schnitt ein stück käse und Speck ab, biss ein Stück Brot von seinem Laib und kaute wie ein kleines Kind, das zum ersten Mal seine Zähne benutzte. Der Geschmack war... überwältigend. Und das Beste: es blieb alles in seinem Magen, selbst der Schluck köstlichen, kalten Bieres das in tiefen Zügen seine Kehle hinunter ran.
So saß und aß er eine zeitlang, ließ sich die sterblichen Köstlichkeiten schmecken und fand wie ein blinder, der zum ersten Mal Farben voneinander unterscheiden konnte, gefallen an der so lange verschmähten Kost. Bevor er seinen Gang durch die Stadt fortsetzen konnte, musste er fast lachen, als sich seine Blase zu Wort meldete. Er stellte sich an eine nicht so belebte Straßenecke und ließ Mutter Natur, freien Lauf. Kleinigkeiten, dachte er. Lächerliche Kleinigkeiten aber man vergisst sie, wenn man tot ist. Er beschloss, dem Brügger Stadtturm einen Besuch abzustatten, schließlich wurden hier die Rastsitzungen abgehalten. Möglicherweise würde er hier ja auch auf Leif treffen oder Liliane? Hatte Sebastian ihm nicht den Spiegel von einem der anderen überreicht? Lucien war sich unsicher aber was sollte wohl schon schief laufen, bisher war es nur ein netter sehr real wirkender Traum
Lucien ritt zum Belfried. Der große Platz vor dem hohen Turm war zwar voller Menschen aber in der weite der Fläche verlor sich ein wenig das Gedränge der Massen. Er wurde ohne eine Kontrolle durch das äußere Tor gelassen und stand im schmalen Innenhof. Die Seitentreppen führten nach Oben Richtung Treppenhaus. "Meister Sabatier, Hauptmann der Nachtwache." Ein ihm vom entfernten Sehen bekannter Schreiber trat beiläufig an ihm vorbei: "Was führt euch heute zum Belfried?"
Lucien musterte zunächst den Belfried, danach den Schreiber, den er dereinst schon zu später Stunde gelegentlich mit einem Haufen Pergamente und in ständiger Eile hatte, durch die Korridore laufen sehen. Tagsüber wirkte der Belfried majestätisch, des Nachts eher bedrohlich stellte er beiläufig fest bevor er sich dem Schreiber zuwandte. "Oh, nichts... ich wollte mich nur erkundigen ob Herr van Thorson oder Madame Erzhausen hier sind? Monsignore Gerrit oder van der Burse vielleicht?"
Der Schreiber überlegte und zwirbelte dabei nachdenklich seinen dünnen Kinnbart. "Herr Thorsson ist, wenn ich ihn richtig einschätze, derweil noch im Hospital. Sobald er seine Arbeit dort getan hat, wird er sich zum Festessen zum Haus der van de Burses aufmachen. Desgleichen gilt für die Herrin van de Burse, die jedoch wahrscheinlich ihren Besuch im Waisenhaus bereits beendet haben mag." Er kräuselte die Lippen. "... der war für die Mittagsstunde angesetzt...Monsignore Gerrit? Der Name sagt mir leider nichts, Herr."
Lucien nickte nachdenklich und abermals begannen seine Gedanken zu arbeiten. Kein Gerrit? Wie konnte Sebastian ihn von diesem Traum ausschließen, er oder wer immer auch sie hier zusammen in dieses Gebilde gesperrt hatte? "Ein Festessen? Oh, natürlich verzeiht. Erntedank natürlich." Ein Blick auf den Sonnenstand verriet ihm, dass die Mittagsstunde schon vorüber war. Nun, es mochte keinen Gerrit geben aber zumindest Alida und Leif waren im Anwesen beim Essen. Da er davon ausging, dass sie ebenfalls mehr als lediglich Traumprojektionen ihrer wirklichen Existenzen waren, würde er sich dahin aufmachen. Er verabschiedete sich mit einer knappen Verbeugung. "Vielen Danke, ihr habt mir dennoch sehr geholfen. Entschuldigt mich, ich werde die Damen und Herren an dem mir von euch genannten Ort aufsuchen, noch einen schönen Tag euch."
Lucien wandte sich schon zum Gehen, da kam ihm ein Gedanke. "Ach, bezüglich Sir Aldur.. von dem wisst ihr auch nicht zufällig wo er sich gerade aufhält?"
Ein kurzes Lächeln wanderte über die Züge des alten Mannes. "Sir Aldur wird ebenfalls der Einladung zum Festmahl gefolgt sein, nehme ich an."
Ein abermals zufriedenes Lächeln. "Gewiss doch, das wird er wohl. Danke und gehabt euch wohl." Er machte sich eilig auf Richtung Alidas Anwesen.
