Di 27. Jan 2015, 17:33
Es war eine kühle und windige Nacht in der, mittlerweile zur großen Handels- und Wirtschaftsmetropole erblühten Stadt, Brügge. Die Vororte, die damals nichts weiter als Lehmhütten und hölzerne Baracken, mit strohgedeckten Dächern und schmutzigen Fassaden, waren soliden Steinhäusern mit Fensterläden und Schindelverkleidung gewichen. Der wirtschaftliche und damit nicht zuletzt politische Aufschwung, hatte nicht zuletzt auch der sterblichen Bevölkerung gut getan und selbst der durchschnittliche Bauer und Bürger, konnte es sich mit ein wenig Fleiß leisten, in relativer Behaglichkeit und Wärme zu wohnen. Was einst ein dreckiges Bildnis von mittelalterlicher Armut gewesen war, wurde im Lauf der Jahrzehnte zu einer gepflasterten Eingangspassage in eine Stadt, die niemals schlief und in der sogar spät nachts noch geschäftiges Treiben herrschte. Wohlstand lockte Neuankömmlinge und Glücksritter, ganze Familienbanden und selbstredend auch alles mögliche Gesindel an – alle auf der Suche nach ihrem ganz persönlichem Glück und der Hoffnung auf ihren Anteil am prallen, gut gefüllten Geldbeutel der Stadt. Knokke-Heist und Blankenberge hatten sich zusammen mit Zerbrügge besonders hervorgetan und selbst Maldegem beherbergte mittlerweile eine große, fleißige Zollabfertigung für Waren aus dem fernen Osten und den Ländern des deutschen Reiches. Das Bürgertum hatte sich, ohne jegliche Böswilligkeit, erfolgreich in die Feudalherrschaft eingemischt und mittlerweile war Brügge weitum bekannt, als die Stadt in der Geld mehr Macht bedeutete als Titel und Adelsprivilegien. Selbst wenn man sich noch in der Zeit der Könige und Monarchen befand, die das gültige Recht verkündeten und der ansässige Adel stets empört die Nase rümpfte, gab doch der anhaltende Erfolg der Stadt recht. Handelskontore- und Karawanen, Lagerhallen und Schmieden, Pferdeställe und ein großer wöchentlicher Markt, mit den erlesensten und feinsten Waren, die man schon in einigen hundert Kilometern rund um die Stadt, nur mehr aus Büchern und vom Hörensagen her kannte, wurden hier feilgeboten, getauscht und veredelt, verzollt und weitertransportiert. Die größten und für lange Zeit einflussreichsten Handelshäuser- und Familien, die noch in nachfolgenden Geschichtsbüchern Erwähnung finden würden, waren ebenfalls dort sesshaft. Unter ihnen die Familie van der Burse, mit einer hübschen, blonden jungen Frau an ihrer Spitze, die für einige misstrauische Bürger, schon allzu lange Profit über Profit eingefahren und nicht zuletzt maßgeblich am Aufschwung der Stadt beteiligt war – Alida. Der Name war fest mit dem Hause van der Burse verbunden und auch wenn sie den Gilden und amtlichen Würdenträger nicht direkt befehlen konnte, reichte ihr Arm und Einfluss weit – weiter, als es manch einem vielleicht recht gewesen wäre.
Doch selbst jemand wie Alida die schon, ohne das je ein Sterblicher etwas darüber in Erfahrung gebracht hätte, einige Jahrhunderte des Kainfluches; des nächtlich bluttrinkenden Untodes überdauert hatte, blieb nicht vor der gelegentlich anfallenden Arbeit verschont, die einige andere wohl doch nur wieder ihren Untergebenen und Bediensteten übertrugen. Die Unholdin, die sich weigerte mit ihrem Bluterbe in Verbindung gebracht zu werden, stand in dieser Nacht am windigen Hafen von Brügge und inspizierte höchstpersönlich, das Frachtgut einer großen Karavelle auf deren Heck die Insignien ihres Hauses prangten. Das Schiff war erst spät aus Norwegen eingetroffen aber die Waren; edle Rohmetalle und Erze sowie Silber, Gold und kostbare Edelsteine, die man sich über geschickte Beziehungen erarbeitet hatte, waren jede noch so große Mühe, mehr als wert gewesen. Gerade in den Zeiten, in denen sich Antwerpen und Gent, politisch mit Brügge verbanden und das Ostbrügger Voivodat, sich Augenzeugenberichten nach, mit Waffen und Pferden versorgte, war es immer gut für ausreichend, heiß begehrtes Handelsmaterial zu sorgen – selbst wenn es sich dabei beinahe ausschließlich um Kriegswerkzeug handeln mochte. Gut wenn man die Preise immer ein klein wenig drücken; hier und da einen Gefallen einfordern konnte und der Gegner jenseits des Meerzugangs und noch vor der Zollstation sein Lager aufgeschlagen hatte.
Da es ob des harten, entbehrungsreichen und todbringenden Winters, massive Ernteausfälle und dutzende Todesfälle zu beklagen gab, galt dem Import von nahrhaften Lebensmitteln und dem Wiederaufbau der örtlichen Landwirtschaft, sowie der Ansiedlung neuer tatkräftiger Handwerker und Spezialisten aus aller Herren Länder, allerhöchste Priorität. Wollhandel mit Schottland, Tuche aus Frankreich und der Ruf der Stadt als Marktplatz der westlichen Zivilisation, verfehlten ihre Wirkung nicht und es war ein beinahe greifbares Aufatmen zu spüren, als die klirrende Kälte langsam abgeklungen war und man sich aus der sprichwörtlichen Asche neu erhoben hatte. Die letzten verbliebenen Hungerleider und Tunichtgute, waren in Scharen übereinander hergefallen und Betrug, Hehlerei und Bestechung waren gerade hier im Hafenviertel zur Tagesordnung geworden – in Zeiten der Not wurde selbst der standhafteste, redlichste Mann schwach, ein Grund mehr so wichtiges Frachtgut persönlich zu inspizieren.
Wenigstens hatten sich ein nicht allzu geringer Teil der Leute freiwillig zur Tag- und Nachtwache verpflichtet und für einen warmen Teller Suppe, etwas Brot und einem passablen Sold, sowie ein paar Krüge Bier und neuerdings auch Met, wurden alsbald zusätzliche Wachpatrouillen möglich. Die Balken des Schiffes knarzten und bogen sich unter der Last der schweren Ware und des auffrischenden Windes, der einige nicht ordnungsgemäß verstaute Taue, wie giftige Schlangen durch die Luft wirbelte. Der Vorarbeiter brüllte einige Kommandos, zu einigen jung aussehenden Schiffsarbeitern, denen die Müdigkeit und Strapazen der rauen See ins Gesicht geschrieben stand und wies sie an, das nächste Mal gefälligst besser aufzupassen. Rings um Alida herrschte ebenfalls einiges an nächtlicher Aktivität, die durch beträchtliches Fackel- und Laternenlicht erhellt wurde. Verladekräne mit Eisenkurbeln, die neueste Errungenschaft die nur durch einen italienischen Ingenieur namens Enrico Trappazoli ermöglicht worden war, hoben mühelos große Truhen, Kisten, Fässer und andere Waren aus dem Bauch des Schiffes, während emsige Arbeiter alleine oder wenn nötig gemeinsam, kleinere Säcke und Gegenstände nacheinander an der Hafenmauer aufstapelten. Nach einer Inspizierung und Begutachtung durch den Handelsvertreter des Hauses, in diesem Falle Alida selbst, wurden die Waren auf Handkarren und Kutschen verladen, um sie in die entsprechend gesicherten und bewachten Lagerhäuser zu bringen. Das Stimmenwirrwarr aus Befehlen, Schreien und dem ächzenden Stöhnen der Seemänner, vermischte sich mit dem Rauschen der Gischt, den Gerüchen von Bier und billigem Schnaps sowie heiterem Frauen- und Männerlachen. Wenigstens die Kneipen und Kaschemmen am Hafen hatten durchgehend geöffnet und waren stets voll – so voll wie ihre Kundschaft.
Frederik hatte sich nur allzu gern bereit erklärt Alida beim Buchführen und Überprüfen der Verladetätigkeiten zu begleiten denn in seinen Augen, konnte man so einen großen Berg an Waren kaum alleine Überblicken. Vier Augen sahen mehr als zwei und man würde schneller fertig werden, was ihm im Hinblick auf seine Nachtruhe, nur mehr als gelegen käme. Bewaffnet mit einem dicken, in Leder gebundenem Buch und einer Schreibfeder, machte er sich gerade daran die eine Hälfe der Bestelllisten, mit den Waren zu vergleichen und rieb sich etwas unkonzentriert und missmutig die Augen.
