Vampire: Die Maskerade


Eine Welt der Dunkelheit
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 Betreff des Beitrags: Memento mori (Alida)
BeitragVerfasst: Di 27. Jan 2015, 17:33 
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Es war eine kühle und windige Nacht in der, mittlerweile zur großen Handels- und Wirtschaftsmetropole erblühten Stadt, Brügge. Die Vororte, die damals nichts weiter als Lehmhütten und hölzerne Baracken, mit strohgedeckten Dächern und schmutzigen Fassaden, waren soliden Steinhäusern mit Fensterläden und Schindelverkleidung gewichen. Der wirtschaftliche und damit nicht zuletzt politische Aufschwung, hatte nicht zuletzt auch der sterblichen Bevölkerung gut getan und selbst der durchschnittliche Bauer und Bürger, konnte es sich mit ein wenig Fleiß leisten, in relativer Behaglichkeit und Wärme zu wohnen. Was einst ein dreckiges Bildnis von mittelalterlicher Armut gewesen war, wurde im Lauf der Jahrzehnte zu einer gepflasterten Eingangspassage in eine Stadt, die niemals schlief und in der sogar spät nachts noch geschäftiges Treiben herrschte. Wohlstand lockte Neuankömmlinge und Glücksritter, ganze Familienbanden und selbstredend auch alles mögliche Gesindel an – alle auf der Suche nach ihrem ganz persönlichem Glück und der Hoffnung auf ihren Anteil am prallen, gut gefüllten Geldbeutel der Stadt. Knokke-Heist und Blankenberge hatten sich zusammen mit Zerbrügge besonders hervorgetan und selbst Maldegem beherbergte mittlerweile eine große, fleißige Zollabfertigung für Waren aus dem fernen Osten und den Ländern des deutschen Reiches. Das Bürgertum hatte sich, ohne jegliche Böswilligkeit, erfolgreich in die Feudalherrschaft eingemischt und mittlerweile war Brügge weitum bekannt, als die Stadt in der Geld mehr Macht bedeutete als Titel und Adelsprivilegien. Selbst wenn man sich noch in der Zeit der Könige und Monarchen befand, die das gültige Recht verkündeten und der ansässige Adel stets empört die Nase rümpfte, gab doch der anhaltende Erfolg der Stadt recht. Handelskontore- und Karawanen, Lagerhallen und Schmieden, Pferdeställe und ein großer wöchentlicher Markt, mit den erlesensten und feinsten Waren, die man schon in einigen hundert Kilometern rund um die Stadt, nur mehr aus Büchern und vom Hörensagen her kannte, wurden hier feilgeboten, getauscht und veredelt, verzollt und weitertransportiert. Die größten und für lange Zeit einflussreichsten Handelshäuser- und Familien, die noch in nachfolgenden Geschichtsbüchern Erwähnung finden würden, waren ebenfalls dort sesshaft. Unter ihnen die Familie van der Burse, mit einer hübschen, blonden jungen Frau an ihrer Spitze, die für einige misstrauische Bürger, schon allzu lange Profit über Profit eingefahren und nicht zuletzt maßgeblich am Aufschwung der Stadt beteiligt war – Alida. Der Name war fest mit dem Hause van der Burse verbunden und auch wenn sie den Gilden und amtlichen Würdenträger nicht direkt befehlen konnte, reichte ihr Arm und Einfluss weit – weiter, als es manch einem vielleicht recht gewesen wäre.

Doch selbst jemand wie Alida die schon, ohne das je ein Sterblicher etwas darüber in Erfahrung gebracht hätte, einige Jahrhunderte des Kainfluches; des nächtlich bluttrinkenden Untodes überdauert hatte, blieb nicht vor der gelegentlich anfallenden Arbeit verschont, die einige andere wohl doch nur wieder ihren Untergebenen und Bediensteten übertrugen. Die Unholdin, die sich weigerte mit ihrem Bluterbe in Verbindung gebracht zu werden, stand in dieser Nacht am windigen Hafen von Brügge und inspizierte höchstpersönlich, das Frachtgut einer großen Karavelle auf deren Heck die Insignien ihres Hauses prangten. Das Schiff war erst spät aus Norwegen eingetroffen aber die Waren; edle Rohmetalle und Erze sowie Silber, Gold und kostbare Edelsteine, die man sich über geschickte Beziehungen erarbeitet hatte, waren jede noch so große Mühe, mehr als wert gewesen. Gerade in den Zeiten, in denen sich Antwerpen und Gent, politisch mit Brügge verbanden und das Ostbrügger Voivodat, sich Augenzeugenberichten nach, mit Waffen und Pferden versorgte, war es immer gut für ausreichend, heiß begehrtes Handelsmaterial zu sorgen – selbst wenn es sich dabei beinahe ausschließlich um Kriegswerkzeug handeln mochte. Gut wenn man die Preise immer ein klein wenig drücken; hier und da einen Gefallen einfordern konnte und der Gegner jenseits des Meerzugangs und noch vor der Zollstation sein Lager aufgeschlagen hatte.

Da es ob des harten, entbehrungsreichen und todbringenden Winters, massive Ernteausfälle und dutzende Todesfälle zu beklagen gab, galt dem Import von nahrhaften Lebensmitteln und dem Wiederaufbau der örtlichen Landwirtschaft, sowie der Ansiedlung neuer tatkräftiger Handwerker und Spezialisten aus aller Herren Länder, allerhöchste Priorität. Wollhandel mit Schottland, Tuche aus Frankreich und der Ruf der Stadt als Marktplatz der westlichen Zivilisation, verfehlten ihre Wirkung nicht und es war ein beinahe greifbares Aufatmen zu spüren, als die klirrende Kälte langsam abgeklungen war und man sich aus der sprichwörtlichen Asche neu erhoben hatte. Die letzten verbliebenen Hungerleider und Tunichtgute, waren in Scharen übereinander hergefallen und Betrug, Hehlerei und Bestechung waren gerade hier im Hafenviertel zur Tagesordnung geworden – in Zeiten der Not wurde selbst der standhafteste, redlichste Mann schwach, ein Grund mehr so wichtiges Frachtgut persönlich zu inspizieren.

Wenigstens hatten sich ein nicht allzu geringer Teil der Leute freiwillig zur Tag- und Nachtwache verpflichtet und für einen warmen Teller Suppe, etwas Brot und einem passablen Sold, sowie ein paar Krüge Bier und neuerdings auch Met, wurden alsbald zusätzliche Wachpatrouillen möglich. Die Balken des Schiffes knarzten und bogen sich unter der Last der schweren Ware und des auffrischenden Windes, der einige nicht ordnungsgemäß verstaute Taue, wie giftige Schlangen durch die Luft wirbelte. Der Vorarbeiter brüllte einige Kommandos, zu einigen jung aussehenden Schiffsarbeitern, denen die Müdigkeit und Strapazen der rauen See ins Gesicht geschrieben stand und wies sie an, das nächste Mal gefälligst besser aufzupassen. Rings um Alida herrschte ebenfalls einiges an nächtlicher Aktivität, die durch beträchtliches Fackel- und Laternenlicht erhellt wurde. Verladekräne mit Eisenkurbeln, die neueste Errungenschaft die nur durch einen italienischen Ingenieur namens Enrico Trappazoli ermöglicht worden war, hoben mühelos große Truhen, Kisten, Fässer und andere Waren aus dem Bauch des Schiffes, während emsige Arbeiter alleine oder wenn nötig gemeinsam, kleinere Säcke und Gegenstände nacheinander an der Hafenmauer aufstapelten. Nach einer Inspizierung und Begutachtung durch den Handelsvertreter des Hauses, in diesem Falle Alida selbst, wurden die Waren auf Handkarren und Kutschen verladen, um sie in die entsprechend gesicherten und bewachten Lagerhäuser zu bringen. Das Stimmenwirrwarr aus Befehlen, Schreien und dem ächzenden Stöhnen der Seemänner, vermischte sich mit dem Rauschen der Gischt, den Gerüchen von Bier und billigem Schnaps sowie heiterem Frauen- und Männerlachen. Wenigstens die Kneipen und Kaschemmen am Hafen hatten durchgehend geöffnet und waren stets voll – so voll wie ihre Kundschaft.

Frederik hatte sich nur allzu gern bereit erklärt Alida beim Buchführen und Überprüfen der Verladetätigkeiten zu begleiten denn in seinen Augen, konnte man so einen großen Berg an Waren kaum alleine Überblicken. Vier Augen sahen mehr als zwei und man würde schneller fertig werden, was ihm im Hinblick auf seine Nachtruhe, nur mehr als gelegen käme. Bewaffnet mit einem dicken, in Leder gebundenem Buch und einer Schreibfeder, machte er sich gerade daran die eine Hälfe der Bestelllisten, mit den Waren zu vergleichen und rieb sich etwas unkonzentriert und missmutig die Augen.


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„Mmh… Selbst das Stroh hat bei dem Seegang nicht gereicht, um die Flaschen von norwegischem Met gegen Bruch zu sichern. Bestellt waren zwanzig Kisten zu je zehn Flaschen aber allein fünf Kisten haben den Transport nicht überstanden und in ein paar anderen ist auch die eine oder andere Flasche zerbrochen. Entweder das war die See oder unsachgemäßer Umgang.“ Er warf einen vielsagenden, grinsenden Blick zu Alida und hob lapidar die Schultern.

„Ach Cousinchen, es sind nicht mehr die gleichen, erfahrenen Seebären wie früher sondern Jungspunde die nicht wissen worauf es ankommt – die sind einfach nur froh Arbeit und Essen zu haben.“ Sein Seufzen klang ein wenig resignierend, die Bilder von grausamen Tod und bitterem Elend des brutalen Winters, waren ihm nur allzu gut im Gedächtnis geblieben.

„Wenigstens konnten wir ein paar günstige Elch- und Hirschfelle ergattern, samt dem Fleisch von dem nicht mal etwas verdorben scheint, das ist ja mal wenigstens etwas.“ Frederik führte die Feder geschickt und ohne abzusetzen, kreuzte an, strich durch, erweiterte und fügte Notizen hinzu. Die Ware die er fertig inspiziert hatte, verglich er mit den Lagerbeständen der einzelnen Hallen und wies dann die Transportleute dementsprechend an.

Für einen kurzen Moment zierte sein Gesicht ein erfreutes, strahlendes Lächeln, als hätte er eine Blume inmitten einer Aschelandschaft gefunden. Er bückte sich kurzerhand und griff nach einem, etwa unterarmlangen Gegenstand, den er Alida mit stolzem Gesichtsausdruck, vorsichtig überreichte. Offenbar handelte es sich um eine merkwürdige, bauchige Flasche aus Glas, die mit einer äußerst dunklen, trüben Flüssigkeit gefüllt zu sein schien und mit feinen, silbernen Beschlägen in kunstvoller Handarbeit verziert worden war. Ganz offensichtlich hatte hier jemand sehr viel Geschick und liebe fürs Detail bewiesen.

„Die hier ist heil geblieben und ich glaube fast, die ist von Jorgen Kormak, du weißt schon… das war dieser spezielle Händler mit dem du dich alleine an den Verhandlungstisch gesetzt hast, damals in Kristiansand. Der war schon merkwürdig der Gute.“ Frederik grinste und zeigte ein kleines Stück Pergament vor auf dem feine, mit Kohle gezogene Buchstaben zu lesen waren. „Damit der nächste Winter nicht ganz so kalt wird, Gez. J. – na wenn das mal nicht ein ganz besonders edler norwegischer Tropfen ist, willst du nachdem wir hier fertig sind einen Schluck probieren?“

Man sah dem jungen Mann an, dass er nach dieser kalten, windigen Nacht nur allzu gern von diesem Getränk, was immer es auch war – Hauptsache Hochprozentig, gekostet hätte um seine kalten Glieder aufzuwärmen.


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Alida liebte diese Inspektionen auf See, den salzigen Geruch, die Planken unter den Füßen, das leichte Schwanken des Schiffes. Und besonders all die kostbaren Waren, die es sonst nirgendwo gab. Fast hatte sie das Gefühl, den Teil einer anderen Welt hierher nach Brügge gebracht zu haben und in gewisser Weise mochte es wohl auch so sein. Sie fuhr mit den Fingern über die Pelze von Nerz und Vielfraß, Tieren, die sie in Flandern noch nie gesehen hatte, nicht kannte, roch an dem gepökelten Elch- und Rentierfleisch, ließ das Rohmetall abwiegend von einer Hand in die andere gleiten.
Jorgen Kormak, ihr Handelspartner in Bergen, war ein harter Knochen. Ein zäher Verhandlungspartner, geizig und zugleich herzlich und gastfreundlich, wie ein Zwerg mit rauem Lachen und einem kräftigen zielsicheren Waffenarm. Sie kannte den Brujah seit einem knappen Jahrzehnt und liebte die Geschäfte mit ihm. Er war ehrlich und seine Waren traten zuverlässig und in bester Qualität ein.
Sie nahm Frederik grinsend die Flasche ab. „Gib’s doch zu: Du hättest nicht übel Lust drauf die Flasche noch heute Abend zu leeren, oder? Und so wie ich Jorgen kenne, hat er an uns alle gedacht…“ Ihr Grinsen wurde noch breiter. „Klingt gut.“
Sie betrachtete die brillante Flasche eingehen, bewunderte die edle Arbeit. Sie spürte, wie sich ihre Sinne wie von selbst intensivierten: sie spürte den exakten Lauf des runden Glases, die feinen goldenen Linien, hörte das Zischen des zerplatzenden Meeresschaums in der Tiefe unter dem Rumpf des Schiffes, das intensive Blitzen der Sterne, das zarte Getrappel von kleinen Pfoten unter Deck…wahrscheinlich eine Ratte. Sie entkorkte das Gefäß, roch daran.
Das Aroma war köstlich: Warm und süß… sie sog den Geruch ein… Menschenblut kombiniert mit süßem Alkohol, wahrscheinlich Met. Sie tauchte ihren Finger in die dunkle Flüssigkeit und führte ihn an die Lippen. Der Geruch hatte nicht getrogen, auch der Geschmack war ausgesprochen prächtig. Alida hielt das Gefäß gegen das Licht einer Fackel und sah hinein. Ihr Mund verzog sich als sie erkannte, was da in der Flasche vor sich ihn trieb und sie hielt die Flasche soweit als möglich von sich fort. Mit der linken Hand griff sie nach dem Korken und verschloss die Flasche wieder. Mit leicht angewidertem Gesicht wandte sie sich zu Frederik und hielt ihm die Flasche hin. „Lecker, nicht?“ Im Inneren der dunklen Flüssigkeit trieb eine tote Schlange, wahrscheinlich eine Viper, wie man sie eigentlich nur im Orient heimisch fand. Alida erkannte die Augen und die scharfen Giftzähne.
Ein schiefes Grinsen legte sich über ihren Mund und sie seufzte: „Nun ja. Andere Länder, andere Sitten, sagt man doch so gern. Wer weiß, was Jorgen und seine Freunde wohl sonst so zu sich nehmen…? Solch edles Beiwerk gibt sicher die ganz spezielle Note, findest du nicht? Ich denke, wir sollten diesen Tropfen ihm zu Ehren aufbewahren und dann auspacken, wenn er zu Besuch kommt. Er plant sicher irgendwann eine Geschäftsreise nach Brügge… Ähm ja…“ sie lachte. „Hoffentlich dauert das noch ein wenig… Bis dahin wartet die Flasche in der Kemenate für spezielle Gegenstände auf uns.“
Frederik sah sie an. „Du meinst die Abstellkammer für giftige Substanzen, die wir nicht verkaufen konnten, Reliquien, die keiner haben will und die alten, müffelnden Schafsfelle?“
Sie lachte. „Genau.“
Andere Länder, andere Sitten. Gewiss war es nicht merkwürdig, das Handelsabkommen gerne mit Geschenken, Festgelagen und anderen traditionellen Bräuchen besiegelt wurden und gerne machte man sich ab und an auch kleine Geschenke, als Zeichen der Wertschätzung und der guten Beziehungen die man zueinander pflegte; vor allem wenn man tausende von Meilen entfernt voneinander war und sich persönlich vielleicht alle paar Jahre traf. Dennoch schien eine tote Viper aus fernen orientalischen Landen, eingelegt in ein so vortrefflich gefertigtes norwegisches Glas mit durchaus bekömmlichem Inhalt, recht seltsam und dies selbst dann, wenn der großzügige Gönner Jorgen hieß. Der brummige Jorgen musste sich schon etwas dabei gedacht haben, denn diese Schlangen waren im kalten Norwegen ganz gewiss nicht heimisch. Für den Moment, würde das Geheimnis der Flasche noch ungelöst bleiben müssen, nicht zuletzt weil Alida und Frederik sich um das Be- und Entladen der „Grand Dame“, eines der schönsten und prächtigsten Schiffe von Alidas Handelsstaffel, kümmern mussten. Es gab noch einiges zu tun und die Liste der eingetroffenen Waren inspizierte sich weder von selbst, noch erreichten die Waren von ganz allein ihren Bestimmungsort.

Während um Alida herum die Arbeiten rund um das Schiff lautstark und zügig von statten gingen, sie ihren Federkiel schwang um hie und da fehlende Güter zu notieren oder Beschädigungen in Augenschein zu nehmen, Anweisungen zu geben und Informationen beim Kapitän bezüglich der aktuellen Wetterverhältnisse in Norwegen einzuholen, konnte sie aus den Augenwinkeln eine stattlich wirkende Gestalt ausmachen, die sich dem nächtlichen Treiben, sichtlich interessiert, zielstrebig näherte. Sie konnte, als sie gerade dabei war eine weitere Kiste mit Rentierfellen zu überprüfen, bemerken, wie ein in edle Stoffe gekleideter, leicht untersetzter Herr, sich kurz mit Frederik unterhielt, der wiederum nur mit einem Finger Richtung Alida deutete und bekräftigend nickte. Der bärtige Mann drehte sich daraufhin erfreut lächelnd in ihre Richtung und kam ihr ein paar Schritte entgegen. Eine Hand zum Gruße erhebend, schenkte er ihr ein breites Lächeln und eine knappe Verbeugung, die seinen Bauch noch ein wenig unter dem dicken Brokatstoff hervortreten ließ. Jemand hatte da offensichtlich einen gesunden Appetit.

„Alida? Alida van der Burse? Seid ihr es? Der gute Mann dort drüben hat mir glaubhaft versichert ihr wäret es!“ Sein Blick glitt für einen Augenblick Richtung Frederik und er nickte bekräftigend. „Es tut mir unendlich Leid das ich euer Gnaden um diese Zeit belästige, sicher haben euer Gnaden bei weitem wichtigeres zu tun aber ich ließ mir sagen, ihr wäret recht nachtaktiv und tagsüber stets in die Bücher vertieft. Man würde euch kaum zu Gesicht bekommen…. Ha ha ha ha.“ Seine Stimme war recht tief, etwas kratzig und trug eine gewisse naive Herzlichkeit in sich, welche man am heiteren, ungezwungenen Lachen erahnen konnte.

„Nun wie dem auch sei, ich hoffe ihr verzeiht meine so abrupte, unhöfliche Störung – ich hätte ja bis morgen gewartet aber der glückliche Zufall wollte es, das wir uns beide schon heute begegnen dürfen. Ich habe mein Quartier nicht unweit vom Hafen bezogen und schickte mich an, ein wenig von der formidabelsten und prächtigsten Stadt Europas bei Nacht zu erkunden - da sah ich eure Insignien auf dem Schiffsrumpf.“ Sein Bauch wölbte sich unter seinen ungeschickten Bewegungen, als er in die Hände klatschte. „Hach, es ist beinahe eine Fügung, ich bin nämlich auch Händler müsst ihr wissen… aber wo bleiben meine Manieren?“ Die ungelenke Verbeugung wiederholte sich und der Mann hob erneut seinen hochroten Kopf. Offensichtlich bereitete ihm selbst diese kurze Bewegung, sichtliche Mühe. „Freiherr Gunther von Schwab aus Aachen meine Gnädigste, freier Händler und Handelsreisender, niemals einem guten Gläschen abgeneigt und der bezaubernden Damenwelt auf ewiglich verpflichtet.“ Der bärtige Mann erlaubte sich ihre freie Hand zu ergreifen und einen Handkuss anzudeuten. „Mein Berufsstand ist noch recht unbekannt meine Teuerste aber ich bringe die richtigen Leute zueinander, will sagen: die richtigen Händler natürlich. Mein Bestreben liegt darin, große Handelswege in ganz Europa zu vermitteln und geschäftstüchtige Frauen und Männer einander vorzustellen, damit sich auch andere dem Bürgertum und vorbildlichem Wachstum Brügges anschließen können – und ihr seid, wenn ich es so sagen darf, die Königin unter den Händlern. Es wäre mir eine große Ehre und ein großes Vergnügen euch mit einigen Leuten eures Standes bekannt zu machen, die eurem großen Handelsnetzwerk noch die eine oder andere Kleinigkeit hinzufügen könnten.“ Seine großen Augen leuchteten freudig und erwartungsvoll.


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Das unterwürfige Gebaren des Mannes war Alida von der ersten Sekunde an ausgesprochen unangenehm, aber außer Frederik, der sie seit frühester Kindheit kannte, würde keiner auch nur den Hauch einer Verunsicherung bemerken. Sie bewegte sich gekonnt auf dem Parkett der Förmlichkeit. Sie kicherte leise, wie es die Damen der feinen Gesellschaft zu tun pflegten und senkte ein wenig schüchtern den Blick. Dann deutete sie einen Knicks an.
„Es freut mich sehr eure Bekanntschaft zu machen, Gunther von Schwab aus Aachen. Die Worte aus Eurem Mund sind gar galant gewählt.“ Sie schenkte ihm ein verschmitztes Lächeln. „Damit seid wohl nicht nur Ihr der Damenwelt auf ewig verpflichtet, sondern diese auch Eurem Charme, nicht wahr?“ Sie ließ ihr Lächeln noch bezaubernder wirken und betrachtete ihn ausgiebig. Ihr Blick drang tief in sein Inneres, erkannte mehr als die Augen eines Sterblichen je zu sehen vermochten. Nachdem sie sich vergewissert hatte, dass es sich nur um einen Sterblichen handelte, nickte sie ihm erneut freundlich zu.
„Eure Aufmerksamkeit ehrt meine Wenigkeit sehr, doch bin ich, wie auch mein Vetter dort,“ sie deutete mit einer kurzen Handbewegung Richtung Frederik, der einigen Seemännern Anweisungen gab, an welche Stelle sie ein großes Eichenfass mit dem Hebekran herablassen sollten, „nur eines der vielen tatkräftigen Mitglieder meiner Familie. Ihr sollt morgen gerne zu einem Treffen mit dem Familienoberhaupt der van de Burses, meinem achtbaren Onkel Christian van de Burse, geladen sein. Ich selbst werde, morgen in der Früh sobald wir mit der zeitraubenden Löschung der Ladung der ‚Grande Dame’ fertig sind eine Zusammenkunft für Euch vereinbaren. Würde Euch ein Treffen um die Mittagsstunde recht sein? Mein Onkel liebt die Mittagsstunden für geschäftliche Vereinbarungen.“ Das derzeitige offizielle Familienoberhaupt der van de Burses, Christian, war ein fähiger, knapp 50 jähriger Ur-Ur Neffe von Alida. Er würde sie wissen lassen, wenn der Händler, der sich als Freiherr Gunther von Schwab vorgestellt hatte, ein weiteres Treffen wert sein würde.
Sie nickte dem Mann erneut zu. Jeder ehrbare Mann würde in dieser Geste eine freundliche, höfliche Verabschiedung erkennen.

Frederik, der ein Stück weit näher gekommen war und das Gespräch unauffällig verfolgt hatte, verzog den Mund zu einem süffisanten Grinsen. Er, der doch schon einige Zeit in den Diensten seiner Herrin gestanden hatte, wusste mittlerweile nur zu gut, dass diese künstlich-höfliche Zurschaustellung von guten Manieren und Etikette ihr überhaupt nicht lagen. Gewiss durfte man sich bei wichtigen, öffentlichen Auftritten nicht von seinen Gefühlen leiten lasse und ab und an war es notwendig, die brave, biedere Tochter eines falschen Bruders, dessen Familienname weithin bekannt war, zu spielen – aber das war nicht die wirkliche Alida von Brügge. Eine kunstvolle Maskerade, die er immer wieder aufs Neue genoss und die sie offensichtlich schon fehlerfrei beherrschte. Aus den Augenwinkeln, konnte Alida erkennen, das er sich bei den Worten des feisten Mannes zu amüsieren schien und sich knapp vor dem Mann verbeugte, als Alida ihn Gunther von Schwab vorstellte.

Dieser wiederum, schien bei den Worten Alidas nur zu erneuter Hochform aufzublühen und verbeugte sich erneut tief. Ihre galante und feminine Art schienen ihre Wirkung nicht zu verfehlen. „Oh die Damenwelt mein hübsches Kind, ich bin ein Kavalier der alten Schule müsst ihr wissen aber dennoch habe ich nicht recht Glück bei den fürwahr reizendsten Geschöpfen dieser Welt.“ Und der aufmerksame Beobachter würde auch schnell feststellen weshalb. Ihr ein breites Lächeln schenkend, musterte er sie einmal von Kopf bis Fuss, beinahe so, als ob sie ihm eine versteckte Botschaft mitgeteilt hätte. Das Alidas übersinnliche Wahrnehmung, gerade bei weitem mehr aus dem unförmigen Mann lesen konnte als er je bei ihr finden mochte, ging wie bei allen Sterblichen völlig unbemerkt an ihm vorüber. Kaleidoskopartig flackerte ein Meer aus schillernden, hellen und satten Farben über den Körper des Mannes, die ihn wie eine sanfte, sich stetig verändernde Woge zu umgeben schienen. Ihre Erfahrung verriet ihr untrüglich: Es war ein Sterblicher und er schien wahrlich guter Dinge zu sein – Freude und Glück, gepaart mit sichtlicher Erwartung und auch Erregung, die vielleicht ein wenig zu stark zu sein schien, dominierten das Bild. Er mochte gar schon den einen oder anderen Becher Wein geleert haben, ausreichend zu essen bekam er augenscheinlich immer.

Als die Sprache auf ihren Onkel kam, nickte der Deutsche nur zustimmend. Sein niederländisch war dennoch erstaunlich gut musste sie anerkennend feststellen. „Ach euer Onkel ist er? Gewiss mein liebes Kind, wer kennt ihn nicht den Christian van der Burse? Aber ihr müsst euer Licht nicht unter den Scheffel stellen, ich weiß aus zuverlässiger Quelle dass ihr auch die eine oder andere Handelsvereinbarung trefft. Eine Familie wie die eure, wird nicht nur aufgrund der Taten eines einzelnen zu einer den wohlhabendsten und geschätztesten dieser vortrefflichen Zeiten.“ Seine dicken Finger strichen sich sichtlich stolz, ob der Tatsache, dass er schon von ihrem Onkel gehört hatte durch den drahtigen Bart. „Es wäre mir ein ganz besonderes Vergnügen und eine umso größere Ehre euren geschätzten Onkel bezüglich einiger aussichtsreicher Geschäfte sprechen zu dürfen und gewiss ist die Mittagsstunde auch eine meiner liebsten Tageszeiten, wie man unschwer erkennen kann .. Hahaha.“ Er hielt sich lachend den Bauch aber selbst wenn er ihr ein wenig forsch oder schleimend daherkam, so hatte er ihren Wink dennoch verstanden. „Ein prachtvolles Schiff mit einer vermutlich noch prachtvolleren Ladung, bei deren Löschung ich euch gewiss nicht länger stören will meine Teuerste, bitte richtet eurem Onkel die besten Grüße aus. Ich werde alle wichtigen Unterlagen und Papiere, dann morgen zu unserem geschäftlichen Essen mitnehmen. Es war wirklich eine Freude euch kennenlernen zu dürfen, viel Erfolg noch und eine gute Nacht.“ Erneut schenkte er ihr einen angedeuteten Handkuss und eine knappe Verbeugung.

Bevor Alida aber noch aufatmen konnte, den nervenden Händler endlich losgeworden zu sein, machte dieser aber nach einigen, trägen Schritten kehrt und klatschte die Hände zusammen. „Meiner Treu… jetzt hätte ich es aber beinahe noch vergessen. Ich habe da ja noch etwas für euch.“ Seine Hand glitt in die Innentasche seiner dicken, üppig bestickten Jacke. Allein der Erlös des Stoffes würde eine durchschnittliche Familie wohl eine Woche satt machen. Mit einem Lächeln überreichte er Alida eine Pergamentrolle, die mit einem einfachen Stück Schnur, in bräunlicher Farbe umschlungen war; kein Siegel war darauf zu erkennen. „Es handelt sich um ein persönliches Schriftstück, das einer meiner Geschäftspartner mir bei meiner Abreise überreicht hat. Er bat mich es euch und nur euch zu überreichen.“ Bevor Alida noch etwas sagen konnte winkte er nur ab und schmunzelte verzückt. „Nein, ich habe es gewiss nicht gelesen und ich denke es handelt sich auch nicht um eine allzu geheime Nachricht. Vermutlich hat jemand nur durch Zufall euren Namen gehört und wünscht sich Handelsbeziehungen mit eurem Haus. Ihr kennt solche Schreiben sicherlich.“ Der dickliche Mann wandte sich zum Gehen. „Jetzt aber wirklich, eine gute Nacht noch und bis morgen, ich nehme an wir sehen euer bezauberndes Antlitz auch am Mittagstisch? Wie wundervoll. Ich freu mich schon darauf, bis morgen.“ Keuchend ob der vielen Anstrengung machte sich Gunther Schwab auf den Rückweg, ins Gasthaus, ins Bordell, auf den Markt? Mit Gewissheit stand nur fest, wo er morgen Mittag sein würde.

Sollte Alida das Pergament entrollen und im Dämmerlicht einer Hafenlaterne lesen wollen, so würde sie folgende Nachricht, in geschwungenen Lettern darauf finden.


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lida hielt das Pergament ratlos in den Händen und ihre Augenbrauen verzogen sich zu einem Strich. Sie gab das Blatt an Frederik weiter, verschränkte die Arme und sah nachdenklich dem rundlichen Mann hinterher.

„Na? Was hältst du davon?“

Sie wusste, dass ihm klar war, was sie dachte. In ihr regte sich Misstrauen. Jemand wollte sich in Löwen mit ihr treffen. Die kleine aber bedeutende Stadt lag westlich von Brügge, wohl zwei Tagesritte entfernt, und jedes flandrische Kind kannte die Geschichte von der Schlacht von Löwen in der ein gigantisches Heer der Wikinger von Arnulf von Kärnten entscheidend besiegt wurde. Das Wasser der Flüsse sollte sich dieser Sage nach rot gefärbt haben. Alida war noch nie länger als zur Durchreise dort gewesen und fühlte sich bei dem Gedanken dort einem Fremden zu begegnen deutlich unwohl. Sie hielt es in gewissem Maße für unverantwortlich sich auf den Weg zu machen, hier alles stehen und liegen zu lassen. Kein ehrbarer Mann würde so etwas von einer Frau des 13. Jahrhunderts verlangen. Sie seufzte. Die Welt sah nun einmal so aus, wie sie war und nicht so wie man sie gerne hätte.

Alida sah zu Frederik und ihre Augen wurden ernst. „Hm… nun… ich denke, ich werde gehen. Du wirst hier gebraucht. Solange ich weg bin, entscheidest du über ‚unsere’ Belange.“ Sie durchforstete sein Gesicht. „Sollte ein Rat einberufen werden, dann geh hin und vertritt mich. Jeder Kainit der Stadt weiß, dass du das kannst.“ Sie war überzeugt, dass er sie nicht enttäuschen würde. Und ihr fiel spontan keine andere Möglichkeit ein, ihn davon abzuhalten sie zu begleiten. Sie wartete einige Minuten und überlegte.

„Schaffst du das Löschen der Ladung allein? Ich… werd mich auf den Weg machen. Vielleicht kann mich Lucien begleiten.“

Dann blickte sie in Frederiks Richtung und wartete seine Meinung ab. Der junge Mann war zeitweise ihrem Bruder so ähnlich, dass sie sich immer wieder ins Gedächtnis rufen musste, dass sie nicht Christian sondern seinen Urenkel vor sich hatte. Und so wie ihr Bruder damals bedeutete ihr wohl auch dieser Neffe gemeinsam mit der jungen Marlene mehr als irgendein anderes Mitglied ihrer Familie. Wahrscheinlich genau aus dem Grunde, dass sie den Menschen so unsagbar ähnelten, die ihr vor Jahrhunderten so wichtig gewesen waren.

Alida griff nach einer der Metflaschen. „Nimm die hier morgen für unseren rotbackigen deutschen Freund mit. Er wird dem edlen Tropfen sicher nicht abgeneigt sein. Sein Holländisch wird sicher mit jedem Glas flüssiger“ Sie lachte auf und stieg auf ihr braunes Pferd, das an einem nahe gelegenen Unterstand festgebunden war.
Sie machte sich auf den Weg in den Osten der Stadt. Lucien lebte in einem der einfachen Häuser in der Nähe der Stadtmauer, immer für die Stadtwache oder die Diebesgilde zur Verfügung wenn er gebraucht wurde. Sie kannte den Weg gut und wählte die belebteren Straßen. Dort schlenderten kleine Menschentrauben teilweise torkelnd nach Hause, der ein oder andere Sänger, der nicht begriff, dass er sich nicht mehr im Gasthaus, sondern auf der Straße befand wurde mit alten gebrauchten Nachttöpfen beworfen, ein einzelner Nachtwächter wanderte von Straßenlampe zu Straßenlampe und füllte Öl nach oder entzündete das Licht erneut mit einem Kienspan.
Schließlich erreichte Alida das schmale Anwesen, dessen Grund sich zur Straße hin schmal, nach hinten hin jedoch ausgedehnt darstellte. Sie wusste, hinter dem Hauptgebäude gab es ein paar Wirtschaftsgebäude und einen kleinen Garten. Sie ritt am Eingangsportal vorbei und öffnete leise die Eichentür zum direkt an das Wohnhaus angrenzenden Stall. Sie wusste das Lucien nie abschloss. Wozu auch? Sollte ein Fremder unangemeldet eintreten, würde es ihm sein geghultes Pferd Ajax bereits im nächsten Moment melden. Sie hörte das leise Wiehern des Brabanters und führte ihr eigenes Reitpferd in das Gebäude. Dann band sie ihr Tier an einen Haken und wandte sich kurz zu Ajax um, der neugierig den Kopf aus seinem Verschlag steckte.