Das Anwesen der Familie van de Burse wirkte tagsüber verwinkelt und ein wenig verschlafen. Träge umfloss das Wasser der Kanäle die Mauern der Gebäude. Über eine Steinbrücke gelangte Lucien zu einer großen Pforte. Der diensthabende Knecht ließ ihn ohne große Kontrollen passieren. Lucien ritt durch eine kurze Allee aus Birnbäumen deren Früchte noch nicht abgeerntet waren. Zu seiner Rechten lagen die Wirtschaftsgebäude und die Stallungen, links ließ ein metallener Zaun den Blick auf den Fluss frei in dem sich weiße Gänse und Enten tummelten. Hühner stoben panisch vor den großen Hufen von Ajax davon während sie näher an die Hauptgebäude ritten. Die Pforte zum Haupthaus war groß und in einem kräftigen Rot gestrichen.
Lucien stieg ab und band Ajax am nahen Stallgehöft fest, tätschelte den verlässlichen Brabanter sanft und sah sich etwas amüsiert um. Es war tatsächlich Alidas Anwesen auch wenn er es zum ersten Mal im warmen Sonnenlicht erblickte. Fast war es wie eine kleine Abenteuerreise alla: Brügge bei Tag - eine ganze neue Erfahrung. Nun, die Auskünfte die er erhalten lassen, ließen den Verdacht aufkommen das er zumindest hier einige der anderen finden würde. Und wenn es nicht wirklich "die anderen" waren sondern nur Traumgebilde, so war zumindest äußerst gespannt, wie sich diese hier verhalten würden. Es gab einen Weg aus diesem Traum und was sollte dagegen sprechen das er nicht hier, bei Alidas Anwesen beginnen konnte? Nichts. Er klopfte leicht gegen die kräftig rot gestrichene Eingangspforte. Des Nachts kam sie ihm immer Blutrot vor, hier aber war es eher kirschfarben. Merkwürdig was das Licht der Sonne so alles ausmachte.
Ein alter Knecht öffnete die Pforte. Lucien kannte das kantige vernarbte Gesicht. Es handelte sich um einen Ghul von Alida, an dessen Namen er sich im Moment nicht erinnern konnte. Die Stimme war kräftig. "Guden Tach, Meister Sabatier. Ihr seid schon da? Das wird de Herrschafte aber freue. Kommt nur e mo nin." Er öffnete die Tür noch weiter. Drinnen erkannte Lucien weiß gestrichene Wände mit Gemälden und Wandteppichen, bunte Teppiche waren ausgelegt es roch nach allerlei köstlichen Speisen aus der, wie er wusste, vor ihnen liegenden Küche. "Kommt mit. Wollter mer de Mantel gebbe? Drinne is es warm." Er nahm Luciens Mantel an sich. "Isch glaub, die brauchter hier drin nit." Er deutete Richtung Schwert. In einiger Entfernung vernahm Lucien fröhliche Stimmen und Gelächter.
Lucien lächelte als ihm der alte Diener öffnete und überreichte diesem, wie in einem wohl einstudiertem Theaterstück den Mantel. Als der Diener nach dem Schwert verlangte, machte er nur eine abweisende Geste. "Der Hauptmann ist immer im Dienst, selbst beim Essen... ihr versteht das sicher." Gab er mit einem Zwinkern von sich. Tatsächlich wollte er sich von der einzige griffbereiten Waffe, die er in diesem Traum hatte nicht trennen, weder seine Klauen noch die brachiale Übermacht seiner untoten Existenz standen ihm jetzt noch zur Verfügung. Er schritt Richtung Speisesaal, den er schon öfters des nachts besucht hatte um anschließend Alida in seinen Privatgemächern zu besuchen und mit ihr die nächtlichen Angelegenheiten der Stadt zu diskutieren.
Helles Sonnenlicht fiel durch die Glasscheiben und tauchte den Raum in durchsichtiges Gelb. Ein großer länglicher Tisch war in der Mitte des Raumes aufgebaut auf dem bereits einige kalte Speisen abgestellt waren. Die Getränke waren in Tonkrügen und Karaffen in der Mitte aufgereiht. Herbstastern und einige letzte Sonnenblumen waren als Schmuck angebracht worden. Bis auf zwei Personen war die Tafel noch unbesetzt. Lucien erkannte Alida die mit einem hochgewachsenen Mann mit tiefliegenden nachdenklichen Augen über die Ideen von Platon diskutierte und weiter hinten Liliana, die in einer Traube von junger Mädchen von ihrem Besuch im Waisenhaus berichtete. Auch einige Herren nickten anerkennend und versuchten näher in die Gesellschaft der schönen ansprechenden Adeligen zu gelangen. Vor dem großen Kamin, in dem ein Feuer brannte saßen zwei junge Leute um die 17 nachdenklich über ein Schachspiel gebeugt. Lucien erkannte Marlene und ein ihm vertrautes Gesicht mit braunem Haar. Jean? Eine Magd trug einen Braten herein und balancierte dabei um die Gäste herum.