„Mmh… Selbst das Stroh hat bei dem Seegang nicht gereicht, um die Flaschen von norwegischem Met gegen Bruch zu sichern. Bestellt waren zwanzig Kisten zu je zehn Flaschen aber allein fünf Kisten haben den Transport nicht überstanden und in ein paar anderen ist auch die eine oder andere Flasche zerbrochen. Entweder das war die See oder unsachgemäßer Umgang.“ Er warf einen vielsagenden, grinsenden Blick zu Alida und hob lapidar die Schultern.
„Ach Cousinchen, es sind nicht mehr die gleichen, erfahrenen Seebären wie früher sondern Jungspunde die nicht wissen worauf es ankommt – die sind einfach nur froh Arbeit und Essen zu haben.“ Sein Seufzen klang ein wenig resignierend, die Bilder von grausamen Tod und bitterem Elend des brutalen Winters, waren ihm nur allzu gut im Gedächtnis geblieben.
„Wenigstens konnten wir ein paar günstige Elch- und Hirschfelle ergattern, samt dem Fleisch von dem nicht mal etwas verdorben scheint, das ist ja mal wenigstens etwas.“ Frederik führte die Feder geschickt und ohne abzusetzen, kreuzte an, strich durch, erweiterte und fügte Notizen hinzu. Die Ware die er fertig inspiziert hatte, verglich er mit den Lagerbeständen der einzelnen Hallen und wies dann die Transportleute dementsprechend an.
Für einen kurzen Moment zierte sein Gesicht ein erfreutes, strahlendes Lächeln, als hätte er eine Blume inmitten einer Aschelandschaft gefunden. Er bückte sich kurzerhand und griff nach einem, etwa unterarmlangen Gegenstand, den er Alida mit stolzem Gesichtsausdruck, vorsichtig überreichte. Offenbar handelte es sich um eine merkwürdige, bauchige Flasche aus Glas, die mit einer äußerst dunklen, trüben Flüssigkeit gefüllt zu sein schien und mit feinen, silbernen Beschlägen in kunstvoller Handarbeit verziert worden war. Ganz offensichtlich hatte hier jemand sehr viel Geschick und liebe fürs Detail bewiesen.
„Die hier ist heil geblieben und ich glaube fast, die ist von Jorgen Kormak, du weißt schon… das war dieser spezielle Händler mit dem du dich alleine an den Verhandlungstisch gesetzt hast, damals in Kristiansand. Der war schon merkwürdig der Gute.“ Frederik grinste und zeigte ein kleines Stück Pergament vor auf dem feine, mit Kohle gezogene Buchstaben zu lesen waren. „Damit der nächste Winter nicht ganz so kalt wird, Gez. J. – na wenn das mal nicht ein ganz besonders edler norwegischer Tropfen ist, willst du nachdem wir hier fertig sind einen Schluck probieren?“
Man sah dem jungen Mann an, dass er nach dieser kalten, windigen Nacht nur allzu gern von diesem Getränk, was immer es auch war – Hauptsache Hochprozentig, gekostet hätte um seine kalten Glieder aufzuwärmen.
Alida liebte diese Inspektionen auf See, den salzigen Geruch, die Planken unter den Füßen, das leichte Schwanken des Schiffes. Und besonders all die kostbaren Waren, die es sonst nirgendwo gab. Fast hatte sie das Gefühl, den Teil einer anderen Welt hierher nach Brügge gebracht zu haben und in gewisser Weise mochte es wohl auch so sein. Sie fuhr mit den Fingern über die Pelze von Nerz und Vielfraß, Tieren, die sie in Flandern noch nie gesehen hatte, nicht kannte, roch an dem gepökelten Elch- und Rentierfleisch, ließ das Rohmetall abwiegend von einer Hand in die andere gleiten.
Jorgen Kormak, ihr Handelspartner in Bergen, war ein harter Knochen. Ein zäher Verhandlungspartner, geizig und zugleich herzlich und gastfreundlich, wie ein Zwerg mit rauem Lachen und einem kräftigen zielsicheren Waffenarm. Sie kannte den Brujah seit einem knappen Jahrzehnt und liebte die Geschäfte mit ihm. Er war ehrlich und seine Waren traten zuverlässig und in bester Qualität ein.
Sie nahm Frederik grinsend die Flasche ab. „Gib’s doch zu: Du hättest nicht übel Lust drauf die Flasche noch heute Abend zu leeren, oder? Und so wie ich Jorgen kenne, hat er an uns alle gedacht…“ Ihr Grinsen wurde noch breiter. „Klingt gut.“
Sie betrachtete die brillante Flasche eingehen, bewunderte die edle Arbeit. Sie spürte, wie sich ihre Sinne wie von selbst intensivierten: sie spürte den exakten Lauf des runden Glases, die feinen goldenen Linien, hörte das Zischen des zerplatzenden Meeresschaums in der Tiefe unter dem Rumpf des Schiffes, das intensive Blitzen der Sterne, das zarte Getrappel von kleinen Pfoten unter Deck…wahrscheinlich eine Ratte. Sie entkorkte das Gefäß, roch daran.
Das Aroma war köstlich: Warm und süß… sie sog den Geruch ein… Menschenblut kombiniert mit süßem Alkohol, wahrscheinlich Met. Sie tauchte ihren Finger in die dunkle Flüssigkeit und führte ihn an die Lippen. Der Geruch hatte nicht getrogen, auch der Geschmack war ausgesprochen prächtig. Alida hielt das Gefäß gegen das Licht einer Fackel und sah hinein. Ihr Mund verzog sich als sie erkannte, was da in der Flasche vor sich ihn trieb und sie hielt die Flasche soweit als möglich von sich fort. Mit der linken Hand griff sie nach dem Korken und verschloss die Flasche wieder. Mit leicht angewidertem Gesicht wandte sie sich zu Frederik und hielt ihm die Flasche hin. „Lecker, nicht?“ Im Inneren der dunklen Flüssigkeit trieb eine tote Schlange, wahrscheinlich eine Viper, wie man sie eigentlich nur im Orient heimisch fand. Alida erkannte die Augen und die scharfen Giftzähne.
Ein schiefes Grinsen legte sich über ihren Mund und sie seufzte: „Nun ja. Andere Länder, andere Sitten, sagt man doch so gern. Wer weiß, was Jorgen und seine Freunde wohl sonst so zu sich nehmen…? Solch edles Beiwerk gibt sicher die ganz spezielle Note, findest du nicht? Ich denke, wir sollten diesen Tropfen ihm zu Ehren aufbewahren und dann auspacken, wenn er zu Besuch kommt. Er plant sicher irgendwann eine Geschäftsreise nach Brügge… Ähm ja…“ sie lachte. „Hoffentlich dauert das noch ein wenig… Bis dahin wartet die Flasche in der Kemenate für spezielle Gegenstände auf uns.“
Frederik sah sie an. „Du meinst die Abstellkammer für giftige Substanzen, die wir nicht verkaufen konnten, Reliquien, die keiner haben will und die alten, müffelnden Schafsfelle?“
Sie lachte. „Genau.“
Andere Länder, andere Sitten. Gewiss war es nicht merkwürdig, das Handelsabkommen gerne mit Geschenken, Festgelagen und anderen traditionellen Bräuchen besiegelt wurden und gerne machte man sich ab und an auch kleine Geschenke, als Zeichen der Wertschätzung und der guten Beziehungen die man zueinander pflegte; vor allem wenn man tausende von Meilen entfernt voneinander war und sich persönlich vielleicht alle paar Jahre traf. Dennoch schien eine tote Viper aus fernen orientalischen Landen, eingelegt in ein so vortrefflich gefertigtes norwegisches Glas mit durchaus bekömmlichem Inhalt, recht seltsam und dies selbst dann, wenn der großzügige Gönner Jorgen hieß. Der brummige Jorgen musste sich schon etwas dabei gedacht haben, denn diese Schlangen waren im kalten Norwegen ganz gewiss nicht heimisch. Für den Moment, würde das Geheimnis der Flasche noch ungelöst bleiben müssen, nicht zuletzt weil Alida und Frederik sich um das Be- und Entladen der „Grand Dame“, eines der schönsten und prächtigsten Schiffe von Alidas Handelsstaffel, kümmern mussten. Es gab noch einiges zu tun und die Liste der eingetroffenen Waren inspizierte sich weder von selbst, noch erreichten die Waren von ganz allein ihren Bestimmungsort.