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„Na, mein Guter?“ Sie streichelte dem Hengst über die Nüstern. „Passt er gut auf dich auf?“ Wie protestierend stieß er seinen Kopf in ihre Seite und begann nach einem Apfel zu suchen. Sie lachte. „Ja, ja. Hab ich vergessen. Du! passt natürlich auf ihn auf. Is klar… Nein, ich hab keinen Apfel dabei, aber das nächste Mal denk ich an dich. Versprochen.“
Sie klopfte dem treuen Tier noch einmal auf den warmen Hals und wandte sich dann zum Nebeneingang. Sie wusste, es gab einen direkten Weg vom Stall in das Wohnhaus.
Sie klopfte erst leise, dann etwas fester an, wartete einige Zeit und trat dann einfach ein. Sie schloss die Tür wieder hinter sich und wartete.

Man hörte ein kurzes hölzernes Schaben, als wenn ein Stuhlbein über den Boden kratzen würde. Dann einige langsame Schritte die näher kommen zu schienen, während lautstarkes Bellen ertönte. Offensichtlich handelte es sich um mehrere Hunde. Es roch nach frisch gebratenem Fleisch und dampfenden Kartoffeln und während es im Vorraum, in dem Alida sich augenblicklich befand noch ein wenig kühl war, konnte man bereits die aufsteigende Wärme spüren, die den angrenzenden Raum seiner Kälte beraubte. Nur wenige Augenblicke später, sah Alida den jungen Jean mit einer Kerze und einem Kurzdolch in der Tür stehen, während hinter ihm das Gebell mit einem Mal verebbte. Ja, Lucien war vermutlich doch zuhause. Jean grinste Alida an und ließ den Dolch sinken. "Tut mir leid Aber Lucien sagt, ohne Waffe soll ich nirgendwo herumgehen, nicht mal wenn ich die Tür öffnen." Mit einer gekonnten Bewegung, verstaute er die Waffe an seinem Gürtel und winkte Alida ihm zu folgen. "Ich nehm an du willst ihn sprechen? Komm doch rein, ich hab schon vor einer Stunde eingeheizt, vorm Kamin ist es angenehm warm und am Herd kochen Kartoffeln." Man sah dem Jungen an, das ihm die Vorstellung von einem behaglichen Heim mit gutem Essen und einem weichen Bett zum Schlafen durchaus gefielen.
„Hallo, Jean.“ Alida grinste zurück, zog jedoch beim Anblick des Messers prüfend eine Augenbrauche hoch. „Lucien ist schon ein schlauer Kerl, wenn er dir rät nicht unbewaffnet durch die Gegend zu ziehen. Aber so wie ich dich kenne, bist du so schnell mit dem Messerziehen, dass du die Klinge sicher auch einen kurzen Moment noch am Gürtel stecken lassen kannst, bevor du Freund und Feind unterschieden hast. Stell dir mal vor, Joachim Ohneschwert hätte an der Tür gestanden. Der wäre wahrscheinlich mittlerweile am Schlag gestorben.“ Sie lachte und schnupperte. „Ich sehe, du kümmerst dich mittlerweile darum, dass hier in Luciens Haus alles in „normalen“ Bahnen läuft. Respekt.“ Sie deutete eine gespielte Verbeugung an, nickte aber dennoch anerkennend und folgte dem Jungen in den angenehm warmen Raum
Jean nickte lächelnd und führte Alida weiter durch Luciens Haus. Ein Haus, welches den Namen nicht verdiente denn zahlreiche Zimmer standen leer und das obere Stockwerk, wurde noch nicht einmal benutzt, wie sie bereits and den schweren Vorhängen im Vorraum, die Jean wohl dort aufgehängt hatte erkennen konnte. Alles nur damit sich die Wärme im unteren Erdgeschoss hielt und man nicht erfror - wenn man denn sterblich war. "Joachim ist wirklich ein Aufschneider ja, der fällt sogar bei mir noch um." Jean grinste. "Und naja dem Hauptmann ist es ja eh egal ob es hier drin warm ist oder nicht… wobei… ich glaub in Wahrheit gefällt es ihm doch wenn er die Knochen mal aufwärmen kann auch wenn er es nicht zugibt.“ Über einen kleinen Stufenaufgang ging es in die Stube, die spartanisch und praktisch eingerichtet war. Eine eiserne Kochecke, mit Herdfeuer, das einen großen Topf mit Kartoffeln gerade zum Kochen und den Tee zum Ziehen brachte, ein großer solider Küchentisch, in einem Schrank daneben ein wenig Geschirr. Neben einem großen Kamin, in dem ein munteres Feuer prasselte, stapelte sich das Feuerholz. Jean hatte sich offenbar sogar die Mühe gemacht ein großes Bärenfell auf den Boden zu breiten. Vor dem Kamin sah man einen gepolsterten Sessel, Richtung Feuer gewandt und in dem saß unverkennbar Lucien, der die erdigen, feuchten Schuhe, nahe ans Feuer gestellt hatte und gerade einzelne Fleischstücke, die an einem Spieß am Feuer brutzelten mit Soße übergoss. Mit der linken hielt er eine dünne Pfeife, die ordentlich qualmte und wandte den Blick Richtung Eingang. "Mhh?" Brachte er zwischen dem Tabakrauch nur heraus. "Ach Alida, du bists nur, ich hab schon gedacht wieder ein dummer Bericht von einem Wachgänger, wenn man denen nicht die Hand hält bringt kaum einer was zustande. Nachts ist es um einiges schlimmer als am Tag." Er schüttelte den Kopf und nickte in Richtung eines zweiten Sessels derselben Machart. "Setz dich ans Feuer.. wenn du dich traust, für mich ist es Beschäftigung und Abhärtung zugleich." Nicht unweit des Feuers, lagen vier große drahtige Hunde auf schmutzigen Decken, die nunmehr in ruhiger Glückseligkeit auf einem Knochen herumkauten. Knochen für die Hunde, Fleisch für Jean und eine Feuerprobe für Lucien, so schien es.
Alida folgte Jean durch das Haus und bewunderte, was der Junge und Lucien zu Stande gebracht hatten. Es war zwar immer noch weit von einer wohnlichen Behausung entfernt, aber auf dem besten Weg dazu. In gewisser Weise schien der Junge, den sie gemeinsam mit dem Thronerben Flanderns in England gerettet hatten, einen positiven Einfluss auf Lucien auszuüben. Nun ja, und falls nicht: zumindest hatten die beiden es behaglich. Alida überlegte noch einmal die Begebenheiten in England und nach wie vor verstand sie nicht, warum Lucien Jean so großmütig aufgenommen hatte. Die Ähnlichkeit der beiden allein schien ihr als Grund nicht plausibel… und wenn sie sich richtig erinnerte hatte Lucien geschildert, dass er den Jungen vor England nur ein einziges Mal gesehen hatte. Eine solche Tat erschien ihr ausgesprochen untypisch für den doch etwas egozentrischen, ‚wilden’ Gangrel.
Alida betrat die warme Stube und trat näher an das Feuer. Sie war Feuer von ihrer eigenen Familie gewohnt, aber es kostete sie nach wie vor ein wenig Überwindung. Wie das Gefühl in der Nähe einer hohen Klippe zu stehen. Auch wenn man wusste, dass einem nichts geschehen konnte, da man Abstand hielt, war einem doc ein wenig mulmig zu Mute.
Sie lächelte Lucien freundlich zu und hängte ihren Mantel in der Nähe der Tür auf.
„Danke.“ Sie nahm in dem alten, aber bequemen Sessel Platz. „Ist es so schlimm mit den Wachgängern? Eigentlich hast du sie doch mittlerweile wirklich gut gedrillt.“ Sie grinste.
Lucien ließ sich scheinbar nicht anmerken, warum er den Jungen so freimütig zu sich geholt hatte und warum er ihn hier wohnen ließ, mit ihm kochte oder ihn gelegentlich auf den Übungsplatz mitnahm - er hatte sich zu diesem Thema, auch mit der für alle so offensichtlichen Ähnlichkeit des Jungen zu ihm, nie geäußert. Allerdings, hatte bisher auch noch niemand gefragt, musste Alida, als sie das mittlerweile für die Verhältnisse des Hauptmanns, doch recht gemütlich eingerichtete Wohnhaus besichtigte, zugeben. Der Gangrel zog ans seiner Pfeife und schöpfte mit einer Kelle etwas Fett aus einem hözernen Kübel, um die köstlich duftenden Stücke damit zu übergießen. "Schnell und bekömmlich, ein wenig Salz, Rosmarin und ein Wegrandkräute et voila. Wichtig ist, das man sie immer übergießt denn das Feuer brät sie schnell durch und macht sie trocken. Roquesfort hat sie immer in Rotwein eingelegt..." Man konnte nicht recht sagen wovon er gerade sprach oder an wen seine Worte gerichtet waren. Er wirkte ein wenig gedankenverloren und murmelte es nur so vor sich hin. Jean kam ihr mit dem Mantel zuvor und nahm ihn ihr ab, hängte ihn in der Nähe des Feuers an die Wand. Kälte mochte ihr nichts ausmachen aber der Mantel würde so leichter trocknen und noch beim Anziehen ein wenig aufgewärmt werden. Jean dachte eben noch wie der kleine, sterbliche Junge der er war. Kurz darauf wandte er sich wieder dem Herd zu. "Tee Alida? Oh.. ich vergaß..." Lucien lachte kurz. "Nah.. ihr kannst du welchen anbieten, sie kann trinken.. auch wenn ich glaube zu wissen das sies danach wieder hochwürgen muss aber immerhin schmeckt sie noch was. Schenk ihr eine Tasse ein, ist immerhin ihr importierter Tee." Sein Mund verzog sich zu einem Grinsen. Als sie sich setzte, zuckte er bloß mit den Schultern. "Ach, du weißt ja wie das ist, selbst wenn nichts ist gibts immer wieder was, zwischen Joachim Ohneschwert gibts auch Jürgen Sahichnicht und Ferdinand Immerblau.. manche nehmen den Dienst nicht ernst genug, egal wie oft man es ihnen sagt, wenn man denen nicht ordentlich Pfeffer gibt werden sie nachlässig und das mit den Hexern im Buckel und den Drachen vor der Haustür." Er hielt den Spieß in ihre Richtung. "Schweinefleisch und ein paar Rippchen? Nach einem alten Räuberrezept." Ein erneutes Grinsen. Das Feuer loderte im Kamin und spendete wundervolle Wärme, zwar mochte einem der Untot die Notwendigkeit für derartiges Nehmen, dennoch war es angenehm wenn man buchstäblich ein wenig auftauen konnte. Es bewegte sich so viel einfacher und weniger mühevoll.
Sie nahm gerne einen Becher Tee und nippte an dem warmen Getränk. Die Rippchen lehnte sie dankend ab. „So hat Jean etwas mehr davon. Bei mir wären sie wirklich nicht gut aufgehoben…“ Sie grinste, wunderte sich jedoch ein wenig. Hatte Lucien den Jungen tatsächlich in seine und ihre wahre Identität eingeweiht? Auch wenn sie den Jungen bereits ins Herz geschlossen hatte und sehr schätzte erschien es ihr doch ausgesprochen gewagt solche Informationen preis zu geben. Immerhin war er nur ein Kind.
Zu seiner Bemerkung zu den Hexern und den Drachen nickte sie nur, wirkte jedoch vor allem bei der Erwähnung der Drachen nachdenklich.
„Musst du heute Nacht noch mal raus zur Mauer?“
Lucien winkte Jean eilig heran, als das Fett zischend ins Feuer spritzte. "Ah ja, der Rosmarin.. Hol die große Schüssel Jean." Als der Junge angerannt kam und eine große, irdene Schüssel umklammert hielt, ließ der Hauptmann vorsichtig ein Stück nach dem anderen darin verschwinden, schob das saftige Fleisch mit einer großen, gebogenen Gabel vom Spieß und lächelte. "Das hätten wir damals als Festbankett bezeichnet... so was war nicht immer drin, meistens gab’s nur Eintopf", murmelte er wie zu sich selbst. "Die Bohnen sind sicher auch schon fertig. Du kannst bei uns Essen wenn du möchtest." Jeans Augen wurden groß beim Anblick des Fleisches und er nickte hungrig nickend; nahm anschließend die Bohnen vom Feuer, goss Alida in eine Zinntasse den dampfenden Tee ein und setzte sich anschließend im Schneidersitz neben Luciens Sessel, in die Nähe der Hunde, die Schüssel zusätzlich mit Bohnen und ein paar Stücken Brot aufgefüllt. Schmatzend begann er zu essen und grinste zufrieden in Richtung der Kainiten. "Zucker ist leider alle.... ", meinte er noch. Lucien hob die Schultern und wandte sich an Alida, ließ sich in seinem Stuhl zurück sinken. "Du wirst es auch ohne Zucker trinken können denke ich." Dann ein leichtes Seufzen. "Zur Mauer werd ich noch mal müssen ja, ich reite einmal alle unsere Mauern und Wachtore ab, manchmal hab ich das Gefühl ich könnte förmlich riechen, wie die Steine langsam bröckelig werden und dabei hab ich nicht mal deine Wahrnehmung." Er rieb sich mit der rechten das Kinn. "Aber sag was gibt’s? Du bist doch sicher nicht einfach so auf Besuch um zu sehen wie uns in unserem bescheidenen Eigenheim geht und ob Jean auch ja nicht friert. Ist was passiert? Würde mich ja eigentlich schon wundern wenn nicht."
Sie lachte. „Danke, Zucker brauch ich gar nicht. Vielleicht bring ich demnächst nen Topf Honig mit. Gestern ist ein Schiff aus Skandinavien eingelaufen und auf dem gibt’s alles mögliche mit Honig… Met, Wachskerzen und so weiter“ Sie lehnte sich ein wenig den Männern entgegen und zwinkerte Jean zu. „Vielleicht kommst du einfach mal mit und schaust, was ihr vielleicht noch gebrauchen könnt?“
Sie griff in die Tasche ihres Gewands und zog das Pergament hervor. „Ja, kann man so sagen. Wobei ich nicht so wirklich weiß, was ich davon halten soll.“ Sie reichte es Lucien. „Das hat ein… äh… Händler für einen Freund abgegeben. Und… „Sie verzog die Stirn zu einer nachdenklichen Miene. „Es liegt mir nicht wirklich mich mit Fremden irgendwo in fremden Wirtshäusern zu treffen. Auf der anderen Seite reizt mich das Angebot aber doch.“ Sie wartete.
Jean nickte eifrig und kaute unverdrossen auf seinen Bohnen, dem Fleisch und Brot während selbst die Hunde etwas betreten daneben standen. Das war scheinbar noch besser als harte Knochen und Reste. Der scharfe Blick ihres Herren aber ließ sie sich wieder ducken und artig auf ihren Teil des nächtlichen Mahls konzentrieren. "Mh.. danke Alida, ein bisschen mehr Licht wär gar nicht so schlecht .. und Honig.. echten Honig, das wär richtig toll! Ich geh gleich morgen mal mit dir zum Kontor wenn ich darf. Danke!" Lucien machte eine legitimierende Geste, wenn Jean sich um das Haus kümmerte, sollte es ihm auch an nichts fehlen und wenn Alida sich schon anbot, warum nicht. Als Alida das Pergament hervor holte, nickte er kurz.
Er nickte kurz. "Dann ist er wohl nur der Überbringer einer Nachricht ohne wirklich etwas über den Inhalt oder seinen Verfasser zu kennen." Lucien wiegte seinen Kopf leicht hin und her. "Wahrscheinlich kennt unser Unbekannter den Mann einfach nur, hat vielleicht auch schon mit ihm gehandelt und erfahren das er nach Brügge auszieht um mit deinem Haus zu handeln." Vorsichtig rollte er das Pergament wieder zusammen und reichte es zurück an Alida. "Mmh.. dennoch ist es irgendwie merkwürdig; nicht das unsereins das wundern sollte aber... ich habe so ein Gefühl das dein 'Freund' einer der unseren ist. Ich denke nicht das er noch Schweinefleisch und Bohnen vertilgen kann, wie unser guter Jean hier." Sein Kopf glitt leicht süffisant Richtung des eben genannten, der nur mit fettverschmierten Händen in ein Stück Brot biss und kurz ungeniert rülpste. Erneut schüttelte Lucien den Kopf. "Ich habe Berichte gehört das Draga seit neuestem unsere Verteidigung prüft und auf Schwachstellen abklopft, merkwürdige Gestalten gehen seit neuestem in Brügge um und damit meine ich nicht die Krüppel und Bettler die Gerrit ohnehin alle in der Tasche hat." Sein Blick ging für eine kurze Zeit starr und nachdenklich ins Feuer, dann wieder zurück zu Alida. "Weißt du was das erste ist was zwei Gangrel sich fragen wenn sie einander in der Wildnis begegnen? Wie viele Winter? Es ist die Frage danach wie viele Winter, die härteste Zeit in der Wildnis man überlebt hat und das wichtigste in der Wildnis ist neben Fähigkeiten, Wissen und Kunde. Ein Grund mehr warum es da draußen immer gut ist sich am Lagerfeuer auszutauschen. Dein Unbekannter hat mit einer Sache recht: Wissen ist Macht, vor allem wenn es ums Überleben geht." Sein Grinsen wurde breit und hämisch. "Oder es ist einfach eine nette Falle, wie üblich. Was gedenkst du zu tun? Willst du es ignorieren oder wagen?"
Alida nickte bei Luciens Ausführungen über das Wesen der Gangrel. Meist berichtete er wenig über die Mitglieder seines Clans und seine Worte interessierten sie sehr. „Winter… ja, nach dem Winter vom letzten Jahr verstehe ich, was ihr damit meint.“ Ein Frösteln legte sich über ihre untote Haut.“ Was ich zu tun gedenke: Ich möchte mich auf den Weg nach Leuven machen.“ Sie zögerte und sah ihn länger als üblich an. „Und dich fragen, ob du mitkommst?“
Sein Schmunzeln verriet ihr, das ihn ihre Frage nicht mehr weiter zu verwundern schien. "Ich hab mir schon gedacht, dass dir nicht nur an meiner Meinung gelegen ist." Er unterdrückte ein schiefes Lachen. "Wegen meiner Meinung und meines umfangreichen Wissen werde ich nicht oft aufgesucht, das ist dann eher Gerrits oder noch eher Leifs Metier aber klar... in so einem Fall..." Ein Nicken in Richtung des Tisches auf dem das gewohnte Schwert aus glänzendem Damaszenerstahl des Hauptmanns lag, daneben ein Schleifstein und ein Poliertuch. "... in so einem Fall nimmt man doch lieber ein paar Schwerter und Leute mehr mit." Als ob er sich plötzlich dazu entschlossen hätte, das wärmende Feuer zu verlassen und erneut in eines der gefährlichen Abenteuer der Koterie zu stürzen, klatsche er sich auf die Oberschenkel. "Gut, ich bin dabei. Wenn das eine Falle ist will ich nicht das du alleine dort festgehalten wirst - du bist unsere Handelsbeauftragte; ohne dich legen sie einen guten Teil unserer Wirtschaft lahm, vielleicht sind das schon die ersten ernsteren Versuche uns von innen heraus hohl zu nagen. Mittlerweile bin ich schon ziemlich paranoid." Er lächelte.
Sie schüttelte nachdenklich den Kopf. Ihre Stimme war recht leise: „Du irrst, Lucien. Deine Meinung interessiert mich immer. Das was du sagst, hat stets Hand und Fuß.“ Ein Lächeln legte sich nun doch über ihre Züge und sie sah ihn an. „Aber es ist nun einmal auch so, dass ich, wenn ich wirklich mal richtig in der Sch…“ sie blickte zu Jean und hielt kurz inne. „… stecken sollte, dann gibt es niemanden, den ich lieber an meiner Seite wüsste als dich. Und damit mein’ ich nicht nur deinen Schwertarm oder deine Klauen.“ In diesem Moment war sie froh nicht mehr zu den Sterblichen zu zählen. Sie wäre sonst wohl im ganzen Gesicht rot angelaufen. Sie versuchte hastig abzulenken.
„Weißt du etwas Näheres über Dragas Pläne, oder die Gestalten, die du erwähnt hast?“
Sein Schmunzeln hörte nicht auf als sie ihm offenbarte, seine Meinung sehr wohl zu schätzen und zu achten, er wiegte den Kopf leicht zustimmend. "Ach, ich reiße mein Maul halt einfach immer auf, weil mir das ewige Drumherum reden so sinnlos und zeitraubend erscheint - das schmeckt dann manchen einfach nicht aber wenigstens ist es die Wahrheit. Ich halte die Dinge einfach, dann kann ich meine Prioritäten auch einfacher setzen." Ein knappes Schulterzucken. Ihre letzte Aussage schien ihn dann doch ein wenig zu überraschen und seine Augenbraue glitt knapp nach oben, einen fragenden Gesichtsausdruck annehmend. "Mhh.. Draga, nein.. gar nichts und ich habe bis auf das bereits Gesagte auch nichts weiter gehört. Wie gesagt, ich habe nur so den Verdacht bezüglich der Spione. Merkwürdige Tagelöhner gehen in den Gassen am Hafen umher - wäre ja nichts Neues und gerade jetzt wo jeder Arbeit sucht nach dem Winter... ich weiß es nicht aber ich spüre das wir bald was von ihr hören oder sehen werden." Sein Blick glitt zu Jean, der es geschafft hatte innerhalb kürzester Zeit die halbe Schüssel leer zu essen und zwar ganz allein. Mittlerweile hatte er schon Mühe zu kauen und schien eigentlich schon satt. Lucien grinste. "Lass gut sein Jean, das Schwein kann dir nicht mehr davon laufen, stell’s an den Herd und iss es morgen Mittag, ich werde gleich zur Mauer reiten und du solltest zu Bett gehen." Der Junge wollte schon protestieren und öffnete den Mund, den er aber gleich auch wieder schloss und resigniert nickte, offenbar hatte man diese Diskussion schon öfter geführt. "Ja Lucien.. ich werd nur noch ein wenig Feuerholz aus dem Stall holen und nach Ajax sehen, dann geh ich." Der Hauptmann stimmte nickend zu und wartete bis Jean die Schüssel abgestellt und sich auf den Weg nach draußen gemacht hatte, im Vorbeigehen den dicken Fellmantel über die Schultern warf. Kaum war das Schloss eingerastet, wurde es merkwürdig still im Raum. Für gewöhnlich hatte Lucien immer etwas zu sagen aber nur das gelegentliche Knacken des Feuers und das Rasseln der Ketten, als einer der Hunde sich hinter den Ohren kratzte war zu hören. Seine Augen fixierten Alida. "Also würdest du von allen hier ansässigen Kainiten mich wählen wenn du tief in der Scheiße sitzen würdest und das nicht nur wegen meiner Meinung, meinem Stahl oder den übernatürlichen Klauen hm? Welchen Grund kann es dann wohl geben das du mich den anderen vorziehen würdest? Sicherlich mein höflich eleganter Charme hm?" Ein erneut breites Grinsen.
Alida schluckte schwer. Mit einer solchen Frage hatte sie nicht gerechnet und man konnte merken, dass sie komplett überrumpelt war. Sie sah kurz zur Tür, wie in der Hoffnung, dass der Junge mit dem Feuerholz zurückkommen würde.
„Ich…“ Sie schwieg, blickte in die Flammen und wandte den Blick nach einer schieren Ewigkeit wieder zu seinem Gesicht. „Ich… vertraue dir.“
Lucien blickte kurz zu Boden, ließ ihre Worte ein wenig nachhallen und nickte schließlich sehr langsam und bedächtig, bevor er den Blick wieder hob. "Vertrauen ist so eine Sache zwischen toten Leichen und auch wenn es eigentlich nicht meine Art ist, so vertraue ich doch mittlerweile zumindest unserem Rat als auch dir. Es ist schon etwas sehr eigenes was wir hier in Brügge geschaffen haben, der Rest zerfleischt sich immer nur." Er sah sie lange an. "Genau wie bei unserer kleinen Lilli, haben wir sicher unser Meinungsverschiedenheiten aber ich weiß, dass ich auf dich zählen kann, wenn es hart auf hart kommt. Das ist für Kainiten schon viel wert, würde ich meinen."
Die blonde Frau nickte mehrfach bestätigend und war irgendwie froh, dass Lucien das Thema wieder so allgemein gestaltete, denn obwohl sie seit Jahrhunderten untot war, hatte sie das Gefühl, dass sich etwas wie ein Krampf in ihrem Bauch löste als sie zu den gewöhnlichen Belangen Themen wechseln konnte. Sie rieb sich die Hände und erwartete fast den Schweiß zu spüren. „Ja, ja. Ganz recht. Unser Rat ist schon etwas Besonderes. Es geschieht ja nicht alle Tage, dass sich Kainiten zusammen tun, die herkömmlichen Wege über den Haufen werfen und gemeinsam eine Stadt regieren. Und wir machen das ja wahrlich nicht schlecht. Ich vertraue unserem Rat auch… wobei mir…“ sie zögerte es auszusprechen. „… Leif in letzter Zeit etwas unberechenbar erscheint.“
Der Gangrel hob die Hände kurz an und zog die Mundwinkel nach unten; eine abwehrende distanzierende Geste folgte. "Über Leif kann ich derzeit nicht recht etwas sagen, ich hab aber leicht das Gefühl das irgendwas an ihm nagt. Wie du vielleicht weißt, war ich in Brüssel nicht dabei aber auch ohne mich habt ihr das Ruder ja noch rumgerissen..... danke im Übrigen, dass ihr mich ausgebuddelt habt, die ganze Geschichte war.. unheimlich offen gestanden, beinahe so wie der Abgrund nur ... andersrum." Für einen Moment sinnierte er und schien sehr weit weg zu sein, bevor er einen bösen Gedanken abzuschütteln schien und unverdrossen fortfuhr. "Leif hat derzeit glaube ich Probleme mit seinem eigenen Unleben, es passiert ihm genau das was so vielen Untoten auf halbem Wege ihrer Karriere passiert - er erkennt zu was er werden müsste um die Macht und den Einfluss der vor ihm liegt wie frisches Fallobst zu ergreifen und er bricht sich ein Stück weit daran, wenn du mich fragst."
Wieder nickte sie. „Ja, vielleicht ist es das, was mit ihm und allen geschieht. Den Weg aus dieser Krise kann er, auch wenn ich ihm gern zur Seite stehen würde, nur allein finden. Was mich beunruhigt ist, dass er durch sein Verhalten Brügge und uns in Gefahr bringt.“ Sie blickte in die Flammen als wenn sie darin etwas lesen wollte. „Wenn die Dinge anders gelaufen wären, und glaub mir, um ein Haar wären sie das, dann wäre keiner von uns, mit Ausnahme vielleicht von Liliana mit ihren diplomatischen Fähigkeiten, heim gekehrt. Er hat mit unserer Existenz gespielt. Das ängstigt mich.“
Lucien nickte und folgte ihrem Blick etwas abwesend. "Es ist eigentlich untypisch für ihn und ich wäre sicher der letzte gewesen, der einen Kampf scheut aber wenn ich am verlieren bin, dann lieber ein geordneter Rückzug und die Schmach einer Niederlage als der endgültige Tod. Überleben ist alles wie du weißt und so kann man seine Wunden an Körper und Ego lecken und ein paar weitere Jahrhunderte existieren, vielleicht sogar auf Rache sinnen. Das hat mit Feigheit nichts zu tun, nur mit Überleben und ist auch eine gewisse Art von Stärke." Sein Schmunzeln wirkte nachdenklich. "Tja.. aber wär hätte ahnen können das direkt vor unserer Haustüre so potente Kainiten hausen, ich frage mich warum die nicht schon längst etwas gegen uns in Gang gebracht hatten, vielleicht waren sie zu unserem Vorteil so sehr in ihre eigenen Fehden verwickelt, dass sie keine Zeit für Brügge hatten. Dennoch merkwürdig. Naja..." Sachte drehte er den Kopf. "Lilli wird uns dort gegenüber Gent und Antwerpen vertreten hm?" Mehr eine Feststellung denn eine Frage. "Naja, sollte eigentlich genau ihr Fachgebiet sein." Plötzlich pfiff Lucien durch die Zähne. "Ach, ich hab noch vergessen zu erwähnen das Kobald mit unserem Feinschmied Siegelringe für die Ratsherren fertigen lassen will, damit unsere Dokumente etwas fälschungssicherer werden. Wenn du eine Idee für ein Schnittmuster hast, brings Kobald vorbei, der lässt es für dich anfertigen."
"Das Problem mit Leif war nicht der Kampf oder ein Rückzug... er hat ohne Vorwarnung den Prinz von Brüssel attackiert. Ohne einen wirklich triftigen Grund... Nur weil er ihm die Macht zu herrschen absprechen wollte. Vor zwar etwas ausgedünnter aber immer noch bedrohlich versammelter kainitischer und menschlicher Mannschaft. Auch wenn du den ehrlichen Kampf bevorzugst...." Sie sah auf ihre langen Finger. "wähle ich in diesem Fall den Kampf, der mich nicht mit einem winzigen Messer auf mehrere Ghule gleichzeitig losgehen läßt."
Alida lachte bei der Erwähnung er Ringe. "Ja, das hast du bereits erwähnt. Ich hab schon mit Marlene rumphilosophiert. Sie macht täglich 100 Vorschläge
Er grinste. "Tja, dann hast du ja deine persönliche Schmuckberaterin schon zur Hand, ich bin sicher ihr werdet gemeinsam etwas passendes finden, im Grunde geht es ja nur um eine Eindeutigkeit. Wenn wir etwas beglaubigen, dann soll es offiziell sein und für jeden ersichtlich, dass der Rat geschlossen zustimmt, ablehnt oder andere Urteile gefällt werden. Im Krieg sind Falschinformationen oft tödlich." Ein kurzes Räuspern. "Was Leif angeht... ich war nicht direkt dabei und Situationen sind immer für jeden anders, egal wie detailliert und genau man sie nacherzählt bekommt aber ich verspreche dir, das ich ein Auge auf ihn haben werde." Es machte ein Knarzendes Geräusch, als die Vordertür erneut geöffnet wurde und Jean, einen Stapel Feuerholz balancierend wieder die Stube betrat. Etwas schnaufend, schichtete er die Scheite an den Kamin und meinte Richtung Lucien. "Ajax ist versorgt und die Tränke ist auch aufgefüllt, draußen ist alles ruhig soweit." Der Gangrel nickte knapp. "Gut, danke Jean und bis morgen abend...." er stockte kurz ".. mmmh es kann sein das ich einige Zeit auf Reisen bin, stell dich drauf ein das du eine Zeit lang Selbstversorger bist, wenn du was brauchst, geh zu .. du weißt schon wem." Jean sah ihn fragen an. "Alles weitere morgen abend Jean, schlaf jetzt." Der Junge nickte nur enttäuscht. "Ok ok.. dann bis morgen Nacht. Gute Nacht Alida", verabschiedete er sich kurz bevor er die Stube verließ und man am Geräusch einer zufallenden Zimmertür wusste, das Jean zu Bett gegangen war. "Wann willst du los?", fragte Lucien Alida.
„Ich dachte an 20h. Vielleicht lässt sich die Strecke in einer Nacht reiten. Soll ich dich abholen, oder sollen wir uns am Ost- oder Südtor treffen?“ Lucien drehte seinen Kopf leicht nach links und rechts, wog scheinbar das für und wider ab. "Hm.. ich bezweifle das wir die Strecke in einer Nacht schaffen werden, eher zwei würde ich sagen aber immerhin noch rechtzeitig, um deinen merkwürdigen Unbekannten nicht zu versäumen. Und als Treffpunkt würde ich doch einfach das Südtor vorschlagen, da sind wir dann schon mal in die richtige Richtung unterwegs."
Sie erhob sich aus dem bequemen Sessel und griff nach ihrem Mantel. „Beantwortest du mir eine Frage, Lucien? Jean erscheint mir ein wirklich fähiger und netter Bursche zu sein und die Art wie er dich verehrt ist außergewöhnlich… aber…“ sie sah ihm in die grauen Augen. „Wie kommt es, dass jemand wie du dem Jungen vertraut? Du teilst ihm in kürzester Zeit Geheimnisse mit, die selbst einem Erwachsenen lange Zeit schlaflose Nächste beschweren… und… auch wenn ich denke, dass dem nicht so ist, woher weißt du, dass es sich bei ihm nicht um einen Spion handelt?“ Sie trat näher an ihn heran. „Bei anderen Kainiten wie zum Beispiel Liliana würde ich das Verhalten nicht weiter verwunderlich finden. Aber bei dir?“
Bei Alidas Worten musste Lucien über sich selbst Schmunzeln und kniff kurz die Augen zusammen. "Ja, du hast vollkommen recht. Ich töne zwar die ganze Zeit, dass man nur sich selbst trauen kann und dann übergieße ich Schweinefleisch mit Bratensoße für ein sterbliches Kind, über das ich so gut wie nichts weiß und das mir zum Verwechseln ähnlich sieht. Eine Dummheit sondergleichen, es ist gefährlich, unüberlegt, dumm und naiv - ganz so wie du sagst, es wäre eigentlich etwas das Lill anstünde aber....". Luciens Blick glitt in den Flur nach hinten, an dessen Ende sich Jeans Zimmer befand. "Ich mag den Jungen und ich habe das Gefühl, dass ich... irgendetwas von mir mit ihm hinterlasse, mehr als nur Leichen und ausgeweidete Feinde. Mein Wissen und meine Erfahrungen leben in ihm weiter... vielleicht ist es auch nur die allzu menschliche Vorstellung eines Lebens das ich niemals hatte." Er sah Alida ernst an. "Entweder er ist, wer er vorgibt zu sein und es ist alles in Ordnung oder der Junge wird mein Untergang werden, meine größte Schwäche, wenn ich ihn so völlig sorgenfrei an meiner Existenz teilhaben lasse... ein widerlicher Plan der eines Sebastian von Augsburg wohl würdig wäre... vielleicht ghule ich ihn auch.. aber das ist eigentlich nicht meine Art."
Alida nickte, schien aber nicht wirklich zu begreifen. Sie hatte das Gefühl gehabt endlich verstanden zu haben, welche Art von Mann Lucien war und dann überraschte er sie doch wieder mit dem was er sagte. Da Lucien sich nicht von seinem warmen Platz am Kamin erhob reichte sie ihm die Hand und hielt sie wohl einige Sekunden zu lang fest. Er reichte ihr die Hand und erhob sich, um sie zu verabschieden. "Oder ich töte ihn, falls es notwendig werden sollte, das kann nur die Zeit zeigen. Der Junge ist oft mit Marlene zusammen, hab doch du auch ein Auge auf ihn. Anders werden wir nie herausfinden auf wessen Seite er wirklich steht."
„Nach wie vor das alte Misstrauen. Hätte mich auch verwundert…“ sie schmunzelte. „Werd ich machen. Falls Jean während du weg bist bei meiner Familie bleiben möchte, ist er herzlich eingeladen.“ Sie nickte ihm noch einmal zu und wandte sich zur Tür.
„Danke, dass du mich begleitest. Dann bis morgen zur achten Stunde des Abends.“
Zu ihrer Zusammenfassung bezüglich ihres Aufbruchs nickte er nur beipflichtend. "Kein Problem. Also bis morgen dann am Südtor." Er sah ihr nach bis durch die Tür, wieder in den Hof verschwunden war und schüttete dann, das restliche Fett mit Schwung in den Kamin. Die Feuerfontäne die kurz aufloderte ließ selbst ihn zurück schrecken und sein inneres Tier knurrend aufschreien. Soviel zum Thema Feuer.