Ein wenig belustigt ließ Lucien die Szenerie auf sich wirken. Da war die reich gedeckte Tafel, erhellt von buntem, goldenem Sonnenschein, voll von getragenen, herrlichen Düften einer prall gefüllten Erntedanktafel. Da war Alida, die sich in den wunderschönen intellektuellen Phrasen von Platon erging und Liliana, die der hohen Gesellschaft an Damen und Herren, gleichermaßen entweder mit ihrem Aussehen oder ihren damenhaft kichernden Allüren den Kopf verdrehte und schließlich die Kinder, Jean und Marlene beim Schachspiel. Das ganze war so wundervoll kitschig und beinahe berührend schön, dass er fast schon gelacht hätte. Wie aus dem Märchenbuch oder in den Psalmen des Bischofs am Sonntag. Wie rau, finster, brutal und gottlos doch die Realität war. Nichtsdestotrotz machte er ein paar Schritte auf Alida zu und lächelte sie erwartungsvoll an. Es würde sich zeigen, wen er da vor sich hatte. "Hallo Alida, danke für die Einladung. Ich bin ein wenig zu früh nehme ich an?"
Alida erhob sich freudig überrascht. Ihr Gesicht war rosig und die sonst so bekannte Blässe gänzlich verschwunden. Sie drückte ihn kurz an sich und hauchte ihm einen Kuss auf die Wange. "Aber nicht doch, Lucien. Wenn's ums Essen geht schient ihr Männer doch immer pünktlich zu sein." Sie lachte und deutete auf dei Ganz, die gerade herein getragen wurde. Der Mann der links von ihr gesessen hatte erhob sich ebenfalls und klopfte ihm kräftig auf die Schulter. "Na Lucien? Hast du den Wald schon unsicher gemacht oder brauchst du nächtliche Unterstützung?" Er grinste verschwörerisch. Die Stimme war recht tief, ihm jedoch im ersten Moment nicht vertraut. In einiger Entfernung versuchte sich Liliana höflich von ihren Zuhörern fürs erste zu verabschieden. Sie kam auf Lucien und die anderen zu.
Lucien nickte dem Mann zu und ein Lächeln umspielte die sonst so blassen Lippen. Lippen, die heute genauso rosig waren, wie die Wangen Alidas. Es war alles so traumhaft hell und schön, wie ein Gemälde, dass er abermals hätte lachen müssen. Der sachte, warme Kuss von Alida und Gerrit, der wie der freundliche Onkel dem Familienfest beiwohnte. Alles zu schön und zu freundlich um wahr zu sein. Er räusperte sich kurz, ließ aber den Kuss sowie alle Begrüßungen über sich ergehen. Er musste Gewissheit haben. "In der Nacht ja, ich bin es ja eigentlich schon gar nicht mehr gewohnt tagsüber auszureiten. Fast schon zu hell." Er lächelte gutmütig und wartete geduldig auf eine Reaktion von einem der anderen. Egal wer es sein mochte.
Alida stimmte ihm zu. "Ja, da du immer für die Nachtwache zur Stelle bist, kommst du tagsüber nicht viel nach draußen. Heute ist das ja, Gott sei Dank, anders." Liliana trat kurz näher, begrüßte ihn, tauschte einige freundliche und höfliche Worte mit ihm, wurde dann jedoch bereits wieder von einer jungen Frau heran gewunken, die unbedingt mehr über die bedürftigen, mittellosen Kinder wissen wollte.
Der junge Mann an ihrer Seite, den Lucien richtig als Gerrit erkannt hatte, nickte ebenfalls. "Und unsere Wolfsbrigarde natürlich... "stimmte er fast unhörbar zu.
Die Jugendlichen am Schachtisch hatten ihr Spiel beendet und traten näher. Marlene umarmte Lucien kurz einmal stürmisch und nahm dann wieder ihren Platz an der Seite von Jean ein. Der Junge hatte mittlerweile Luciens Größe erreicht. Die Ähnlichkeit war nach wie vor verblüffend. "Lucien. Du bist schon wieder da? Ich hätte erst in den Abendstunden mit dir gerechnet. So wie immer halt... Ich hab die Wachen an den Toren, so wie du es vorgeschlagen hast verstärken lassen, extra Munition bereit stellen lassen und die Schicht heute Nacht nach eigenem Ermessen aufgestockt. Ich hoffe, das war so in deinem Sinn?" Er sah Lucien mit seinen grauen Augen fragend an.