Während um Alida herum die Arbeiten rund um das Schiff lautstark und zügig von statten gingen, sie ihren Federkiel schwang um hie und da fehlende Güter zu notieren oder Beschädigungen in Augenschein zu nehmen, Anweisungen zu geben und Informationen beim Kapitän bezüglich der aktuellen Wetterverhältnisse in Norwegen einzuholen, konnte sie aus den Augenwinkeln eine stattlich wirkende Gestalt ausmachen, die sich dem nächtlichen Treiben, sichtlich interessiert, zielstrebig näherte. Sie konnte, als sie gerade dabei war eine weitere Kiste mit Rentierfellen zu überprüfen, bemerken, wie ein in edle Stoffe gekleideter, leicht untersetzter Herr, sich kurz mit Frederik unterhielt, der wiederum nur mit einem Finger Richtung Alida deutete und bekräftigend nickte. Der bärtige Mann drehte sich daraufhin erfreut lächelnd in ihre Richtung und kam ihr ein paar Schritte entgegen. Eine Hand zum Gruße erhebend, schenkte er ihr ein breites Lächeln und eine knappe Verbeugung, die seinen Bauch noch ein wenig unter dem dicken Brokatstoff hervortreten ließ. Jemand hatte da offensichtlich einen gesunden Appetit.
„Alida? Alida van der Burse? Seid ihr es? Der gute Mann dort drüben hat mir glaubhaft versichert ihr wäret es!“ Sein Blick glitt für einen Augenblick Richtung Frederik und er nickte bekräftigend. „Es tut mir unendlich Leid das ich euer Gnaden um diese Zeit belästige, sicher haben euer Gnaden bei weitem wichtigeres zu tun aber ich ließ mir sagen, ihr wäret recht nachtaktiv und tagsüber stets in die Bücher vertieft. Man würde euch kaum zu Gesicht bekommen…. Ha ha ha ha.“ Seine Stimme war recht tief, etwas kratzig und trug eine gewisse naive Herzlichkeit in sich, welche man am heiteren, ungezwungenen Lachen erahnen konnte.
„Nun wie dem auch sei, ich hoffe ihr verzeiht meine so abrupte, unhöfliche Störung – ich hätte ja bis morgen gewartet aber der glückliche Zufall wollte es, das wir uns beide schon heute begegnen dürfen. Ich habe mein Quartier nicht unweit vom Hafen bezogen und schickte mich an, ein wenig von der formidabelsten und prächtigsten Stadt Europas bei Nacht zu erkunden - da sah ich eure Insignien auf dem Schiffsrumpf.“ Sein Bauch wölbte sich unter seinen ungeschickten Bewegungen, als er in die Hände klatschte. „Hach, es ist beinahe eine Fügung, ich bin nämlich auch Händler müsst ihr wissen… aber wo bleiben meine Manieren?“ Die ungelenke Verbeugung wiederholte sich und der Mann hob erneut seinen hochroten Kopf. Offensichtlich bereitete ihm selbst diese kurze Bewegung, sichtliche Mühe. „Freiherr Gunther von Schwab aus Aachen meine Gnädigste, freier Händler und Handelsreisender, niemals einem guten Gläschen abgeneigt und der bezaubernden Damenwelt auf ewiglich verpflichtet.“ Der bärtige Mann erlaubte sich ihre freie Hand zu ergreifen und einen Handkuss anzudeuten. „Mein Berufsstand ist noch recht unbekannt meine Teuerste aber ich bringe die richtigen Leute zueinander, will sagen: die richtigen Händler natürlich. Mein Bestreben liegt darin, große Handelswege in ganz Europa zu vermitteln und geschäftstüchtige Frauen und Männer einander vorzustellen, damit sich auch andere dem Bürgertum und vorbildlichem Wachstum Brügges anschließen können – und ihr seid, wenn ich es so sagen darf, die Königin unter den Händlern. Es wäre mir eine große Ehre und ein großes Vergnügen euch mit einigen Leuten eures Standes bekannt zu machen, die eurem großen Handelsnetzwerk noch die eine oder andere Kleinigkeit hinzufügen könnten.“ Seine großen Augen leuchteten freudig und erwartungsvoll.
Das unterwürfige Gebaren des Mannes war Alida von der ersten Sekunde an ausgesprochen unangenehm, aber außer Frederik, der sie seit frühester Kindheit kannte, würde keiner auch nur den Hauch einer Verunsicherung bemerken. Sie bewegte sich gekonnt auf dem Parkett der Förmlichkeit. Sie kicherte leise, wie es die Damen der feinen Gesellschaft zu tun pflegten und senkte ein wenig schüchtern den Blick. Dann deutete sie einen Knicks an.
„Es freut mich sehr eure Bekanntschaft zu machen, Gunther von Schwab aus Aachen. Die Worte aus Eurem Mund sind gar galant gewählt.“ Sie schenkte ihm ein verschmitztes Lächeln. „Damit seid wohl nicht nur Ihr der Damenwelt auf ewig verpflichtet, sondern diese auch Eurem Charme, nicht wahr?“ Sie ließ ihr Lächeln noch bezaubernder wirken und betrachtete ihn ausgiebig. Ihr Blick drang tief in sein Inneres, erkannte mehr als die Augen eines Sterblichen je zu sehen vermochten. Nachdem sie sich vergewissert hatte, dass es sich nur um einen Sterblichen handelte, nickte sie ihm erneut freundlich zu.
„Eure Aufmerksamkeit ehrt meine Wenigkeit sehr, doch bin ich, wie auch mein Vetter dort,“ sie deutete mit einer kurzen Handbewegung Richtung Frederik, der einigen Seemännern Anweisungen gab, an welche Stelle sie ein großes Eichenfass mit dem Hebekran herablassen sollten, „nur eines der vielen tatkräftigen Mitglieder meiner Familie. Ihr sollt morgen gerne zu einem Treffen mit dem Familienoberhaupt der van de Burses, meinem achtbaren Onkel Christian van de Burse, geladen sein. Ich selbst werde, morgen in der Früh sobald wir mit der zeitraubenden Löschung der Ladung der ‚Grande Dame’ fertig sind eine Zusammenkunft für Euch vereinbaren. Würde Euch ein Treffen um die Mittagsstunde recht sein? Mein Onkel liebt die Mittagsstunden für geschäftliche Vereinbarungen.“ Das derzeitige offizielle Familienoberhaupt der van de Burses, Christian, war ein fähiger, knapp 50 jähriger Ur-Ur Neffe von Alida. Er würde sie wissen lassen, wenn der Händler, der sich als Freiherr Gunther von Schwab vorgestellt hatte, ein weiteres Treffen wert sein würde.
Sie nickte dem Mann erneut zu. Jeder ehrbare Mann würde in dieser Geste eine freundliche, höfliche Verabschiedung erkennen.
Frederik, der ein Stück weit näher gekommen war und das Gespräch unauffällig verfolgt hatte, verzog den Mund zu einem süffisanten Grinsen. Er, der doch schon einige Zeit in den Diensten seiner Herrin gestanden hatte, wusste mittlerweile nur zu gut, dass diese künstlich-höfliche Zurschaustellung von guten Manieren und Etikette ihr überhaupt nicht lagen. Gewiss durfte man sich bei wichtigen, öffentlichen Auftritten nicht von seinen Gefühlen leiten lasse und ab und an war es notwendig, die brave, biedere Tochter eines falschen Bruders, dessen Familienname weithin bekannt war, zu spielen – aber das war nicht die wirkliche Alida von Brügge. Eine kunstvolle Maskerade, die er immer wieder aufs Neue genoss und die sie offensichtlich schon fehlerfrei beherrschte. Aus den Augenwinkeln, konnte Alida erkennen, das er sich bei den Worten des feisten Mannes zu amüsieren schien und sich knapp vor dem Mann verbeugte, als Alida ihn Gunther von Schwab vorstellte.