Alida machte sich auf den Weg und war einige Zeit später beim Anwesen ihrer Familie angekommen. Sie betrat das Hauptgebäude durch einen der Nebeneingänge um möglichst wenig Lärm zu verursachen und schlich durch die Küche. Im Ofen brannten nach wie vor die Reste des Kochfeuers und verströmten eine wohlige Wärme. Es roch nach Brotteig und eingelegtem Gemüse. Die blonde Frau manövrierte sich im Halbdunkel an Tischen und Stühlen vorbei als sie plötzlich hinter sich ein Räuspern hörte. Sie wandte sich um und blickte in das von Kerzenlicht erleuchtete Gesicht ihres Verwalters Georg. Die Zeit hatte tiefe Kerben in das einst gut geschnittene Antlitz ihres alten Freundes hinterlassen und dessen Haar dünn und grau werden lassen. Auch wenn er sich nach wie vor gerade hielt erkannte sie das Gewicht der Jahre auf seinen Schultern.

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„Alida. Ich dacht‘ scho‘, du kämst gar nit mehr heim.“ Er lachte. „Frederik hat erzählt, du machst dich morgen uff de Weg nach Leuven. Weite Streck‘. Ich hab dir ‚en paar Sachen zusammen suche lasse. Findste‘ in deiner Kammer. Du passt auf dich uff, gell?“ In seiner Hand erkannte er ein Buch in dem er wohl vor kurzem noch gelesen haben mochte.
„Ich hab den Hauptmann der Stadtwache, Lucien Sabatier, gebeten mich zu begleiten.“
„Un? Kannste dich auf den verlasse?“
Sie überlegte und grinste dann. „Ich glaub schon.“ Sie trat einen Schritt auf Georg zu und umarmte den alten Mann. „Danke. Ich bin bald wieder da. Du passt derweil auf alles auf?“
„Ei. So wie immer halt.“
„Ach ja, falls der Neffe von Sabatier, ein Junge namens Jean, hier auftaucht, dann kümmer‘ dich um ihn, ja?“
Er nickte, wandte sich wieder um und humpelte zurück in die Lesestube. Alida schluckte und betrachtete den seit dessen Jugend unsicheren Gang des Alten. Ein schweres Gefühl stieg in ihr auf. Hätte sie das, was geschehen war verhindern können? Wenn sie achtsamer gewesen wäre? Es machte keinen Sinn über vergangene Begebenheiten zu grübeln aber nun verlangte sie erneut von Georg nach einem Jungen zu sehen und das weckte unliebsame Erinnerungen...
Alida atmete tief den vertrauten Geruch der Küche ein und ging dann durch den Flur Richtung Garten. Sie schritt durch das hohe Gras und über die gewundenen Kieswege. In der Nähe der leise vor sich hinfließenden Kanäle wuchsen Kapuzinerkresse und Pfefferminz, neben den Apfelbäumen blühten die Himbeeren. Alida trat näher an den Apfelhain heran und setzte sich schließlich an den Stamm eines alten Baumes. Sie spürte die raue Rinde, lehnte den Kopf an den Stamm und schloss die Augen. Dieser Baum war lange vor ihr bereits hier gewesen. Von ihrem Großvater oder Urgroßvater gepflanzt und es fühlte sich gut an, dass es nach wie vor Dinge gab, die älter waren als sie selbst. Sie griff mit den Händen in die weiche Erde und wusste, sie war schon immer genauso mit Brügge verwurzelt gewesen wie diese Gehölze. Tief reichten sie in das Erdreich, zogen daraus die Kraft ihre Äste gen Himmel zu strecken, jedes Jahr aufs Neue zu blühen und Früchte zu tragen. Alida öffnete die Augen und füllte den Inhalt ihrer Hand in einen Beutel. Mehrere Apfelblüten rieselten mit den Erdklumpen hinein. Wie hatte Lucien gesagt: ‚Nimm deine Heimat einfach mit wenn du gehst‘.
So hatte sie etwas, das sie stets an das erinnerte, was ihr hier in Brügge wichtig war: ihr Zuhause, ihre Familie, ihre Freunde, die Erinnerungen, die Straßen der Stadt, die Kanäle, das ewig an- und abschwellende Meer…

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Der Weg zum Ziel beginnt an dem Tag, an dem du die hundertprozentige Verantwortung für dein Tun übernimms.
Dante Alighieri


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Verfasst: Di 27. Jan 2015, 17:33 


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 Betreff des Beitrags: Re: Memento mori (Alida)
BeitragVerfasst: Di 27. Jan 2015, 17:34 
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Kurze Zeit später, würde Alida, nachdem sie ihr Pferd hatte satteln und sich mit dem notwendigsten Gepäck hatte versorgen lassen, auf dem Weg zum Südtor befinden. Robuste Reisekleidung, ein wenig Handgeld, Seile, Laternen und Decken, ihre Waffen, sowie zwei handvoll Erde, aus ihrem seit unzähligen Jahren gepflegten Garten hinter dem Anwesen ihrer Familie, waren alles was sie brauchen würde. Der alte Georg war informiert und würde sich um alles Weitere kümmern. Zusammen mit Frederik und Christian, durfte sie sich im Grunde keine allzu großen Probleme erwarten. Zwar handelte es sich um eine ungewöhnliche Reise, zu einem ungewöhnlichen Zeitpunkt, allerdings war sie bereits schon zu anderen Gelegenheiten persönlich erschienen um Handelsverträge abzuschließen oder sich mit den örtlichen Gegebenheiten vertraut zu machen. Spontan fielen ihr Schottland und das versuchte Attentat, der englischen Soldaten ein oder aber auch Portier, sowie Lille, ja schlussendlich auch das gerade erst kürzlich in die Domäne eingegliederte Brüssel. Immer wieder hatte es Momente gegeben in denen sie die Verantwortung und Sicherheit ihrer Geschäfte und Familie übertragen hatte und nicht selbst anwesend sein konnte. Es hatte nicht einen Moment gegeben, in dem sie dies leichtfertig getan oder jemals kein schlechtes Gefühl dabei gehabt hätte; dennoch wusste sie, dass sie ihrer Familie, der Stadtwache und ja im Grunde auch dem Rest des Rates mittlerweile vertrauen durfte. Zumindest soweit, dass für die Sicherheit der Stadt während ihrer Abwesenheit gesorgt sein würde.

Bestärkend in diesem Gefühl war auch Lucien, den sie nach einem kurzen Ritt durch die sauber gepflasterten Straßen von Brügge, etwas abseits vom Torbogen im Gespräch mit einem Wachmann erkennen konnte. Wie üblich trug er seine dunkle Lederkleidung, das Schwert geschultert, den gutmütigen Ajax am Zügel führend. Als er sie näherkommen sah, nickte er dem Mann der Nachtwache wie zur Bestätigung noch einmal zu und schwang sich auf den Rücken des treuen Brabanters. Das Pferd seitlich an sie heranführend, ohne in seinem leichten Trapp langsamer zu werden, schenkte er auch ihr ein zuvorkommendes Nicken; deutete mit dem Finger der rechten Hand ein Stück weit zur Stadt hinaus. Offensichtlich wollte er, was immer er ihr auch zu sagen hatte, nicht neben der sterblichen Wache besprechen und erst als sie ein Stück voran geritten waren; der dämmrige Schein des Fackellichts vom Südtor, die nähere Umgebung kaum mehr in Licht zu tauchen vermochte, drehte der Hauptmann leicht den Kopf.

„Ich habe die Nachtwache angewiesen, während unserer Abwesenheit besonders aufmerksam zu sein und die Wachpatrouillen rund um dein Anwesen sowie die Kontore verstärken lassen“, sagte er in nüchternem aber doch freundlichem Tonfall. „Außerdem ist je ein Mitglied der Brigade an den Stadtzugängen postiert und der Rest überwacht deine Familie. Zudem habe ich auch den Rat informiert.. naja.. “. Er schenkte ihr ein leichtes Grinsen. „Also nicht den kompletten Rat sondern nur Gerrit aber wenn er und Kobald wissen, dass Vorsicht geboten ist sind wir für alle Eventualitäten gerüstet. Leif und Liliana kommen schon klar schätze ich.“ Sein Blick mit den, in der Finsternis der Nacht so verräterisch, leuchtenden rötlichen Augen musterte sie kurz. „Hast du alles dabei was du brauchst? Ich habe noch mal unser Kartenwerk in Augenschein genommen und würde sagen, dass wir nicht ganz drei Tage bis nach Leuven brauchen werden. Unterwegs werden wir natürlich irgendwo einkehren müssen, es sei denn du möchtest mit der Erde vorlieb nehmen?“ Bei Liliana hätte er diese Frage vermutlich bereits als halben Affront formuliert, da er ihre Antwort wohl schon vorausahnen konnte, Alida traute er durchaus zu, auch diese Möglichkeit in Betracht zu ziehen. Das rhythmische Klackern, der frisch beschlagenen Hufe durchdrang die ansonsten stille Nacht, während sie sich immer weiter südwärts bewegten. Selbstredend war um diese Zeit niemand sonst mehr unterwegs.

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Alida freute sich Lucien zu sehen. Er war zuverlässig und das sprach für sich. Sie hörte ihm zunächst aufmerksam zu und kommentierte seine Ausführungen mit den Worten: „Ja, unsere Leute kommen schon klar.“ Sie wusste, auf die Kainiten der Stadt und auch deren Ghule war Verlass. Außerdem würden sie ja auch spätestens in einer Woche wieder da sein.
Sie ritt auf ihrem grauen Pferd neben Lucien und räusperte sich nach einer Weile. „Du kennst dich in diesen Wäldern besser aus als ich und bestimmt sind nicht viele Reisende unterwegs. Dennoch sind deine Augen in der Dunkelheit so markant und auffällig wie ein leuchtender Flaschengeist, oder?“ Sie grinste.
„Ich denke, wir können die Strecke in zwei Nächten schaffen. Vielleicht können wir unterwegs in einem der Gasthöfe einkehren. Die Erde ist zur Not auch eine gute Gelegenheit.“ Sie warf ihm einen verstohlenen Blick zu. „Aber ohne dich steht mir diese Möglichkeit nicht offen… und sie hinterlässt gewisse Spuren.“ Sie lachte erneut. „Es gibt unterwegs mehrere Herbergen, die auch bei Kainiten den Ruf genießen ruhig und sicher zu sein. Wie wär’s damit?“ Sie wartete eine Weile und ließ die nächste Frage folgen: „Jean kommt in der Woche auch ohne dich klar, oder?“
Die beiden Pferde gingen während dem Gespräch der Kainiten, beinahe nahtlos in einen schnelleren Trapp über, als der Straßenbelag aus sorgfältig verarbeiteten Steinen, langsam nachzulassen schien, und einem immer noch angenehm, ausgetretenem Pfad, Richtung Süden wich. Auch ohne viel Zutun, kannten die Pferde offensichtlich ihren Weg, denn auch hier handelte es sich wiederum um eine der großzügig und vielfach benutzen Straßen, die direkt nach Brügge führten. Zu ihrer Linken, konnte man im dämmrigen Mondlicht den östlichen Wald der Stadt ausmachen, Luciens von jeher angestammtes Domizil. Zur Rechten, waren die schummrig erleuchteten Gebäude und Stallungen der kleineren Vororte und Bauernhöfe auszumachen; ja hie und da vernahm man sogar das eine oder andere Muhe und Grunzen des lokalen Viehbestands. Es würde wohl noch in etwa eine gute halbe Stunde dauern, bevor sie nur noch völlige Finsternis und die schöne, wie auch gefährliche Einsamkeit der Wildnis umgeben würde. Lucien nickte ihr, das Grinsen breit erwidernd zu. „Mag sein, dafür sehe ich alles wie im hellsten Tageslicht. Und wie du schon gut bemerkt hast und ich dir noch mal versichern kann: Jedem dem wir um diese Zeit noch auf den Wegen und Pfaden egal in welche Richtung begegnen, braucht einen verdammt guten Grund unterwegs zu sein. Und es gibt nicht viele gute Gründe, sich jetzt noch nach draußen zu verirren.“ Seine letzten Worte, klangen mehr nach einer gemahnenden Warnung, als nach einem seiner üblich stichelnden Kommentare, die beispielsweise Liliana stets sehr ungeschickt zu deuten vermochte. „Ich werde sie nicht mehr einsetzen, sollte es nicht zwingend notwendig sein“, versicherte er ihr dennoch prompt.

Auf ihre Überlegungen zur Dauer ihrer Reise, ließ er den Kopf nur leicht überlegend hin und hergehen. „Hm… möglich, die Pferde sind gut eingeritten und ausgeruht und für uns als Reiter sollte es auch nicht zu anstrengend werden. Zwei Tage sind möglich, wenn wir uns ranhalten.“ Lucien nickte nur zum Übernachtungsangebot. „In der Erde versinken ist nur eine nette Alternative Geld zu sparen, Verfolger abzuschütteln oder bei Ungewissheit ob man tagsüber sicher ist, unterzutauchen – mehr aber auch nicht. Ein weiches Federbett mit prasselendem Kaminfeuer hat es noch nie ersetzt, deshalb und auch weil wir es uns leisten können, wäre ich einer Gaststube sicher nicht abgeneigt. Und wer kennt unsere Übernachtungsmöglichkeiten entlang der Strecke wohl besser als du?“ Seine letzte Aussage, ließ keinen Zweifel aufkommen, dass er Alida da vollkommen vertraute. Zu Jean gab es nur ein erneutes, beiläufiges Nicken. „Ja wird er und er wird es auch lernen müssen, denn es wird öfter so sein, dass ich nicht da bin und alles für ihn regeln kann. Er hat alles was er braucht und weiß wo er alles bekommt wenn ihm etwas fehlt oder an wen er sich wenden kann. Das muss der Junge schon schaffen, wenn er bei mir wohnen will.“ Der Gangrel ließ die Zügel locker hängen und drehte den Kopf leicht zu Alida, seine Augen nahmen einen fragenden Zug an. „Das Wohl des Jungen scheint dir recht wichtig zu sein. Glaubst du es würde ihm bei mir an etwas fehlen? Zugegeben, ich koche ihm kein Apfelmus mit Haferschleim zum Frühstück und arbeiten muss er auch, gewiss wird er nicht in edle Tücher gehüllt und hat die prächtigste Festtafel wie Lilianas Zofen und betuchten Gäste aber… ich glaube es geht ihm gut.“

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Alida kannte das Gelände hier noch so gut als wären es die Straßen, Kanäle und Plätze der Stadt, aber sie wusste, das würde sich in einigen Stunden ändern.
„Also? Gasthaus? Gute Idee. Es gibt die Herberge zum Kreuzenden Wasser, liegt wie der Name schon sagt, in der Gabelung von zwei zusammenfließenden Bächen, den Gasthof zum schnellen Reiter und „Die weiße Kuh“. Alle ungefähr einen Tagesritt entfernt, gemütlich, sauber und bezahlbar. Irgendwo werden wir sicher unterkommen. Ansonsten testen wir unseren flandrischen Lehmboden.“ Als das Gespräch erneut auf Jean kam blickte sie eine Weile in die Schwärze der Nacht. Der Mond war noch nicht aufgegangen und das Licht der Sterne erleuchtete nur schwach die vor ihnen liegende Straße. Sie schüttelte schließlich leicht den Kopf.
„Ich denke, dass es Jean bei dir gut geht. Er hat eine Reife, die, so scheint mir, weit über sein Alter hinaus geht. Das verwundert mich immer wieder. Wenn ich mir Gedanken mache, dann liegt das daran…“ Sie sah zu Lucien. „Wie alt ist er? 13? Marlene ist in dem Alter und, nun ja, auch wenn ich weiß, dass sie clever ist und klar kommt, würd ich mir ein wenig Sorgen machen.“
Sie passierten einen Pfosten, der mit seinem Pfeil hinter sie nach Brügge wies.
„Das andere, das ich nicht so ganz verstehe ist, warum Jean sich entschieden hat bei dir zu bleiben. Er ist am flandrischen Hof als Gefährte des Thronfolgers Balduin aufgewachsen, hat teilweise höfische Erziehung genossen, Reiten, Kämpfen und einiges mehr gelernt. Und nun lässt er das ihm Vertraute zurück um bei dir zu leben…? Schon ein wenig seltsam, oder?“
Sie warf ihm einen zweideutigen Blick zu. Offensichtlich vermutete sie, dass er mehr wusste als er vorgab.
Lucien spannte ein wenig die Schultern, wie um eine Verkrampfung zu lösen und nickte zu Alidas Ausführungen. Ajax schnaubte kurz und schüttelte die Mähne. "Klingt alles nach Gasthöfen bei denen man recht unkompliziert und günstig unterkommen könnte. Den Fluss würde ich lieber meiden, mag seltsam klingen aber Wasser zieht immer alle möglichen Leute an und Rauschen in der Nacht, verdeckt selbst für deine guten Ohren ziemlich viele Geräusche. Ob weiße Kühe oder schneller Reiter, da kannst du dir aussuchen was dir eher zusagt." Als die Sprache auf Jean kam, nickte der Gangrel nur abermals in Gedanken verloren. "Jean ist ein guter Junge und hat für sein Alter wohl schon eine Menge gesehen, gutes wie schlechtes, Reichtum und höchstwahrscheinlich auch bitterste Armut. Er hat sich als Diener am Königshof selbst beim Prinzregenten beliebt gemacht aber genauso kennt er sich wohl mit dem eher niederen Volk aus." Lucien schmunzelte. "Und ich würde dir Recht geben, er hat bisher schon einen recht merkwürdigen Lebensweg begangen, der ihn wohl auch sehr geprägt hat - vielleicht kommt daher auch die 'Reife' die du ansprichst." Mit der rechten Hand, zog er die Kapuze über den Kopf und tief in die Stirn. "Warum er sich dazu entschlossen hat bei einem Untoten zu leben kann ich dir nicht sagen, warum sollte das irgendein Sterblicher wollen? Aber er ist auch ein Kind der leicht beeindruckbar ist schätze ich. Ich werde nie von Krankheiten geplagt und ich nehme mir was ich will, wir haben Balduin und ihn gerettet und habe sozusagen Untergebene. Ganz davon zu schweigen, das er aussieht als wäre er ...nun, mein Sohn." Für einen Moment schien er weiter zu überlegen, nickte dann zu seinen eigenen Gedanken. "Ich glaube es ist ein Stück weit Bewunderung, vielleicht Ehrfurcht, dann Dankbarkeit und das Gefühl zu wissen, wo der eigene Platz ist." Lucien ließ den verhüllten Kopf leicht in Alidas Richtungen gehen. "Zumindest letzteres hat er mir wortwörtlich so gesagt, obgleich ein längeres Gespräch mit ihm sicher nicht mehr lange auf sich warten lassen kann. Allein die Ähnlichkeit ist ... ein Zufall zu viel."
Sie sah ihn noch einmal lange an, als würde sie noch auf eine Erklärung warten und zuckte dann mit den Schultern. Sie hielt normalerweise nicht so viel von Zufällen, aber diese ergaben sich im Leben dennoch immer wieder. "Ja, wahrscheinlich hast du Recht." Wieder wartete sie. "Wir können in einem der Gasthöfe unterkommen. Vielleicht schauen wir einfach einmal, wie lange wir brauchen werden. Der "Reiter" sollte in wohl 6h zu erreichen sein, die "Kuh" in ungefähr 8 Stunden"
Er nickte. "Der Reiter ist in Ordnung denke ich, wir müssen uns und die Pferde nicht unnötig verausgaben. Wir haben schließlich auch keine Ahnung was uns in Leuven erwarten wird und was noch alles passieren könnte. Nicht das ich vom schlimmsten ausgehen will aber man muss es ja auch nicht herausfordern." Nach einem kurzen Grummeln schenkte er ihr ein erneutes Grinsen. "Was? Du siehst mich an als wärst du der Meinung es gäbe ein großes Geheimnis bezüglich Jean, das ich dir nicht mitgeteilt hätte." Er hob die Schultern. "Da ist nur keines, zumindest kein echtes. Bis auf eine einzige Sache: Er und ich sind uns vor unserem Aufbruch nach England im Traum begegnet. Und es war kein Traum gewöhnlicher Natur, sondern magischer. Offenbar hat Sebastian das ganze eingefädelt und ist mir auch in diesem Traum erschienen. Ich war wieder sterblich und habe das Leben als Hauptmann, eines gewöhnlichen Mannes gelebt. Jean und Marlene waren bereits älter und einige andere, wie Gerrit waren auch wieder menschlich, gerade in Gerrits Fall sehr hm... sehr merkwürdig. Oh, und sie wussten auch das es nur ein Traum war... man könnte sagen ein geteilter Traum - magisch eben." Den Kopf leicht schief legend sah er sie kurz nachforschend an. "Im Traum meinte Sebastian, es gäbe nur einen Ausweg und den habe ich gesucht, darüber hinaus, habe ich mit Jean nichts zu tun gehabt. Dennoch mag die ganze verrückte, magische Geschichte unsere Beziehung beeinflusst haben." Ein Räuspern. "Und bevor du mich für wahnsinnig erklärst: Ich verstand und verstehe es ebenso wenig aber es war so."
Alida sah ihn mit großen Augen an, schien wirklich einen Moment zu überlegen, wie es um seine Zurechnungsfähigkeit bestellt war. Erwartete wohl ein mit schallendem Gelächter vorgetragenes: "Und den Mist glaubst du tatsächlich???" und hielt kurz ihr Pferd an als die Worte nicht kamen. "Gerrit, Jean und du... ihr habt gemeinsam geträumt?" Wieder schüttelte sie den Kopf und ließ ihr Pferd dann weiter Traben. "Von so etwas habe ich noch nie gehört. Und Sebastian war auch in diesem Traum? Ich weiß nach wie vor nicht, was ich von dem Zauberer halten soll..." Sie überlegte erneut. "Leifs Erzeuger soll ein erfahrener Träumer gewesen sein, vielleicht weiß unser Heiler was näheres da drüber? Passiert dir so was häufiger?"
Auch Lucien stoppte für einen kurzen Moment sein Pferd; ließ seine verrückt wirkenden Worte auf sie wirken. Doch genau wie sie vermutete, machte er keinerlei Anstalten diese wieder zu relativieren oder in einen üblen Scherz umzuwandeln. Nein, er schien es durchaus ernst zu meinen, egal wie lächerlich es klingen mochte. Ajax verfiel erneut an der Seite von Alida in Trab und schloss auf. "Es klingt wahnsinnig und lächerlich ja oder vielleicht auch beides zusammen aber es war scheinbar wirklich ein geteilter Traum und oh ja, der Hexer hatte ganz gewiss seine Hand im Spiel. Was er damit bezweckte kann ich allerdings nicht sagen. Aber nachdem er ja schon Leif fest an der Leine hält traue ich ihm alles zu." Der Gangrel spuckte kurz aus. "Was immer du von ihm hältst, für mich hat er gezeigt was er ist, zu was er fähig ist und worauf es ihm ankommt. Er ist ein usurpatorischer Blutschänder und schleimiger Tremere und er verdient nichts anderes als den Tod." Ihre Frage riss ihn aus seinen grimmigen Gedanken. "Merkwürdig dass du von Erzeugern sprichst.. meine kam auch im Traum vor." Sich am Kinn kratzend verscheuchte er den Gedanken wieder. "Leifs Erzeuger? Ich bin mir nicht mal mehr sicher ob er noch derjenige ist, der er vorgibt zu sein, du erinnerst dich an Velazquez und Oriundus? Wie viel war da noch echt und wie viel Marionettenspiel? Vielleicht ist das auch der Grund warum Leif in letzter Zeit etwas leichtsinnig wird - der Tremere lässt ihn tanzen." Eilig winkte er ab. "Leifs Erzeuger? Der kannte sich damit aus? Keine Sorge, das war das erste und vermutlich einzige Mal das ich so einen Traum haben werde und im Grunde ist es wohl bedeutungslos nehme ich an. Sollte mir etwas in der Realität merkwürdig vorkommen, was ich eindeutig auf den Traum zurückführen kann... ja, dann würde ich ihn sogar fragen aber es ist alles unklar, nebulös und schwammig. Ich weiß nicht was es war und was es für einen Sinn hatte und wir werden abwarten müssen ob es irgendetwas auch nur irgendwie beeinflusst." Er warf ihr einen fragenden Blick zu. "Du warst keiner der teilenden Träumer - träumst du eigentlich noch gelegentlich? Also... gewöhnliche Träume?"
"Sebastian ist ein Tremere und nach allem was geschehen ist, sind die Tremere verständlicherweise wohl unsere größten Feinde. Das Verschulden liegt aber zu gewissen Teilen durchaus bei uns." Ihre Stimme hatte einen harten Ton angenommen. "Es lässt sich nicht mehr ändern und wir müssen auf diese zusätzliche Gefahr für die Stadt und für uns vorbereitet sein." Wieder streifte ihr Blick zu seinen grauen Augen. "Sebastian hat einige Taten begangen, die an seiner absoluten Treue zu seinem Clan Zweifel aufkommen lassen. Und ich verstehe, dass er der Meinung war mit seinen Fähigkeiten einen Vertrag mit Leif schließen zu müssen, der ihn schützt..." Sie erwartete die Widerworte von Lucien. "Ich verstehe, dass am allerwenigsten du ihm über de Weg traust, und ich täte es an deiner Stelle genauso wenig... und auch ich werde vorsichtig sein. Aber ich werde dennoch schauen in welche Richtung sich das Schicksal irgendwann dreht." Sie lachte wurde dann jedoch wieder Ernst. "Hat Sebastian in dem Traum irgendwelchen Einfluss auf dich ausgewirkt? Hast du das Gefühl kontrolliert zu werden? Es würde Leifs Verhalten erklären. Vielleicht ist es wirklich der Einfluss von Sebastian, aber ich wüsste nicht, welchen Vorteil er dabei haben sollte. So wie ich es verstanden habe, sind Leif und Sebastian körperlich und geistig aneinander gebunden, wenn Leif verwundet wird geschieht das gleiche dem anderen... vielleicht versucht Leif sich absichtlich in tödliche Gefahr zu begeben um Sebastian so schwer zu verletzen, dass dieser verstirbt." Sie schüttelte erneut den Kopf um die unsinnigen Vermutungen zu beenden. "Keine Ahnung."
Sie blickte in das dunkle frische Laub um sie herum. "Ob ich noch träume? Ich weiß nicht. Ich habe manchmal das Gefühl, dass ich etwas geträumt habe, erinnere mich aber nicht daran. Du kennst bestimmt das Gefühl, wenn man den Traum festhalten möchte, aber er immer wieder vor einem verschwimmt. So geht es mir in fast jeder Nacht. Und ich kam nicht in deinem Traum vor?" Sie grinste: "Mit Gerrit und Jean hattest du sicher auch genug zu tun."