Lucien nickte kurz nachdenklich aber nicht minder freundlich, beobachtete das Schauspiel eine zeitlang und wartete auch Lilianes Begrüßung ab bevor er sich wieder zu Gerrit umdrehte. Er wollte gerade zu einigen Worten ansetzen da überraschten ihn die Kinder, allen voran Marlene. Er konnte gar nicht anders als sie in den Arm zu nehmen, etwas das er früher noch nie getan hatte. Ein merkwürdiges aber doch unfassbar gutes Gefühl, als sie ihn mit ihren strahlenden, lebendigen Augen anblickte. Sie lebte, er auch.. es gab keinen dunklen Abgrund der die beiden trennte. Gleichsam verhielt es sich bei Jean, der ihm immer ähnlicher zu werden schien und ein ganzes Stück gewachsen war. Die Ähnlichkeit kam ihm schon immer merkwürdig vor, irgendjemand... musste sich da wohl einen Scherz erlaubt haben, oder Gott oder der Teufel oder wer auch immer hatten nur wieder einmal gewürfelt. Bedauerlichweise gab es wenige Zufälle wenn man untot war, musste er sich resignierend eingestehen. Der ehemalige Räuber klopfte Jean anerkennend auf die Schulter und zog die Lippen zu einem schmalen Lächeln. "Ah, heute ist Erntedank, das darf ich doch nicht verpassen oder? Und bei dem was Alida hier wieder auftischen lässt, wer lässt sich das entgehen? Ich glaube die Pflicht kann auch für ein paar Stunden ruhen damit sich auch der Hauptmann der Nachtwache ein wenig der ... Familie widmen kann." Merkwürdig wie schwer ihm dieses Wort über die Lippen gekommen war. Aber der Verdacht, einer fröhlichen ungetrübt- heimeligen Familiensituation drängte sich ihm buchstäblich auf, als er die Szenerie genauer betrachtete. "Das mit den Wachen ist immer eine gut Idee, wenn so viele Bürger sich Heim und Herd an Erntedank wissen sind alle etwas unachtsamer, gut gemacht Jean." Erneut ein Klopfen auf die Schulter. "Halt mir einen Platz frei, ich muss nur eben noch was mit Gerrit besprechen." Mit diesen Worten drehte er sich um und winkte Gerrit näher an sich heran. "Wolfsbrigarde und Nachtwache hin und her. Gerrit.... das helle Licht, die Speißen. Wir .. sind verflucht, Gerrit. Macht dir das Licht nichts aus?" Fürwahr etwas gewagt aber er würde es drauf ankommen lassen müssen. Trat er in ein Fettnäpfchen würde er sich eben wieder herausreden müssen. Er sah seinen alten Weggefährten, einschätzend an, ruhig auf eine Antwort wartend.
Gerrit nickte ihm zu. Seine Augen sahen ein wenig traurig aber ebenso entschlossen aus. "Ja, vielleicht sind wir das, verflucht. Aber dieser Tag gehört uns, dir und mir und ich bin bereit dieses Spiel fürs erste mitzuspielen. Ich habe meine Familie seit Jahrhunderten nicht mehr gesehen, aber es gelingt mir, mich besser an sie zu erinnern, wenn ich sie hier in diesem Traum sehe. Wir werden schon wieder hieraus kommen. Wenn wir denn wollen." Lucien musterte das ihm so unvertraute Gesicht, das markante Kinn, den kurzen sauber gestutzte Bart, die wachen etwas tief liegenden Augen mit dem nachdenklichen Blick und die geraden dichten Augenbrauen. Wenn einer der Kainiten das Bedürfnis nach ein wenig alltäglicher Normalität hatte, ohne abgestoßenen Schreien von Passanten bei seinem Anblick ausgeliefert zu sein, dann wohl Gerrit.
"Ich weiß nicht was der Hexer will, aber das hier ist nur ein realer Traum und bisher bin ich aus jedem Traum erwacht, nicht wahr?"
Mittlerweile waren auch die anderen Besucher an den Tisch geeilt und hatten sich rundherum nieder gelassen. Lucien saß zwischen Jean und Gerrit, ihm gegenüber zwei junge Mädchen, die er nicht kannte. Marlene saß Jean gegenüber. Jean reichte ihm eine Schüssel dampfender Kartoffeln und Bohnen. Ein leicht misstrauischer Zug lag auf seinem Gesicht. "Ich hab dich noch nie was essen sehen, fällt mir gerade auf. Beim Trinken mit den Jungs bist du immer mit dabei, da gibt’s keine Frage, aber beim Essen? Hm... Na ja, wer kann da schon widerstehen, nicht?" Er langte nach einer Gänsekeule und biss herzhaft hinein.
Lucien ergriff beinahe dramatisch die Schüssel und lud sich eine gute Portion Bohnen und Kartoffeln auf, griff dann ebenfalls nach einer knusprig angebratenen Gänsekeule und biss, vielleicht ein bisschen zu raubtierhaft in das saftige Fleisch. Er schlang ein paar Bissen gierig hinunter und, klatsche dann Jean kameradschaftlich auf den Hinterkopf. "Hör auf zu starren, Junge, der Hauptmann ist hungrig, lang zu, sonst ess’ ich dir noch alles weg. Sei froh, dass du mich noch nie hast essen sehn, sonst würdest du nichts abbekommen. Ich hab Hunger wie ein Wolf." Er grinste den Jungen wohlwollend an und schenkte Marlene ein beinahe spitzbübisches Zwinkern.