Dieser wiederum, schien bei den Worten Alidas nur zu erneuter Hochform aufzublühen und verbeugte sich erneut tief. Ihre galante und feminine Art schienen ihre Wirkung nicht zu verfehlen. „Oh die Damenwelt mein hübsches Kind, ich bin ein Kavalier der alten Schule müsst ihr wissen aber dennoch habe ich nicht recht Glück bei den fürwahr reizendsten Geschöpfen dieser Welt.“ Und der aufmerksame Beobachter würde auch schnell feststellen weshalb. Ihr ein breites Lächeln schenkend, musterte er sie einmal von Kopf bis Fuss, beinahe so, als ob sie ihm eine versteckte Botschaft mitgeteilt hätte. Das Alidas übersinnliche Wahrnehmung, gerade bei weitem mehr aus dem unförmigen Mann lesen konnte als er je bei ihr finden mochte, ging wie bei allen Sterblichen völlig unbemerkt an ihm vorüber. Kaleidoskopartig flackerte ein Meer aus schillernden, hellen und satten Farben über den Körper des Mannes, die ihn wie eine sanfte, sich stetig verändernde Woge zu umgeben schienen. Ihre Erfahrung verriet ihr untrüglich: Es war ein Sterblicher und er schien wahrlich guter Dinge zu sein – Freude und Glück, gepaart mit sichtlicher Erwartung und auch Erregung, die vielleicht ein wenig zu stark zu sein schien, dominierten das Bild. Er mochte gar schon den einen oder anderen Becher Wein geleert haben, ausreichend zu essen bekam er augenscheinlich immer.
Als die Sprache auf ihren Onkel kam, nickte der Deutsche nur zustimmend. Sein niederländisch war dennoch erstaunlich gut musste sie anerkennend feststellen. „Ach euer Onkel ist er? Gewiss mein liebes Kind, wer kennt ihn nicht den Christian van der Burse? Aber ihr müsst euer Licht nicht unter den Scheffel stellen, ich weiß aus zuverlässiger Quelle dass ihr auch die eine oder andere Handelsvereinbarung trefft. Eine Familie wie die eure, wird nicht nur aufgrund der Taten eines einzelnen zu einer den wohlhabendsten und geschätztesten dieser vortrefflichen Zeiten.“ Seine dicken Finger strichen sich sichtlich stolz, ob der Tatsache, dass er schon von ihrem Onkel gehört hatte durch den drahtigen Bart. „Es wäre mir ein ganz besonderes Vergnügen und eine umso größere Ehre euren geschätzten Onkel bezüglich einiger aussichtsreicher Geschäfte sprechen zu dürfen und gewiss ist die Mittagsstunde auch eine meiner liebsten Tageszeiten, wie man unschwer erkennen kann .. Hahaha.“ Er hielt sich lachend den Bauch aber selbst wenn er ihr ein wenig forsch oder schleimend daherkam, so hatte er ihren Wink dennoch verstanden. „Ein prachtvolles Schiff mit einer vermutlich noch prachtvolleren Ladung, bei deren Löschung ich euch gewiss nicht länger stören will meine Teuerste, bitte richtet eurem Onkel die besten Grüße aus. Ich werde alle wichtigen Unterlagen und Papiere, dann morgen zu unserem geschäftlichen Essen mitnehmen. Es war wirklich eine Freude euch kennenlernen zu dürfen, viel Erfolg noch und eine gute Nacht.“ Erneut schenkte er ihr einen angedeuteten Handkuss und eine knappe Verbeugung.
Bevor Alida aber noch aufatmen konnte, den nervenden Händler endlich losgeworden zu sein, machte dieser aber nach einigen, trägen Schritten kehrt und klatschte die Hände zusammen. „Meiner Treu… jetzt hätte ich es aber beinahe noch vergessen. Ich habe da ja noch etwas für euch.“ Seine Hand glitt in die Innentasche seiner dicken, üppig bestickten Jacke. Allein der Erlös des Stoffes würde eine durchschnittliche Familie wohl eine Woche satt machen. Mit einem Lächeln überreichte er Alida eine Pergamentrolle, die mit einem einfachen Stück Schnur, in bräunlicher Farbe umschlungen war; kein Siegel war darauf zu erkennen. „Es handelt sich um ein persönliches Schriftstück, das einer meiner Geschäftspartner mir bei meiner Abreise überreicht hat. Er bat mich es euch und nur euch zu überreichen.“ Bevor Alida noch etwas sagen konnte winkte er nur ab und schmunzelte verzückt. „Nein, ich habe es gewiss nicht gelesen und ich denke es handelt sich auch nicht um eine allzu geheime Nachricht. Vermutlich hat jemand nur durch Zufall euren Namen gehört und wünscht sich Handelsbeziehungen mit eurem Haus. Ihr kennt solche Schreiben sicherlich.“ Der dickliche Mann wandte sich zum Gehen. „Jetzt aber wirklich, eine gute Nacht noch und bis morgen, ich nehme an wir sehen euer bezauberndes Antlitz auch am Mittagstisch? Wie wundervoll. Ich freu mich schon darauf, bis morgen.“ Keuchend ob der vielen Anstrengung machte sich Gunther Schwab auf den Rückweg, ins Gasthaus, ins Bordell, auf den Markt? Mit Gewissheit stand nur fest, wo er morgen Mittag sein würde.
Sollte Alida das Pergament entrollen und im Dämmerlicht einer Hafenlaterne lesen wollen, so würde sie folgende Nachricht, in geschwungenen Lettern darauf finden.
lida hielt das Pergament ratlos in den Händen und ihre Augenbrauen verzogen sich zu einem Strich. Sie gab das Blatt an Frederik weiter, verschränkte die Arme und sah nachdenklich dem rundlichen Mann hinterher.
„Na? Was hältst du davon?“
Sie wusste, dass ihm klar war, was sie dachte. In ihr regte sich Misstrauen. Jemand wollte sich in Löwen mit ihr treffen. Die kleine aber bedeutende Stadt lag westlich von Brügge, wohl zwei Tagesritte entfernt, und jedes flandrische Kind kannte die Geschichte von der Schlacht von Löwen in der ein gigantisches Heer der Wikinger von Arnulf von Kärnten entscheidend besiegt wurde. Das Wasser der Flüsse sollte sich dieser Sage nach rot gefärbt haben. Alida war noch nie länger als zur Durchreise dort gewesen und fühlte sich bei dem Gedanken dort einem Fremden zu begegnen deutlich unwohl. Sie hielt es in gewissem Maße für unverantwortlich sich auf den Weg zu machen, hier alles stehen und liegen zu lassen. Kein ehrbarer Mann würde so etwas von einer Frau des 13. Jahrhunderts verlangen. Sie seufzte. Die Welt sah nun einmal so aus, wie sie war und nicht so wie man sie gerne hätte.
Alida sah zu Frederik und ihre Augen wurden ernst. „Hm… nun… ich denke, ich werde gehen. Du wirst hier gebraucht. Solange ich weg bin, entscheidest du über ‚unsere’ Belange.“ Sie durchforstete sein Gesicht. „Sollte ein Rat einberufen werden, dann geh hin und vertritt mich. Jeder Kainit der Stadt weiß, dass du das kannst.“ Sie war überzeugt, dass er sie nicht enttäuschen würde. Und ihr fiel spontan keine andere Möglichkeit ein, ihn davon abzuhalten sie zu begleiten. Sie wartete einige Minuten und überlegte.
„Schaffst du das Löschen der Ladung allein? Ich… werd mich auf den Weg machen. Vielleicht kann mich Lucien begleiten.“
Dann blickte sie in Frederiks Richtung und wartete seine Meinung ab. Der junge Mann war zeitweise ihrem Bruder so ähnlich, dass sie sich immer wieder ins Gedächtnis rufen musste, dass sie nicht Christian sondern seinen Urenkel vor sich hatte. Und so wie ihr Bruder damals bedeutete ihr wohl auch dieser Neffe gemeinsam mit der jungen Marlene mehr als irgendein anderes Mitglied ihrer Familie. Wahrscheinlich genau aus dem Grunde, dass sie den Menschen so unsagbar ähnelten, die ihr vor Jahrhunderten so wichtig gewesen waren.
Alida griff nach einer der Metflaschen. „Nimm die hier morgen für unseren rotbackigen deutschen Freund mit. Er wird dem edlen Tropfen sicher nicht abgeneigt sein. Sein Holländisch wird sicher mit jedem Glas flüssiger“ Sie lachte auf und stieg auf ihr braunes Pferd, das an einem nahe gelegenen Unterstand festgebunden war.