Ein erneutes Kopfschütteln und ein anerkennendes schiefes Grinsen. "Das ist etwas, das ich an dir sehr schätze. Du wägst ab auch wenn du anderer Meinung bist und du behältst dabei dennoch das große Ganze im Auge - deine, meine, ja schlussendlich die Sicherheit der ganzen Domäne und du lässt dich nicht auf irgendwelchen Träumereien oder Naivitäten ein." Sein Blick glitt kurz über die Umgebung, in der sich dunkle Hügel mit in Sternenlicht getauchten Wäldern und Büschen am Wegrand abwechselten. "Fakt ist, dass die Tremere, federführend unter Oriundus schon seit jeher Brügge kontrollieren wollten und sich nichts mehr als unseren Tod gewünscht haben - wir haben ihn vernichtet und das Zepter wenn man so will, ergriffen. Damals war Brügge noch ein stinkender, dampfender Haufen Aas um den sich die kleinen Nager gestritten haben, jetzt aber ist es ein saftiges, großes Stück Fleisch übergossen mit üppigem Fett und Butterflocken. Je größer und schmackhafter der Braten, desto zahlreicher und größer die Raubtiere die sich darum streiten. Wir sind ein ausgewachsener Konkurrent für den Rest der Nacht und die Tremere sind dahingehend unsere Erzrivalen, wobei ich stark hoffe, dass ihnen der Ungarnfeldzug bald das Rückgrat bricht." Er atmete kurz tief durch. "Was immer Sebastian auch ursprünglich vorgehabt haben mag, seine jüngsten Taten sprechen für sich, wie du so schön zusammengefasst hast. Leif ist ihm auf Gedeih und Verderben ausgeliefert, genauso wie er ihm. Zwar könnte man behaupten, Leif wäre dumm gewesen sich auf diesen Handel einzulassen und selbst schuld, man könne ihn seinem Schicksal überlassen. Aber wir beide wissen das unser Heiler nicht dumm oder schwach ist, wenn er etwas tut gibt’s es bisweilen triftige, handfeste Gründe - echte Gründe, keine kleinen stinkenden Waisenkinder oder edle Tuche." Der Gangrel ließ die Fingerknöchel kurz knacken. "Er hat es aus einem bestimmten Grund getan und auch wenn es vermutlich einfacher wäre ihn hinzurichten und damit Sebastian loszuwerden, so wären wir auch einen mächtigen, vertrauenswürdigen, wissenden und loyalen Verbündeten los, bei dem man sich sicher sein kann, das er unsere Institution des Rates schätzt und mit uns an einem Strang zieht - er sitzt in der gleichen Kiste die immer enger wird und tritt nach draußen. Das ist der einzige Grund, warum er noch lebt. Sein Wirken in Brügge auch mit dem Hexenbann, ist bedeutsamer als sein Ableben es je sein könnte." Seine Züge umspielte ein bitteres Lächeln. "Ich glaube nicht an fröhlich kichernde, gutherzige Blutschänder, die einen ganzen Kainitenhofstaat verraten und sich einem Unleben als Gejagter von Freund und Feind gleichermaßen ausliefern, nur weil sie irgendwelche menschlichen, längst vergessenen Ideale hochhalten wollen. Das hier ist kein Ort für eines von Gerrits romantisch- verspielten griechischen Dramen - in dieser Welt reißt man dir Eingeweide heraus und hängt dich an ihnen am nächsten Baum auf, umso mehr wenn du untot bist. Diese Welt ist dunkel und giftig und Helden sterben wie jeder andere auch." Nachdem er seine lange, ausholende Ansprache beendet hatte räusperte er sich kurz, beinahe entschuldigend. "Die Tremere sind unsere Feinde, das wird sich nicht mehr ändern und sie haben es sich selbst ausgesucht - sie wollten es so und sie bekommen das, was sie sich wünschen, was Sebastian angeht...." Er sah sie lange an. "Selbst wenn er der gutherzige, naive Dummkopf im Stile einer Erzhausen wäre. Wie lange, glaubst du, würde es für einen Clan aus Hexern, Zauberern und Dämonenanbetern wohl dauern Brügge geschlossen in den Abgrund zu versenken, wenn sie feststellen würden, dass einer der ihren sich mit dem Feind verbündet hat und ihre Geheimnisse ausplaudert? Geheimnisse über Magie, vielleicht kriegsentscheidende Dinge? Dinge von politischen Ausmaßen, die den Osten als auch den Westen erschüttern könnten? Selbst wenn er kein so großes Licht sein mag - er wird auch als unser 'Freund' nicht lange überleben. Er wählt den Weg des Ausgestoßenen und den wird er auch bis zum bitteren Ende gehen. Es gibt keine Alternative, es gibt keine Erlösung, keine Gerechtigkeit - am Ende gibt es immer nur den Tod."
Mit einer Hand umschlang er leicht den Zügel und setzte sich ein wenig nach vorne gebeugt in den Sattel, warf kurz einen prüfenden Blick auf den holprigen Weg vor ihnen. Keine große Straße mehr aber ausgetreten und fest genug um eine schnelle und sichere Reise zu ermöglichen. "Im Übrigen glaube ich nicht, dass Sebastian Leif mittels Träumen kontrolliert, so etwas dürfte selbst über seine Macht gehen aber vielleicht kommunizieren sie darüber ja miteinander, das könnte ich mir vorstellen... aber was weiß ich schon." Ein weiteres Schulterzucken. "Leif selbst ist auch immer sehr zurückhaltend und still wenn es um den Hexer geht, ich wäre ja rasend vor Wut und Beschämung ihm so in die Falle gegangen zu sein. Der Schänder hat irgendetwas großes gegen ihn in der Hand das ihn schweigen und ertragen lässt, wie groß die Last auch sein mag. So groß, das er selbst uns nicht einweiht und das sind unsichtbare Ketten die uns schlussendlich alle fesseln. Dich, mich, den Rat, Brügge und wie ein Damokles Schwert über uns hängen."
Alida hörte Lucien lange zu und nickte nachdenklich und zustimmend. Was auch immer geschehen würde, das Schicksal, das sich Sebastian ausgesucht hatte, würde wahrscheinlich nur in eine einzige Richtung gehen. Diesbezüglich hatte sie keine Zweifel.
Sie kaute einen Moment auf ihrer Unterlippe. „Ich vermute, ich weiß, warum sich Leif auf diesen Vertrag eingelassen hat. Ich habe damals im Wald ein Buch anvertraut bekommen, das ich Leif gezeigt habe. Er hat mir erzählt, es enthielte Inhalte in der alten Sprache der Salubri. Wahrscheinlich hat er geglaubt, dass darin Geheimnisse über seinen Clan enthalten wären, die niemals in die Hände der Tremere gelangen dürfen. Das Buch wurde mir entwendet und ich schätze, Sebastian hat es Leif zum Tausch angeboten. Gemeinsam mit seiner Freiheit… Ich hoffe, das Buch war es wert.“
Lucien schüttelte erneut missmutig den Kopf und knurrte bloß, als Alida ihm das Geheimnis um das Buch mitteilte, denn er konnte sich nicht entsinnen bisher etwas darüber gehört zu haben. "Also habe ich mehr als gut daran getan meine mit dem Blut der Vampirjäger-Mönche bespritzten Stiefel so fest ich nur konnte damals in Sebastians elenden Leib zu rammen. Du erinnerst dich an das merkwürdige Kloster als Lilliana mit dem Weihwasser verletzt wurde? Als wir die drei alten Tremere-Schänder begleiteten zur Lanze? Ihr seid im Kampf zu Boden gegangen und ich hab Sebastian schon von vornherein misstraut. Tja und als ich sah das er sich in einem günstigen Moment über euch beugte trat ich ordentlich zu - der Beginn einer wunderbaren Freundschaft." Er grinste hämisch. "Hätte ich damals gewusst das er dir in diesem Moment das Buch stielt, dass du von diesem irren Wolfling oder Ahn bekommen hast, mit dessen Hilfe er später Leif unter seine Fuchtel bringen würde... ich hätte ihm den Kopf samt Wirbelsäule herausgerissen und gegen den Altar geklatscht. Er hätte von Anfang an keine Nacht länger mehr unter uns Wandeln dürfen, es war meine Schuld." Der Gangrel unterdrückte ein kurzes Aufbäumen seines Tieres und schüttelte sich. "Wenn ich dran denke, das ich diesen verlogenenen, stinkenden Hurensohn von Jaques aus der dreckigen Camarque für unsere Wohltäterfee heim gekarrt habe, während ich vielleicht die Gelegenheit gehabt hätte Gerrit zu helfen, bevor der Schänder seine magischen Tricks einsetzt... ". Er beendete den Satz nicht sondern stieß nur scharf die Luft zwischen den Zähnen aus, bemühte sich um Fassung als er sich in Richtung Alida wandte. "Du hättest nicht verhindern können, dass beide den Vertrag schließen und... es war eine Entscheidung, die beide für sich getroffen haben. Was wäre passiert, wenn du zur Stelle gewesen wärst? Hättest du Leif, der sich dir mit dem Schwert in der Hand entgegengestellt hätte, zur Seite gestoßen um Sebastian einen Kopf kürzer gemacht? Nur um zu sehen, wie Leif bei jeder Wunde, die du dem Tremere zufügst ebenfalls zu Boden geht und schließlich zu Asche zerfällt. Wäre das die Rache wert?“ Wieder nahm ihr Mund einen härteren Zug an. „Manchmal frage ich mich eh, ob es euch Männer hierbei wirklich um das Wohl der Stadt oder das Eure geht, sondern vielleicht nicht in Wahrheit um euren gekränkten Stolz und die Suche nach Rache. Verzeih mir, aber genau das ist es doch so oft. Ist es nicht das, was Sebastian diesbezüglich antreibt? Rache, weil du seinen Bruder hingerichtet hast?“ Ihre Stimme wurde leiser. „Eine Tat, die ich nach wie vor nicht gut heiße. Vielleicht hätte man in der Gruppe, unseren Rat gab es damals ja noch nicht, darüber reden können. Der junge Van Hauten, mittlerweile ein guter Bekannter von Frederik, geht oft bei uns ein und aus. Er war mit Jakob befreundet und wann immer er von dem jungen Ghul berichtet hat, war kein einziges Wort dabei, das Zweifel am Charakter oder der eigentlichen Loyalität des Jungen zu Brügge zugelassen hätte. Aber lassen wir das. Vergangenes kann man bedauern, aber nicht ändern.“

Als sie von ihren eigenen Träumen berichtete, lächelte der Hauptmann unter seiner Kapuze. "Verschwimmen trifft es ganz gut, unwirklich und nicht greifbar, keine Träume im eigentlichen Sinne deshalb sage ich ja: Das war etwas so außergewöhnliches, das es beinahe nur magisch sein kann." Auf ihre letzten Worte lachte er nur kurz auf. "Doch du kamst schon vor, allerdings warst du keine der Träumenden sondern nur Inhalt des Traums, sehr real aber eben nicht wirklich. Gerrit und Jean waren beide nun.... 'real' dort in diesem gemeinsamen Traum." Für einen Moment schien er zu überlegen, dann fügte er hinzu. "Du hast allerdings ein Bankett ausgerichtet, richtig üppig mit anständig vollen Tellern."
Alida lachte. „Ich habe ein Bankett ausgerichtet? Oh je... Ich kann mir schon vorstellen, wie das abgelaufen sein muss: Alle haben in der großen Stube eng aneinander gequetscht am langen Tisch gesessen, ich hab mit Gerrit über griechische Philosophie diskutiert während unsere Magd die Gans reingetragen hat, unsere Musiker aus der Blutenden Jungfrau haben schief wie immer aufgespielt, ihr habt ordentlich zugelangt, die Kinder überm Schach gebrütet und sich dann beim Essen mit Kartoffeln beworfen, oder?“ Sie lachte erneut, wurde dann jedoch für einen kurzen Moment still um dann erneut ein wenig unsicher zu grinsen. „So läuft das bei einem Bankett ja wahrscheinlich immer ab, oder?“
Sein Blick hatte etwas verwundertes, einschätzendes aber ein Stück weit auch überraschtes an sich, dann nickte er vorsichtig, unsicher was er davon halten sollte. "In meinem Traum war es exakt so wie du es beschreibst... warst du... am Ende doch dabei? Kann eigentlich gar nicht sein..." Murmelte er nachdenklich.
Alida verspürte ein mulmiges Gefühl im Nacken. Sie versuchte ein unsicheres Lachen. „Nein, kann bestimmt nicht sein… Es ist nur ein Gefühl. Irgendwie das Gefühl an eine Erinnerung oder einen Traum. Ich erinnere mich nicht an diese Dinge, aber es fühlt sich an, als wären sie da gewesen. Und irgendwelche Gefahr...“ Ihr Blick wanderte unsicher in die Ferne.
Lucien ließ den letzten Teil ihrer Worte unkommentiert und folgte lediglich ihrem Blick in die Ferne der schwarzen Nacht. Seine Augen wanderten suchend den Horizont ab, als mochten sie ihm Antworten offenbaren; Antworten auf Fragen zu denen niemand eine Antwort zu haben schien. Wenn es eines gab, dass er hasste, dann unergründliche Rätsel und Situationen die man nur abwarten und aussitzen konnte. Die Rolle als Wolf im Käfig, gefiel ihm ganz und gar nicht, nein - Intrigen und Politik gefielen ihm ganz und gar nicht. "Träume sind Schäume", sagte er dann monoton, als würde er selbst nicht daran glauben. "Aber wenn man sich nicht einmal mehr darauf verlassen kann, tja.... ich denke wir werden die Bedeutung dieses Traumes und der darin innewohnenden Magie augenblicklich nicht begreifen können - wie sovieles müssen wir uns einfach auf die Zeit verlassen. Die Zeit arbeitet für wie gegen uns, das perfekte zweischneidige Schwert. Momentan bleibt uns da nichts anderes übrig. Vielleicht befrage ich Leif mal dazu." Es klang nicht so als hätte er es wirklich vor, sondern eher so, als hätte er die ganze Sache nur als weiteren Beweiß für Sebastians Niedertracht verbucht. Er seufte und kratzte sich am Bart. "Ach, Rache und Stolz. Ja, der Schänder Sebastian will Rache aber was immer er geplant hatte; Jakob den Fluch aufladen und als oberster seines Clans hier in Brügge verweilen oder irgendwelche Gargylen Massenbefreiungsaktionen. Vielleicht war es in menschlichen Masstäben dumm oder moralisch verwerflich aber er wäre mehr eine Last denn eine Hilfe gewesen und er hätte nicht einmal etwas dafür gekonnt. Es hätte so oder so nicht funktioniert und wir hätten den Zorn der Tremere dennoch auf uns gehabt aber....", er seufzte erneut. "Es ist jetzt nunmal so wie es ist und es wird sich auch nicht ändern, wir werden tun was nötig ist - mehr können wir ohnehin nicht tun." Er schenkte ihr einen fragenden Blick. "Mal eine andere Sache die mich brennend interessiert, bezüglich Brüssel und jetzt mal nicht auf Leif bezogen: Gerrit ist irgendwie ein klein wenig verbittert. Er hat mir schon mitgeteilt das es im Kampf nicht so sonderlich gut gelaufen ist aber.... nun mir scheint es ist etwas anderes das ihn beschäftigt, eine gewisse Unzufriedenheit. Er keift und zetert häufiger als sonst. War noch irgendwas in Brüssel das ich wissen sollte?" Seine Hand zog den Zügel näher.
Alida nickte ihm bei seinen Worten und griff fester in die Zügel. Lucien hatte bei dem, was er sagte wahrscheinlich recht. Sie sah nachdenklich nach vorne um dann auf Luciens Frage zu antworten. „Gerrit hat sich in Brüssel auf einen scheinbar ‚ehrenhaften’ Zweikampf mit dem Brujah Titanen eingelassen, den wir bereits auf dem Friedhof geschlagen hatten. Du erinnerst dich sicher an den Hünen. Du selbst hast ihm einiges an Schaden zugefügt. Wie ehrenhaft ist ein Zweikampf gegen einen Krieger dieses Clans, der über Fähigkeiten wie blitzschnelle Bewegungen und selbst für uns Kainiten überragende Stärke verfügt? Während Leif und ich kämpften war er in diesem Zweikampf gefangen, musste einen Hieb nach dem nächsten einstecken und konnte uns nicht zu Hilfe eilen. Du kennst Leif und sein Ehrgefühl. Wahrscheinlich belastet ihn das. Es dauerte ewig bis der Kampf mehr schlecht als recht entschieden war.“ Sie überlegte kurz und hatte noch einmal vor Augen wie sich der Nosferatu selbst pflockte. „Außerdem hat der Prinz von Brüssel versucht ihn zu beherrschen um ihn gegen uns zu verwenden. Nur mit Mühe ist es ihm gelungen sich selbst seinen Dolch ins Herz zu stoßen um uns zu retten. Ehre, wem Ehre gebührt.“ Sie nickte anerkennend. „Irgendwie war der Besuch in Brüssel für uns alle tiefgreifend. Du hast mir mal berichtet, wie es war dieses Blut zu trinken…“ Sie schluckte und suchte nach Worten. „Hast du immer noch das Gefühl, dass es in irgendeiner Art auf dich wirkt?“ Alida wartete bis Lucien geendet hatte und musterte ihn erneut. „Du hast vorhin von deiner Erzeugerin gesprochen. Wie war sie so?“
Schweigend hörte Lucien ihr, gelegentlich nickend und ab und an brummelnd zu, als sie die Geschehnisse rund um Brüssel und den mehr als harten Endkampf erneut schilderte. Ja, in der Tat, dies war wohl die schwerste Machtübernahme und größte kämpferische Herausforderung die den Brügger Kainiten bisher begegnet war. Zumindest demnach zu urteilen was Gerrit ihm missmutig berichtet hatte. Aber auch Alidas Worte ließen keinen Zweifel aufkommen: Die ganze Sache hätte auch übel nach hinten losgehen können. "Ja, die liebe Ehre. Da hat der alte Brummbart und Kinderschreck noch immer ein wenig zu knabbern; kann ich aber gut verstehn." Er ließ den Kopf leicht nach links und rechts wandern, als ob er abwägen würde. "Wahrscheinlich täte es ihm tatsächlich gut wenn er den ganzen Stadtmüll mal hinter sich lassen könnte und mir wohl auch." Einen Moment lang wirkte er unschlüssig und gedankenverloren. "Brüssel war für alle eine böse Überraschung. Wir hatten auch einfach nur Glück, dass diese uralten Bestien sich gegenseitig bekriegt haben und keinen Moment unachtsam sein durften, sonst wären wir längst von Brüssel überrollt worden. Das Glück das wir da hatten ist in Worte nicht zu fassen. Wenigstens ist die Sache jetzt geklärt auch wenn wir alle noch Wunden lecken. Hoffentlich versaut es unsere Blumenmaria nicht, jeder hat auf seine Weise für diese dreckige Stadt geblutet." Blut schien auch das richtige Stichwort zu sein, denn Lucien nickte kurz betroffen. "Das Blut ja, das beschissene heilige Blut. Genippt hab ich daran, einen kleinen Finger reingesteckt um mit der Zungenspitze zu kosten aber wie so oft bei diesen dämlichen Artefakten, heiligen Reliquien und anderem Krimskrams ist irgendwo der Wurm drin. Am Ende hatte ich die ganze verdammte Flasche gesoffen und war, so habt ihr mir dann gesagt, drei Tage weg. In den drei Tagen habe ich... das Gegenteil des Abgrunds erlebt. Der Abgrund war Schrecken und Finsternis, das Blut hat mir alle meine angeblichen Sünden aufgezeigt, jeden Mord, jeden Diebstahl, alles." Er schluckte kurz säuerlich. "Es war nicht schön aber vieles von dem was ich damals wie heute getan habe, habe ich aus einem Grund getan. Überleben, denn dies geht immer vor und wenn man nichts zu Essen hat muss man eben stehlen." Seine Schultern hoben und senkten sich. "Ich weiß nicht ob es mich noch irgendwie beeinflusst, zumindest kann mich auch kein Heilandblut brechen, indem es mir versucht Schuldgefühle einzureden für Dinge die in der Situation richtig oder notwendig waren, diese menschlich-ethischen Vorstellungen sind schon lange nicht mehr mein Credo." Eine Weile ließ er seine Worte so stehen und man hörte nur das gleichmäßige Hufgetrappel unter ihnen auf dem erdigen, steinigen Pfad der sie Richtung Gasthaus führte. "Vanya? Hm. Wie war Vanya....hm." Offensichtlich handelte es sich bei der genannten Person um seine Erzeugerin. "Sie war wild, ohne Reue, ohne Mitleid, ohne noch irgendwelchen großen Wert auf irgendwelche menschlichen Belange zu geben. Menschen waren ihr bereits soweit egal, dass sie sie nicht einmal mehr recht wahrnahm es sei denn sie war gerade hungrig. Zwar folterte oder quälte sie nie aber die Jagd bereitete ihr stets ein unglaubliches Vergnügen und sie war schnell mit einem Urteil bei der Hand - deshalb sagte ich unserer Fee ja auch, ich wäre besonders diplomatisch und freundlich. Vanya hätte so etwas wie Lilliana entweder ignoriert oder einfach zerrissen wenn sie zu sehr gestört hätte." Er lächelte kurz. "Und es hätte ihr nicht mehr bedeutet oder sie mehr berührt als zwischenzeitlich einen Hasen auszutrinken. Vanyas Respekt musste man sich stets verdienen, wie immer... bei Wölfen." Lucien richtete den Blick hinüber zu Alida. "Was ist mit deinem Erzeuger? Wie war der so?"
Alida hatte aufmerksam zugehört und ab und an genickt. Als die Frage nach ihrem Erzeuger fiel schluckte sie schwer und sah ihn an. "Willst du das wirklich wissen?"
Seine Schultern zuckten kurz und er machte ein Gesicht als ob das Ganze keine große Sache für ihn wäre. "Warum nicht? Ich meine es hat doch keine große Bedeutung, da man davon ausgehen kann, dass all unsere Erzeuger irgendwo da draußen sind und auch unabhängig von uns ihr Ding durchziehen, in Starre liegen oder vernichtet wurden." Die Augen zusammenkneifend, musterte er ihr Gesicht eingehend. "Er oder sie muss demnach ein ziemliches Riesenarschloch oder ein Untier aus den Tiefen aller gesammelten, menschlichen Alpträume gewesen sein, hm?"
Wieder zögerte sie einen Moment, suchte nach Worten. „Nein. Mein Erzeuger, Emilian war ein Kind, ein Junge von vielleicht 8 Jahren.“ Sie sah Lucien an und suchte nach einer Regung, die ihr vermittelte, was er dachte. „Ich weiß nicht, warum er mir den Kuss geschenkt hat. Vielleicht Mitleid, vielleicht Selbsterhaltungstrieb. Hätte er es nicht, wäre ich damals verblutet und an meinen Verletzungen gestorben.“ Bei der Erinnerung zog ein dunkler Schatten über ihr Gesicht. „Ich habe ihn mit nach Brügge genommen. Er hat mir, das was er wusste beigebracht und glaub mir, ich vermute, es war nicht viel und ich ihm das, was mir wichtig erschien. Er lebte im Anwesen meiner Familie mit meinen Nichten und Neffen und meinen Geschwistern und wider Erwarten lief tatsächlich einige Zeit alles gut. Ich lernte die wichtigsten Dinge über das…“ sie lachte kurz auf. „… Unleben ohne alle Familienmitglieder oder Freunde zu zerfleischen oder abzuschlachten und auch Emilian schien glücklich zu sein. Irgendwann jedoch veränderte sich langsam alles. Die Nachbarn und entfernte Verwandte wunderten sich über den Jungen, der nicht älter zu werden schien und auch Emilian selbst veränderte sich. Er wurde still und nachdenklich. Es war ihm nicht mehr genug. Er wollte mehr. Das, worauf jeder Mensch, ob tot oder untot, ein Anrecht zu haben glaubt. Er wollte wohl ein eigenes Leben.“ Wieder verzog sich zu einem schmalen Strich. „Die Liebe, die ich ihm entgegenbrachte, kann man am ehesten mit der einer Schwester vergleichen. Ich vermute, dass ihm auch das in einer unserer langen Nächte nicht mehr reichte, wenn ich an seinen düsteren eifersüchtigen Gesichtsausdruck denke.“ Sie blickte auf ihre eigenen Hände. „Du kennst die Fähigkeiten unseres Clans, Lucien, oder? Emilian war ein geborenes Naturtalent darin. Er konnte verändern, erschaffen und zerstören. Am Anfang ließ er seine nächtlichen Opfer noch am Leben, doch es folgten andere Zeiten. Er malte in den Zügen seiner nächtlichen Opfer wie ein Künstler mit Ölfarben auf einer Leinwand, erzeugte mit den bloßen Fingern täuschend echte Wunden und verschloss sie wieder. Muskeln knetete er wie Teig und gab den Toten neue Gesichter, schöner und göttlicher als es einem Sterblichen zustand. Er fand, dass hätten seine Opfer verdient, wenn sie schon durch ihn vernichtet worden wären. Und er begann an sich selbst zu experimentieren und fluchte über die Persistenz unseres untoten Fleisches und seine Widerstandsfähigkeit.
Eines Tages verschwand ein guter Freund von mir. Ich habe bis zum Morgengrauen nach ihm gesucht und fand schließlich eine bei uns im Keller angebundene betäubte Gestalt, die irgendwann mal mein Freund aus Kindertagen gewesen war. Emilian hatte ihm jeden einzelnen Muskel seiner Beine fein säuberlich abpräpariert und versucht mit diesem Anschauungsobjekt das Fleisch bei sich selbst nachzubilden. Ich bin… in Raserei gegangen und konnte mich nur mit Mühe daran hindern ihn zu zerfleischen. Wahrscheinlich hätte ich es auch nicht geschafft, wenn ich gewollt hätte. Wir haben danach nur noch ein einziges Mal miteinander geredet. Er hat sich entschuldigt, weil er wusste, dass es mir wichtig war, diese Worte zu hören. Danach ist er gegangen. Er meinte damals er würde erst wieder kommen, wenn er soweit wäre und ich weiß, dass diese Nacht irgendwann kommen wird.“ Wieder schluckte sie. „Ich fürchte es. Es war schwer ohne ihn die Nächte zu durchstreifen. Ich habe ihn geliebt und er war mir wichtig, aber es war gut, dass er ging.“
Alida griff erneut fester in die Zügel. „In der nächsten Nacht habe ich versucht die Beine meines Freundes wieder herzustellen, aber ich bin nicht gut im Formen von Fleisch. Ich hasse es! Er humpelt seitdem und auch wenn er mir nie einen Vorwurf gemacht hat, vermute ich, dass Georg mir nicht verzeihen kann, dass ich es damals so weit habe kommen lassen.“ Sie blickte zu Lucien, wartete auf seine Reaktion um dann ihn zu fragen „Und wie ist es mit deiner Erzeugerin. Vermisst du sie? Hat sie dir viel bedeutet?“
Lucien nickte nachdenklich und teilweise auch überrascht und verwundert zu Alidas Worten, unterbrach sie aber nicht ein einziges Mal, als sie ihm über ihren Erzeuger berichtete. Ihre Pferde hatten sie während ihrer Geschichte, zügig durch die kühle Nacht vorangetragen und bald würden sie ihren ersten Zwischenstopp, den Gasthof zum ‚Schnellen Reiter’ erreichen. Der Gangrel zog behutsam am Zügel und lenkte Ajax ein Stück weiter nach links, als dass etwas modrig wirkenden Holzschild mit den schwarzen Lettern an einer Wegzweigung den Weg zur Herberge wies. Der Brabanter schnaubte leicht und folgte dem sachten Drängen seines Herrn. „Hm… Ein Junge von acht Jahren? Es ist zwar kein geschriebenes Gesetz und moralische Vorstellungen unter den Kindern der Nacht, sind so zahlreich wie die Bäume im Wald rund um Brügge aber das ist ehrlich gesagt, schon etwas… gefährlich.“ Ein erneutes kurzes Nicken. „Gefährlich für den Kainit und alle anderen, ein Kind braucht viel länger um erwachsen zu werden und den Fluch auch nur annähernd ertragen oder schätzen zu lernen, zudem gibt es natürlich einige... Probleme wenn man gerade einmal geradeaus gehen kann – nein, zu jung ist generell eine schlechte Idee.“ Die Faust an den Mund pressend, unterdrückte er ein Husten. „Was dein Erzeuger da wohl versucht hat war, mithilfe der Kräfte deines Clans, seine eigenen Grenzen zu überwinden, dafür hat er auch Folter und Quälerei in Kauf genommen. Sei mir nicht böse aber die Tzimisce die ich kennenlernte, waren ähnlich. Manche sind von einer. Art ‚Krankheit’ befallen und zerfressen, die sie nicht mehr loslässt. Eine Vorstellung von sich und der Welt, die man nicht einmal mehr in animalischen Maßstäben erklären kann. Ich habe es nie verstanden und werde es wohl auch nie verstehen aber das muss ich wohl auch nicht, genauso wenig wie du.“ Lucien schenkte ihr ein wohlwollendes Lächeln. „Dein Erzeuger war anders als du und ist vermutlich zu dem geworden, was du dir selbst geschworen hast nie zu sein und bisher auch nicht geworden bist. Georg hat dir vergeben, denn du bist nicht Emilian und Emilian ist nicht du. Wir teilen das Blut und die Linie aber niemand hindert uns daran unseren eigenen Weg zu beschreiten… unsere eigene Freiheit zu finden. Das ist das Schöne am Unleben, die Freiheit.“ Als Alida Vanya erwähnte, musste Lucien ein leicht verächtliches Grinsen unterdrücken.

„Gangrel schätzen Stärke, Überlebenswillen, Einfallsreichtum und Leistungen. Vanya war wild und frei, freier vielleicht als andere meines Clans. Die gewöhnlichen Regeln und Vorstellungen der menschlichen Gesellschaft, hatte sie schon bei meinem Kuss weit hinter sich gelassen, sie war wirklich näher dem Tier als allem anderen, zumindest was ihre inneren Überzeugungen betraf.“ Sein Kopf glitt in den Nacken als er die Augen schloss, um eine weit entfernte Erinnerung aus seinen Gedanken ans Tageslicht zu holen. „Vanya war einfach nur Teil einer Söldnertruppe, die sich mit einem Landvogt darauf geeinigt hatte, eine örtliche Räuberbande gegen bare Münze durch den Wald zu hetzen.“ Er schenkte ihr einen beinahe wehmütigen Blick. „Da bin ich gestorben und wiedergeboren worden, in einer alten Holzfällerhütte im Wald nachdem der Rest der Bande entweder erschlagen, festgenommen oder ausgetrunken war. Anschließend hat man mich aufgehängt… aber was machte mir das zu diesem Zeitpunkt schon aus? Tja, wenigstens der Totengräber hat später große Augen gemacht.“ Seine Schultern hoben sich. „Vanya fand, ich wäre den Kuss wert, weil ich sie beinahe abgehängt hätte und mir meinen eigenen Überlebenswillen zunutze gemacht hatte. Sie lehrte mich den Weg des Tieres und lange Zeit zogen wir durch die Lande, manchmal mit anderen, dann nur zu zweit aber immer mehr auch alleine bis zu dem Zeitpunkt, da wir uns trennten und jeder seiner Wege ging.“ Lucien stoppte in seinen Ausführungen und sah erneut zu Alida, offenbar hatte er dem nicht mehr viel hinzuzufügen. „Ich habe sie geschätzt für das was sie war: das perfekte Raubtier und sie schätze mich, weil ich das gleiche Potential in mir trug. Wir haben einander in den besten und in den schlimmsten Momenten erlebt als auch die Sterblichen und Speichellecker um uns – wir teilen die Erfahrung eines Unlebens, das wir ein Stück weit zusammen beschritten haben, wenn auch nur für ein paar Jahre.“

In der Ferne war schon der erste, dämmrige Lichtschein am Horizont, sowie das Wiehern und Schaben einiger Pferde zu vernehmen. Augenscheinlich, schien der Gasthof immer näher zu kommen und war offensichtlich auch zu dieser Stunde, ein beliebter Ort des Verweilens. Der Gangrel grinste Alida zu, als er Ajax die Sporen gab. „Was ich vermisse, ist nicht Vanya oder mein Clan, sondern die Zeit des Wanderns und der Freiheit. Früher war der Weg das Ziel.“ Trommelnd klopften die Hufe seines Rosses auf den erdigen Boden und trugen ihn eilig näher an das Laternenlicht heran.
Alida folgte ihm mit einer Pferdelänge Abstand. Vor ihnen erschien das weiß gestrichene gemütlich wirkende Gasthaus im Schatten von blühenden Fliederbüschen und Heckenrosen. In ihrem Kopf mischten sich die Erinnerungen an den Jungen mit den jaspisartigen Augen mit Bildern von Kämpfen im gar nicht so fernen Brüssel und den Gesichtern von Leif, Gerrit und Liliana. Sie atmete tief ein, roch den würzigen Geruch der Wälder um sie herum, hörte die ersten Vögel, die von der Dämmerung aus ihren Verstecken gelockt wurden um den in wenigen Stunden anbrechenden Tag zu begrüßen und spürte den Nachhall der Worte ihres Begleiters. Für einen kurzen Moment hatte sie das Gefühl zu spüren, was er mit Freiheit meinte. Die Worte, die sie an Lucien richten wollte, lagen ihr auf der Zunge. „Sei frei! Folg deinem Weg.“ Aber irgendetwas hinderte sie daran, sie auszusprechen. Sie schüttelte kurz gedankenverloren den Kopf. Lucien kannte seinen Weg und er bedurfte ganz sicher keiner kleinen Händlerin aus Brügge um ihn daran zu erinnern...
Der Gasthof „Zum schnellen Reiter“, in der sie beide den Morgen überdauern würden, war im Grunde nichts weiter, als ein großer ehemaliger Gutshof, dessen äußere Form entfernt einem L glich. An einer Seite des Gebäudes waren Stallungen zur Unterbringung der Pferde gefertigt worden, solides Holz und Stroh, sorgten dafür dass die Tiere sich unabhängig von jeglicher Witterung satt fressen und ausruhen konnten. Ganze zwei Stallburschen kümmerten sich eilig um die Reittiere der Neuankömmlinge und wurden nicht selten mit einem ganzen Schilling belohnt. Schließlich war der „Schnelle Reiter“, eine Schenke die vor allem Reisenden und Kaufleuten, eine sichere Unterkunft für die Nacht und ein trockenes Lager für die müden Knochen anzubieten wusste – und sie war auch heute gut gefüllt, was die lauten Stimmen aus dem hell erleuchteten Inneren erahnen ließen. Am Haupteingang ins Gebäude, prangte ein schweres Holzschild, auf dem eine feurige Mähre abgebildet war, die einen in wetterfeste Kleidung gehüllten Mann trug.
Lucien dirigierte Ajax kurzerhand zu den Ställen und warf, von dämmrigen Fackelschein erhellt, einem der dort wartenden Jungen eine silberne Münze zu, woraufhin dieser sich äußerst motiviert um den guten Brabanter zu kümmern schien. Auch Alidas Pferd, schien in guten Händen zu sein und bevor sie die Schenke über den leicht mit Sand bestreuten Boden betraten, verriet ihr ein Blick zurück, dass man ihre Tiere offensichtlich nebeneinander im Stall untergebracht hatte, wo sie sich gerade an frischem Heu gütlich taten. Wenn man sich um die anwesenden Gäste genauso fürsorglich kümmerte, wie um deren Reittiere, stünde einer angenehmen Ruhe nichts im Wege.

Ihr nächtlicher Begleiter öffnete ihr mit einem süffisantem Grinsen die hölzerne Eingangstür, in der zwei kleine Glasfenster eingelassen waren und augenblicklich, schlug ihr die warme, feuchte Luft entgegen die erfüllt war mit unzähligen, facettenreichen Gerüchen. Es roch nach Schweiß, Herdfeuer und glosendem Holz, nach scharfen Schnäpsen und herben Bieren, gepaart mit dem Geruch von frisch aufgekochten Bohnen und Fleisch. Ab und an konnte Alida sogar das eine oder andere Duftwässerchen wahrnehmen und ja, manchmal stank es auch nach feuchter Kleidung. Kaum war die Tür hinter ihnen ins Schloss gefallen, zwängte sich auch schon eine rundliche, mit üppiger Oberweite ausgestattete Schankmeid an ihnen vorbei, die ein großes Tablett mit Krügen und Bechern trug. Der Raum war für eine Wirtsstube beeindruckend groß und an zahlreichen großen und kleinen Tischen, saßen alle möglichen Leute. Feine Herren in edlen Tuchen, die Landkarten studierten oder Pergamenten brüteten oder sich mit ihren nicht weniger gut gekleideten weiblichen Begleiterinnen unterhielten. Da waren bärtige, grobschlächtige Kerle die ihre schlammverkrusteten Stiefel ausgezogen hatten und schaumige Bierkrüge leerten oder Würfelspiele spielten. Andernorts hatte sich eine kleine Gruppe versammelt und sah zwei Kontrahenten beim Kartenspiel zu. In einer Ecke des Raumes hatte sich eine kleine Gauklertruppe versammelt und spielte ein heiteres Lied zu später Stunde an, während in einem riesigen Kamin ein loderndes Feuer brannte, über dem zahlreiche Trophäen prangten. Ein Stimmengemisch aus lautem Gegröle, Lachen und Murmeln, schmatzendes Kauen, klackernden Besteck und klingenden Gläsern erfüllte den Raum, während Lucien in Richtung eines großen Tresens deutete, an dem ein stattlicher, rotwangiger Mann mit fleckiger Schürze, gerade einem Gast nachschenkte. Offensichtlich handelte es sich um den vielbeschäftigten Wirt und auch Alidas Erinnerung, bestätigte die Annahme des Gangrels.


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Der Weg zum Ziel beginnt an dem Tag, an dem du die hundertprozentige Verantwortung für dein Tun übernimms.
Dante Alighieri


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 Betreff des Beitrags: Re: Memento mori (Alida)
BeitragVerfasst: Di 27. Jan 2015, 17:37 
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Leicht zu ihr gebeugt, rieb er sich etwas die grauen Augen und man konnte eine leichte Müdigkeit in den Zügen des Hauptmanns erkennen. Auch Alida spürte langsam die trägerwerdende, zunehmende Last und Schwere die sich über sie legte als der Anbruch des Tages nicht mehr lange auf sich warten ließ. „Mit Stallburschen kann ich ja noch verhandeln aber soweit ich weiß, warst du schon einmal hier nicht wahr? Vermutlich ist es besser wenn du uns ein sicheres, geschütztes Zimmer für den Tag besorgst, nicht nur weil du die Betuchtere von uns beiden bist. Ein Doppelzimmer ist sicher ausreichend.“ Er schenkte ihr ein müdes Grinsen. Als Kauffrau und Händlerin kannte sie gewiss die wichtigsten Reisestationen und deren Besitzer beim Namen; in diesem speziellen Fall aber, war sie tatsächlich schon einmal im „Reiter“ untergekommen und auch wenn der Wirt über die Jahre noch ein wenig mehr Haare verloren hatte, war er immer noch derselbe. Hannes Bolger oder auch der „Speckhannes“, weil er eigentlich Fleischer gelernt hatte und immer noch gut abgehangenen Räucherspeck und scharf gewürzte Würste aus Eigenproduktion verkaufte. Zwar waren die Ländereien seiner ehemaligen Wirtschaft längst verkauft und Korn gab es auch keines mehr aber seine besonders delikat gewürzten Fleischprodukte, erfreuten sich noch immer großer Beliebtheit. Selbst Georg kaufte ab und an bei ihm ein und auch wenn Lucien es nicht wusste, ließ die Stadtverwaltung immer wieder mal ein wenig Speck vom Hannes, in die Vorratskammer der Wachstuben von Brügge bringen.