Als Lucien wenige Augenblicke später nach seiner Gänsekeule greifen wollte, fasste er ins Leere. Einen Moment war er verwirrt. Ein kurzer Blick ging Richtung Marlene, die sich ein Grinsen nicht verkneifen konnte und kurz davor war laut loszuprusten. Sie schluckte im letzen Moment. Dann blieb sein Blick an Jean hängen der ebenfalls grinste und sich eine frische Gänsekeule, die wohl eben noch auf Luciens Teller gelegen haben mochte, schmecken ließ. Der junge Mann lachte im gleichen Moment wie Marlene laut auf und reichte ihm beschwichtigend eine frische knusprig duftende Keule. "Hey. Ich muss doch beweisen, was ich so alles von dir gelernt hab, oder?" Dann biss er erneut in das zarte Fleisch. Marlene bewarf ihn mit einer Kartoffel. Lucien grinste als er die Kartoffel fliegen sah und auch als er mit Verwunderung feststellen musste, das beiden jungen Leute äußerst flink und behände waren - um nicht zu sagen geschickt. Er hatte sich das alles erst aneignen müssen, ein langwieriger und oftmals gefährlicher Lernvorgang. Aber was konnte man schon machen, wenn es ums Überleben ging? Damals wie heute. Er ließ sich von Jean die Keule reich und biss erneut in das saftige Fleisch. "Nicht schlecht Junge, für dich haben wir immer Verwendung.. sowohl als auch." Und er hoffte, dass Jean den kleinen Hinweis verstehen würde.
Jean grinste ebenfalls, biss jedoch die Lippen aufeinander. "Klar, was wäre die Nachtwache denn ohne mich?" Er sah Lucien herausfordernd an.
Dieser stumpte ihn von der Seite an und grinste anerkennend, schenkte sich dann einen Krug Bier nach. "Da wirst du noch ein wenig Üben müssen aber ja, wer weiß.. vielleicht eines Tages Jean. Vielleicht wirst du meine Arbeit irgendwann übernehmen, wenn du bereit dafür bist." Er nahm einen großzügigen Schluck und grinste zu dem verdunkelten Geritt. "Ist eh keine besonders dankbare Sache."
Marlene stieß ihn unterm Tisch mit dem Fuß an: "Hey, Jean. Ärger deinen Boss nicht, ja?" Jean wirkte kurzzeitig ernster. "Er weiß schon wie' s gemeint ist. Die Jungs sind manchmal etwas anstrengend, aber solang sie tun was man ihnen sagt, klappts schon. Und das haben sie mittlerweile gelernt. Auch wenn sie nicht besonders angetan waren von dem Gedanken, dass ich ihnen in deinem Namen ne Extraschicht aufgebrummt hab." Er sah Richtung Lucien und reichte ihm eine Kanne mit schäumendem Bier
Lucien nickte ebenfalls etwas ernster werdend. "Du hast es zumindest soweit hinbekommen das Joachim sein Schwert dabei hat, was schon ein großer Fortschritt ist." Er lachte schallend und beruhigte sich dann aber schnell wieder. "Nein ernsthaft, du machst deine Sache gut soweit. Lass die Drückeberger nur merken wie wichtig das hier alles ist - die sind das einzige was uns von dem da draußen trennt. Du machst das schon." Der Gangrel nickte erneut anerkennend und nahm ihm die Kanne ab, füllte den Teller dann mit etwas Kartoffeln und etwas Gemüse nach. "Bei dir alles gut Marlene?" fragte er schmatzend.
"Sofern ich das Schachspiel im Anschluss gewinne und Jean endlich zeige wo sein Platz ist... bei Schach matt... auf jeden Fall." Sie griff nach dem Rotwein und nippte daran. "Müsst ihr später wieder früher weg und die Wache überprüfen?" Sie sah Lucien und Jean an
Ein Schulterzucken von Lucien folgte und er sah sich zu Jean um, warf ihm einen fragenden Blick zu. "Im Grunde vertraue ich dir soweit, dass du die Wachüberprüfung selbst durchführen könntest Jean aber wenn du möchtest kann ich dich dennoch begleiten - es liegt bei dir. Mir ist es ganz einerlei."
Jean knirschte mit den Zähnen. "Klar kann ich das selbst übernehmen, aber die Gerüchte mit den Wölfen verunsichern die fahrende Händler und mit deren Geschwätz auch die Bürger und Wachleute. Die fühlen sich sicherer, wenn sie zu Hause in ihren Häuschen sitzen und auf Frau und Kind aufpassen können." Er sah Lucien an. "Kein Problem, ich übernehm die 9h und die Mitternachtsschicht. So oft kommst du ja auch nicht tagsüber raus. Ich frag mich eh, wie du das anstellst" flüsterte er eher zu sich selbst
Er nickte und in seinem Gesicht spiegelte sich ernsthafte Sorge wider. Sollte das mit den Wölfen am Ende doch noch eine besondere Bewandtnis haben? Er hustet kurz und räusperte sich - man würde fragen müssen es half ja alles nichts. "Ach, man gewöhnt sich schnell an diese Schichten.. tagsüber schlafen oder dösen und nachts dann frisch und ausgeruht. So sollte es sein für jemand der die Nachtwache über hat." Dann legte er den Kopf leicht schief. "Wegen der Wölfe Jean... wie ernst ist die Bedrohung? Meinst du ich sollte während du die Wache inspizierst noch einmal ausreiten?"