Sie machte sich auf den Weg in den Osten der Stadt. Lucien lebte in einem der einfachen Häuser in der Nähe der Stadtmauer, immer für die Stadtwache oder die Diebesgilde zur Verfügung wenn er gebraucht wurde. Sie kannte den Weg gut und wählte die belebteren Straßen. Dort schlenderten kleine Menschentrauben teilweise torkelnd nach Hause, der ein oder andere Sänger, der nicht begriff, dass er sich nicht mehr im Gasthaus, sondern auf der Straße befand wurde mit alten gebrauchten Nachttöpfen beworfen, ein einzelner Nachtwächter wanderte von Straßenlampe zu Straßenlampe und füllte Öl nach oder entzündete das Licht erneut mit einem Kienspan.
Schließlich erreichte Alida das schmale Anwesen, dessen Grund sich zur Straße hin schmal, nach hinten hin jedoch ausgedehnt darstellte. Sie wusste, hinter dem Hauptgebäude gab es ein paar Wirtschaftsgebäude und einen kleinen Garten. Sie ritt am Eingangsportal vorbei und öffnete leise die Eichentür zum direkt an das Wohnhaus angrenzenden Stall. Sie wusste das Lucien nie abschloss. Wozu auch? Sollte ein Fremder unangemeldet eintreten, würde es ihm sein geghultes Pferd Ajax bereits im nächsten Moment melden. Sie hörte das leise Wiehern des Brabanters und führte ihr eigenes Reitpferd in das Gebäude. Dann band sie ihr Tier an einen Haken und wandte sich kurz zu Ajax um, der neugierig den Kopf aus seinem Verschlag steckte.
„Na, mein Guter?“ Sie streichelte dem Hengst über die Nüstern. „Passt er gut auf dich auf?“ Wie protestierend stieß er seinen Kopf in ihre Seite und begann nach einem Apfel zu suchen. Sie lachte. „Ja, ja. Hab ich vergessen. Du! passt natürlich auf ihn auf. Is klar… Nein, ich hab keinen Apfel dabei, aber das nächste Mal denk ich an dich. Versprochen.“
Sie klopfte dem treuen Tier noch einmal auf den warmen Hals und wandte sich dann zum Nebeneingang. Sie wusste, es gab einen direkten Weg vom Stall in das Wohnhaus.
Sie klopfte erst leise, dann etwas fester an, wartete einige Zeit und trat dann einfach ein. Sie schloss die Tür wieder hinter sich und wartete.
Man hörte ein kurzes hölzernes Schaben, als wenn ein Stuhlbein über den Boden kratzen würde. Dann einige langsame Schritte die näher kommen zu schienen, während lautstarkes Bellen ertönte. Offensichtlich handelte es sich um mehrere Hunde. Es roch nach frisch gebratenem Fleisch und dampfenden Kartoffeln und während es im Vorraum, in dem Alida sich augenblicklich befand noch ein wenig kühl war, konnte man bereits die aufsteigende Wärme spüren, die den angrenzenden Raum seiner Kälte beraubte. Nur wenige Augenblicke später, sah Alida den jungen Jean mit einer Kerze und einem Kurzdolch in der Tür stehen, während hinter ihm das Gebell mit einem Mal verebbte. Ja, Lucien war vermutlich doch zuhause. Jean grinste Alida an und ließ den Dolch sinken. "Tut mir leid Aber Lucien sagt, ohne Waffe soll ich nirgendwo herumgehen, nicht mal wenn ich die Tür öffnen." Mit einer gekonnten Bewegung, verstaute er die Waffe an seinem Gürtel und winkte Alida ihm zu folgen. "Ich nehm an du willst ihn sprechen? Komm doch rein, ich hab schon vor einer Stunde eingeheizt, vorm Kamin ist es angenehm warm und am Herd kochen Kartoffeln." Man sah dem Jungen an, das ihm die Vorstellung von einem behaglichen Heim mit gutem Essen und einem weichen Bett zum Schlafen durchaus gefielen.
„Hallo, Jean.“ Alida grinste zurück, zog jedoch beim Anblick des Messers prüfend eine Augenbrauche hoch. „Lucien ist schon ein schlauer Kerl, wenn er dir rät nicht unbewaffnet durch die Gegend zu ziehen. Aber so wie ich dich kenne, bist du so schnell mit dem Messerziehen, dass du die Klinge sicher auch einen kurzen Moment noch am Gürtel stecken lassen kannst, bevor du Freund und Feind unterschieden hast. Stell dir mal vor, Joachim Ohneschwert hätte an der Tür gestanden. Der wäre wahrscheinlich mittlerweile am Schlag gestorben.“ Sie lachte und schnupperte. „Ich sehe, du kümmerst dich mittlerweile darum, dass hier in Luciens Haus alles in „normalen“ Bahnen läuft. Respekt.“ Sie deutete eine gespielte Verbeugung an, nickte aber dennoch anerkennend und folgte dem Jungen in den angenehm warmen Raum
Jean nickte lächelnd und führte Alida weiter durch Luciens Haus. Ein Haus, welches den Namen nicht verdiente denn zahlreiche Zimmer standen leer und das obere Stockwerk, wurde noch nicht einmal benutzt, wie sie bereits and den schweren Vorhängen im Vorraum, die Jean wohl dort aufgehängt hatte erkennen konnte. Alles nur damit sich die Wärme im unteren Erdgeschoss hielt und man nicht erfror - wenn man denn sterblich war. "Joachim ist wirklich ein Aufschneider ja, der fällt sogar bei mir noch um." Jean grinste. "Und naja dem Hauptmann ist es ja eh egal ob es hier drin warm ist oder nicht… wobei… ich glaub in Wahrheit gefällt es ihm doch wenn er die Knochen mal aufwärmen kann auch wenn er es nicht zugibt.“ Über einen kleinen Stufenaufgang ging es in die Stube, die spartanisch und praktisch eingerichtet war. Eine eiserne Kochecke, mit Herdfeuer, das einen großen Topf mit Kartoffeln gerade zum Kochen und den Tee zum Ziehen brachte, ein großer solider Küchentisch, in einem Schrank daneben ein wenig Geschirr. Neben einem großen Kamin, in dem ein munteres Feuer prasselte, stapelte sich das Feuerholz. Jean hatte sich offenbar sogar die Mühe gemacht ein großes Bärenfell auf den Boden zu breiten. Vor dem Kamin sah man einen gepolsterten Sessel, Richtung Feuer gewandt und in dem saß unverkennbar Lucien, der die erdigen, feuchten Schuhe, nahe ans Feuer gestellt hatte und gerade einzelne Fleischstücke, die an einem Spieß am Feuer brutzelten mit Soße übergoss. Mit der linken hielt er eine dünne Pfeife, die ordentlich qualmte und wandte den Blick Richtung Eingang. "Mhh?" Brachte er zwischen dem Tabakrauch nur heraus. "Ach Alida, du bists nur, ich hab schon gedacht wieder ein dummer Bericht von einem Wachgänger, wenn man denen nicht die Hand hält bringt kaum einer was zustande. Nachts ist es um einiges schlimmer als am Tag." Er schüttelte den Kopf und nickte in Richtung eines zweiten Sessels derselben Machart. "Setz dich ans Feuer.. wenn du dich traust, für mich ist es Beschäftigung und Abhärtung zugleich." Nicht unweit des Feuers, lagen vier große drahtige Hunde auf schmutzigen Decken, die nunmehr in ruhiger Glückseligkeit auf einem Knochen herumkauten. Knochen für die Hunde, Fleisch für Jean und eine Feuerprobe für Lucien, so schien es.
Alida folgte Jean durch das Haus und bewunderte, was der Junge und Lucien zu Stande gebracht hatten. Es war zwar immer noch weit von einer wohnlichen Behausung entfernt, aber auf dem besten Weg dazu. In gewisser Weise schien der Junge, den sie gemeinsam mit dem Thronerben Flanderns in England gerettet hatten, einen positiven Einfluss auf Lucien auszuüben. Nun ja, und falls nicht: zumindest hatten die beiden es behaglich. Alida überlegte noch einmal die Begebenheiten in England und nach wie vor verstand sie nicht, warum Lucien Jean so großmütig aufgenommen hatte. Die Ähnlichkeit der beiden allein schien ihr als Grund nicht plausibel… und wenn sie sich richtig erinnerte hatte Lucien geschildert, dass er den Jungen vor England nur ein einziges Mal gesehen hatte. Eine solche Tat erschien ihr ausgesprochen untypisch für den doch etwas egozentrischen, ‚wilden’ Gangrel.