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Alida schenkte Lucien einen fragenden Blick. Als Mann war es wohl eigentlich an ihm ein Zimmer zu bestellen, auf der anderen Seite hatte sie zuletzt vor wohl einem Jahr hier genächtigt und den Wirt und seinen Gutshof noch immer in guter Erinnerung. Sie nickte Lucien zu und trat dann einige Schritte auf den Wirtsmann zu um ihn freundlich zu begrüßen. „Hannes Bolger? Verzeiht die Störung zu so später Stunde. Mein Gefährte und ich…“ sie deutete auf Lucien. „… sind die ganze Nacht geritten und suchen ein Zimmer um unsere müden Knochen auszuruhen. Vielleicht erinnert Ihr euch an mich? Ich war bereits vor einem Jahr mit einer Gruppe reisender Kaufleute bei euch zu Gast? Alida van de Burse. Wir waren damals sehr angetan von euren Zimmern am Nordhang. Ist dort noch eines frei?
Die Zimmer waren auch unter einfachen Sterblichen ein Geheimtipp. Das Gut war direkt in den Hang eines kleinen Hügels hinein gebaut und die nach Norden reichenden Zimmer lagen damit quasi fast unterirdisch und verfügten über keinerlei Tageslicht. Als Entschädigung hatte der kluge Wirt die Räumlichkeiten besonders reich und gemütlich eingerichtet und vermietete sie für ein gar niedriges Entgelt.
Sie schenkte dem Wirt erneut ein Lächeln und begann ein wenig über Belangloses zu plaudern, das Befinden der werten Familie, das Kommen und Gehen der Gäste und den neuen großzügigen Kamin.

Der Wirt hob eine seiner buschigen Brauen und schenkte Alida und ihrem Begleiter Lucien, einen einschätzenden, beinahe ungehaltenen Blick. Plötzlich aber hellte sich seine Miene zusehends auf und die rot leuchtenden Backen, verzogen sich zu einem hocherfreuten Lächeln. „Ach die Alida van de Burse, natürlich. Verzeiht das ich euch nicht gleich erkannt habe aber einerseits ist es wohl wirklich schon mehr als ein Jahr her, andererseits macht sich selbst bei mir wohl das Alter bemerkbar.“ Das darauffolgende, heitere Lachen entspannte die Situation endgültig und Alida konnte sich der Sympathie des Wirtes sicher sein. „Die Zimmer am Nordhang, ja gewiss – soviel ich weiß, hattet ihr ja schon damals gefallen an unseren besonderen Unterkünften gefunden. Wie der Zufall es so will, sind momentan ohnehin nur diese Zimmer verfügbar, wir haben eine Festtagsgesellschaft bei uns die gen Brügge wandert.“ Der Blick verriet, dass die Gesellschaft ihn selbst zu dieser Stunde noch auf Trapp zu halten schien, länger als er es eigentlich erwartet hätte. Dem Alkoholpegel zu urteilen, würden aber selbst die restlichen Gäste bald ihre Gemächer aufsuchen. Hannes Bolger würde Alida, ob sie wollte oder nicht in ein kleines harmloses Gespräch verwickeln, wie es denn der Familie so gehe und dem alten Georg, ob in Brügge tatsächlich so viel los wäre, er selbst käme ja von der Arbeit nie weg, ob mit dem Kontor alles zum Besten stünde und allerlei nette Kleinigkeiten, die einen mehr oder weniger Bekannten der Familie nur interessieren konnten. Abschließend, würde er Alida, nachdem sie die Rechnung für die Unterkunft beglichen hatte, ein Stück saftigen Speck und einige Würste, die er in ein Tuch gewickelt hatte überreichen und sich auch auf keine Widerworte einlassen. „Ein Geschenk des Hauses und nein nein, ich bestehe darauf. Lasst mir diese persönliche Freude. Ich hoffe sie werden euch und eurem Gemahl schmecken; ganz frische Schlachtung.“ Offensichtlich hatte er Lucien, gerade zu Alidas Ehemann ernannt. In den Augen eines gewöhnlichen Sterblichen wohl keine abwegige Vorstellung. Ein lauter Pfiff rief dann wenige Augenblicke später einen hager aussehenden Burschen herbei, der mit müden Augen eine kleine Laterne in der Hand hielt.

„Der Harald wird euch nun zu euren Gemächern führen, Nordhang wie gewünscht. Es freut mich das ihr mir die Ehre erweist, sollte ihr noch irgendetwas benötigen lasst es mich oder einen der Bediensteten nur wissen.“ Nachdem er sich von Alida verabschiedet hatte, Lucien die meiste Zeit während ihres Gespräches kaum beachtend, führte sein Diener Harald die beiden Kainiten über dunkle oder dämmrig erleuchtete Flure zu ihrer Unterkunft. Das großzügige Zimmer am Nordhang war ein geräumiger, sonnendichter Raum der über einige Sitzgelegenheiten, Badezuber und eine Frisierkommode, sowie über ein kunstfertig gearbeitetes Himmelbett verfügte. Harald entzündete einige Kerzen im Raum und verabschiedete sich dann mit einer knappen Verbeugung, recht hurtig von den Gästen. Verständlicherweise, würde er noch bei den Festivitäten benötigt werden. Lucien nickte kurz als er die Tür hinter dem Jungen abschloss und ihre heutige Unterkunft für den Tag näher in Augenschein nahm. „Gar nicht mal schlecht die Nordhangzimmer. Hier haben wir zumindest vor der Sonne, ganz sicher nichts zu befürchten und die Ausstattung ist für den Preis auch in Ordnung.“ Der Gangrel zog sich die erdverkrusteten Stiefel aus und warf sich grinsend aufs Bett, überrascht darüber, wie weich die Laken sich anfühlten. „Damals, wäre das ein Luxus gewesen, nach dem man sich gesehnt hätte, heute ist es Luxus den man eigentlich nicht mehr braucht. Schon merkwürdig.“ Die Schwere des Tages schien immer drückender und fordernder auf ihm zu liegen und auch Alida spürte, das bald die ersten Sonnenstrahlen, den neuen Tag ankündigen würden. Lucien verschränkte die Arme hinter dem Kopf und nur Augenblicke danach, schien er eingeschlafen. Wie tot lag er da, keine kleinste Regung, kein Senken oder Heben der Brust, kein Atem. Einer der wenigen Momente, der immer wieder daran erinnerte, dass sie beide nicht mehr zu den Lebenden gehörten.

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Die nächste Nacht, in der die beiden erwachten, fiel im und rund um das Wirtshaus herum, bedeutend ruhiger aus. Die gestrige Festgesellschaft, war wohl bereits am nächsten Morgen wieder weitergezogen und auch andere Reisende, hatten sich bereits wieder auf den Weg gemacht. An den Tischen saßen zu dieser Stunde nur ein paar vereinzelte Gäste, hauptsächlich in Leder gekleidete Männer, vermutlich Holzfäller oder Bauern, eventuell der eine oder andere Botenreiter oder Jäger, die müde ihren deftigen Eintopf zu sich nahmen oder sich von der Schankmeid, herbes Bier einschenken ließen. Hannes Bolger fragte gar nicht, warum die beiden Brügger Kainiten den ganzen Tag verschlafen hatten um dann auch noch erst in der beginnenden Nacht, weiterreiten zu wollen. Vielleicht hatte es damit zu tun, dass er in Alida und Lucien die frisch vermählten Eheleute sah, die sich den ganzen Tag im Bett vergnügt hätten oder aber, dass van de Burse ein einfach zu wichtiger Name war, als dass man es sich mit der Familie auf welche Art auch immer hätte verscherzen wollen. Für den einfachen Bolger waren die Städter, allen voran Brügge ohnehin ganz eigene Leute und zudem hatte der alte Mann, als Wirt und Besitzer des „Schnellen Reiters“ schon weitaus seltsamere Gäste beherbergt. Meistens tat man gut daran, die Launen seiner Gäste getrost zu ignorieren und sich lediglich an die angemessene Bezahlung zu halten. Mit einem Lächeln, schüttelte er Alida und Lucien die Hand und wünschte ihnen eine gute und sichere Reise, wo immer es sie auch hinführen mochte. Städter…

Um ein gutes Stück Speck und Würste reicher, nahm man mit zufriedener Miene die Pferde in Empfang, die auf Nachfrage hin am Zügel herangeführt wurden. Gut sahen sie aus, erholt, gestärkt und wohlgenährt. Offensichtlich stimmte Alidas erste Eingebung: Man kümmerte sich in dieser Wirtsstube, genauso gut um die Tiere wie um die Sterblichen. Lucien tätschelte Ajax nur zufrieden und nickte in Richtung Alida. „Gut, sie haben sie ausreichend gefüttert und getränkt aber nicht gemästet. Sie werden den Rest der Strecke, mit Leichtigkeit noch heute Nacht hinter sich bringen.“ Er grinste. „Naja ein wenig ranhalten werden wir uns trotzdem müssen.“ Mit diesen Worten stieg er gekonnt in den Sattel und verstaute das Geschenk vom Speckhannes, in einer der Satteltaschen. Kaum hatte es ihm Alida gleich getan, war nur mehr ein lockeres Ziehen am Zügel, sowie ein leichter Druck in die Flanken ihrer treuen Rösser von Nöten um die beiden Ratsmitglieder, wieder hinaus in die sternenklare Nacht davon zu tragen – immer weiter gen Leuven.

Die Rast im Gasthaus, sowie die gute Versorgung ihrer Tiere, schien sich tatsächlich bezahlt zu machen. Die Pferde waren ausgeruht, bewegungsfreudig und galoppierten polternd und zügig, die nächtlichen Pfade entlang. Zwar wollte man keine große Aufmerksamkeit auf sich ziehen und gewiss barg die Nacht für den unachtsamen Reisenden so manche Gefahr, doch Lucien hielt immer wieder kurz an, um die Umgebung ins Auge zu nehmen, als auch um sicher zu gehen, dass ihnen niemand folgte. Sterbliche wären höchsten in großer Anzahl ein echtes Problem und den Tieren würde man anders Einhalt gebieten; allein kainitische Spione oder Handlanger des Ost-Voivodats, konnten ihnen gefährlich werden. Doch auch diese Befürchtung entpuppte sich glücklicherweise als unnötige Sorge und nur einige Stunden des recht komfortablen Reitens und unterhaltsamer Gespräche, erreichte man ohne weitere Schwierigkeiten die Stadt Leuven. Von einer Hügelkuppe aus, bot sich ein beschaulicher Anblick auf den dämmrig erleuchteten Stadtkern und eine solide anmutende Stadtmauer mit Wehrgängen, die des Nachts mit Fackeln erhellt war. Lucien ritt langsam in gemäßigtem Trapp neben Alida her, als sie sich ohne Hast dem Stadttor näherten. Sein Blick viel auf das steinerne Mauerwerk und er grinste siegessicher. „Brügge hat anständigere Mauern, dicker, solider, haltbarer mit geschickter angelegten Schießscharten. Die haben ihre Mauer erst seit vierzig Jahren - wenns hochkommt. Bei den Krankenhäusern waren sie uns allerdings schon bevor ich nach Brügge kam voraus. Naja… einen Medicus wie Leif haben sie dennoch nicht.“ Am Wachhaus angekommen, passierte man zwei in eiserne Rüstungen und mit spitzen Hellebarden versehene Wachen, die nach zu verzollenden Waren und dem Anliegen der beiden fragten. Alida musste nicht wirklich lügen, als sie geschäftliche Gründe für die Reise nach Leuven angab und so kam man ohne große Probleme durch die nächtliche Wachkontrolle; konnte sogar noch nach dem Gasthaus „Schwarz und Rot“ fragen.

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Das besagte Gasthaus, war nicht weit vom Stadttor entfernt und war scheinbar ein gern besuchter Ort für die durchschnittliche Bevölkerung der Stadt. Das Bier und die Betten waren leistbar und die Wirtin zauberte für ein paar Münzen ein annehmbares Essen auf den Tisch. Gelegentliche Raufereien, Messerstechereien oder Falschspielt gab es natürlich trotzdem, wie in jeder halbwegs größeren Stadt die sich eine solche nennen durfte. Die Brügger Pferde wurden mit Leichtigkeit durch die beinahe leergefegten, nächtlichen Straßen gelenkt in denen ihnen nur gelegentlich ein Nachtschwärmer entgegen kam, bis man vor einem ebenerdigen mit dickem, dunklen Stroh bedecktem Fachwerkhaus ankam. Kein Name war auf einem Schild zu lesen, dafür hatte jemand einen ungefähr mannhohen, aus Holz geschnitzten Löwen vor die Eingangstür gestellt, der mit roter und schwarzer Farbe bemalt worden war. Es war sicher nicht die beste Arbeit und man hatte gewiss schon künstlerisch wertvolleres gesehen, zumal die Witterung und der immer wieder dick aufgetragene Ölfilm das spröde Holz kaum mehr zu schützen vermochten aber immerhin: man erkannte es als Löwen. Das Gasthaus bedurfte scheinbar keiner weiteren schriftlichen Namensbekundung.

Als man näher ritt, waren auch schon bald ein paar Stallburschen zur Hand, die für wenige Münzen die Brügger Reittiere in einem kleinen, überdachten Stall an der Rückseite des Gebäudes unterbrachten. Ein Donnergrollen am Himmel und der feuchte Wind kündeten Regen an und Lucien hielt Alida grummelnd die Tür zur Schenke auf, als die ersten dicken Tropfen einen lang anhaltenden, ergiebigen Regenguss versprachen. „Rein in die Höhle des Löwen oder im Regen stehen? Manchmal müssen wir wirklich harte Entscheidungen treffen.“ Der Hauptmann schenkte ihr ein schiefes Grinsen.

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Als man näher ritt, waren auch schon bald ein paar Stallburschen zur Hand, die für wenige Münzen die Brügger Reittiere in einem kleinen, überdachten Stall an der Rückseite des Gebäudes unterbrachten. Ein Donnergrollen am Himmel und der feuchte Wind kündeten Regen an und Lucien hielt Alida grummelnd die Tür zur Schenke auf, als die ersten dicken Tropfen einen lang anhaltenden, ergiebigen Regenguss versprachen. „Rein in die Höhle des Löwen oder im Regen stehen? Manchmal müssen wir wirklich harte Entscheidungen treffen.“ Der Hauptmann schenkte ihr ein schiefes Grinsen.
Sie verzog die Lippen zu einem ebenfalls schiefen Gesichtsausdruck, trat vor ihm ein und flüsterte währenddessen in seine Richtung: „Wird schon nicht so schlimm werden, oder? Nix wie rein. Vielleicht erkundigst du dich derweil nach einem Zimmer?“
Das Innere der Gaststube "Rot und Schwarz", war im Gegensatz zum schnellen Reiter eher einfach und überschaubar gehalten. Manch einer mochte vielleicht den Eindruck gewinnen, hier hätte man trotz allem ein wenig gründlicher putzen sollen. Ein einfacher, dunkler Bretterboden, Tische die gerne auch einmal wackelten und hölzerne Stühle, die ebenfalls schon bessere Tage gesehen hatten, zierten den gut besuchten Innenraum. Frauen, suchte man hier vergebens, allein die Schankmeid, die dieses mal ein junges Ding von vielleicht 16 Jahren sein mochte, mühte sich ab die durstigen Arbeiter zu bedienen, die sich den starken Hopfen lachend schmecken ließen. Ihr Eintreten wurde mit knappen Blicken bemerkt, die nichtssagend schienen - immerhin wurden sie nicht argwöhnisch beäugt oder gar angepöbelt. Vielleicht mochte es daran liegen, das zu anderer Tageszeit auch Gäste aus höheren, sozialen Schichten hier aus und ein gingen, vielleicht aber auch nur an Lucien, der jeden allzu neugierigen Blick, mit tödlicher Kälte erwiderte. Der Hauptmann nickte und flüsterte in ihre Richtung gelehnt. "Ich erkundige mich mal wegen dem Zimmer, die Schenke sieht ja recht einfach aus und auch die Gestalten hier passen dazu. Lass dir nichts andrehen." Mit diesen Worten, verschwand er in Richtung des nahe liegenden Tresens, wo ein dürrer Mann in fleckiger Schürze, einige Holzbecher stapelte.
Alida schluckte einmal kurz, sah sich in der Wirtstube um und suchte nach Anhaltspunkten für die Identität ihres unbekannten Gesprächspartners. Sie wandte ihren Blick von links nach rechts und nahm genau die Umgebung in Anschein. Dann entschied sie sich dazu in einer Ecke rechts an einem größeren, etwas abgetrennten leeren Tisch Platz zu nehmen. Auch wenn sie es vielleicht zu verbergen suchte, blickten ihre Augen doch ab und an hilfesuchend in die Richtung des Hauptmannes.
Der wiederum, schien einige Worte mit dem Mann am Tresen zu wechseln. Das Gespräch schien nicht weiter aufregend zu sein und nach einigen Augenblicken, war man offensichtlich auch schon bei den Preisverhandlungen angelangt. Sie sah ihren Begleiter ein ledernes Säckchen hervorziehen und mit den Fingern deuten - den Wirt müde gestikulieren. Ihre Blicke trafen wenig ansehnliche Männer mit rauschenden oder schlecht gepflegten Bärten, Halbglatze und schroff wirkender Kleidung aus unauffälligem Leinen. Kaum einer erwiderte ihren suchenden Blick sondern wandte sich wieder seinem Gespräch oder dem Bier vor sich zu. Einer jedoch hielt ihrem Blick stand. Ein breiter, stämmiger Bursche der ein dunkles Wildlederwams trug und einen rötlich braunen Umhang. Sein Haar war schulterlang und er schien sich an einen der hölzernen Stützpfeiler, in der Nähe des Kamins zu lehnen. Für einige Sekunden fixierte er die Brüggerin eingehend, dann stieß er sich ab und kam einige Schritte auf ihren Tisch zu. Als er vor diesem zum Stehen kam, verbeugte er sich knapp. "Verzeiht meine Dame aber gehe ich recht in der Annahme, dass ihr Alida van de Burse seid?"
Sie lächelte zögernd und fragte mit dem größtmöglichen Charme: „Wer möchte das wissen?“
Der dunkel gekleidete Mann verbeugte sich erneut und Alida konnte ein Schwert am Gürtel des Mannes, unter seinem Umhang aufblitzen sehen. Schwere Wanderstiefel, die ungewöhnlich für diese Region schienen komplettierten die Erscheinung. "Mein Name ist Girland und ich wurde heute Abend hierher entsandt um jemanden im Namen meines Herrn zu begrüßen - Alida van de Burse, Kauffrau aus Brügge."

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Sie kniff die Augen zusammen und musterte den Mann eingehend. Ein Wanderer… scheinbar kein Bewohner von Leuven. Sie deutete mit einer einladenden Geste auf die Bank ihr gegenüber. „Nehmt doch Platz.“
Girland - oder wie er sich auch nennen mochte, schüttelte nur leicht den Kopf, sich sichtlich unwohl fühlend, ihrem Wunsch nicht entsprechen zu können. "Verzeiht meine Dame aber die Stunde ist schon weit fortgeschritten und mein Herr hat mir ausdrückliche Anweisungen erteilt. Es hieß die werte Dame wäre sicher und wohlbehalten, unverzüglich zu ihm zu geleiten." Der Mann machte auf Alida einen eher ungewöhnlichen Eindruck, ließ seine Kleidung eher den Rückschluss zu, dass er ein Krieger, Kämpfer, Waldläufer oder gar Ritter sein musste, kein einfacher Bediensteter oder Laufbursche. Auch die Stimme war zu bestimmt und sich der eigenen Stellung vollauf bewusst um einem gewöhnlichen Lakaien aus ihm zu machen. Sein Kopf drehte sich zu Lucien, als dieser mit ein paar Schritten, näher an den Tisch herantrat, den Blick fragend auf ihn richtend. "Euer Begleiter? Der Herr meinte schon, dass ihr vielleicht Reisegesellschaft schätzt. Ebenfalls aus Brügge nehme ich an?" Girland verfolgte Lucien als dieser sich neben Alida postierte und dieser knapp zunickte - das Zimmer war scheinbar bereits gebucht.
Alida nickte nur und sah kurz in Luciens Richtung. „Ja, mein Begleiter.“ Auch wenn es unhöflich erscheinen mochte, sie würde ihn nicht beim Namen vorstellen. Wenn er mochte konnte er der Höflichkeit selbst genüge tun. „Wollt Ihr mir vielleicht den Gefallen tun und mir den Namen des werten Herren nennen. Dann bin ich gerne bereit euch zu folgen.“ Wieder lächelte sie in die Richtung des Mannes.
Der Gangrel begutachtete den Fremden ohne einen Hehl daraus zu machen, von oben bis unten. Man konnte sicher sein, dass ihm die Bewaffnung von Girland, ganz sicher auch nicht entgangen war und seine Augen wurden schmaler. Einen Seitenblick zu Alida werfend, nickte er kurz. "Ja, ein Begleiter und ebenfalls aus Brügge. Lucien Sabatier - mit wem haben wir denn das Vergnügen?" Der raubärtige Mann verbeugte sich noch ein weiteres Mal kurz und stellte sich erneut vor, hielt dann einen Moment inne als Alida ihre Frage an ihn richtete. Fast könnte man den Eindruck gewinnen, er wäre nicht ganz sicher ob er auf diese Frage überhaupt antworten sollte oder gar durfte. "Sergej, Ivanovich Belinkov", antwortete er dann beinahe so, als ob er ein Gebet sprechen würde. Sein Blick wanderte, offensichtlich eine wie immer geartete Reaktion suchend, zwischen Lucien und Alida hin und her. Ersterer hob nur knapp die Schultern und verzog das Gesicht in Richtung Alida - er kannte den Namen offenbar nicht.
Alida sah den Mann ebenfalls verwundert an. Auch ihr war der Name nie zu Ohren gekommen. Nichtsdestotrotz lief ihr ein Zittern über den Rücken als sie die slawische Aussprache vernahm. Alles deutete auf das hin, was sie stets zu vermeiden suchte und allein der Gedanke saß ihr in der Kehle wie Erbrochenes: Tsimiske. Woher um alles in der Welt hatten die ihren Namen, ihre Identität? Sie ging nun wirklich nicht mit der Tatsache haussieren, dass ihr Erzeuger ein Mitglied des Clans der Unholde gewesen war. Ihr fiel nur eine Person ein und Wut stieg in ihr auf: Draga. Sollte sich der Verdacht tatsächlich erhärten würde es Zeit werden, diese Frau so unauffällig wie möglich zu beseitigen. Sie hatte keine Wahl, oder? Der Vater ihres Erzeugers war damals von den Tsimiske verfolgt worden und Emilian hatte ihr immer zu verstehen gegeben, dass es ihr ähnlich ergehen mochte.
Dennoch erhob sie sich. „Wo wünscht Euer Herr uns zu sprechen?“
"Mein Herr ist dem höfischen Pomp und den fürstlichen Gemächern, welche sich die Adeligen und Wohlhabenden nur zu gerne gefallen lassen, recht abgeneigt. Er zieht es für gewöhnlich vor, eine komfortable und einfachere Zuflucht als edle Häuser und Paläste zu wählen. Mein Herr Belinkov, hat sich auf einen kleinen Gutshof, vor den Toren der Stadt zurückgezogen - dort stärkt und ruht sich auch seine Handelskarawane aus. Es gibt genügend Platz für allerlei kostbare Waren und eine ungestörte Unterhaltung. Herr Belinkov würde euch gerne dahin einladen, so ihr mir den folgen wollte, werte Dame." Mit einem Seitenblick und einem wohlwollenden Lächeln, wandte er sich halb an Lucien. "Selbstverständlich steht es eurem Begleiter auch frei sich zu uns zu gesellen - Gastfreundschaft ist eine Tradition die in unserem Hause seit jeher hoch gehalten wird."
Alida biss unmerklich die Zähne aufeinander und blickte zur Bestätigung zu Lucien. „Vielen Dank, Herr Girland, dass Ihr so freundlich seid uns zu führen. Es ist uns eine Ehre die Gastfreundschaft eures Herren in Anspruch nehmen zu dürfen.“ Auch wenn ihr die Floskeln flüssig über die Lippen gingen schmeckten die Worte wie Galle.
Girland schenkte Alida und Lucien ein freundliches Lächeln und machte eine einladende Geste mit seiner rechten, behandschuhten Hand in Richtung Tür. "Wenn die Dame und ihr Begleiter mir bitte folgen würden? Es ist entweder ein kleiner Fußmarsch oder ein kurzer Ritt. Ich nehme allerdings an, dass die Dame das Reiten bevorzugt auch wenn ihr nunmehr gewiss schon eine beträchtliche Zeit im Sattel verbracht haben mögt." Höflich ließ er Alida und Lucien den Vortritt, als sie die etwas schäbige Gaststube verließen und hinaus in die Dunkelheit und den mittlerweile munter vor sich her prasselnden Regen traten. Ihrem Gangrel Begleiter, gefiel es gar nicht den Vortritt zu haben denn damit hatte er Girland im Rücken aber er fügte sich missmutig der höflich gemeinten Einladung. Dicke Tropfen klatschten auf das hölzerne Vordach als Girland sich in Richtung der Pferde wandte. "Ich denke wohl eure Tiere sind ebenfalls hier eingestallt - lasst uns keine Zeit verlieren, das Wetter ist bedauerlicherweise schon seit ein paar Tagen so schlecht." Dann ging er zügig voran, den beiden andeutend ihm zu folgen. Im Gehen schüttelte Lucien nur leicht den Kopf und wandte sich im Flüsterton an Alida. "Belinkov klingt östlich, russisch vielleicht oder ungarisch da bin ich mir nicht sicher. Es ist unnötig zu erwähnen, wer im Osten die Fäden zieht und was da gerade so passiert. Müssen wir uns Sorgen machen? Sagt dir der Name wirklich gar nichts?"
Alida schüttelte fast unmerklich den Kopf. Unhörbar flüsterte sie: „Keine Ahnung. Ich habe in keinster Weise Kontakt zum Osten. Den letzten Kontakt, den ich hatte, habe ich vor Jahrhunderten abgebrochen.“ In ihrer Erinnerung sah sie brennende weiße Holzhäuser, prasselnde junge Obstbäume und dazwischen immer wieder die Gliedmaßen von ermordeten Menschen. Sie schloss die Augen um die Bilder zu vertreiben und folgte dem Mann zu den Ställen.

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Luciens Augen verzogen sich erneut zu schmalen Schlitzen als er den Mann vor ihnen, in der dämmrigen Beleuchtung einer kleinen Sturmlaterne, sein Pferd aufsatteln sah und seufzte kurz. "Ich hoffe das wird eine kurze Unterredung, mir gefällt das hier ganz und gar nicht." Anschließend sattelte auch er sein Pferd, den treuen Ajax der ihn genau wie Alidas Pferd, so treu und tapfer bis nach Leuven gebracht hatte und folgte Girland, der in schnellem Trapp, Kurs auf das Südtor nahm. Wenn Alida ihm folgen würde, würde es nicht lange dauern und die kleine Gruppe, passierte ein ansehnliches, rundbogenförmiges Stadttor vor dem einige Wachen, sich an einem kleinen Feuer aus Ölschalen wärmten ohne groß Notiz von ihnen zu nehmen. Girland ritt die unbefestigte, mittlerweile schon leicht schlammige und feuchte Forststraße entlang, vorbei an kleinere Gehöften und einer eindrucksvollen Mühle deren Mühlräder sich beim langsam auffrischenden Wind, knarrend in Bewegung setzten. Blitze zuckten über den Himmel und erleuchteten die nähere Umgebung - flach, von einigen Gräsern und Weiden umgeben, in der Ferne ein kleineres Waldstück. Es vergingen höchsten ein paar wenige Minuten, dann bog der Diener des Herren Belinkov nach links ab, passierte ein kleines Wegkreuz in dem jemand eine kleine Wachskerze in einer Laterne entzündet hatte, es bot einen verlorenen Anblick. Dann konnte Alida das relativ niedrige aber interessant gebaute Gutsgebäude erblicken und Girland hatte wirklich nicht gelogen, es war tatsächlich sehr einfach gehalten. Von außen konnte man schon Licht erblicken und als sie vor dem Eingang zu stehen kamen, eilten schon einige ähnlich gekleidete Männer wie Girland herbei um den Reitern die Pferde abzunehmen und sie in den nahe gelegenen Stall zu bringen, wo sie es trocken und einigermaßen bequem hätten. Girland wechselte einige Worte in einer rauen Konsonanten betonenden Sprache mit einem der Männer, der ihm sehr ähnlich sah und winkte dann Alida und Lucien zu einer Eingangstür heran, die er ihnen offen hielt. "Geht nur gleich hinein werte Dame - der Regen macht selbst vor Leuten wie uns nicht halt, das Kaminfeuer wird euch aufwärmen und die Kleider trocknen. Hurtig nur, dawai dawai."

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Alida folgte ihm stets höflich lächelnd, musterte ihn jedoch bei den letzen Worten etwas genauer.

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Als Alida bei den letzten Worten des guten Mannes, der ihnen bereitwillig die Tür aufhielt etwas stutzig wurde und ihre übersinnlichen Kräfte auf Girland anwandte, verschwamm ihr Blickfeld etwas. Die Nacht um sie herum wurde dunkler, finsterer aber schärfer und die Konturen stärker hervortretend, während Girland plötzlich leicht zu Flackern schien, als ob Wogen aus Licht sich wie Kaleidoskopartige Lichter über seinen Körper bewegten. Die einzelnen Farben waren zu viele und zu schnell wechselnd, als dass sie sich eine davon hätte merken können, allerdings waren sie glühend hell und strahlend, die Finsternis um sie herum immer wieder durchbrechend, klar wie das Gemälde eines Künstlers.
Sie lachte auf. „Ja, besonders uns Händler könnte ab und an etwas gutes Wetter auf unseren Reisen wohl gesinnt sein. Dann dauert es nicht so lang, bis die Karren mit all den Gütern wieder aus dem Schlamm gezogen werden.“
Als Alida und Lucien, gefolgt von Girland, den strömenden Regen entfliehend das Gutshaus betraten, schlug ihnen angenehme Wärme und der Geruch von gebratenem Fleisch entgegen. Es gab lediglich einen großen Raum, soweit sie das überblicken konnten der von einem sehr langen, dicken Holztisch aufgefüllt schien an dem einige einfach gekleidete Männer, sowie Frauen und sogar ein paar Kinder saßen und aus hölzernen Schüsseln Suppe löffelten. In einer Ecke des Raumes spielte ein Mann auf einer Flöte eine alte, traurige Weise während ein anderer neben ihm ein Wildschwein über einer Feuerstelle schmorte. Gelegentlich sah man auch andere Männer, die lederne Rüstungen trugen, ganz ähnlich der von Girland, die die Neuankömmlinge interessiert musterten. Als die Tür geschlossen wurde, verklang das plätschernde Rauschen des Regens und nur das Klappern der Löffel und das Knacken des Feuers war zu hören. "Ach, das Wetter können wir noch nicht beeinflussen, noch nicht... ich könnte euch da Geschichten aus dem Osten erzählen. Na ja, vermutlich würden sie euch nicht gefallen." Girland verschwieg was er damit meinte aber deutete auf die Feuerstelle. "Wärmt euch bitte etwas auf werte Dame, ihr natürlich auch Sabatier, ich werde meinem Herren von eurer Ankunft berichten. Oh und kümmert euch nicht um die da, Tagelöhner und Arbeiter die für unsere Reise nötig sind."