Er schnaubte überlegend. "Keine Ahnung. Du weißt ja wie die Leute sind: Kaum heult irgendwo ein Hund heißt es wieder Wölfe, Wölfe. ZU Schaden gekommen ist niemand und du hast ja, glaub ich, auch nichts gesehen, oder? Die werden sich schon wieder beruhigen. Ich ängstige mich sicher nicht vor ein paar großen Hunden. Nichts für ungut, aber wir sind die Stadtwache von Brügge und wir haben gute und hohe Mauern. Was sollen uns da schon ein paar Wölfe, oder?" Alida war hinter ihnen aufgetaucht und reichte ihnen ein paar Becher mit einem duftenden Getränk: "Hier! Zur Feier des Tages. Probiert mal. Nennt sich Kaffee. Haben wir aus Afrika mitgebracht. Unglaublich bitter aber sehr stärkend."
Lucien lehnte sich in seinem Sessel zurück und schien für einen Moment gedankenverloren, für einen kurzen Moment schien er wirklich so als wäre er der Hauptmann der Nachtwache, ein Mensch und Bürger Brügges und nicht das groteske Monster das die Wälder des nächtens durchstreifte, auf der Such nach Blut und Herausforderung. Er nickte leicht zu Jean. "Ach die Leute reden immer viel aber Sicherheit ist wichtig, auch wenn es vielleicht gar nichts ist, immerhin beruhigt es die Leute zu wissen das sich jemand darum kümmert. Wenn die Leute sich sicher fühlen läuft die Stadt. Ich werde es mir beizeiten noch einmal ansehen, vielleicht kommst du dann ja mit." Als Alida näher trat, blickte er verwundert zurück nahm dann aber verdutzt einen Becher und schnupperte daran. "Afrika? Wo ist das?" Dann nahm er einen kleinen Schluck und verzog das Gesicht. "Bitter in der Tat meine Liebe, ich hoffe dieser.. Kaffee war nicht teuer, er schmeckt abscheulich."
Alida lachte: "Oh doch. Er war unsagbar teuer. Aber das macht nichts. Heute darf das ausnahmsweise mal so sein," Als der Nachtisch aufgetragen wurde wandte sich Jean kurz an Lucien udn Marlene. "Ich mach mich mal kurz auf und kontrolliere das Osttor und lass mi Bericht erstatten. Ich bin in ner Stunde pünktlich zur Torte wieder da." Er erhob sich. Marlene tat es ihm gleich, erntete aber nur verächtliche Blicke der beiden Mädchen, die neben ihr saßen. "Ich geh mit. Muss doch garantieren, dass er zum Schachspiel wieder da ist und sich nicht drückt." Eines der Mädchen zischte ihr zu: "Wenn du dich weiter so benimmst, bekommst du nie einen Mann." Marlene zischte zurück: "Wer sagt, dass ich einen brauche?" Sie streckte dem holden, blonden Geschöpf die Zunge heraus und schob den Stuhl zurück. Gerrit zu seiner rechten stieß ihn an und flüsterte: "Ja, ja. Die Jugend von heute. Wir waren ganz anders." Ein verschmitztes Grinsen lag auf seinem Gesicht
Lucien grinste Geritt an und schien für den Bruchteil einer Sekunde nachzudenken. "Ach waren wir das? Ich weiß gar nicht, ich hab gebettelt und gestohlen und später... mmh.. hab ich nur mehr gestohlen aber ich hab auch schon damals nie das gemacht was von mir erwartet wurde insofern mag ich die Einstellung der kleinen Marlene." Er winkte den beiden zum Abschied und wie zur Bestätigung das Jeans kleiner Wachausflug genehmigt und abgesegnet war. "Pass auf sie auf Jean", rief er ihm noch nach und stellt dann den Kaffeebecher vor sich auf den Tisch, das Gesicht leicht verziehend. Nein, Afrika war nicht sein Fall - definitiv nicht. Zu Alida gewandt schienen seine Augen zu leuchten, diesmal nicht rot. "Oh, es gibt Torte? Meine Güte.." Er überlegte wann er das letzte mal auch nur eine Torte gesehen hatte.