Alida betrat die warme Stube und trat näher an das Feuer. Sie war Feuer von ihrer eigenen Familie gewohnt, aber es kostete sie nach wie vor ein wenig Überwindung. Wie das Gefühl in der Nähe einer hohen Klippe zu stehen. Auch wenn man wusste, dass einem nichts geschehen konnte, da man Abstand hielt, war einem doc ein wenig mulmig zu Mute.
Sie lächelte Lucien freundlich zu und hängte ihren Mantel in der Nähe der Tür auf.
„Danke.“ Sie nahm in dem alten, aber bequemen Sessel Platz. „Ist es so schlimm mit den Wachgängern? Eigentlich hast du sie doch mittlerweile wirklich gut gedrillt.“ Sie grinste.
Lucien ließ sich scheinbar nicht anmerken, warum er den Jungen so freimütig zu sich geholt hatte und warum er ihn hier wohnen ließ, mit ihm kochte oder ihn gelegentlich auf den Übungsplatz mitnahm - er hatte sich zu diesem Thema, auch mit der für alle so offensichtlichen Ähnlichkeit des Jungen zu ihm, nie geäußert. Allerdings, hatte bisher auch noch niemand gefragt, musste Alida, als sie das mittlerweile für die Verhältnisse des Hauptmanns, doch recht gemütlich eingerichtete Wohnhaus besichtigte, zugeben. Der Gangrel zog ans seiner Pfeife und schöpfte mit einer Kelle etwas Fett aus einem hözernen Kübel, um die köstlich duftenden Stücke damit zu übergießen. "Schnell und bekömmlich, ein wenig Salz, Rosmarin und ein Wegrandkräute et voila. Wichtig ist, das man sie immer übergießt denn das Feuer brät sie schnell durch und macht sie trocken. Roquesfort hat sie immer in Rotwein eingelegt..." Man konnte nicht recht sagen wovon er gerade sprach oder an wen seine Worte gerichtet waren. Er wirkte ein wenig gedankenverloren und murmelte es nur so vor sich hin. Jean kam ihr mit dem Mantel zuvor und nahm ihn ihr ab, hängte ihn in der Nähe des Feuers an die Wand. Kälte mochte ihr nichts ausmachen aber der Mantel würde so leichter trocknen und noch beim Anziehen ein wenig aufgewärmt werden. Jean dachte eben noch wie der kleine, sterbliche Junge der er war. Kurz darauf wandte er sich wieder dem Herd zu. "Tee Alida? Oh.. ich vergaß..." Lucien lachte kurz. "Nah.. ihr kannst du welchen anbieten, sie kann trinken.. auch wenn ich glaube zu wissen das sies danach wieder hochwürgen muss aber immerhin schmeckt sie noch was. Schenk ihr eine Tasse ein, ist immerhin ihr importierter Tee." Sein Mund verzog sich zu einem Grinsen. Als sie sich setzte, zuckte er bloß mit den Schultern. "Ach, du weißt ja wie das ist, selbst wenn nichts ist gibts immer wieder was, zwischen Joachim Ohneschwert gibts auch Jürgen Sahichnicht und Ferdinand Immerblau.. manche nehmen den Dienst nicht ernst genug, egal wie oft man es ihnen sagt, wenn man denen nicht ordentlich Pfeffer gibt werden sie nachlässig und das mit den Hexern im Buckel und den Drachen vor der Haustür." Er hielt den Spieß in ihre Richtung. "Schweinefleisch und ein paar Rippchen? Nach einem alten Räuberrezept." Ein erneutes Grinsen. Das Feuer loderte im Kamin und spendete wundervolle Wärme, zwar mochte einem der Untot die Notwendigkeit für derartiges Nehmen, dennoch war es angenehm wenn man buchstäblich ein wenig auftauen konnte. Es bewegte sich so viel einfacher und weniger mühevoll.
Sie nahm gerne einen Becher Tee und nippte an dem warmen Getränk. Die Rippchen lehnte sie dankend ab. „So hat Jean etwas mehr davon. Bei mir wären sie wirklich nicht gut aufgehoben…“ Sie grinste, wunderte sich jedoch ein wenig. Hatte Lucien den Jungen tatsächlich in seine und ihre wahre Identität eingeweiht? Auch wenn sie den Jungen bereits ins Herz geschlossen hatte und sehr schätzte erschien es ihr doch ausgesprochen gewagt solche Informationen preis zu geben. Immerhin war er nur ein Kind.
Zu seiner Bemerkung zu den Hexern und den Drachen nickte sie nur, wirkte jedoch vor allem bei der Erwähnung der Drachen nachdenklich.
„Musst du heute Nacht noch mal raus zur Mauer?“
Lucien winkte Jean eilig heran, als das Fett zischend ins Feuer spritzte. "Ah ja, der Rosmarin.. Hol die große Schüssel Jean." Als der Junge angerannt kam und eine große, irdene Schüssel umklammert hielt, ließ der Hauptmann vorsichtig ein Stück nach dem anderen darin verschwinden, schob das saftige Fleisch mit einer großen, gebogenen Gabel vom Spieß und lächelte. "Das hätten wir damals als Festbankett bezeichnet... so was war nicht immer drin, meistens gab’s nur Eintopf", murmelte er wie zu sich selbst. "Die Bohnen sind sicher auch schon fertig. Du kannst bei uns Essen wenn du möchtest." Jeans Augen wurden groß beim Anblick des Fleisches und er nickte hungrig nickend; nahm anschließend die Bohnen vom Feuer, goss Alida in eine Zinntasse den dampfenden Tee ein und setzte sich anschließend im Schneidersitz neben Luciens Sessel, in die Nähe der Hunde, die Schüssel zusätzlich mit Bohnen und ein paar Stücken Brot aufgefüllt. Schmatzend begann er zu essen und grinste zufrieden in Richtung der Kainiten. "Zucker ist leider alle.... ", meinte er noch. Lucien hob die Schultern und wandte sich an Alida, ließ sich in seinem Stuhl zurück sinken. "Du wirst es auch ohne Zucker trinken können denke ich." Dann ein leichtes Seufzen. "Zur Mauer werd ich noch mal müssen ja, ich reite einmal alle unsere Mauern und Wachtore ab, manchmal hab ich das Gefühl ich könnte förmlich riechen, wie die Steine langsam bröckelig werden und dabei hab ich nicht mal deine Wahrnehmung." Er rieb sich mit der rechten das Kinn. "Aber sag was gibt’s? Du bist doch sicher nicht einfach so auf Besuch um zu sehen wie uns in unserem bescheidenen Eigenheim geht und ob Jean auch ja nicht friert. Ist was passiert? Würde mich ja eigentlich schon wundern wenn nicht."
Sie lachte. „Danke, Zucker brauch ich gar nicht. Vielleicht bring ich demnächst nen Topf Honig mit. Gestern ist ein Schiff aus Skandinavien eingelaufen und auf dem gibt’s alles mögliche mit Honig… Met, Wachskerzen und so weiter“ Sie lehnte sich ein wenig den Männern entgegen und zwinkerte Jean zu. „Vielleicht kommst du einfach mal mit und schaust, was ihr vielleicht noch gebrauchen könnt?“
Sie griff in die Tasche ihres Gewands und zog das Pergament hervor. „Ja, kann man so sagen. Wobei ich nicht so wirklich weiß, was ich davon halten soll.“ Sie reichte es Lucien. „Das hat ein… äh… Händler für einen Freund abgegeben. Und… „Sie verzog die Stirn zu einer nachdenklichen Miene. „Es liegt mir nicht wirklich mich mit Fremden irgendwo in fremden Wirtshäusern zu treffen. Auf der anderen Seite reizt mich das Angebot aber doch.“ Sie wartete.
Jean nickte eifrig und kaute unverdrossen auf seinen Bohnen, dem Fleisch und Brot während selbst die Hunde etwas betreten daneben standen. Das war scheinbar noch besser als harte Knochen und Reste. Der scharfe Blick ihres Herren aber ließ sie sich wieder ducken und artig auf ihren Teil des nächtlichen Mahls konzentrieren. "Mh.. danke Alida, ein bisschen mehr Licht wär gar nicht so schlecht .. und Honig.. echten Honig, das wär richtig toll! Ich geh gleich morgen mal mit dir zum Kontor wenn ich darf. Danke!" Lucien machte eine legitimierende Geste, wenn Jean sich um das Haus kümmerte, sollte es ihm auch an nichts fehlen und wenn Alida sich schon anbot, warum nicht. Als Alida das Pergament hervor holte, nickte er kurz.