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Alida nickte höflich und stellte sich in einiger Entfernung von den anderen Personen, die sich noch im Zimmer aufhielten in die Nähe des Feuers. Sie streckte die Finger in Richtung Glut und beobachtete den Flammenschein zwischen ihren Fingern. Obwohl sie mehr als einen Meter vom Herd entfernt stand spürte sie einen Hauch der Angst, die sie immer in der Nähe der Funken erfasste. Sie wartete ab, bis sie sicher gehen konnte, dass niemand sie mehr beobachtete und alle wieder soweit ihren Beschäftigungen nachgingen, dass sie sich flüsternd mit dem Hauptmann der Stadtwache unterhalten konnte.
„Und? Was denkst du?“ Hilfesuchend wandte der Blick ihrer blauen Augen in Luciens Richtung. „Vielleicht solltest du draußen warten und dich soweit möglich in Sicherheit begeben. Wenn irgendetwas hier drin geschehen sollte, bin ich sicher noch in der Lage zu rufen. Draußen kannst du mich vielleicht hören und falls nötig Hilfe holen. Wenn wir beide hier drin drauf gehen hat keiner etwas gewonnen…“ Ihre Stimme wurde noch leiser und vom Prasseln des Feuers überdeckt.
Die Arbeiter in ihren braunen und grauen Lumpen sahen wirklich erbärmlich aus, wie sie da ihre Suppen löffelten und Brot in die kargen Teller tunkten. Eine Reise aus dem Osten bis hierher, hatte offensichtlich sehr an der Arbeitskraft und Moral der Menschen gezehrt, nicht zuletzt, weil noch kein absehbares Ende ins Sicht zu sein schien. Ihrem Stande und ihrer Position entsprechend, senkten sie schnell die Köpfe und eine Frau mittleren Alter zwang ihr allzu neugieriges Kind wegzusehen, als dieses mit großen Augen die Brügger betrachtete - nein, beinahe schon anglotzte. Das Feuer war heiß und wärmend und selbst wenn man die Glut eines solchen Herdfeuers als Untoter nicht mehr brauchte, so fühlte es sich doch angenehm und heimelig an, die müden Glieder auszustrecken wenn draußen ein kalter Regenguss über das Land spülte. Girland verschwand kurzerhand hinter einer Tür am Ende des Raumes, während sich die übrigen in Leder gerüsteten Männer wieder Gesprächen in fremden Sprachen oder anderen Tätigkeiten widmeten, einer brütete am Tisch über einer Karte. Lucien hob kurz die Schultern und schielte missmutig, verstohlen durch den Raum. "Mmh... gefällt mir auf jeden Fall nicht, sind nicht die Arbeiter und gar nicht mal Girland an sich aber das ganze Ambiente hat etwas sehr .. mmh.. wie würde Lilliana sagen? Wenig einladend und einen Hauch unmenschliches?" Er schenkte ihr ein breites Grinsen. "Auf jeden Fall wissen wir jetzt das sie wohl wirklich aus dem Osten kommen und der Osten hat noch nie irgendjemandem etwas Gutes gebracht. Ich bleibe auf jeden Fall in deiner Nähe, versprochen." Der Gangrel warf einen abfälligen Blick zu dem Mann, den Girland früher an den Pferden angesprochen hatte. "Sehen nicht wie einfach Karawanenwachen aus... ich halte die Augen offen."
Das Knarren der schweren Holztür, die abermals geöffnet wurde ließ Alida keine Möglichkeit mehr sich zu Luciens Ausführungen zu äußern, denn Girland betrat abermals den Raum und lächelte sie freundlich an. Mit einer höflichen Verbeugung, deutete er einladend in Richtung Türe. "Mein Herr Belinkov lässt sich für die wenige einladend wirkende Unterkunft entschuldigen, er ist sich durchaus bewusst, das ihr auch eher die einfach Dinge des Lebens schätzt aber ein alter Gutshof wäre selbst für euch eine Beleidigung. Er hofft dennoch auf euere Verständnis und würde euch nun gerne zu sich bitten." Mit einem Blick zu Lucien fügte er hinzu: "Euer Begleiter kann gerne hier auf euch warten, denn der Herr möchte ausschließlich mit euch Sprechen, werte Dame. Es steht ihm allerdings frei, sich an den Arbeitern gütlich zu tun solange er darauf achtet, dass sie morgen noch arbeitstüchtig sind."
Es fiel Alida schwer nicht mit einem Kopfschütteln ihr Missfallen zu zeigen. Sie sah Girland an und dankte „Es ist zu freundlich von eurem Herrn mich zu empfangen. Und ein alter Gutshof schenkt doch gleich eine vertraute Atmosphäre und ist für eine solch große Reisetruppe wie die eure auch um einiges günstiger als die Übernachtung in einer öffentlichen Herberge.“ Sie lächelte freundlich doch Lucien konnte sehen, wie sich die Lippen der blonden Händlerin zu einem Strich verzogen sobald sie sich von dem braunhaarigen Mann abgewandt hatte und in seine Richtung blickte. Ihre Augen wirkten noch immer ein wenig verloren. „Vielen Dank, dass Ihr mich begleitet habt, Meister Sabatier.“ Sie schenkte auch ihm ein Nicken und folgte Girland durch die schwere Tür.
Lucien erwiderte ihr Nicken und auch ihm war anzusehen, dass er es vorgezogen hätte in ihrer Nähe zu bleiben - weitaus näher, als Girland oder Belinkov scheinbar bereit waren ihn kommen zu lassen. Etwas zerknirscht, deutete er eine knappe Verbeugung an. "Gewiss Herrin, ich werde solange warten." An Girland gewandt, den er einschätzend anfunkelte. "Richtet dem Herren meinen Dank aus." Der bärtige Diener lächelte gutmütig und ließ Alida an ihm vorbei, die Türe durchschreiten, nickte Lucien dabei zu. "Oh niemand weiß besser als ihr was so eine Reise bedeutet, meine Herrin, und was sie für Kosten verursacht, teures Gold das anderswo besser investiert wird als in die Taschen eines geizigen Wirtes." Er begleitete Alida nicht durch die Türe, sondern ließ sie lediglich eintreten, hielt sie ihr auf um sie hinter ihr zu schließen. Mit einem dumpfen Knarren, fand sich Alida alleine wieder, in einem kleineren Raum, der an ein improvisiertes Büro erinnerte, eine spartanischee Schreibstube die lediglich einen großen Tisch beherbergte, sowie einige Stühle. Verteilt auf dem Tisch lagen Karten und Pergamente. Ein Totenschädel mit Kerze sowie einige Fackeln erhellten den Raum. Links von sich konnte Alida zwei Mädchen in lumpigen Kleidern von vielleicht 12 Jahren erkennen, die auf einem Bärenfell sitzend, Stoff webten und sie furchterfüllt anblickten, ihren Blick dann aber in die dunkle Ecke zu ihrer Rechten lenkten. Aus der dunkelsten Ecke des Raumes, in dem Alida die Umrisse eines einfach Bettes vermutete, löste sich eine Gestalt, die in etwa ihre Größe zu haben schien und machte einige Schritte auf sie zu. Mit einem knappen Lächeln und einer Verbeugung stellte sich der Ende 20 wirkende Mann höflich bei ihr vor. "Sergej Ivanovich Belinkov, meine Freunde nennen mich gerne Belinkov aber.... Freunde kommen und gehen, ihr wisst ja wie das mit den Jahrzehnten, die verstreichen so ist. Namen hat man viele, was zählt sind die Taten." Einen Schritt näher auf sich zukommend ergriff er ehrfürchtig ihre Hand aber anstatt sie zu schütteln oder einen Handkuss anzudeuten, hielt er sie nur, legte die andere darüber. "Es freut mich meine liebe Freundin und Clansschwester, dass ihr den Weg aufgenommen habt mich hier aufzusuchen, ich bin überzeugt davon es wird nicht euer Schaden sein, bitte." Er deutete auf einen freien Platz am Tisch. "Etwas Wein? Ich hörte ihr gebt euch ja noch gerne der einen oder anderen Vergnügung hin, Alida van de Burse."
„Es ist mir eine große Freude, Meister Belinkov, dass ihr mich empfangt. Erlaubt mir die Frage, wie ich zu einer solchen Ehre komme?“ Wieder ein Lächeln, das über den Mund aber nicht bis zu den Augen wanderte, doch gelang es Alida im Dämmerlicht diese Tatsache ungesehen zu machen. Sie würde sich an den Schreibtisch führen lassen jedoch danach noch mit einer Geste zu den beiden Mädchen deuten. „Verzeiht, aber wir Brügger pflegen Geschäfte oder auch private Gespräche nicht in Anwesenheit unserer Dienerschaft zu tätigen. Ich hoffe, ihr vergebt mir meine anerzogenen Launen?“
Belinkov tätschelte lediglich verständnisvoll ihre Hand und schenkte ihr ein strahlendes Lächeln. Erst jetzt fiel ihr auf wie makellos schön sein Gesicht war, die Haut fahl aber ebenmäßig, keinerlei Falten oder Verunreinigung zierten sein Antlitz. Sein Haar war dunkel und satt, kräftig und lockig wie fließendes Wasser und seine Augen wie eben jenes an einem klaren Frühlingsmorgen in einem Gebirgsbach. Sein Aussehen erweckte im Betrachter Ehrfurcht und merkwürdige Verstörung. Es war, als wäre ein Gemälde zum Leben erwacht. Schön, dunkel und kalt, kalt wie seine Hände, als er von ihr abließ und ihr gegenüber Platz nahm. Aus einer silbernen Karaffe schenkte er ihr einen Becher Wein ein und stellte ihn vor ihr ab. "Probiert doch zunächst meine Liebe, es ist ein Wein der in meiner Heimat gekeltert wird und er ist von erlesenem Jahrgang." Als sie die Mädchen erwähnte, nickte er nur und fegte mit einer Hand in deren Richtung. "Natascha, Natalia... helft Olga in der Küche, ihr könnt später weiter weben." Die Mädchen erhoben sich eilig, rafften die Röcke und verschwanden tonlos aus dem Raum. Belinkov faltete die Hände und betrachtete Alida lange und eingehend, fast als würde er in ihr etwas suchen. "Belinkov, einfach nur Belinkov aber wenn ihr möchtet dann auch nur Sergej, für euch. Und es verhält sich ganz im Gegenteil, meine Liebe, die Freude ist ganz auf meiner Seite und eine Ehre ist es allemal, die Herrin von Brügge kennen zu lernen. "
Sie schüttelte freundlich den Kopf und versuchte das höfliche Kichern, das sie so oft bei Liliana vernommen hatte wenn diese bei besonders wichtigen Gelegenheiten auftrat. „Ihr seid wirklich charmant. Es scheint gar reizende Herren im Osten zu geben, dass ihr mir so schmeicheln möchtet.“ Oh wie sie diese Floskeln und das höfische Getue hasste… aber die Etikette verlangt danach. „Wir sollten bei den Tatsachen bleiben, nicht wahr?“ Sie schmunzelte. „Ich trage meinen Teil zum Wohlergehen meiner Heimat bei, so wie ihr, da bin ich mir sicher, auch in der eurigen. Einen Herren hat und… „sie betonte das nächste Wort mit Bedacht“ … braucht Brügge nicht. Aber, Belinkov, mögt ihr nicht berichten? Wie war eure Reise und was führt euch so fern der Heimat nach Flandern?“
Ihr Kichern wurde mit einem leichten Lächeln aufgenommen und einem leichten Kopfschütteln, das darauf folgte. "Alida...." Er sprach sie offenbar bewusst und ohne danach gefragt zu haben beim Vornamen an. "Ihr seid eine gewandte Rednerin und eine umso bessere Händlerin, das wart ihr wohl immer aber verzeiht wenn ich es sagen muss: Das höfische Dummchen steht euch nicht. Das mag an den Höfen von Paris so Gang und Gäbe sein aber weder im Osten noch in der florierenden, gut geführten Stadt Brügge die keinen Herrscher... oder eine Herrscherin braucht, wird viel Wert auf diese Dinge gelegt." Ein erneutes Lächeln. "Was nicht heißt das wir Unhöflichkeit zu einer Tugend verkommen lassen sollten. Ich selbst bin einfachste Verhältnisse gewohnt und mag diesen Pompom daher gar nicht recht leiden - oder eifert ihr eurem Ratsmitglied von Erzhausen nach, man sagt sie hätte da ja ein kleines Tet at tet mit einem Ventrue." Sein Mund verzog sich zu einem Schmunzeln. "Verzeiht, das war ungebührlich und unangebracht aber dieses Kichern seid einfach nicht ihr." Er schob ihr den Becher ein Stück näher. "Probiert doch bitte, er hat den langen Weg gemacht und auf euch gewartet."
Nur mit Mühe gelang es ihr, die Irritation zu verbergen, die ihr wie eine Keule ins Gesicht geschleudert worden war. Sie blickte kurz nach dem Becher mit Wein dann auf den Mann ihr gegenüber. Draga? Hatte die Tsimiske, die in den umliegenden Landen von Brügge ihr Voivodat plante, sich mit anderen aus dem Osten verbündet und alle Geheimnisse ausgeplaudert? Wie konnte das sein. Solche Dinge waren selbst ihr nicht bekannt. Fast niemand wusste, dass der Rat der Stadt damals einen Ventrue in Starre mit in die Katakomben der Stadt geführt hatte. Selbst Draga nicht. Und noch viel weniger Personen wussten um die Gefühle, die Liliana vielleicht dem Ventrue entgegen bringen mochte. Sie sah den Mann an und ihre Augen fixierten ihn. Das Lächeln war gewichen und hatte einem entschlossenen Ausdruck Platz gemacht „Belinkov? Ihr seid mir mit eurem ausführlichen Wissen wohl um einiges voraus. Wie kommt es, dass ihr euch so um die Belange der kainitischen Bevölkerung von Brügge sorgt? Des Weiteren steht euch wohl kein Urteil zu über Personen, denen ihr nie begegnet seid, oder?“
Der hübsche junge Mann nickte langsam und mit Bedacht, es hatte beinahe etwas spitzbübisch Gönnerhaftes an sich. "Ihr habt wohl recht, ich bin über einige Dinge, die Brügge betreffen recht gut informiert aber natürlich kann ich mir wie jeder andere auch nur ein Urteil über das anmaßen, was mir berichtet wurde." Er strich wie beifällig über eines der vor ihm ausgelegten Pergamente und nickte erneut sachte. "Ich beobachte Brügge schon eine ganze Weile lang, merkwürdige Dinge sollen da ja vor sich gehen. Böse Zungen sprechen von Diablerie und allerlei anderen Dingen. Gute hingegen behaupten ihr seid den Tremere nicht gut gewogen und habt euch erfolgreich Brüssel einverleibt. Höchst spektakulär soll es gewesen sein. In Portier habt ihr Salianna getroffen und es ging scheinbar um höchst brisante politische Angelegenheiten." Er schmunzelte erneut. "Ich selbst war nie dort, nein, aber man könnte sagen, das ich ein besonderes Interesse an Brügge gewonnen habe und besonders an euch, Alida." Er machte eine abfällige Geste. "Oh und natürlich diesem höchst merkwürdigen 'Voivodat' östlich von euch, Nefedov... das genaue Gegenteil von euch wie man hört." Belinkov rückte den Stuhl zurecht. "Allerdings bin ich euch noch eine Antwort schuldig: Ich bin Händler und ja, tatsächlich treiben mich meine Geschäfte Richtung Italien, nach Genua um genau zu sein aber ich dachte das wäre ein guter Zeitpunkt noch ein paar andere wichtige Dinge zu erledigen und so treffen wir uns vortrefflicherweise heute hier."
Alida seufzte leise, versuchte sich zu entspannen und ließ sich zurück in den Stuhl gleiten. Wer war dieser Mann, der so vortrefflich über alles Bescheid zu wissen schien? Eines war ihr klar. Bei dem Wissen und den Informationsquellen war eines sicher: er konnte zu einer großen Gefahr werden. Für sie, die Kainiten der Stadt und Brügge. Die kainitische Welt schien tatsächlich nicht zu schlafen und streckte die Finger aus nach dem, was nicht ihr eigen war.
„Belinkov? Möchtet Ihr mir nicht mitteilen welchem Umstand wir es zu verdanken haben, dass ihr ein so großes Interesse an unserer Stadt hegt? Brügge ist eine florierende Hansestadt mit gut genährten wohlhabenden Bewohnern aber für einen Mann eures Kalibers, der den fernen Osten seine Heimat nennt, wohl nicht so viel Aufhebens wert, oder? Ich kenne das Blut, dass durch unsere Adern fließt nur zu gut: unser Zuhause ist das, was uns wirklich interessiert. Die Ferne ist nur dann von Belang wenn sie dem, was einem nahe steht nutzt, oder? Ich zumindest halte es so…“ Sie beugte sich näher zu ihm heran und ihr Blick hatte etwas Herausforderndes. „Da ihr mich, meine Heimat und meine Freunde ja scheinbar besser zu kennen scheint als ich möglicherweise selbst, sollte es euch sicher nicht entgangen sein, dass ich wenig Kontakt zum Osten pflege. Flandern ist das wofür ich zu kämpfen gewohnt bin. Also: Sagt an, Belinkov: Wie mögen wir einander von Nutzen sein?“

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Der Weg zum Ziel beginnt an dem Tag, an dem du die hundertprozentige Verantwortung für dein Tun übernimms.
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 Betreff des Beitrags: Re: Memento mori (Alida)
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 Betreff des Beitrags: Re: Memento mori (Alida)
BeitragVerfasst: Fr 30. Jan 2015, 16:09 
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Der Kainit winkte sachte mit der rechten Hand ab ohne aber etwas von seinem gutmütigen Lächeln einzubüßen. "Alida, ihr wisst ganz genau, dass Brügge die momentan wohl florierendste, wohlhabendste und geschäftsträchtigste Stadt des Westens ist. Es gibt nur wenige Städte, die das von sich behaupten beziehungsweise dem nahe kommen könnten. Alle wollen, wie so üblich ein Stück vom Kuchen ab haben. Die Sterblichen um ihre monetären Gelüste zu befriedigen und am Reichtum der Stadt teilzuhaben - die Kainiten dieser Welt, wiederum um ihre ganz eigenen Ziele voranzutreiben." Seine Schultern zuckten kurz als er eine entschuldigende Geste in ihre Richtung machte. "Geld ist nett und beschert einem einen gewissen Luxus, in dem man sein niemals endende Existenz verbringen kann aber wie alles andere ist es in erster Linie nur ein Werkzeug, ein Werkzeug in den Händen jener, die es benutzen können und wenn sie es gut führen können: Äußerst mächtig." Das wohlgeformte Gesicht schien für einen Moment nachdenklich zu werden, beinahe etwas betrübt. "Ich muss euch wohl nicht sagen, dass ihr viele Neider habt, sehr viele. Ihr seid umgeben von giftigen Dolchen und spitzen Zungen, die der Schärfe des Metalls aus profanen Waffen in Nichts nachstehen. Selbst der Osten beneidet euch um den Reichtum und seine Möglichkeiten abseits von feinen Tuchen und exzellenten Weinen, doch zieht er es zuweilen vor sich um seine eigenen Belange zu kümmern. Das wisst ihr, denn ihr seid Tzimisce so sehr ihr euch doch von euren östlichen Brüdern und Schwestern unterscheiden mögt. Brügge ist eure Heimat, eine Heimat mit der ihr auf Gedeih und Verderben verbunden seid, seelisch, geistig, historisch, emotional wenn ihr wollt - was den Osten dennoch nicht daran hindert gelegentlich ein paar Blicke gen Westen zu lenken. Ein Westen in dem die reichste Stadt der Gegend von einer Clansschwester geführt wird oder zumindest mitverwaltet wird. Man fragt sich ganz offensichtlich, warum ihr euch nicht mehr um den Clan bemüht selbst wenn ihr weit vom Stammsitz unserer Linie entfernt seid? Mit euren Mitteln wäre es ein Leichtes sich den Respekt der Voivodan und Edelleute zu verdienen und dies ist in jedem Clan weit mehr wert als bare Münze oder schöne Juwelen." Er wartete einen Augenblick ab, sprach dann weiter.
"Genau das ist der springende Punkt, Alida van de Burse. Draga mag einfältig sein, kriegerisch und unüberlegt, hochmütig gar aber sie ist nicht dumm. Sie ist dem Clan treu, einem Clan, der momentan in schweren Zeiten ist, große Feinde zu besiegen und das Land zu verteidigen hat. Das funktioniert mit vielen Werkzeugen aber allen voran auch dem, das ihr schon erraten habt: Sagt mir Alida, was wird ein Clan tun, der in einem Krieg steht und dringend Ressourcen jedweder Art braucht um diesen zu gewinnen? Nehmen wir weiters an, es gäbe eine Tzimisce in einer Stadt aus beinahe purem Gold, die regelmäßig so viel erwirtschaftet um ganze Heere über Monate lang zu versorgen? Dann stelle man sich vor, diese Tzimisce würde ihren Clan jedoch schneiden, ihn gar verabscheuen und sich nur um ihre Belange kümmern. Sie würde sich abkapseln und weigern an diesen Dingen teilzunehmen. Und als Krönung des ganzen hätten wir da noch eine ungestüme Kriegsfürstin, die ein lächerliches Voivodat im Osten dieser reichen Stadt gegründet hat, kaum der Rede wert - mit einer Ausnahme: Sie ist völlig linientreu und zollt dem Osten und seinen Belangen Respekt. Was würde wohl unter den gegeben Voraussetzungen am ehesten passieren, Alida?" Er wartete.
Sie wusste genau, was er andeutete. Kannte seine Gedankengänge, da die ihren in gleichen Bahnen liefen. Lag das am Blut der Tsimiske? Oder an der Leidenschaft für die eine Sache, der man sich verschworen hatte. Ihr war genauso bewusst wie ihm wie nötig es war Feinde auszuschalten und Verbündete in die Positionen zu setzen, die wichtig waren. Sie spielte dieses Spiel selbst nicht schlecht.
Sie sah ihn lange an, überlegte. Wie viel wusste er tatsächlich, wie viel gab er vor zu wissen?
„Belinkov“ Wieder versuchte sie den seltsamen Namen, der ihr so schwer von der Zunge zu gehen schien wie fast jeglicher Ausdruck der slawischen Sprachen. „Die Reihe meiner Erzeuger hat vor langem aus gutem Grund den Kontakt zu eurem… ‚Osten’ abgebrochen und mir stets beigebracht, dass es klüger ist, sich an diese Regel zu halten. Bisher habe ich sie befolgt… und bin damit nicht schlecht gefahren. Glaubt ihr tatsächlich ihr könntet Brügge halten, es bewahren so wie es ist? Den Wohlstand und die Versorgung der Menschen gewährleisten? Oder dass Draga oder einer eurer Lehnsmänner dazu in der Lage wäre?“ Sie schnaubte leicht um anzudeuten wie wenig sie diese Betrachtung als reale Möglichkeit ansah. „Aber darum würde es auch gar nicht gehen, nicht wahr? Die Stadt oder Flandern sind euch völlig gleichgültig.“ Sie schüttelte sacht den Kopf und sah in die klaren kalten Augen. „Egal… Eure Belange sind die euren… Ihr seid hier um mir einen Vorschlag zu machen, oder? Welcher Art ist dieser?“
Sergej Ivanovich Belinkov, der merkwürdige Mann und Tzimisce ließ sich Zeit mit seiner Antwort. Es schien fast eine halbe Ewigkeit zu vergehen, in der er sie nur betrachtete, ein gutmütiges Lächeln auf den Lippen. Beinahe war es ihr, als würde er sich für einen Moment regelrecht auslachen, als würde er von ihr eine andere Frage erwarten, die nicht kam. Welcher Art diese sein mochte, konnte Alida nicht genau sagen aber schließlich seufzte der allem Anschein nach aus Russland stammende Kainit. "Ihr seid zu schnell und ungestüm, Alida. Kriege haben Zeit, Eroberungen können Jahrzehnte dauern, Politik ist wie ein halber Becher Wein in dem langsam und stetig, das tödliche Gift geträufelt wird. Kainiten, und gerade diese verstehen sich ausgezeichnet auf dieses recht amüsante, wenn auch äußerst langwierige und teilweise groteske Spiel. Ihr müsst ein wenig weiter denken, meine Liebe." Er räusperte sich. "So schnell kann Draga nicht in eure Stadt einfallen, sie wahrt die Stille des Blutes und sollte es je zu einer offenen Schlacht kommen, wird sie zunächst einen sterblichen Zwischenfall inszenieren, der es ihr ermöglicht aus dem Schatten heraus ihre Schachzüge durchzuführen. Was finge der Osten mit Brügge an, wenn plötzlich Rom der Meinung wäre, der Satan ziehe durchs Land? Nichts. Genauso verhält es sich mit Bündnissen und Feinden, Freunden und Handelspartnern." Er ergriff eine Pergamentrolle, die zuvor ausgebreitet auf dem Tisch gelegen hatte und dreht sie zu ihr herum. "Der Osten hat all seine Ressourcen im Omenkrieg gebunden oder zumindest einen Großteil davon, zudem ist Draga wenig vertrauenswürdig und unerfahren, ihr Voivodat ist zudem beinahe ein Affront gegen Rustovich. Der Clan generell würde nicht einmal auf Brügge spucken, wie ihr wisst und interessiert sich nur für seine Belange und dennoch hat sie ein paar Befürworter, die weiter denken als unsere uralte Tradition reicht, Tzimisce die wissen was Brügge für den Krieg und auch ihr eigenes Ego und ihren Status bedeuten könnte, würde man Erfolg haben. So hat sie bereits ein paar Anhänger, die ihr Zugeständnisse gemacht haben, nicht viele aber immerhin genug um sich entsprechend rüsten zu können." Belinkov verschränkte die Arme. "Außerdem wird Draga nicht unbemerkt bleiben, ihr werdet geschwächt werden was immer sie plant oder durchführt und die britischen Hunde und die giftigen Schlangen aus den Höfen der Liebe warten nur darauf das ihr am Boden liegt um noch einmal nachzutreten. Vielleicht verliert ihr nur etwas Einfluss, vielleicht ganze Gebiete - wie dem auch sei, wenn man sich nicht um Draga kümmert wird es ein dunkles Kapitel für eure Stadt."
Alidas übersinnliche Fähigkeiten, tauchten Belinkov in zahlreiche farbige Schattierungen während der Hintergrund sich dunkel von der Silhouette des Mannes abzulösen scheint. Die Farben waren blass und schal, ohne jegliche Sättigung und Kontrast. Typisch für das Zeichen des Untodes. Die dominierende Farbe, war etwas, dass sie in ihrem bisherigen Unleben nur selten gesehen hat: er war offenbar verliebt. Zudem gesellte sich eine gewisse Freude und Heiterkeit hinzu, hin und wieder huschte der Schatten von Zweifeln oder Nervosität über das Bild.
Sein Lächeln wurde wieder breiter als er mit einem Finger auf das Pergament vor ihr tippte, das eine in geschwungene Lettern geschriebene Auflistung aller möglichen Waren, Einkaufspreisen, Zöllen und Verhandlungsmöglichkeiten bot. Im Grunde war es eine wirtschaftliche Spielerei und Alida hatte es schon öfter gesehen, ein Manuskript an dem sich jeder Händler anhalten und das er leicht mit anderen vergleichen konnte. Belinkov griff zu einer rundlichen Messingglocke, die neben ihm auf dem Tisch stand und läutete diese kurz. Daraufhin wurde die Tür geöffnet und Girland betrat, sich verneigend, den Raum. Die beiden Männer wechselten kurz ein paar Worte in einer fremden Sprach, vermutlich russisch , dann trugen einige der Arbeiter, die Alida zuvor noch beim Abendmahl gesehen hatte, mehrere schwere Kisten in den Raum und öffneten die Deckel. Rauh, spornte sie Girland an und verscheuchte sie nach getaner Arbeit sofort wieder aus dem Raum, schloss, sich ein letztes Mal verbeugend, die Tür. Belinkov nickte ihm dankend und lächelnd zu. "Und um eure Frage zu beantworten - ja ich habe euch tatsächlich ein Angebot zu machen." Seine Hand deutete auf die Kisten, die mit allerlei Kostbarkeiten gefüllt waren. Orientalisch anmutende Tuche und Stoffe aus feinem exotischen Gewebe, Gewürze die Alida noch nie gesehen hatte und feine metallene Krüge, Karaffen, Becher und Gläser aus reinem Silber, legiert mit bronzenen Einlegearbeiten. Ein Blick genügte um zu wissen, dass dies alles meisterlich gefertigt war.
Alidas blaue Augen verengten sich zu Schlitzen. Er hatte vieles angesprochen, dass ihr längst bewusst war. Langsam atmete sie tief ein. Sie war nur eine Schachfigur in einem großen Spiel, das sie nie zu Spielen bereit gewesen war, ein Spiel, dass sie nicht mochte, nicht kannte und doch irgendwie die Grundregeln beherrschen lernen musste um irgendwie zu überleben um das retten zu können, was ihr wichtig war. Und doch hatte er noch viel mehr angesprochen, was ihr absolut unklar erschien. Er sprach Warnungen aus und ging dann ohne weiter darauf einzugehen zum Tagesgeschäft eines Händlers über. Als sie sprach lag unterdrückter Zorn in ihrer Stimme. „Was spielt ihr für ein Spiel? Was soll das Gerede von Draga und dunklen Kapiteln für Brügge. Ihr habt es selbst gesagt: die Stadt ist nicht mehr für die meisten Tsimiske als Dreck am Absatz ihrer Stiefel! In Draga hättet ihr eine wertvolle Verbündete, die nach jeder winzigen Aufmerksamkeit der Großen eures Clans bettelt, alles geben würde um euch zu gefallen… Und ihr wisst ebenso wie ich: Draga ist fähig, intrigant, eurem Clan gegenüber loyal, intelligent genug um ein Voivodat anzuführen und fähig die Stadt mit allen ihr zur Verfügung stehenden Mitteln zu beherrschen. Und ja: Ihr wisst, dass alles liegt nicht in Meinem! Sinne. Warum um alles in der Welt erzählt ihr mir all dies? Was sollte euer Clan mit mir anfangen wollen? Warum bestellt ihr mich hier zu euch in diesen Gutshof statt eure Clansschwester???“
Alida erhob sich aus dem Stuhl, richtete sich auf und blickte auf den braunhaarigen Mann hinab. Sie war eine Spielfigur, oh ja, … aber in welche Richtung sie sich versetzen ließ mochte sie immer noch selbst bestimmen. Sie richtete den Blick gen Ausgang.
Belinkov betrachtete sie erstaunt und es mischte sich sogar ein Stück weit Entsetzen in seinen Blick, ihre Reaktion fiel wohl heftiger und energischer aus als er geahnt oder beabsichtig hatte. "Nun werter Gast, es betrübt mich, dass ich euch scheinbar so erzürne. Ihr könnt euch sicher sein, nichts lag mir ferner als dies." Er seufzte und deutete auf die geöffneten Kisten. "In erster Linie, verehrte Alida, bin ich gekommen um mit euch zu handeln und ich denke, dass euch das eine oder andere schon gefallen könnte. Die preislichen Vorstellungen sind auf diesem Pergament festgehalten aber da können wir uns sicher noch einig werden, feilschen gehört in vielen östlichen Ländern zum besonders guten Ton und ich habe bisweilen gar eine Leidenschaft dafür entwickelt." Sein Räuspern, schien den makellos schönen und dabei doch so artifiziell wirkenden Mann für eine Sekunde sogar verletzlich erscheinen. "Der andere Grund warum ich euch sehen wollte, war genau dies: Euch darüber informieren, dass Draga keineswegs in der Lage wäre Brügge zu führen. Zumindest nicht so, dass es den Tzimisce im Osten dienlich sein könnte, sie würde eure liebevoll gehegte Heimatstadt in ein steinernes Bollwerk der östlichen Tyrannei verwandeln und es fehlt ihr an Fingerspitzengefühl - sie ist keine Händlerin sondern auf dem Schlachtfeld zuhause." Sein Kopfschütteln, legte erneut ein Lächeln auf seine Lippen. "Dennoch findet sie Unterstützung, gerade genug um auch ohne eure zusätzlichen Feinde zu einem ernsteren Problem zu werden, als ihr wohl bisweilen annahmt. Einige Fürsten gewähren ihr bereits Unterstützung auf vielen Gebieten, wo sie sie erübrigen können. Nennt es ein Projekt: Wenn Draga Brügge einnimmt und es für die Tzimisce eine fließende Geldquelle wird, färbt das positiv auf sie ab: auf Draga und ihre Unterstützer und selbst wenn Brügge ruiniert wird, wirft es bis dahin noch so viel ab, dass die Summen möglicherweise kriegsentscheidend sein könnten. Ein Voivodat, wie lächerlich es auch sein muss - ein Außenposten vor den Toren Brügges muss genutzt werden, jede Chance muss im Krieg genutzt werden. Ich treibe also überhaupt kein Spiel mit euch, Alida van de Burse, ich informiere euch lediglich über Dinge die ihr so schnell unmöglich in Erfahrung bringen könntet." Er machte einige Schritte, in Richtung der gefüllten Truhen und bedeutete ihr näher zu treten. "Es sind wirklich wundervolle Arbeiten, überzeugt euch selbst." Das Glitzern in seinen Augen, nahm einen eigenwilligen Zug an, als er einen silbernen Becher hochnahm und ihn betrachtete. "In einer Sache habt ihr aber natürlich Recht und ich wäre kein rechter Edelmann und rechtschaffener Händler wenn ich euch diese Information unterschlagen würde... ich habe gewiss auch diesbezüglich, ein Angebot für euch. Ich schrieb euch doch, wir würden auf vielen Ebenen handeln können." Ein erneutes Lächeln.
Sie seufzte leise und trat neben ihn. Ja, die Erzeugnisse waren bester Qualität, edel gearbeitet und ein Vermögen wert. Dennoch erschienen ihr seine Antworten nach wie vor nicht schlüssig.
„Belinkov, ich weiß genug über die Unholde im Osten um mir über genau eines im Klaren zu sein: Sie sind keine Kaufleute. Ihre Absicht sind genau das: Bollwerke, Schlachtfelder und bestenfalls noch ihre trutzigen Burgen… auch wenn ich noch niemals dort war. Florierender Handel? Mitnichten… Wenn ihr mir diese Dinge erzählt, dann wird es im Osten Kainiten geben, die ihr euch damit zum Feind macht, oder? Ich bin nicht eure Verbündete. Ist es dieses Risiko wert?“ Wieder schüttelte sie als Antwort den Kopf.
Der Russe hielt für einen kurzen Moment inne, hielt seine Blick auf sie fixiert. Die grauen, beinahe gefroren wirkenden aber hellwachen Augen, ruhten auf den ihren. Alida hatte für einen Moment das Gefühl, als läge eine bittere Traurigkeit in diesem Blick, der sie so eingehend betrachtete. Traurigkeit, gar nicht so sehr über ihre Worte oder das Thema oder was er ihres Erachtens nach im Begriff war zu tun oder auch nicht zu tun. Schließlich legte er den Kelch wieder zurück in die Truhe, seine Stimme war ruhig aber einen Hauch belegt. "Diese Gegenstände und Handelswaren leuchten hell im Schein der Fackeln und dem Mondlicht. Sie glänzen und funkeln und ziehen einen in ihren Bann, aber dies ist nichts im Vergleich dazu, wie ihr mich in euren Bann geschlagen habt, Alida van de Burse." Er drehte sich in ihre Richtung. "Nein, Handel im großen Stil gerade mit dieser Art Waren ist eine Seltenheit im Osten, gerade deshalb habe ich mir eine Nische geschaffen, in der ich kaum Konkurrenz habe. Natürlich werden häufig andere Talente unter den Unholden geschätzt aber mein Erfolg gibt selbst den Kritikern Recht, zudem ist Handel nicht mein einziges Talent. Im Laufe meines Unlebens habe ich die Kunst des Fleischformens erlernt und perfektioniert, etwas das die eher... kriegerischen oder philosophisch eingestellten Individuen unseres Clans schätzen. Mit meinen Erfolgen als Händler beeindrucke ich zuweilen den Adel." Seine kühle, bleich Hand ergriff die ihre. "Mit wem ich handle bleibt immer noch meine Sache, Alida, ich bin mein eigener Herr, endlich - denn wie so viele vor mir, war dies nicht immer der Fall, dieses Privileg habe ich mir hart und lange erarbeitet. Nunmehr kann ich die Früchte meiner Arbeit ernten." Belinkov schwieg eine Weile, deutete dann zurück an den Tisch. "Wollen wir uns setzen? Vielleicht möchtet ihr euch die preislichen Vorstellungen einmal durchsehen? Ich gebe zu ich bin nicht billig, aber wenn ihr bedenkt woher diese Waren stammen, werdet ihr den Preis sicher als gerechtfertigt betrachten."
Als Belinkov sich Richtung Tisch begab hielt sie ihn am Arm zurück. Das alles ergab so wenig Sinn wie seine Warnungen. Nur mit Mühe gelang es ihr den verstörten Gesichtsausdruck zu verbannen bevor er wieder in ihre Richtung blickte. Sie sah noch einmal für den Bruchteil einer Sekunde über die edlen Gegenstände, die er erwähnt hatte. Ihre Stirn zog sich in Falten und ihre Stimme war zögernd. „Wer seid Ihr, Belinkov? Warum sagt Ihr solche Dinge?“
Er lächelte ein müdes Lächeln und schüttelte knapp den Kopf, seine lockigen Haare bewegten sich kaum, beinahe als ob sie ein völliger Teil seine Körpers wären. Erneut glitt sein Blick an ihr herab und seine Augen spiegelten eine leichte Enttäuschung wieder. "Mein Name ist Sergej Ivanovich Belinkov oder Yuri Kalisko, Dmitrij Nikolaijev... in all der Zeit habe ich meinen Namen sehr oft geändert, in der sterblichen Welt wie in der ewigen Nacht. Und das gleiche würde ich euch hinsichtlich der Stille des Blutes auch dringend empfehlen, es macht nur Schwierigkeiten wenn Sterbliche sich über Merkwürdigkeiten, die sie niemals verstehen können den Kopf zerbrechen." Er deutete auf den Tisch und begab sich näher an diesen setzte sich, den Stuhl zurecht rückend wieder langsam hin. "In der Welt des Untodes, kommt ein häufiger Namenswechsel nicht so leicht vor, es sei denn der Name steht in Verruf. Sergej Ivanovich Belinkov ist der Name, den ich mir über die Jahre erarbeitet habe, zusammen mit der Achtung und dem Vertrauen, nicht zuletzt den Respekt meiner Brüder und Schwestern." Belinkov sah sie lange mit großen erwartungsvollen Augen an. "Hast du es noch immer nicht erraten... wer ich bin?"
Sie trat näher, blieb vor dem Schreibtisch stehen und stützte beide Handflächen auf die kühle Tischplatte. Sie betrachte das schöne Gesicht, die perfekten Haare und blieb an den blauen Augen hängen, die ihr in keinster Weise vertraut erschienen. Nichts erschien ihr vertraut. Langsam und fragend schüttelte sie den Kopf.
Der vermeintliche Tzimisce, der Russe, der Mann mit den gefrorenen Augen, den kalten Händen, der weißen Haut und den feinen, fast Skulptur ähnlichen Gesichtszügen nickte stoisch. "Ich habe dir gesagt, dass ich nicht nur im Handel recht gut geworden bin. Ich habe geübt und von vielen Lehrmeistern gelernt. Als ich noch flüchtete und jede Nacht meine letzte sein konnte, nannte man mich.... Emilian." Er sah sie eindringlich an. "Emilian, dein Erzeuger, der dich in diese Existenz geholt hat."
Alidas Mund öffnete sich leicht. Ihr Gesicht schien erstarrt während die Sekunden verstrichen. Sie dachte an den kleinen wohl zehnjährigen Jungen mit dem braunen struppigen Haar und den rotbraunen Jaspisaugen, das klare Lachen und den nachdenklichen Gesichtsausdruck.