"Später. Sie lachte ihm zu und nahm dann Marlenes Platz ihnen gegenüber ein." Sie wandte sich an die beiden Mädchen. "Lady Liliana beabsichtigt sich in der Kemenate nebenan frisch zu machen und ihre Garderobe zu überprüfen. Vielleicht möchtet ihr der Dame Gesellschaft leisten?" Die beiden standen wie eine eins gemeinsam auf und suchten mit den Augen nach der schönen braunhaarigen Adeligen
Der dunkelhaarige Mann überdrehte die Augen als die beiden Mädchen Richtung Liliane verschwanden und sich im gehen noch kichernd über allerlei Albernheiten unterhielten. "Was machen die eigentlich hier? Schleppt Liliane seit neuestem ihre Bewunderer selbst mit auf Erntedankfeiern?" Er schüttelte den Kopf und grinste. "Naja sei’s drum, die Lady von und zu war ja schon immer eigen." Seine Augen wanderten zu Alida. "Und wie geht es dir in diesem Traum?" Frei heraus, man wusste ja nicht woran man war.
Ihre Augen wurden kurz schmal. Sie überlegte. "Es ist wunderbar alle Freunde und den größten Teil der Familie zusammen zu haben. Leif fehlt leider, aber wir wissen ja, wie das mit den Heilern ist. Wahrscheinlich hat er einen Verletzen zu versorgen oder sticht einen Star oder zertrümmert einen Stein, oder wie auch immer das heißt..." Sie sah die beiden Männer an. "Ich hätte vor allem nicht gedacht, dass es euch beiden gelingen würde zu kommen. Wie habt ihr es bewerkstelligen können?"
Lucien sah zu Gerrit dann wieder zurück zu Alida und hob die Schultern. "Ich weiß es ehrlich gesagt nicht?" Dann etwas zögerlicher. "Alida, du bist dir bewusst das dies ein Traum ist?" Er hob eine Augenbraue.
Sie sah ihn mit großen Augen fragend an.
Er hob abwehrend die Hände und grinste etwas frecher. "Alles nur ein Test, ich wollte wissen ob dieser Kaffee da nicht doch mit irgendwelchen Giften von Muhammed dem Assamiten versetzt war, hätte ja sein können." Er lachte kurz. "Alles in Ordnung Alida, Spaß muss sein." Er nahm wie zur Bestätigung den Becher Kaffee und stellte ihn vor ihr ab. "Dennoch ist er nicht mein Fall, trink ruhig wenn du magst."
Sie nahm das Gebräu und trank es in kleinen Schlucken. Das Fest ging weiter. In Zucker kandierte Äpfel wurden aufgetragen, süße Pfannkuchen mit Beeren und Schlag und ein Gugelhupf mit braunen Rosinen. Die leeren Teller schienen wie von selbst zu verschwinden und nur ab und an fiel eine hastige Magd auf, wenn sie einen der Besucher anstieß oder ihm auf den Fuß trat. Einige Tische wurden weggetragen und so wurde Platz für mehrere Musiker geschaffen, die irgendwann zu spielen begannen. Kerzen wurden entzündet. Lucien bemerkte, dass draußen langsam die Sonne zu sinken begann. Sie streckte ihre zunächst goldenen, dann rötliche Strahlen durch die Butzeglasscheiben und tauchte alles noch ein letztes Mal in ihren Glanz.
Die Musiker begannen mit einer langsamen Weise und ließen dann einige rasche flandrische Tänze folgen. Einige Besucher waren aufgestanden und begannen einen Reigentanz der gerade in Mode war. Röcke wirbelten durch die Luft, ab und an zu stießen die Tänzer gegeneinander und gerieten aus dem Takt. Die Gespräche verebbten nach und nach, die Zuschauer am Tisch applaudierten und klopften entweder den Takt am Tisch mit oder klatschten laut. Als ein bekanntes holländisches Trinklied angestimmt wurde fielen alle Besucher laut grölend und lachend mit ein.
Lucien hörte den seltsamen leisen Ton wie aus weiter Ferne. Er kannte ihn, aber wusste im ersten Moment nicht woher. Die Musik war viel zu laut.
Er konnte ihn nicht näher zuordnen. Vielleicht in wenigen Minuten, wenn das LIed zu Ende war.
Lucien ließ das Fest munter voranschreiten, er lachte, er aß, er trank und klatschte im Takt der Musik, ließ sich sogar dazu herab ein wenig laut grölend mitzusingen und mit den Füßen zu stampfen. Wirtshausatmosphäre - wenn es etwas gab das er kannte dann dies. Und er war froh das Alida nicht weiter nachgefragt hatte d.h. die gedankliche Traumprojektion von dem was Alida sein sollte - nun der Traum schien wohl die eigene Bestrebung zu haben schlüssig zu bleiben also war nichts geschehen. Aber was wusste er schon über solcherart Träume? Rein gar nichts. Er lauschte den Klängen aber ihm war nicht ganz klar wo er die zarte Melodie schon dereinst vernommen hatte.
Mehrere Minuten verstrichen. Die Musiker beendeten das Lied, ließen es aber direkt flüssig ins nächste überlaufen. Der Ton bestand nach wie vor, leide und fern. An- und abschwellend.