Er nickte kurz. "Dann ist er wohl nur der Überbringer einer Nachricht ohne wirklich etwas über den Inhalt oder seinen Verfasser zu kennen." Lucien wiegte seinen Kopf leicht hin und her. "Wahrscheinlich kennt unser Unbekannter den Mann einfach nur, hat vielleicht auch schon mit ihm gehandelt und erfahren das er nach Brügge auszieht um mit deinem Haus zu handeln." Vorsichtig rollte er das Pergament wieder zusammen und reichte es zurück an Alida. "Mmh.. dennoch ist es irgendwie merkwürdig; nicht das unsereins das wundern sollte aber... ich habe so ein Gefühl das dein 'Freund' einer der unseren ist. Ich denke nicht das er noch Schweinefleisch und Bohnen vertilgen kann, wie unser guter Jean hier." Sein Kopf glitt leicht süffisant Richtung des eben genannten, der nur mit fettverschmierten Händen in ein Stück Brot biss und kurz ungeniert rülpste. Erneut schüttelte Lucien den Kopf. "Ich habe Berichte gehört das Draga seit neuestem unsere Verteidigung prüft und auf Schwachstellen abklopft, merkwürdige Gestalten gehen seit neuestem in Brügge um und damit meine ich nicht die Krüppel und Bettler die Gerrit ohnehin alle in der Tasche hat." Sein Blick ging für eine kurze Zeit starr und nachdenklich ins Feuer, dann wieder zurück zu Alida. "Weißt du was das erste ist was zwei Gangrel sich fragen wenn sie einander in der Wildnis begegnen? Wie viele Winter? Es ist die Frage danach wie viele Winter, die härteste Zeit in der Wildnis man überlebt hat und das wichtigste in der Wildnis ist neben Fähigkeiten, Wissen und Kunde. Ein Grund mehr warum es da draußen immer gut ist sich am Lagerfeuer auszutauschen. Dein Unbekannter hat mit einer Sache recht: Wissen ist Macht, vor allem wenn es ums Überleben geht." Sein Grinsen wurde breit und hämisch. "Oder es ist einfach eine nette Falle, wie üblich. Was gedenkst du zu tun? Willst du es ignorieren oder wagen?"
Alida nickte bei Luciens Ausführungen über das Wesen der Gangrel. Meist berichtete er wenig über die Mitglieder seines Clans und seine Worte interessierten sie sehr. „Winter… ja, nach dem Winter vom letzten Jahr verstehe ich, was ihr damit meint.“ Ein Frösteln legte sich über ihre untote Haut.“ Was ich zu tun gedenke: Ich möchte mich auf den Weg nach Leuven machen.“ Sie zögerte und sah ihn länger als üblich an. „Und dich fragen, ob du mitkommst?“
Sein Schmunzeln verriet ihr, das ihn ihre Frage nicht mehr weiter zu verwundern schien. "Ich hab mir schon gedacht, dass dir nicht nur an meiner Meinung gelegen ist." Er unterdrückte ein schiefes Lachen. "Wegen meiner Meinung und meines umfangreichen Wissen werde ich nicht oft aufgesucht, das ist dann eher Gerrits oder noch eher Leifs Metier aber klar... in so einem Fall..." Ein Nicken in Richtung des Tisches auf dem das gewohnte Schwert aus glänzendem Damaszenerstahl des Hauptmanns lag, daneben ein Schleifstein und ein Poliertuch. "... in so einem Fall nimmt man doch lieber ein paar Schwerter und Leute mehr mit." Als ob er sich plötzlich dazu entschlossen hätte, das wärmende Feuer zu verlassen und erneut in eines der gefährlichen Abenteuer der Koterie zu stürzen, klatsche er sich auf die Oberschenkel. "Gut, ich bin dabei. Wenn das eine Falle ist will ich nicht das du alleine dort festgehalten wirst - du bist unsere Handelsbeauftragte; ohne dich legen sie einen guten Teil unserer Wirtschaft lahm, vielleicht sind das schon die ersten ernsteren Versuche uns von innen heraus hohl zu nagen. Mittlerweile bin ich schon ziemlich paranoid." Er lächelte.
Sie schüttelte nachdenklich den Kopf. Ihre Stimme war recht leise: „Du irrst, Lucien. Deine Meinung interessiert mich immer. Das was du sagst, hat stets Hand und Fuß.“ Ein Lächeln legte sich nun doch über ihre Züge und sie sah ihn an. „Aber es ist nun einmal auch so, dass ich, wenn ich wirklich mal richtig in der Sch…“ sie blickte zu Jean und hielt kurz inne. „… stecken sollte, dann gibt es niemanden, den ich lieber an meiner Seite wüsste als dich. Und damit mein’ ich nicht nur deinen Schwertarm oder deine Klauen.“ In diesem Moment war sie froh nicht mehr zu den Sterblichen zu zählen. Sie wäre sonst wohl im ganzen Gesicht rot angelaufen. Sie versuchte hastig abzulenken.
„Weißt du etwas Näheres über Dragas Pläne, oder die Gestalten, die du erwähnt hast?“
Sein Schmunzeln hörte nicht auf als sie ihm offenbarte, seine Meinung sehr wohl zu schätzen und zu achten, er wiegte den Kopf leicht zustimmend. "Ach, ich reiße mein Maul halt einfach immer auf, weil mir das ewige Drumherum reden so sinnlos und zeitraubend erscheint - das schmeckt dann manchen einfach nicht aber wenigstens ist es die Wahrheit. Ich halte die Dinge einfach, dann kann ich meine Prioritäten auch einfacher setzen." Ein knappes Schulterzucken. Ihre letzte Aussage schien ihn dann doch ein wenig zu überraschen und seine Augenbraue glitt knapp nach oben, einen fragenden Gesichtsausdruck annehmend. "Mhh.. Draga, nein.. gar nichts und ich habe bis auf das bereits Gesagte auch nichts weiter gehört. Wie gesagt, ich habe nur so den Verdacht bezüglich der Spione. Merkwürdige Tagelöhner gehen in den Gassen am Hafen umher - wäre ja nichts Neues und gerade jetzt wo jeder Arbeit sucht nach dem Winter... ich weiß es nicht aber ich spüre das wir bald was von ihr hören oder sehen werden." Sein Blick glitt zu Jean, der es geschafft hatte innerhalb kürzester Zeit die halbe Schüssel leer zu essen und zwar ganz allein. Mittlerweile hatte er schon Mühe zu kauen und schien eigentlich schon satt. Lucien grinste. "Lass gut sein Jean, das Schwein kann dir nicht mehr davon laufen, stell’s an den Herd und iss es morgen Mittag, ich werde gleich zur Mauer reiten und du solltest zu Bett gehen." Der Junge wollte schon protestieren und öffnete den Mund, den er aber gleich auch wieder schloss und resigniert nickte, offenbar hatte man diese Diskussion schon öfter geführt. "Ja Lucien.. ich werd nur noch ein wenig Feuerholz aus dem Stall holen und nach Ajax sehen, dann geh ich." Der Hauptmann stimmte nickend zu und wartete bis Jean die Schüssel abgestellt und sich auf den Weg nach draußen gemacht hatte, im Vorbeigehen den dicken Fellmantel über die Schultern warf. Kaum war das Schloss eingerastet, wurde es merkwürdig still im Raum. Für gewöhnlich hatte Lucien immer etwas zu sagen aber nur das gelegentliche Knacken des Feuers und das Rasseln der Ketten, als einer der Hunde sich hinter den Ohren kratzte war zu hören. Seine Augen fixierten Alida. "Also würdest du von allen hier ansässigen Kainiten mich wählen wenn du tief in der Scheiße sitzen würdest und das nicht nur wegen meiner Meinung, meinem Stahl oder den übernatürlichen Klauen hm? Welchen Grund kann es dann wohl geben das du mich den anderen vorziehen würdest? Sicherlich mein höflich eleganter Charme hm?" Ein erneut breites Grinsen.
Alida schluckte schwer. Mit einer solchen Frage hatte sie nicht gerechnet und man konnte merken, dass sie komplett überrumpelt war. Sie sah kurz zur Tür, wie in der Hoffnung, dass der Junge mit dem Feuerholz zurückkommen würde.
