Sa 15. Nov 2014, 00:37
Der Wald war ein Miasma an tausenden kleinen widerwärtigen Eindrücken und Gerüchen geworden, jede Wurzel und jeder Baumstumpf kamen ihm fremd vor, dabei hatte er doch eine derartige lange Zeit in der unsicheren, unwirtlichen Gegend rund um Brügge verbracht. Jeder Baum und jeder Zweig waren ihm vertraut, es war seine Domäne und sein Jagdgebiet, sein Revier. Heute Nacht, in dieser unwirklichen Realität eines geteilten Traumes, wurde diese Vertrautheit schnell zu einem alptraumhaften Spiegelbild dessen, was es einst für ihn bedeutet hatte.
Mit jedem Schritt den er tat, kam er sich verlorener und unwillkommener vor und der bestialische Gestank, zusammen mit dem blutigen Knacken von Knochen und Fleisch, gepaart mit dem animalischen Knurren und Heulen der Bestien, die sich rings um ihn wohl im Verborgenen versammelt haben mussten, führten ihm äußerst eindrücklich vor Augen, dass dies nicht länger die Wildnis war, die er kannte. Die Dornen zerschnitten seine Kleidung und seine Haut, kratzten brennende Spuren in seinen Körper und ließen ihn schmerzverzerrt die Zähne zusammenbeißen. So verletzlich war er an diesem Ort, so zerbrechlich – der Schattenwolf in seinem eigenen Terrain, kein Gangrel und kein Kainit mehr, sondern ein gewöhnlicher, sterblicher Mensch. Mit einer Hand vor dem Mund, ein ersticktes Würgen unterdrückend, schritt er hastig und unbeholfen durch die Finsternis, immer der Kreatur vor ihm folgend, die er jedoch bald aus den Augen verlor. Er verfluchte sich selbst und seine menschlichen Schwächen, die ihm gerade in diesem Augenblick zutiefst zuwider waren. Seine Augen hätten ihn jedes noch so kleine Detail in dieser pechschwarzen Nacht erkennen lassen, sein Körper hätte Hieben standgehalten die einen geringeren buchstäblich in der Luft zerrissen hätten und seine Klauen wären durch die Reihen gefegt, wie die Sense durch ein Weizenfeld zur Erntezeit. Dennoch half alles nichts, in dieser Realität, galten andere Gesetze und so sehr er auch seinen guten Schluck Bier und die saftigen Speisen an Alidas Tafel vermisste und gar gerührt gewesen war, ob der Tränen bei ihrem Abschied – hier wäre das Monster Lucien gefragt gewesen und nicht der Tunichtgut und Wegelagerer aus Aquitanien.
Mit einem letzen Satz, kämpfe er sich verschwitzt vor Anstrengung und innerer Anspannung durch das fahle Dickicht und trat in die nur spärlich erleuchtete Lichtung hinaus. Sein Atem wurde langsamer und kondensierte in der kalten Nachtluft, als er die Augen zusammenkniff um in der schier endlosen Schwärze zumindest Umrisse erkennen zu können. Der vermeintliche Alphawolf und die schmale Silhouette einer beinahe nackten Frau, der die Überreste ihrer schäbigen Kleidung in Fetzen vom Körper hingen, drängten sich in die Aufmerksamkeit seines Blickfeldes. Ein Knurren später, sah er schwarze Schemen die sich unterwürfig ins raschelnde Unterholz verzogen – offensichtlich hatte die nächtliche Schönheit die Führung übernommen.
Sein Blick glitt an ihr herab, als er bleiernen Schrittes näher trat, gleichwohl, als hätte man schwere Steine an seine Füße gekettet und der nieselnde Regen, schien den ohnehin feuchten Waldboden in einen morastigen Sumpf zu verwandeln. Luciens Herz schlug schneller, als er die Unbekannte genauer in Augenschein nahm. Das prachtvolle, wallende Haar, die wachen, gierigen Augen einer Jägerin die mit ihrer Beute spielte und dieses sanfte, schmale Lächeln mit der Gewissheit überlegen zu sein, formten mit langsam dämmernden Gedanken und Erinnerungen zudem sich ein intensives, berauschendes Gefühlserleben gesellte, einen Namen.