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Nichts von all dem erkannte sie in dem Mann, der vor ihr stand. Tsimiske konnten Meister im Formen von Körpern sein, aber nie hatte sie davon gehört, dass einem Kainit so etwas gelungen sein mochte. Kein kainitisches Kind vermochte je erwachsen zu werden…
Ein trauriges Lächeln glitt über ihre Züge und ihre Stimme war kaum mehr als ein Flüstern: „Wenn du ihn gekannt hättest, wüsstest du, dass das nicht möglich ist…“ Sie blickte in die klaren Augen und schüttelte langsam erneut den Kopf. Es erschien ihr lächerlich dieses Spiel mitzuspielen. War es das Ansinnen dieses Mannes um jeden Preis ihr Vertrauen zu gewinnen? Sie lachte leise. „Nun gut: Ihr behauptet also Emilian zu sein? Dann beantwortet mir bitte eine Frage. Mit Sicherheit erinnert ihr euch an ein kleines Mädchen, Evelyn war ihr Name…“ Alida schluckte bei der Erinnerung an ihre fröhliche kleine Nichte, mit den rot blonden Haaren, die Marlene so unglaublich ähnelte. „Sie hatte ein Lieblingsspiel… war gar nicht von diesem weg zu bekommen. Sagt mir? Welches war das?“ Sie schloss für einen Moment die Augen und sah die Kinder vor sich. Evelyn war das einzige Kind der van de Burse gewesen mit dem Emilian gerne seine Zeit verbracht hatte. Er hatte ihr ein Spiel aus dem Osten geschenkt und nächtelang mit ihr über dem Schachbrett die Heere über imaginäre Schlachtfelder bewegt. Die Erinnerung stimmte sie traurig… längst vergessene Zeiten.
Belinkov sah sie schmunzelnd an, weder kommentierte er ihre kurzweilige Verwirrung, den Unglauben in ihren Augen und ihrem Geist, der sich gegen die beinahe unmöglich wirkende Realität dieses Augenblickes aufbäumte. Im Gegenteil, er schloss selbst für einen Moment die Augen und schien sich ähnlich der Brüggerin zu erinnern. An längst vergangene Tage und Nächte, an Ausritte und Gespräche, den Handel und Wandel aus sterblichen Überresten und der Ewigkeit der untoten Existenz. Seine hellen, ihr unbekannten Augen öffneten sich und sein Mund hatte einen beklemmenden, betrübten Zug angenommen, wie wenn man an etwas dachte, das einem unwiederbringlich verloren schien. "Schach... Evelyn und ich haben Schach gespielt und uns Geschichten dazu ausgedacht, die wir einander erzählt haben. Ich habe es aus dem Osten mitgebracht und sie wurde sogar regelrecht wütend, wenn wir gerade an einer Partie saßen und es Zeit wurde zu Bett zu gehen, so sehr liebte sie es. Ich vermisse die Zeit..." Er schwieg.
Alida sah ihn noch immer an, suchte nach einer Erklärung, die ihr logischer erschien. Sie kannte das Gefühl wenn jemand versuchte in den Gedanken des anderen zu lesen aber da war nichts von dem erzwungenen Suchen nach Antworten in ihrem Kopf.
Da war keine andere Erklärung… Sie schluckte, zögerte.
Dann trat sie langsam näher an diesen Mann, berührte vorsichtig mit den Fingerspitzen das perfekte Gesicht mit den ebenmäßigen Zügen suchte darin irgendetwas von dem kleinen Jungen, der damals alles für sie gewesen war: Bruder, Sohn, Vater, Freund. Er war schon so viele Jahrhunderte fort… Sie schloss die Augen und drückte den Unbekannten an sich, strich über das weiche Haar und merkte, dass ihre Finger die Borsten suchten, die sich nie hatten bändigen lassen. War da etwas von dem Geruch, der ihr so vertraut gewesen war? Nein. Sie strich über seinen Rücken wie bei dem Jungen wenn sie ihn tröstete, für Kleinigkeiten, Verluste, Erinnerungen und die Dinge, die sie am liebsten vergessen mochte. Sie merkte, dass sie weinte.
„Du warst so lange fort… so lange.“
Emilian, ihr Erzeuger, der ihr einst lieb und teuer gewesen war, in vielerlei Hinsicht tatsächlich wie ein Sohn, manchmal Berater, ein Bruder, Trost in schweren Stunden und ein Lachen in den kältesten Nächten gewesen war. Emilian, der mit ihrer Nichte jede Nacht begeistert Schach gespielt hatte, Emilian, der sie zu dem gemacht hatte, was sie heute war, Emilian, der seine ersten grotesken Versuche an Gregor unternommen hatte, die Kunst des Fleischformens zu erlernen. Seine Statur, seine Größe, seine Haare, die leuchtenden Augen, das braune Haare - nichts von all dem war mehr so wie es einst gewesen sein mochte. Und selbst sein Geruch, gab nichts über die Wahrheit preis, die sich doch so offenkundig und überraschend in die einfache, hölzerne Behausung, am Rande der Stadt Leuven in einer regnerischen Nacht geschlichen hatte. Mochten auch Jahrhunderte vergangen sein - Emilian, war zurück. Ihr Emilian. Blutige Tränen liefen ihre Wangen hinab als sie ihn innig an sich drückte, während Gedanken und Gefühle sie überwältigten. Der äußerlich doch so Fremde aber innerlich über jeden Zweifel erhabene Mann, ließ es ohne zu Zögern geschehen und erwiderte ihre Umarmung mit wachsender Intensität, auch wenn sich in seinen Augen keine Tränen sammelten. Vielmehr sah er zufrieden und erleichtert aus, erleichtert darüber, dass sie ihn endlich erkannt haben mochte. Mit seinen kalten Armen, die in dunklen Stoff gehüllt waren, wiegte er sie in ihrer Umarmung. "Ja, ich war wirklich lange fort. Womöglich viel zu lange aber es ging nicht anders - der Osten lässt nur die Stärksten überleben. Man ist gezwungen sich anzupassen oder zerbricht daran. Umso mehr wenn man wie ich, ein Gejagter war. Es tut verdammt gut dich endlich wiederzusehen, Alida."

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"Alea iacta est." oder "Die Würfel sind gefallen." - Lateinisches Sprichwort


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 Betreff des Beitrags: Re: Memento mori (Alida)
BeitragVerfasst: Do 12. Feb 2015, 21:55 
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Sie fuhr erneut mit den Fingern über seinen Rücken, wunderte sich über die Größe ihres Gegenübers, spürte die Haut, die nichts weiches, kindliches an sich hatte. Sie atmete tief ein, vergrub ihr Gesicht in seiner Halsbeuge, berührte die Muskeln und feinen Haare. Dann öffnete sie zögernd die Lippen, schloss die Augen und trank. Erst langsam und vorsichtig. Sie ließ einen einzelnen Tropfen über ihre Zunge laufen und kostete. Der Geschmack war ihr so vertraut wie der Duft der Apfelblüten im Frühjahr, der Geruch des Wassers der Kanäle, ihr eigener Geruch. Süßlich und voll, zugleich erfrischend wie das Aroma zerriebener Minzblätter. Sie trank mehr, kostete das, was sie, so wie ihn selbst, lange vermisst hatte. Der Geschmack seines Blutes war der gleiche, vielleicht ein wenig intensiver als früher und unvorstellbar gut. Sie ließ sich einfach nur fallen, schloss irgendwann schließlich wieder die Lippen und verharrte in der Umarmung.
Ihr Erzeuger ließ es wortlos geschehen, spürte ihre Nähe und die Vertrautheit, die einst zwischen ihnen bestanden hatte. Ihre Berührungen, kalt wie die seinen, ihre Lippen weich und genauso wie er sie in Erinnerung hatte. Wie spitze Nadeln, bohrten sich ihre Zähne in seinen Hals und vorsichtig, beinahe liebevoll, legte er eine Hand an ihren Hinterkopf als sie sein süßes Blut trank – Blut, das wie eine Droge wirkte. Sie kannte den Geschmack an den so viele liebe als auch verstörende und manchmal auch beängstigende Ereignisse geknüpft waren. So viel Zeit war vergangen als sie das letzte Mal neben ihrem Erzeuger im Bett gelegen hatte und bei weitem mehr, als sich ein Sterblicher je vorstellen könnte, als sie ihn aus Windau geholt hatte. Damals war er ein Kind gewesen oder treffender: Ein erwachsener Kainit im Körper eines Kindes und auch wenn ihr dieser Körper nun fremd war, die Seele, das wusste sie, war die gleiche geblieben - Emilian. Einige Zeit hielt er sie fest umschlungen, als wolle er ihre Anwesenheit in sich aufsaugen, trank aber nicht von ihr. Behutsam entließ er sie aus der Umarmung; sah sie mit großen, leuchtenden Augen an und schüttelte ein wenig verblüfft aber immer noch lächelnd den Kopf. "Es ist nicht klug das Blut anderer Kainiten zu trinken, Alida. Damals wussten wir das nicht aber mittlerweile sind wir beide an unseren Erfahrungen gewachsen. Das Blutsband..", er betonte das letzte Wort mit einer gezielten Pause "... kann aufrechterhalten werden als auch dahinwelken. Gib niemanden so leicht Kontrolle über dich, meine Liebe." Mit einer Bewegung deutete er zurück zum Tisch. "Ich nehme an du hast viele Fragen, hm?" Emilian unterdrückte ein leichtes Grinsen, nahm dann abermals am Tisch Platz.
Alida ließ seine Worte auf sich wirken. Ihre Antwort war leise und klar. „Du warst mir damals nicht nur wichtig aufgrund eines Blutsbandes, sondern… weil du halt du warst. Und du hast damals gesagt, es ist falsch das Blut der Kainiten zu trinken, die nicht zu einem gehören... Aber natürlich hast du recht: Das alles ist Ewigkeiten her und heute sind wir? Wir sind… was? Reifer? Vernünftiger? Erwachsener?“ Sie ließ sich so wie er auch zurück in den Stuhl sinken, ein breiter Schreibtisch mit vielfachen Unterlagen zwischen sich. Nach so langer Zeit war selbst diese Distanz schwer für sie, aber sie riss sich kurz zusammen. „Ich wüsste gern, wie es dir ergangen ist. Aber ich vermute es würde Ewigkeiten dauern, wenn du mir diese Frage beantworten wolltest, oder? Und ich schätze, du bist nur auf der Durchreise, auf dem Weg nach Genua, wie du berichtet hast und wirst bald wieder abreisen müssen?“ In ihrer Stimme, das wusste er, da er sie lang genug gekannt hatte, lag eigentlich eine ganz andere Frage, die eine andere Antwort ersehnte. Sie wollte wissen, wie es ihm wirklich ergangen war, Zeit für lange Gespräche, erfahren, was ihm Gutes und Schlechtes widerfahren hatte, was gleich geblieben war, was sich verändert hatte. Aber sie kannte eine der Haupteigenschaften von Erwachsenen: Sie hatten nie Zeit. Eine komische Eigenart für Kainiten, schoss es ihr durch den Kopf: wenn man doch der Ewigkeit ins Gesicht schauen musste.
Seine Schultern hoben und senkten sich kurzerhand, in seinem Gesicht lag ein Ausdruck der schwer zu deuten schien. "Das Blutsband bindet einen an die Person, deren Vitae man zu sich nimmt. Im Grunde eine recht scheußliche Praxis, wenn man bedenkt das trotz freiem Willen, keine Möglichkeit besteht sich anschließend noch gegen die Wünsche des Domitors zu wehren. Wie viele Intrigen, Kriege, persönliche Fehden und Machenschaften müssen deswegen schon begonnen worden sein frage ich mich?" Sein Blick schweifte für einen Moment ab, der einer Ewigkeit zu gleichen schien, als ob er weit weg wäre, an einem Ort den sie nie gesehen hatte und vermutlich auch gar nicht sehen wollte. "Wir müssen wohl nicht über solche Dinge reden, ich habe dich zwar sehr, sehr lange, selbst für unsere Verhältnisse aus den Augen verloren aber dem zu urteilen nach, was du hier mit Brügge geschaffen hast auf der sterblichen, wie auch auf der kainitischen Ebene, lässt mich mehr als nur vermuten, das du genau wie ich, bestens über unseren Zustand im Bilde bist." Emilian schmunzelte und nickte sachte. "Aber auch heute noch würde ich dir zustimmen - trinke von denen, die wirklich zu dir gehören und nur von solchen." Alida spürte beinahe instinktiv, dass mehr in dieser Antwort lag als es auf den ersten Blick schien, lag doch eine gewisse Hoffnung in seinen Blicken. Etwas abgelenkt wirkend, fasste sich Emilian wieder und machte eine Geste, die den Raum und die Unterlagen, sowie die geöffneten Truhen mit einschloss. "Tatsache, ich bin auf dem Weg nach Genua wo ich mir einige profitable Geschäfte erhoffe, in den Jahren hab ich mir gar keinen so schlechten Ruf als Händler erarbeitet. Kein Wunder wenn man von den Besten lernt." Ein kurzes, schelmisches Zwinkern. "Meine Reise geht bald weiter, ja. Höchstens noch ein weiterer Tag, wir sind von weit her gekommen und haben noch ein ganzes Stück vor uns, du weißt ja wie das Reisen in unserem Zustand ist - anstrengend und gefährlich." Die Hände faltend, schenkte er ihr erneut ein seufzendes Lächeln, die Fragen und das Begehren, das in ihren Blicken lag damit spiegelnd; er wusste wie es ihr gehen mochte oder maßte sich an, es sich vorstellen zu können. "Um eine völlige Darstellung dessen wiederzugeben, von dem wie es mir ergangen ist, seit ich Brügge verließ bräuchten wir einige Monate... naja, wenn mir alles einfällt." Leicht legte er den Kopf schief. "Zusammenfassend könnte man sagen, das ich mangels Alternativen zurück in den Osten bin, wo eigentlich der sichere Tod auf mich lauerte - allerdings habe ich es geschafft meinen Wert zu beweisen und in dem, worin ich gut bin noch besser zu werden. Es war nicht leicht... und auch nicht immer angenehm..." Einen Augenblick lang, sah er betroffen zu Boden, sein Blick glitt in eine Leere, hinter der man nur vermuten konnte, was sie bedeuten mochte. "Dennoch", fuhr er fort, "Dennoch habe ich es geschafft, den Namen meines Erzeugers rein zu waschen. Ich war in Prag und habe dort einige interessante Leute getroffen von denen ich lernen konnte, sehr viel lernen konnte. Erinnerst du dich an den Lepra Kranken? Jetzt bin ich noch besser." Ein stolzer Ausdruck lag in seinen Augen. "Also zusammenfassend: Ich habe mein Dasein als Flüchtling und ewig gefangenes Kind beenden können, indem ich hart an mir und für die richtigen Leute gearbeitet habe. So habe ich mir einige Freiheiten und Möglichkeiten herausgenommen, die andere eher kritisch beäugen würden: Wie beispielsweise den Handel." Emilian lehnte sich in seinem hölzernen Stuhl zurück und wirkte plötzlich, so als wäre er um zehn Zentimeter gewachsen. "Alida, ich dachte ich würde sterben, unwissend und alleine wie ich war, gejagt und verstoßen aber ich habe mich selbst aus dem Dreck gezogen und mir einen Platz erkämpft, der auf festem Grund steht - ganz genau wie du. Ich bin beeindruckt von Brügge und der Arbeit, die du noch immer im Handel leistest. Ihr seid zumindest im Westen in aller Munde." Sein Blick glitt etwas beschämt seitlich an ihr herab. "Es tut mir leid, dass ich mich nicht früher gemeldet habe aber es war mir bedauerlicherweise nicht möglich. Erst kam das Überleben... jetzt... kommst du." Seine Augen leuchteten und für einen Moment, war es so als ob der dunkelblauen Kälte, wieder das Jaspis erstrahlen würde, dieses bräunlich-rote Schimmern, das ihr damals schon die Nächte erhellt hatte.
Alida griff bei seinen Worten nach seinen Händen und spürte die kalten Finger. Ihr Blick war traurig und besorgt. Was hatte er alles auf sich nehmen müssen, was durchstehen müssen um am Leben zu bleiben. Sie hatte zu viele schreckliche Erinnerungen mit ihm geteilt. Diese hier waren seine eigenen. Ihre Stimme war leise: „Vielleicht kommst du irgendwann mal wieder nach Brügge. Es würde dir gefallen. Die Stadt ist ein bunter Haufen aus Palästen, Spelunken, Gutshäusern, Kirchen, dunklen und taghellen Straßen. Die Kanäle durchfließen nach wie vor an den Häusern vorbei und waschen den täglichen Dreck fort. Die Geschäfte laufen gut und an den Markttagen ist von edlem Elfenbein, orientalischen Gewürzen, Silber aus Norwegen und der besten Wolle aus England alles bei uns zu haben. Der Flieder und die Apfelbäume blühen noch immer genauso wie vor hundert Jahren.“ Sie lächelte kurz und schüttelte dann leicht den Kopf. Sie wusste, dass er weiter reisen würde und der Weg nach Genua und danach zurück in den Osten war weit und würde lange dauern. Sie senkte den Blick. „Es tut mir leid, dass ich in all der Zeit nicht für dich da sein konnte. Du hast damals nicht gewollt, dass ich mit dir komme und wahrscheinlich war es besser so. Ich hätte dich nur behindert. Aber es war hart ohne dich.“ Ihr Blick suchte nach seinen Augen.
Fremd war sein Gesicht und die Züge darin, genau wie die Augen, die sie erneut anblickten und doch war da dieser Funke, dieses subtile Leuchten in ihnen. Keine Kunst der Welt mochte sie natürlich oder unnatürlichen Ursprungs sein, schienen Emilian diesen Zug wegnehmen zu können. Seine Hände ergriffen ihre, drückten sie leicht als er bestätigend nickte. "Ich habe auf jeden Fall vor nach Brügge zu gehen, Alida." Das darauffolgende Lächeln war ehrlich und erneut gefüllt mit zuversichtlicher Hoffnung. "All die Menschen in ihren Häusern, der Hafen mit seinen Koggen, die Speicher und Lagerhäuser, Bauernhöfe und Zisternen, solide Mauern und gepflasterte Straßen." Für einen Moment verlor er sich leicht in diesen schönen Erinnerungen und als sie den Apfelbaum erwähnte, atmete er vielleicht einen Moment zu tief ein als es einem Untoten zustünde. "Es scheint, dass sich trotz all der zahlreichen Veränderungen, einige Dinge nie ändern mögen. Und das erfüllt mein Herz und meinen Geist mit sehnsuchtsvoller Freude, glaub mir: Ich habe oft an dich und Brügge gedacht, an Evelyn und Frederik, selbst an Georg." Seine Hand glitt nach oben an ihr Gesicht, strich ihr behutsam über die Wange. "Nein, das wollte ich nicht denn es war nicht der richtige Zeitpunkt dafür, dein Platz war Brügge und ich hätte mich eher ins Feuer geworfen, als mitanzusehen wie du im Osten wegen mir leiden müsstest. Behindert hättest du mich nicht aber was du auf dich nehmen hättest müssen... nein, es ist wenn man möchte der Fehler meines Erzeugers und meiner; unser Erbe nicht deines. Du hättest genauso zahlen müssen für Dinge die dich im Grunde nicht im Entferntesten betreffen." Seine Finger umspielten leicht eine Strähne ihres blonden Haares. "Und Worte können nicht ausdrücken, wie hart es für mich ohne dich war Alida... meine Alida. Ich konnte es dir nie sagen, damals nicht weil die Umstände anders waren und weil du in mir, so wie jeder andere auch nur ein Kind gesehen hast. Ein kleines, trauriges, schwaches und hilfsbedürftiges Kind, das es um jeden Preis zu schützen galt. Nur war ich nie ein Kind, ich war wohl schon kein Kind mehr als ich geboren wurde denn das Leben von Wiedergängern ist von anderen Dingen geprägt als nur Schaukelpferde und Puppen. Man bekommt einen leichten Einblick in die Welt hinter den Vorhang und dieser reicht aus um einen zu verändern." Emilian pausierte kurz. "Jetzt, da ich einer der besten in meiner Kunst bin, habe ich es mir ermöglicht, meine Körper meinen Wünschen entsprechend umzugestalten und jetzt, da ich dich nach so langer Zeit wieder bei mir habe, kann ich es mit allem was ich jetzt bin, was ich besitze, wofür ich stehe und was ich mir erarbeitet habe, offen sagen: Ich liebe dich Alida und ich habe dich schon immer geliebt."
Alida atmete tief ein und sah ihn an. Sekunden schienen sich zu Minuten auszudehnen. „Du warst alles für mich: Bruder, Kind, Freund, Vater, du warst da, wenn es keiner war. An meiner Seite beim Einschlafen und Erwachen, über den Büchern im Kontor, auf unseren Schiffen, im Dunkeln der Gassen bei der Jagd, davor und danach, egal wie die Jagd ausging. Du hast mir Angst gemacht, oh ja, das weißt du.“ Sie blickte ihn mit ihren grau blauen Augen an.“ Und du hast mich glücklich gemacht. Ich habe dich auch geliebt.“
"Tust du es noch immer?" War seine knappe Frage.
Alida betrachtete den Mann, der ihr gegenüber saß, nachdenklich. Sie ließ sich Zeit, fuhr mit den Fingerspitzen vorsichtig fragend über sein Gesicht und auch wenn sie nichts wiedererkannte, suchte sie nach wie vor nach dem kleinen Jungen mit dem unschuldigen Gesicht. Sie blieb an seinen Augen hängen betrachtete eindrücklich die blaue Iris, die wie ein Schatten über dem Jaspis lag. „Ich werde dich immer lieben, Emilian.“ Sie griff erneut nach seiner Hand. „Ich habe dich über hundert Jahre nicht gesehen, du warst fort, hast Dinge erleben müssen, wahrscheinlich schlimmer als alle Erinnerungen, die wir an Windau verdrängt haben. Du wurdest vom Schicksal geformt und hast dich selbst zu dem Mann umgebildet, der du jetzt bist. Ich möchte wissen, wer du bist. Wer du geworden bist, was dich ausmacht. Was mir vertraut ist und was du in deiner untoten Existenz entdecken konntest, was dir wichtig ist und was du mit mir teilen möchtest. Ich möchte Zeit um dich so wie du jetzt bist kennen zu lernen.“
Ein Lächeln huschte über sein Gesicht, als sie diese Worte sprach. Die munteren Augen glitzerten und ließen keinen Zweifel aufkommen: Dies war es, wonach er sich gesehnt hatte, die Antwort auf die er gehofft hatte, die sie ihm nach all dieser langen Zeit endlich geben konnte. Mit Mühe, hielt er eine einzelne, blutige Träne zurück die den Moment in ein anderes Licht rückte - sie waren tot und möglicherweise verdammt und doch noch im Untod, vermochten die Bande die einst im entfernten Windau geknüpft und dann im Hause der van de Burses gefestigt wurden, die Zeiten und Entfernungen überdauern. "Du hast Recht, wir haben uns gewiss verändert. Ob tot oder nicht, die Zeit verändert jeden und unsere Erfahrungen formen uns. Manche möchten sagen langsamer, da wir zeitlos sind und uns nur träge den menschlichen Jahrzehnten entlang gehen aber ich weiß mittlerweile, das gerade Kainiten ob ihres besonderen Zustandes oftmals anders werden als man sie in Erinnerung behält." Emilian sprach es nicht aus aber sie wurde wieder das Gefühl nicht los, das sich dahinter eine Wahrheit verbarg die er gekonnt verschwieg oder über die er nicht reden wollte oder konnte. "Wir brauchen Zeit, du und ich. Zeit miteinander und Zeit für uns selbst. Noch ist diese Zeit nicht gekommen aber wenn ich aus Genua zurück bin, werden wir diese Zeit haben Alida." Sich in seinem Stuhl aufrichtend und den Kragen seiner dunklen Jacke zurechtrückend, räusperte er sich. "Ich habe dir ja bereits erzählt, wie es um Brügge derzeit im Osten bestellt ist - wie ihr gesehen werdet und wie Draga euch sieht und ihrerseits vom Osten beurteilt wird. Die Situation ist brenzlig und politisch in vielerlei Hinsicht äußerst gefährlich für dich aber ich weiß wie wir das für uns lösen. Lange genug habe ich euch beobachtet und Einblicke in die Geschicke des Voivodats gewonnen, wir können Brügge sichern und erhalten, stark machen und gegen jegliche Bedrohung wappnen."
Fragend zog sie eine Augenbraue in die Höhe.
Emilian lächelte sie, seine Antwort gezielt hinauszögernd, an. Man konnte förmlich die Vorfreude in seinen hochgezogenen Mundwinkeln erkennen. "Nun, so wie ich die Sache sehe, wird es Krieg geben. Einen verborgenen Krieg oder zumindest einen solchen, der tragbar für den Osten ist. Natürlich ist das Neuland für die Tzimisce, denn die Herrschaftsverhältnisse innerhalb der Voivodate ist eine gänzlich andere. Aber unterschätze sie wie gesagt nicht, Taktiken und Strategien ändern sich schnell wenn soviel auf dem Spiel steht und der ganze Hass des Clans, richtet sich augenblicklich auf die Ursupatoren - dahingehend ist man sich geschlossen einig." Er rückte den Stuhl etwas zurecht und lehnte sich nach vor. "Paris und England haben schon lange ein Auge auf euch geworfen, ihr liegt zu günstig und werft zuviel verwertbare Ressourcen verschiedenster Art ab, als dass man dies ignorieren könnte. Mach dir keine falschen Hoffnungen: In erster Linie geht es natürlich um Geld aber Geld ist wie bereits zuvor erwähnt nur ein Werkzeug. Was Brügge braucht, ist der Schutz und die Souveränität eines großen Reiches bzw. das politische Bollwerk dazu, etwas das eure Feinde wieder etwas auf Abstand gehen lässt." Sachte ergriff er ihre Hand. "Draga wird kommen, so oder so. Ihr Problem und das ihrer Befürworter im Osten wird nur sein, das sie Krieg mit den Mitteln des Voivodats führt, der aussichtslos ist, da wenn sie geschwächt ist und auch Brügge, nur die zwei anderen Hunde sich um den Knochen zanken werden, viel wird bei diesem Blutbad nicht übrig bleiben. Jeder wird die instabile Lage zu nutzen wissen." Emilian öffnete kurz den Mund, wollte schon ansetzen, überlegte es sich dann aber, schlussendlich seufzte er und fuhr nach kurzem Überlegen fort. "Brügge kann den Krieg im Osten zum Sieg verhelfen und wir könnten der Stadt viel Leid und schwere Zeiten ersparen wenn wir Draga zuvor kommen. Alida, ich komme mit dir nach Brügge und dort lässt du verlautbaren, das Brügge nun zum Herrschaftsgebiet des Ostens gehört mit allen Rechten und Pflichten. Wir beide erheben uns als Clansbruder- und schwester als die neuen Herren der Stadt. Es gäbe kein Blutvergießen, keine Schlachten und keine Trutzburgen die Nevedov vielleicht errichten möchte. Keine Voidzt, Szlachta und missgestalteten Bestien, kein Hunger und keine Angst, für niemanden. Gleichzeitig würden die restlichen Domänen um Brügge auf Abstand gehen, denn des Drachen Wappen prangt nun an den Toren des Ratsaales. Zusätzlich hättest du auf ewig Ruhe vorm Osten, nein.. mehr noch, du würdest geschätzt und geachtet werden als diejenige, welche die Interessen des Clans im Westen vertritt, ihm sogar vielleicht zum Sieg im Omenkrieg verhilft. Die Möglichkeiten wären, schier unbegrenzt."
Alida lächelte und griff nach seiner Hand. „Sind hundert Jahre wirklich eine so lange Zeit, Emilian? Erinnere dich daran, wer ich bin oder vielleicht auch was ich bin. Ich will, dass du mit mir nach Brügge kommst, dass du siehst, was sich in all der Zeit zum Guten gewandt hat und was vielleicht auch zum Schlechten und verbessert gehört. Du verfügst über die Fähigkeiten, die wir in Brügge gebrauchen können. Du hast dir eine unglaubliche Kraft angeeignet, die du zu deinem Nutzen einsetzen wirst, da bin ich mir sicher. Ich will, dass du die anderen Kainiten der Stadt kennen lernst, die jeder auf seine Art mitarbeiten um der Stadt zu Wohlstand verhelfen, denn wie ich bereits gesagt habe: Brügge hat keinen Herrscher und braucht keinen Herrscher. Darauf bin ich stolz. Nie wieder werde ich, sofern es in meiner Macht steht, zulassen, dass Willkürherrscher wie in Windau ihren Willen ausüben und dabei ohne Rücksicht auf Verluste alles zerstören statt aufzubauen. Draga, wird vernichtet werden und ich werde dabei, wenn ich kann meine Fäden an den richtigen Stellen ziehen. Also, Emilian… du bist intelligent, warst es immer, hast eine gute Kombinationsgabe und bist ein Meister im Schachspiel: Du kennst mich und setzt deine Züge mit Phantasie und Präzession. Du weißt, dass ich anderes möchte und es auf andere Weise bekomme. Und auf der anderen Seite, mein Meister des Schachs: Lass uns deinen Plan durchdenken. Wie wahrscheinlich ist es, dass wenn Brügge offiziell von zwei Tsimisken übernommen wird, der Rat der Stadt entmachtet wird und um es mal in einfachen Worten auszudrücken: auf den Rest der umliegenden Gebiete und kainititischen Einflussgebiete gespuckt wird, die Stadt bleibt, wie sie war? Wir haben Verteidigungsbündnisse, mit den Stadträten in Gent und Antwerpen, die uns Sicherheit gewähren. Innerhalb von wenigen Wochen wäre die Stadt von allen Heeren der umliegenden Städte umzingelt. (Ich selbst würde Truppen nach Gent oder Antwerpen entsenden lassen, wenn der dortige Stadtrat gestürzt würde). Wir halten uns derzeit durch unsere Verbindungen an die Höfe der Liebe und, lass es uns einfach mal so ausdrucken „persönliche“ Beziehungen gewisser Kainiten der Stadt zur Regentin Salianna ganz gut mit Frankreich. Des Weiteren benötigen wir die Kainiten der Stadt: niemand weiß so gut über die jeweiligen Bereiche wie Sicherheit, Gesundheit, Verteidigung, Diebesgilde und all dies Bescheid wie meine Verbündeten. Alles würde fallen und innerhalb von spätestens zwei Monaten wäre Brügge ein unregierbarer Moloch. Deine Heimat im Osten wäre weder gewillt noch bereit Unsummen an finanziellen und materiellen Ressourcen zur Verfügung zu stellen um zur Unterstützung ihrer Stadt auszuhelfen. Ich verstehe, dass der Plan in deinen Augen im ersten Moment gut erscheinen mag. Aber bei genauer Betrachtung wirst du mit Sicherheit Zugeständnisse machen und mir Recht geben, dass er so nicht durchführbar ist. Komm mit mir nach Brügge, lern die Stadt wieder kennen und hilf mir einen Weg zu finden, wie wir sie wirklich ausbauen und schützen können.“
Sie griff nach seiner Hand und sah ihn eindringlich an. „Du bist derjenige, den ich dafür gern an meiner Seite wüsste.“
Sein Gesicht wurde wieder steinern, der schönen aber ausdruckslosen Maske gleich, ein Ebenbild einer kunstvoll gestalteten Statue oder eines vortrefflich gemahlenen Bildes, als er seine Hand der ihren entzog und langsam den Kopf schüttelte. Die Enttäuschung über ihre Sicht der Dinge war ihm offenbar regelrecht ins Gesicht geschrieben und sein Blick nahm beinahe etwas Flehendes an. "Du hast nur eines vergessen Alida: Es wird immer einen Herrscher geben, magst du ihn König oder Sultan, Voivoden oder Grafen nennen, irgendjemand lenkt immer die wichtigen Geschicke einer Stadt und in diesem Fall, ist es euer Rat der die Richtung vorgibt. Du kannst dir einreden, dass du nur für die Menschen arbeitest, dass du niemals die völlige Kontrolle hast, das gestehe ich dir zu - dennoch 'führst' du Brügge, wenn auch auf deine eher subtile, indirekte Art. Das muss dir klar sein. Ihr alle tut das, jeder einzelne von euch. Ich frage mich nur wie lange mag es dauern bis es einem von euch nicht mehr genug ist, seine eigenen Ideen und Visionen von der Zukunft der Domäne, zugunsten aller zurückzustellen?" Er nahm beide ihrer Hände in die seinen und sah sie eindringlich an. "Mein Plan ist perfekt, glaub mir. Viele Jahre mussten vergehen ehe die Gegebenheiten so sind, wie sie augenblicklich sind. Ihr könnt einen langen blutigen Krieg ausfechten, der euch am Ende zerreißen wird denn ob du es wahrhaben willst oder nicht, Salianna ist nicht Frankreich. Ihr habt so viele Neider, so viele alte Feinde und nur wenige Verbündete. Zugegeben, das Bündnis könnte sich noch als Problem erweisen aber dafür bist du ja da. Du hast das Bündnis unter anderem auch ausgehandelt, man wird dir vertrauen und ich möchte dir dringlich widersprechen: Nur weil der Drache auf Brügges Zinnen weht, heißt das noch lange nicht, dass du an deiner Art zu Regieren etwas ändern musst. Du kannst in völliger Sicherheit so weitermachen wie bisher und musst dich um den Osten nicht mehr kümmern. Gewiss, einige Zahlungen werden erwartet werden aber die bringt man mit Leichtigkeit auf. Sieh es als Preis um Blutvergießen zu vermeiden und dir wenn du so willst, ewigen Frieden mit dem Osten zu erkaufen." Emilian seufzte. "Deine Freunde können doch auch weiterhin in der Stadt bleiben, wir besetzen die Ämter entsprechend der Fähigkeiten und alles geht seinen gewohnten Gang. Du hättest Draga aus dem Weg, sie wäre geächtet. Es gäbe keinen Krieg und deine Feinde würden auf Distanz gehen, weil sie den Drachen fürchten würden. Der Handel würde weitergehen und...." Er stockte kurz und schüttelte den Kopf. "Alida, ich würde dich gerne nach Brügge begleiten und mir alles ansehen was du in all der Zeit geschaffen hast, ich würde mein Unleben mit dir verbringen um beinahe jeden Preis, denn ich liebe dich aber du weißt, dass mein Schachzug gut ist. Er ist geplant, durchdacht und fußt auf begründeten Tatsachen und Informationen, die akkurat sind.... lass es uns tun Alida. Wenn wir Brügge nominell an den Osten geben und die Fahnen hissen, die Führung übernehmen können wir dort sicher leben. Man wird es nicht wagen es sich so tief im Westen mit dem Schwarzen Kreuz oder anderen zu verderben und man wird auch nicht nachfragen, wie wir unsere Stadt führen denn wir haben den Omenkrieg gewonnen - für unseren Clan! Erkennst du nicht was sich dir hier bietet?"
Alida schüttelte nur den Kopf, lächelte, aber zugleich blickte sie ihn voll Traurigkeit an. „Weißt du noch, was ich gesagt, habe, damals vor dem Ende. Ich bin bereit zu sterben. So wie jeder Mensch eines Tages sterben muss. Und wenn mein Tag kommt dann wird es soweit sein. Das Spiel, das du spielst ist nicht das meinige. Du hast Regeln aus dem Osten übernommen, die ich nicht kenne und auch nicht kennen möchte. Ich spiele nach anderen Regeln. Das ist traurig, aber scheinbar unser Schicksal. Ich will die Herrschaft über Brügge nicht. Auch nicht die Verantwortung. Ich könnte meine Heimat nicht halten und das, was ich aufbauen wollte würde zerbrechen. Ich tue das, was ich gut kann: investiere in Handel, kümmere mich um meine Familie, die Menschen, die mir wichtig sind, ich baue auf meine Verbündeten und kämpfe zur Not mit einem schartigen Küchenmesser an ihrer Seite, wenn sie mich brauchen und bleibe dort stehen bis zum Ende wenn es sein muss. Ich stehe zu dem Wort, das ich anderen gebe. Und ich wäre für dich dagewesen, wenn du mich gelassen hättest. Ein Bündnis mit dem weit entfernten Osten ist keine Option für meine Verbündeten. Ich brauche keine hundert Jahre um sie soweit zu kennen. Und damit auch keine Option für Brügge und damit nicht für mich. Also: Ich kämpfe bis zum Ende. Und wenn das im Kampf gegen Draga oder irgendeine andere Macht, die Brügge bedroht ist, dann soll es so sein. Denn wenigstens eines ist sicher: Es gibt Dinge, Menschen, Familie und Freunde, die durch mich so geworden sind wie sie sind. Und damit werde ich immer etwas in Brügge und der Welt hinterlassen auch wenn ich nicht mehr da bin. Emilian, ich habe dich immer geliebt, das ist dir genauso bewusst wie mir, und vielleicht werden wir uns eines Tages in einer anderen Zeit wenn sich die Machtverhältnisse wieder verschoben haben, erneut sehen. Vielleicht haben die Tsimiske eines Tages die Herrschaft über ganz Europa in den Händen und ich überreiche dir dann für sie die Stadtschlüssel meiner Heimat sofern ich sie dann noch in meinen toten Händen halte. Oder der Osten mag gefallen sein und Brügge mag dir in diesen Zeiten eine sichere Zuflucht sein. Meine Türen werden immer für dich offen stehen.“ Sie erhob sich, trat einen Schritt auf ihn zu und drückte ihm einen kurzen Kuss auf die Locken die so wenig an den Jungen erinnerten, den sie vor langer Zeit geliebt hatte. Sie fuhr ihm mit der Hand über die kalte Wange. „Verzeih mir.“
Emilian nickte nur und senkte betrübt den Kopf. „Wir hatten niemals die für unsere Art so typische Beziehung eines Erzeugers zu seinem Kind. Für gewöhnlich lehrt der Ältere den Jüngeren aber in unserem Fall, standen wir beide am Anfang. An einem Anfang, der sich über den Lauf der Zeit zu etwas anderem entwickelt hat, zu etwas Größerem – Liebe. Und dies ist keine Liebe, wie sie die Verzweifelten erleben, die sich gemeinsam aneinander festklammern sondern die reine, unverfälschte die man hegt und pflegt und hütet wie einen Schatz.“ Ihr Erzeuger, schob ihr mit einer langsamen Bewegung, das Pergament welches die Aufzeichnungen der zur Verfügung stehenden Handelswaren beinhaltete, auf ihre Seite des Tisches hin. „Zwar werdet ihr bald gegen einen Unhold kämpfen aber der wahre Kampf des Clans wird anderswo geführt, Dragas Unternehmungen und Bemühungen werden hauptsächlich belächelt, bestenfalls von einigen Individuen halbherzig in Erwägung gezogen aber es reicht nicht um daraus ein internes Anliegen zu machen; mit anderen Worten: Ein Tzimisce kann tun was er will und ich kann trotz allem mit dir handeln, wenn du das möchtest.“ Ihr Erzeuger sah sie streng und ernst an. „Dennoch kann ich Brügge selbst unter diesen Umständen nicht besuchen, ich hoffe du verstehst das. Es hat nichts damit zu tun, das ich nicht gerne wollte.. glaub mir, nichts würde ich mir mehr wünschen aber es würde bedeuten, dass mir dennoch gewisse Leute Fragen stellen würden, deren Antwort ich schuldig bleiben müsste. Ich bin unserem Land und dem Clan zur Treue verpflichtet auch wenn ich gewiss nicht alles gutheiße oder befürworte. Aber so muss ich nicht lügen, wenn man mich fragt.“ Sein Seufzen war schwer und getragen von Schwermut. „Ich bin nicht dein Feind und war es nie, möchte es nie sein deshalb werde ich mich aus diesem Konflikt, von nun an so gut es geht heraushalten. Ich werde selbstredend nichts gegen dich oder Brügge unternehmen aber ich kann dir bei dieser Sache auch nicht wirklich helfen.“