Lucien erkannte den Ton. Es war das Horn der Stadtwache, in das in den Momenten geblasen wurde in denen Gefahr für die Stadt und ihre Bewohner bestand. Es ließ alle Mitglieder der Stadtwache an den jeweiligen Toren versammeln und war ohne dass irgendjemand davon wusste auch ein Notruf an die Wolfsbrigarde, die ihre eigenen Vorkehrungen zu treffen wusste.
Lucien horchte auf und wies in Richtung Musiker einmal kurz inne zu halten und gebot ihrem Spiel, mit einer raschen Bewegung Einhalt. Der Hauptmann lauschte und nein, er hatte sich nicht verhört - tatsächlich das Wachhorn erschallte, klar und deutlich. Was immer auch los sein mochte, es war ein dringender Warnruf und etwas dem man unverzüglich Folge zu leisten hatte. Er erhob sich und nickte den noch Anwesenden zu. "Das Wachhorn wurde geblasen, was immer gerade los ist - es ist dringend. Ihr entschuldigt mich." Rasch verließ er die warme Stube Richtung Ausgang, ließ sich seine Mantel reichen und trat durch die rote, hölzerne Eingangspforte hinaus ins Freie. Eilig Schritt er den Weg entlang zum nächsten Wachtor, immer lauschend woher der Schall des Horns erklang.
Sowohl Gerrit als auch Alida waren an seiner Seite nachdem er die rote Pforte durchschritten hatte. Gerit nickte ihm zu: "Ich kümmer mich um die Wolfsbrigarde. Du übernimmst die Wache?" Er wartete Luciens Antwort nicht ab sondern schwang sich auf ein großes graues Pferd mit schwarzer Mähne. Alida hielt den Hauptmann kurz am Arm. In ihrer linken war der altvertraute Bogen "Das ist das Südtor, oder? Der Ruf: lang- lang- lang-lang. Das ist nicht so weit von hier. " Sie ging Richtung Stallung und rief laut: "Matthes, die Pferde." Ein Stalljunge gehorchte umgehend und begann die Pferde fertig zu machen.
Er nickte ihr ernst und bestätigend zu, Geritt klopfte er nur noch im Gehen auf die Schulter, jeder kannte seine Aufgabe es galt nur noch rasch zu handeln. "Das Südtor.. ja", murmelte Lucien nur und war schon zügig auf Ajax gestiegen, als der Stallbursche die Pferde gesattelt und mit Zaumzeug versehen heranführte. "Beeilen wir uns.. und sei auf alles vorbereitet", rief er ihr zu und sprengte schon in vollem Galopp Richtung Südtor.
Lucien preschte auf Ajax Richtung Südtor. Er wusste, dass Alida hinter ihm ritt, hörte das Schnauben des grauen Pferdes und den schnellen Atem der jungen Frau. Ab und an musste er sich mit einem „Macht Platz! Aus dem Weg!“ bemerkbar machen, denn viele Leute waren auf die Straße geeilt um zu erfahren, was sich gerade zugetragen hatte und unterhielten sich angeregt mit ihrem Nachbarn über die Ereignisse bevor die zurück in die Häuser schlenderten. Dieser langtonige Ruf der Hörner, das wusste jeder Bürger in Brügge, galt nicht dem einfachen Volk sondern den Männern der Stadtwache. Lucien machte sich den Platz den er brauchte auch wenn das für den ein oder anderen blaue Flecke bedeutete und einzelne Flüche, die ihm hinterher gerufen wurden, mit einzelnen Zwischenrufen. „Sei still. Das ist doch der Hauptmann.“
Schließlich erreichten sie das Tor.
Marlene hatte sie bereits erkannt und kam die Treppe des Wachtors herunter gerannt um die Zügel der schweißnassen Pferde in die Hand zu nehmen während sie abstiegen. Sie strich sich die rotblonden Haare zurück und Lucien erkannte Angst in ihren blassen Zügen. Einige Männer in schwerer Bewaffnung hatten ihn ebenfalls erblickt und kamen auf Lucien zu.
Marlenes Stimme war fest.
„Da draußen am Waldrand wird ein Handelszug aus wohl 20 Händlern und Bauern angegriffen. Jean hat ungefähr zehn Minuten verstreichen lassen, aber als du nicht gekommen bist, hat er sich gezwungen gesehen einen Teil der Männer zusammen gerufen und den Händlern entgegen zu reiten. Wir haben oben auf dem Wehrgang gestanden und versucht heraus zu bekommen, was die Leute angreift aber… „ wieder stieg Panik in ihr auf.“ … keine Ahnung…. Vielleicht Wölfe, aber diese Kreaturen sind zu groß für Wölfe und… irgendwie… deformiert.“ Marlene suchte nach den richtigen Worten, drückte ihm dann jedoch ein schmales Fernrohr in die Hand. Ihre Stimme war leise: „Lucien, was ist das?“