„Vanya…“
Er sprach es tonlos, neutral, beinahe wie die Verse aus einem uralten, längst vergessenen Buch, das man lieber nicht zu öffnen wagte und wirkte dennoch erschrocken überrascht. Sie war hier, in diesem Traum, in diesem Wald, genauso wie er sie in Erinnerung hatte, genauso wie er sie zuletzt gesehen hatte. Vanya, seine Erzeugerin. Ihre Bewegungen geschmeidig und anmutig, ihre Stimme der melodische Klang einer Nachtigall, ausgestattet mit rasiermesserscharfen Zähnen und Klauen, die schon Jahrhunderte vor ihm, die namenlosen Gräber mit dutzenden unvorsichtigen oder allzu siegessicheren Sethskindern gefüllt hatten. Wenn Liliane schon ihn als unmenschliche, animalische Bestie abtat, hatte sie Vanya noch nicht gesehen. Blut und der Ruf der Freiheit, den die Wildnis den Gangrel bot waren ihr Begehr und auch seines war dereinst geflossen. Damals, als er sein Leben aushauchte in dieser jämmerlichen, verfallenen Holzfällerhütte in Toulouse. Es war Vanya, Traum oder nicht, die da vor ihm stand und ihn mit dieser ganz eigentümlich sinnlichen Stimme ansprach, die seinen Atem schon damals ins Stocken gebracht hatte. Der Schein vermochte zu trügen, denn auch der Panther war von edler Schönheit und dennoch todbringend und gnadenlos. Nur wenige wussten, was sich hintern diesen vollen Lippen, hungrigen Augen und verführerischen Rundungen verbarg. Ein Tier bleibt ein Tier.
Lucien musste sich zunächst einen Augenblick sammeln um die Unwirklichkeit dieses Moments, richtig einordnen zu können. Das alles ergab keinen Sinn und wenn doch, entzog ihm sich dieser völlig. Seine Stimme klang voller Unsicherheit und misstrauischem Zweifel als er langsam zu einer Antwort ansetzte.
„Vanya…. Es ist lange her als wir uns das letzte Mal gesehen haben. Vielleicht gar Jahrzehnte wie du meintest aber was soll das alles bedeuten?“ Seine Hand machte eine ausholende Bewegung, die den Wald und ihre Bestien darin einschloss. „Seit wann führst du eine Meute an und weshalb seid ihr hier? Du weißt das selbst wir die Stille des Blutes wahren und ein offener Angriff gegen eine Menschenstadt, ist wohl etwas das sich nur die fanatischsten Unholde in ihren eignen Landen leisten können. Warum diese Jagd und gegen wen geht es? Mir fällt es schwer zu glauben das man dir auf einem Thing, geschweige denn einem Allthing Gehör geschenkt hätte, wenn du so etwas vorgebracht hättest.“
Sein Seufzen war gefolgt von einem zögerlichen Blick zu Boden, bevor er ihn wieder in Richtung Vanya lenkte. „Ich bin ein Mensch Vanya, das heißt… wieder ein Mensch, ich blute und sterbe wie jeder beliebige Saftbeutel auch und bitte frage mich nicht wie so etwas möglich ist, ich kann es mir selbst nicht erklären.“ Lucien legte den Kopf leicht in den Nacken und schloss für einen Moment die Augen. „Und nur um mir das zu sagen schleppst du eine Meute an und veranstaltest dieses Schlachtfest? Wir sind Gangrel, wir töten wenn wir müssen und es uns dienlich ist, nicht weil uns gerade der Sinn danach steht oder es uns Freude bereitet. Und Brügge wie du feststellen wirst, beinhaltet nicht nur steinerne Festungsmauern und Bauernhöfe sondern auch zahlreiche, ausgedehnte Wälder – meine Domäne, in der ihr euch wenn ich das auch nebenbei erwähnen darf, gerade befindet.“ Er machte einen Schritt auf seine Erzeugerin zu und verzog das Gesicht. „Im Übrigen weiß ich sehr gut selber wer und was ich bin, denn ich war immer der Jäger der seiner Beute nachstellte und die Wildnis der einsamen Wälder Brügges ist nunmehr mein Zuhause. Ich jage, ich beobachte, ich töte und sichere damit mein Überleben, ich schütze meine Domäne und meinen Besitz. Kein Zögern, kein Bedauern, keine Spielchen oder höfisches Tamtam. Mein Name ist Lucien Sabatier de Nimes, der Schattenwolf und wie es das Schicksal so will, gerade auch Hauptmann der Nachtwache. Ich habe ganz und gar nicht vergessen wer ich bin Vanya und du hättest mich niemals in die Nacht geholt wenn ich dir als zu schwächlich oder unwürdig für dieses Dasein erschienen wäre. Seit wann kümmert es dich was deine Kinder treiben?“