Er zögerte kurz und fasste sich schlussendlich doch ein Herz bevor er fortfuhr. „Für einen kurzen Moment, hatte ich darüber nachgedacht den Männern zu befehlen deinen Hauptmann zu erschlagen und dich festzunehmen, sodass ich dich immer bei mir hätte, dich nie mehr gehen lassen müsste.“ Das Gesicht in den Händen vergraben, schüttelte er sich kurz. „Ein anderes Mal, dachte ich daran dich zu erpressen. Die Bürger von Leuven zu bedrohen oder gar Brügge selbst Steine in den Weg zu legen – alles nur weil ich dich von Herzen liebe und nicht zusehen kann wie du dich wegen einer solch höchst gefährlichen politischen Situation um Kopf und Kragen taktierst.“ Langsam erhob er sein Gesicht wieder und wirkte gefasst, so als ob eine innere Eingebung, ihm neuen Mut zugesprochen hätte. „Aber das ist falsch, schändlich und ohne Ehre. Es würde mehr zerstören als es unser Band festigen würde, du warst schon immer ein Sturkopf.“ Sein Lächeln wirkte für den Moment so ehrlich und freudig, wie am ersten Tag als er zusammen mit Evelyn das Schachspiel erprobt hatte. „Solltet ihr an Draga scheitern, wird es ein Voivodat geben, schlimmer als das was wir jemals hätten gemeinsam auf die Beine stellen können. Sollte ihr siegreich sein und das bleibt höchst zweifelhaft, werdet ihr geschwächt die Grenzen gegen England und Frankreich verteidigen müssen….“ Sein Blick war fest aber durchzogen von einer gewissen Traurigkeit ob der Einsicht, dass er sie nicht würde umstimmen können.
Als sie näher trat, senkte er beinahe verlegen das Haupt, spürte ihre Lippen an seinen Locken, vernahm die geflüsterten Worte und drückte sie ohne Vorwarnung fest an sich, wie ein Ertrinkender, der sich an den letzen Baumstamm klammert, wenn die Flut alles andere bereits mit sich gerissen hat. „Es gibt nichts zu verzeihen, Alida. Ich hoffe nur, dass ich mir unter den gegebenen Umständen selbst verzeihen kann, sollte Brügge fallen. Jemand hat mir mal gesagt, die Zeit würde uns wie ein Raubtier ein Leben lang verfolgen. Ich möchte viel lieber glauben, dass die Zeit unser Gefährte ist, der uns auf unserer Reise begleitet und uns daran erinnert, jeden Moment zu genießen, denn er wird nicht wiederkommen. Was wir hinterlassen ist nicht so wichtig wie die Art, wie wir gelebt haben. Denn letztlich sind selbst wir vergänglich.“
Alida zitterte kurz bei seinem seltsamen Geständnis. Ja, Emilian war zu solchen Dingen fähig. So wie sie selbst. „Und ich habe daran gedacht dir einen Trupp bis auf die Zähne bewaffneter Räuber hinterher zu schicken, die sich darauf spezialisiert haben, bei hellem Tageslicht Handelskarawanen auszurauben.“ Sie grinste. „Bevor ich wusste, wer du bist. So gut informierte Kainiten sind immer eine Gefahr.“ Sie hatte noch immer ihre Nase in seinem Haar vergraben, roch den fremden Geruch. „An unserem Hauptmann hätten sich deine Leute die Zähne ausgebissen. Er hätte viele mitgenommen, denn er kämpft wie ein Wolf.“ Sie lächelte wurde dann jedoch wieder ernst.
„Emilian?“ Ihr Gesicht war wenige Zentimeter von seinem entfernt. „Ich möchte, dass du von mir trinkst…“ Sie wich etwas unsicher seinem Blick aus. Es war eine Geste, die sie ihm immer verwehrt hatte, etwas, das er immer gewollt hatte. Seine Meinung über das Blutsband war ihr bewusst, aber sie würden sich wahrscheinlich Jahre nicht sehen und weder sie noch er würde ein solches Ritual über mehrere Monate binden können wenn sie es nicht zuließen. Sie sah ihm in die seltsamen hellen Augen so dicht vor ihren und dachte an den seltsamen Kuss den sie erhalten hatte vor gelebten Ewigkeiten im Schnee vor den Toren von Brügge.
Emilian lächelte besonnen und nickte knapp. "Ich habe schon von eurem Gangrel gehört, er ist schnell mit einem boshaften Wort und mindestens genauso schnell mit dem Schwert bei der Hand. Ich denke wir sind beide froh, dass wir uns nicht gegenseitig vernichten müssen - keine Karawanenräuber und keine Widergänger." Erneut lächelte er ihr aufmunternd zu. "Deine Geheimnisse, so man sie denn also solche bezeichnen kann, sind bei mir sicher." Zärtlich drückte er Alida näher an sich und unterdrückte ein leichtes Seufzen; gerade so als ob er sie gar nicht mehr aus seiner Umarmung entlassen wollte. "Damals waren wir viel zu jung und unwissend, Blutsbänder sind etwas das man unter keinen Umständen auf die leichte Schulter nehmen sollte doch in unserem Fall..." Seine Finger glitten ihre Wangen hinab, rutschten über ihr Kinn und hoben es leicht an, zwangen ihren Blick in seine hellen Augen, in denen noch immer das eigentümliche, einzigartige Leuchten lag. "In unserem Fall ist es etwas gänzlich anderes." Kaum hatte er die Worte gesprochen, legte er den Kopf leicht schief und biss ihr vorsichtig in den Hals; trank ihre Vitae in kurzen, abgesetzten Zügen. Nur mit Mühe konnte er sich von dem einnehmenden Geschmack losreißen und küsste sie auf die Stirn. "Das mag die Zeit erträglicher machen, bis wir uns dereinst wiedersehen, meine Alida."
Sie schüttelte leicht den Kopf, drehte ihm die Lippen zu und berührte seinen Mund, trank dann zaghaft. Diese Geste hatte sie ihm immer verwehrt. Sie schmeckte ihr eigenes Blut vermischt mit seinem und spürte die Intensität, die um so vieles erfüllender war als es die Vitae eines Sterblichen je sein konnte. Dann verschloss sie seine Wunde mit den Lippen und erhob sich.
„Ich sollte gehen. Sonst fragen sich deine Leute vielleicht noch, was du so lange in deinen Gemächern mit einer Frau aus Flandern treibst.“ Sie grinste zweideutig. „Ich möchte, dass du etwas weißt: Ich schwöre dir, sofern es in meiner Macht steht, werde ich niemals in irgendeiner Weise etwas unternehmen, dass dir schaden könnte.“ Sie senkte in einer kurzen nickenden Geste den Kopf und griff nach seiner Hand, spürte die eisigen Finger.
„Ich werde demnächst für ein oder zwei Jahrzehnte Brügge verlassen. Sobald ich es verantworten kann.“ Ihr Blick verdüsterte sich beim Gedanken an Draga und was vielleicht kommen mochte. „Ich dachte daran ein neues Handelskontor zu errichten. Danzig soll recht schön sein… Mit deiner großen Erfahrung: Würdest du mir vielleicht eine Stadt nennen, bei der sich die Mühe in eine solche Investition rechnen könnte. Du hast bestimmt auch einige Kontore aufgebaut, planst weitere und bist sicher, so wie immer…“ sie grinste. „…bestens informiert.“ Sie suchte den Blick der hellen Augen und er kannte sie gut genug um zu wissen, dass sie eigentlich eine andere Frage stellte.
Ihr Kuss war eben ein solcher, die warme Berührung zweier Lippenpaare die so mehr ausdrückte als lediglich dunkles Verlangen oder Hunger. Es war ein Kreis, der sich nach allzu langer Zeit endlich geschlossen hatte, ein Rätsel das gelüftet schien und eine Antwort deren zugehörige Frage, beinahe schon in Vergessenheit geraten war. Emilian genoss ihren Kuss, der gleichzeitig ein saugender, scharfer Biss war, raubtierähnlich und animalisch. Als sie sich von ihm abwand, strich er ihr mit der flachen Hand über die Wange, drehte leicht den Kopf und lächelte sie sichtlich glücklich an. "Girland ist einer meiner ältesten Wegbegleiter und im Übrigen das Oberhaupt meiner Voronzci, meiner Widergängerfamilie, die mittlerweile schon beachtliche drei Generationen überdauert hat. Sie würden es nicht wagen auch nur ein falsches Wort an mich zu richten; was ihr Herr zu tun geneigt ist, ist die Angelegenheit des Herrn allein. Dennoch hast du vermutlich recht: Wir wissen nicht wer sonst noch seine Augen und Ohren in Leuven hat. Es wäre unserer beider Vorhaben sehr abträglich, wenn wir von den falschen Leuten miteinander gesehen werden." Vorsichtig, hielt er ihre kalte Hand in seiner und drückte sie an sich, wirkte für einen Moment nachdenklich und ein Stück weit bedrückt. "Wenn ich mir den Ratschlag erlauben darf: Kläre die Sache mit dem östlichen Voivodat bevor du irgendwohin aufbrichst - alles was du tust und eine mögliche Lücke hinterlässt, dahin wird sie schlagen, Alida." Für einige Sekunden hörte er ihr vergnügt und immer breiter lächelnd zu, bis seine blendend weißen Zähne zum Vorschein kamen - er hatte verstanden. "Ich denke Herr Belinkov plant in kürze einen Kontor in Prag zu errichten, in Minsk hat er nämlich schon einen." Eine Antwort, die ihr wohl genügen würde. Noch einmal drückte er sie fest an sich, hielt sie fest umklammert und wiegte sie leicht, bevor er sie von sich wegdrückte, ihr zartes Gesicht noch einmal in Augenschein nahm, wie um es sich einzuprägen und nie wieder zu vergessen, bevor er abermals kurz die Glocke auf seinem Tisch ertönen ließ. Girland öffnete dienstbeflissen die Tür und verbeugte sich. "Mein Herr?" Belinkov alias Emilian, reichte Alida einige Pergamente bezüglich der verschiedenen Handelswaren und nickte ihr zu. "Wenn ich aus Genua zurück bin, muss ich wohl notgedrungen wieder hier vorbei. Ich entsende wenn es soweit ist, einen Boten zu dir, bis dahin kannst du dir in Ruhe meine ausgearbeiteten Listen durchsehen wenn du möchtest. Nimm dir ruhig Zeit dafür." Dann wandte er sich an Girland. "Frau van der Burse darf sich, wenn sie es wünscht noch die restlichen Waren im Speicher ansehen, danach werdet ihr und Pjotr, sie und ihren Begleiter sicher zurück nach Leuven eskortieren." Girland verneigte sich knapp und hielt Alida die Tür auf, während Emilian sich ein letztes Mal in ihre Richtung drehte; ihr mit den Fingern eine Haarsträhne aus dem Gesicht strich. "Geh nun Alida, du hast ebenfalls noch einen langen Weg vor dir und wenn wir nicht schlafen, tun es unsere Feinde gewiss auch nicht. Ich kann dir gar nicht sagen, wie sehr es mich mit Freude erfüllte, dich heute hier gesehen zu haben - nach all der Zeit. Danke, das du dich dazu entschlossen hast zu kommen, es bedeutet mir viel."
Sie drückte noch einmal seine Hand. „Danke… Ich…“ Sie bemerkte Girland im Winkel ihres Blickfeldes und schwieg. Er wusste, was sie sagen wollte. Sie musste sich zusammenreißen um sich umzuwenden, und mit dem Ghul durch den Flur in das Eingangszimmer zu treten. Sie wollte nicht fort. Zu vieles war nicht ausgesprochen und würde es für lange Zeit auch nicht werden. Sie betrachtete die Männer, die sich in der Stube aufhielten. Eine Wiedergänger Familie? Nicht von seinem Blut, aber durch Blut für immer an Emilian gebunden. Der Gedanke erschien ihr ein wenig abstrus. War das mehr wert? Weniger als ein normales Familienband? An ihre eigene Familie würde sie immer durch soviel mehr verbunden sein als das kainitische Blut und dafür war sie dankbar. So wie sie an Emilian immer enger verbunden sein würde als durch ein Blutband möglich war. Sie erblickte die Eingangstür und sie verspürte Erleichterung. Dieser seltsame Traum würde bald zu Ende sein. Sie sah sich nach Lucien um, sah Richtung Feuer, zu den Tischen an denen einige Männer Karten spielten und sich in einer slawischen Sprache, derer sie nicht mächtig war, unterhielten.
Sie fand den Gangrel an eine Ecke des Raumes gelehnt wo er missmutig auf einem Stück Holz schnitzte, die Späne fielen unbeachtet auf den Boden. Ihn schien es nicht zu kümmern und von den anwesenden Arbeitern, die gerade ihr Mahl beendete hatten und den anderen Mitgliedern der Widergängerfamilie, nahm auch keiner Notiz von ihm. Es hatte den Anschein, als hätte man in stiller Übereinkunft beschlossen sich gegenseitig zu ignorieren. Als Alida sich ihm näherte, warf er das Stück Holz mit einer knappen Bewegung ins Feuer, verschränkte die Arme und warf einen finsteren Seitenblick hinter sie, wie als ob er sich absichern wollte das nicht gleich die Hölle ausbrechen würde - zumindest sah es so aus als ob er genau das erwarten würde. "Und?", fragte der Hauptmann knapp, die Wachleute und Arbeiter aus den Augenwinkeln immer noch beobachtend. "Wie war‘s bei Belinkov? Wer ist er und was will er von dir? Er ist Tzimisce oder?" Er verzog das Gesicht und atmete kurz tiefer ein, als er eigentlich beabsichtigt hatte. "Können wir gehn? Ich denke du wirst mir wohl unterwegs alles erzählen?"
Sie nickte Lucien kurz zu, drehte sich dann zu dem Ghul um. „Girland? Euer Herr wollte, dass man mir die Waren im Speicher zeigt. Könnt Ihr die Zeit noch erübrigen?“ Um der Höflichkeit genüge zu tun würde sie mit dem Ghul mitgehen und eingehend die Ware prüfen. In einigen Monaten, wenn Emilian tatsächlich durch Flandern reisen würde, wäre noch genug Zeit sich eingehender mit handeln, kaufen und verkaufen zu beschäftigen.“ Schließlich schwang sie sich aufs Pferd. Das Angebot sich nach Leuven zurück bringen zu lassen würde sie höflich ablehnen. Den Weg würden sie alleine finden und der Heimweg nach Brügge würde sowieso noch einige Tage andauern. Als sie aufbrachen warf Alida einen letzen Blick zurück zu den Fenstern des Hauses. Sie seufzte kaum hörbar. Dann wandte sie sich an den Gangrel, der neben ihr ritt. „Danke, Lucien, dass du mich den ganzen Weg hierher begleitet hast. Ich schulde dir was…“ Sie konzentrierte sich auf die dunkle Straße vor ihnen. Es war nicht schwer zu erkennen, dass etwas sie tief verstört hatte. Sie schüttelte schließlich wie um hartnäckige Gedanken zu vertreiben den Kopf. „Was möchtest du wissen? Ja, Belinkov ist Tzimiske, Händler. Er will Handelsbeziehungen mit dem Haus van de Burse.“
Girland wird ihr gerne den großen, trockenen Speicher zeigen, der nicht nur der Aufbewahrung der Handelswaren sondern auch gleichzeitig als Lagerstätte der Arbeiter diente. So war gewährleistet, dass im Falle eines Überfalls auch sofort jemand alarmiert wurde. Der Ghul zeigt ihr alles und auch wenn sie nur ein paar flüchtige Blicke über die gelagerten Waren schweifen lässt, kann sie sich schon eine geistige Notiz zu einigen Dingen machen; das eine oder andere wäre sicher einen zweiten Blick wert. Um Girland davon zu überzeugen, sie nicht nach Leuven zu begleiten bedurfte es einiger Überzeugungsarbeit, da dieser sich partout nicht gegen den Willen seines Herren stellen wollte. Erst als Pjotr mit dem Einverständnis von Emilian selbst, wieder aus dem Gutshof hervortritt, lässt Girland sie gewähren. Offenbar, war er seine Herren zu unabdingbarer Treue verpflichtet und führte dessen Anweisungen genauestens aus. Hinter ihr, verschwand in der Schwärze der Nacht, der alte, einfache Gutshof in dem Emilian mit seinen Widergängern, Waren und Arbeitern saß. Ihr Emilian, den sie damals hatte ziehen lassen müssen und den sie erneut verlassen musste. Hoffentlich würde das Wiedersehen diesmal nicht Jahrhunderte auf sich warten lassen. Ihr Begleiter, der stoisch dreinblickende aber dennoch äußerst neugierig wirkende Gangrel hob auf ihre Worte hin nur stumpf die Schultern. "Keine große Sache. Ehrlich gesagt hatte ich damit gerechnet das sie uns aufschlitzen und anschließend verbrennen aber scheinbar können selbst wir nicht dauernd Pech haben." Lucien grinste breit und schüttelte dann knapp den Kopf. "Er ist Tzimisce Händler und will mit dir handeln? Und deshalb ein fetter, schmalziger Deutscher der dir einen Brief von einem 'lieben Freund' überreicht, der sich nicht mal namentlich vorstellt? Wozu diese ganze Geheimniskrämerei? Ist er mit dir verwandt oder so?"
Alida sah ihn irritiert an. „Ich dachte auch, dass sie uns abschlachten und verbrennen. Und…“ Sie schüttelte den Kopf. Sie hätte ihm gern mehr erzählt, aber alles um sie herum schien ihr so irreal und unbedeutend. War es gut, wenn er alles wusste? Würde das ihn in Gefahr bringen? Sie biss sich auf die Lippen. „Belinkov ist Händler und will Handelsbeziehungen zu uns. Sein Wissen ist… fast schon erschreckend. Ich wusste gar nicht, dass sich so viele Gerüchte über uns und Brügge so genau an die Tatsachen halten können… Er hat mich zum Einen vor Draga warnen wollen und mir die Bedeutung unserer ehemaligen Mitstreiterin für die Tsimiske im Osten erläutert. Zum Anderen wollte er wohl im Auftrag seiner Obrigkeit Brügge das Angebot machen gegen gelegentliche Tributzahlungen unter die schützende Hand der östlichen Domänen zu schlüpfen. Brügge als Voivodat der Tsimiske quasi.“ Sie sah ihn fragend an. „Ich habe im Namen unseres Rats abgelehnt. Ich hoffe, das war in deinem Sinne. Ansonsten können wir gerne noch einmal zurück reiten und du kannst Belinkov mitteilen, dass wir sein Angebot noch mal überdenken.“ Sie lachte halbherzig.
Lucien hörte sich ihre Ausführungen geduldig und interessiert an, sein Gesichtsausdruck blieb mäßig erfreut, als sie beide durch die immer noch regennasse, dunkle Nacht gen Leuven ritten. "Brügge ist reich, Alida. Wir wollen das zwar nicht immer wahrhaben oder aber das Geld hat für uns einen anderen Stellenwert, aber für die Sterblichen ist und bleibt sie eine der wichtigsten Städte in Europa. Ich hab mich schon lange gefragt wie lange wir so blauäugig dahinwirtschaften können ohne dass uns jemand den Erfolg missgönnt. Scheinbar fangen auch andere Domänen an sich näher für Brügge zu interessieren - mehr als gut für uns ist." Der Hauptmann lenkte Ajax, durch den schlammigen Morast, vorbei an knackenden Bäumen, deren Äste sich unter der Last des Sturmes wanden. "Wir werden kein Voivodat, weder Dragas noch Belinkovs oder das von irgendjemand anderen. Das hier war scheinbar nur der freundliche Versuch mit einer Clanschwester zu verhandeln, bevor Brügge im eigenen Blut ersäuft. Sie wollen dich erpressen...." Der Gangrel grinste. "Können sie aber vergessen: Die Drachen haben gerade andere Probleme und Draga ist meilenweit entfernt von zuhause. Was immer sie vorhat, wir beenden es bevor es noch anfangen kann oder irgendwelche Russen, wie dieser Belinkov schon scheinheilige Angebote unterbreiten. Wenn Dragas Kopf auf dem Belfried aufgespießt ist, haben alle, selbst die im Osten eine eindeutige Antwort auf all ihre höflichen Fragen." Noch im Sattel wandte er sich mit ernstem Gesichtsausdruck an Alida. "Ich denke das beantwortet deine Frage, ob ich nochmal zurück reiten will."
Sie war ein wenig überrascht über seine heftige Reaktion, verstand sie aber nur zu gut. „Dann ist ja alles klar, oder?“ Sie versuchte ein Lächeln. „Wir wirtschaften Brügge einfach wieder runter und haben unsere Ruhe und unseren Frieden. Klingt gut.“
Lucien schüttelte nur den Kopf. "Nein, wir machen das was wir immer machen: Wir verteidigen das was unser ist und was wir aufgebaut haben. Brügge ist unsere Domäne, unser Revier, unsere Zuflucht und unsere Schöpfung. Böse Zungen würden behaupten wir sind die Blutegel die sich am Fortschritt der Menschen der Stadt als auch an ihrem Blut laben aber wenigstens du und Liliana gebt der Stadt auch etwas zurück." Für einen Moment überlegte der Hauptmann und nickte schließlich. "Und streng genommen geb ich der Stadt auch etwas zurück, welcher Sterbliche schlägt sich sonst die Nächte putzmunter um die Ohren und sieht eine Maus bei stockfinsterer Nacht auf 50 Meter Entfernung? Viel sicherer als mit mir wird die Wache nicht." Brummelnd zog er fester am Zügel und lenkte sein Reittier durch das graue Steintor von Leuven, dessen große aus Stein gehauene Löwenschädel wie groteske Wasserspeier in der Finsternis der Nacht wirkten. Lang hatte ihr Ritt nicht gedauert und sie waren wieder sicher in der Stadt angekommen; ohne auch nur eines Blickes von seiten der Wachaufstellung gewürdigt worden zu sein. "Versteh mich nicht falsch: Brügge ist für mich ersetzbar aber warum sollte ich es hergeben? Es gehört mir und ich hab mich da drin verbissen wie in einem Knochen, wenn den jemand haben will wird er mich ziemlich lange immer und immer wieder schlagen müssen, bevor ich locker lasse. Bevor nicht die ganze Stadt brennt, geb ich meinen Knochen nicht her."
Sie lachte. „Ja, das hab ich Belinkov auch gesagt: Wenn er Leute wie dich aus dem Weg zu räumen gedenken sollte, dann kostet ihn das einiges. Ein Schattenwolf kämpft ziemlich tapfer.“ Sie klopfte ihm aufmunternd auf die Schulter. „Danke.“
"Dank mir erst wenn Draga besiegt, deine russischen Geschäftspartner sich weit über die Grenzen von Deutschlang hinaus zurückgezogen haben und England als auch Frankreich schon beim Gedanken daran, etwas gegen Brügge zu unternehmen vor Angst mit den Zähnen klappern." Der Gangrel grinste. "Dann kannst du mir danken, für den Moment sind deine Belange ein Stück weit meine Belange. Wir werden als Rat gemeinsam stehen oder fallen. Schmeckt mir nicht aber so ist es. Lass uns zusehen, das sie wenigstens anständig bluten sollten wir verlieren." Mit einem raschen Druck in die Flanken von Ajax, sprengte Lucien durch die schlammigen Straßen von Leuven, in denen zu dieser Zeit kaum noch jemand unterwegs war. Noch hatten er und Alida einen langen Heimritt vor sich - aber verglichen mit den Aufgaben die noch auf sie warten sollten, schien diese Tatsache nicht weiter beachtenswert zu sein. Brügge standen gewiss auf die eine oder andere Art, aufregende Zeiten bevor.

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Der Weg zum Ziel beginnt an dem Tag, an dem du die hundertprozentige Verantwortung für dein Tun übernimms.
Dante Alighieri


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