„Ich…“ Sie schwieg, blickte in die Flammen und wandte den Blick nach einer schieren Ewigkeit wieder zu seinem Gesicht. „Ich… vertraue dir.“
Lucien blickte kurz zu Boden, ließ ihre Worte ein wenig nachhallen und nickte schließlich sehr langsam und bedächtig, bevor er den Blick wieder hob. "Vertrauen ist so eine Sache zwischen toten Leichen und auch wenn es eigentlich nicht meine Art ist, so vertraue ich doch mittlerweile zumindest unserem Rat als auch dir. Es ist schon etwas sehr eigenes was wir hier in Brügge geschaffen haben, der Rest zerfleischt sich immer nur." Er sah sie lange an. "Genau wie bei unserer kleinen Lilli, haben wir sicher unser Meinungsverschiedenheiten aber ich weiß, dass ich auf dich zählen kann, wenn es hart auf hart kommt. Das ist für Kainiten schon viel wert, würde ich meinen."
Die blonde Frau nickte mehrfach bestätigend und war irgendwie froh, dass Lucien das Thema wieder so allgemein gestaltete, denn obwohl sie seit Jahrhunderten untot war, hatte sie das Gefühl, dass sich etwas wie ein Krampf in ihrem Bauch löste als sie zu den gewöhnlichen Belangen Themen wechseln konnte. Sie rieb sich die Hände und erwartete fast den Schweiß zu spüren. „Ja, ja. Ganz recht. Unser Rat ist schon etwas Besonderes. Es geschieht ja nicht alle Tage, dass sich Kainiten zusammen tun, die herkömmlichen Wege über den Haufen werfen und gemeinsam eine Stadt regieren. Und wir machen das ja wahrlich nicht schlecht. Ich vertraue unserem Rat auch… wobei mir…“ sie zögerte es auszusprechen. „… Leif in letzter Zeit etwas unberechenbar erscheint.“
Der Gangrel hob die Hände kurz an und zog die Mundwinkel nach unten; eine abwehrende distanzierende Geste folgte. "Über Leif kann ich derzeit nicht recht etwas sagen, ich hab aber leicht das Gefühl das irgendwas an ihm nagt. Wie du vielleicht weißt, war ich in Brüssel nicht dabei aber auch ohne mich habt ihr das Ruder ja noch rumgerissen..... danke im Übrigen, dass ihr mich ausgebuddelt habt, die ganze Geschichte war.. unheimlich offen gestanden, beinahe so wie der Abgrund nur ... andersrum." Für einen Moment sinnierte er und schien sehr weit weg zu sein, bevor er einen bösen Gedanken abzuschütteln schien und unverdrossen fortfuhr. "Leif hat derzeit glaube ich Probleme mit seinem eigenen Unleben, es passiert ihm genau das was so vielen Untoten auf halbem Wege ihrer Karriere passiert - er erkennt zu was er werden müsste um die Macht und den Einfluss der vor ihm liegt wie frisches Fallobst zu ergreifen und er bricht sich ein Stück weit daran, wenn du mich fragst."
Wieder nickte sie. „Ja, vielleicht ist es das, was mit ihm und allen geschieht. Den Weg aus dieser Krise kann er, auch wenn ich ihm gern zur Seite stehen würde, nur allein finden. Was mich beunruhigt ist, dass er durch sein Verhalten Brügge und uns in Gefahr bringt.“ Sie blickte in die Flammen als wenn sie darin etwas lesen wollte. „Wenn die Dinge anders gelaufen wären, und glaub mir, um ein Haar wären sie das, dann wäre keiner von uns, mit Ausnahme vielleicht von Liliana mit ihren diplomatischen Fähigkeiten, heim gekehrt. Er hat mit unserer Existenz gespielt. Das ängstigt mich.“
Lucien nickte und folgte ihrem Blick etwas abwesend. "Es ist eigentlich untypisch für ihn und ich wäre sicher der letzte gewesen, der einen Kampf scheut aber wenn ich am verlieren bin, dann lieber ein geordneter Rückzug und die Schmach einer Niederlage als der endgültige Tod. Überleben ist alles wie du weißt und so kann man seine Wunden an Körper und Ego lecken und ein paar weitere Jahrhunderte existieren, vielleicht sogar auf Rache sinnen. Das hat mit Feigheit nichts zu tun, nur mit Überleben und ist auch eine gewisse Art von Stärke." Sein Schmunzeln wirkte nachdenklich. "Tja.. aber wär hätte ahnen können das direkt vor unserer Haustüre so potente Kainiten hausen, ich frage mich warum die nicht schon längst etwas gegen uns in Gang gebracht hatten, vielleicht waren sie zu unserem Vorteil so sehr in ihre eigenen Fehden verwickelt, dass sie keine Zeit für Brügge hatten. Dennoch merkwürdig. Naja..." Sachte drehte er den Kopf. "Lilli wird uns dort gegenüber Gent und Antwerpen vertreten hm?" Mehr eine Feststellung denn eine Frage. "Naja, sollte eigentlich genau ihr Fachgebiet sein." Plötzlich pfiff Lucien durch die Zähne. "Ach, ich hab noch vergessen zu erwähnen das Kobald mit unserem Feinschmied Siegelringe für die Ratsherren fertigen lassen will, damit unsere Dokumente etwas fälschungssicherer werden. Wenn du eine Idee für ein Schnittmuster hast, brings Kobald vorbei, der lässt es für dich anfertigen."
"Das Problem mit Leif war nicht der Kampf oder ein Rückzug... er hat ohne Vorwarnung den Prinz von Brüssel attackiert. Ohne einen wirklich triftigen Grund... Nur weil er ihm die Macht zu herrschen absprechen wollte. Vor zwar etwas ausgedünnter aber immer noch bedrohlich versammelter kainitischer und menschlicher Mannschaft. Auch wenn du den ehrlichen Kampf bevorzugst...." Sie sah auf ihre langen Finger. "wähle ich in diesem Fall den Kampf, der mich nicht mit einem winzigen Messer auf mehrere Ghule gleichzeitig losgehen läßt."
Alida lachte bei der Erwähnung er Ringe. "Ja, das hast du bereits erwähnt. Ich hab schon mit Marlene rumphilosophiert. Sie macht täglich 100 Vorschläge
Er grinste. "Tja, dann hast du ja deine persönliche Schmuckberaterin schon zur Hand, ich bin sicher ihr werdet gemeinsam etwas passendes finden, im Grunde geht es ja nur um eine Eindeutigkeit. Wenn wir etwas beglaubigen, dann soll es offiziell sein und für jeden ersichtlich, dass der Rat geschlossen zustimmt, ablehnt oder andere Urteile gefällt werden. Im Krieg sind Falschinformationen oft tödlich." Ein kurzes Räuspern. "Was Leif angeht... ich war nicht direkt dabei und Situationen sind immer für jeden anders, egal wie detailliert und genau man sie nacherzählt bekommt aber ich verspreche dir, das ich ein Auge auf ihn haben werde." Es machte ein Knarzendes Geräusch, als die Vordertür erneut geöffnet wurde und Jean, einen Stapel Feuerholz balancierend wieder die Stube betrat. Etwas schnaufend, schichtete er die Scheite an den Kamin und meinte Richtung Lucien. "Ajax ist versorgt und die Tränke ist auch aufgefüllt, draußen ist alles ruhig soweit." Der Gangrel nickte knapp. "Gut, danke Jean und bis morgen abend...." er stockte kurz ".. mmmh es kann sein das ich einige Zeit auf Reisen bin, stell dich drauf ein das du eine Zeit lang Selbstversorger bist, wenn du was brauchst, geh zu .. du weißt schon wem." Jean sah ihn fragen an. "Alles weitere morgen abend Jean, schlaf jetzt." Der Junge nickte nur enttäuscht. "Ok ok.. dann bis morgen Nacht. Gute Nacht Alida", verabschiedete er sich kurz bevor er die Stube verließ und man am Geräusch einer zufallenden Zimmertür wusste, das Jean zu Bett gegangen war. "Wann willst du los?", fragte Lucien Alida.
„Ich dachte an 20h. Vielleicht lässt sich die Strecke in einer Nacht reiten. Soll ich dich abholen, oder sollen wir uns am Ost- oder Südtor treffen?“ Lucien drehte seinen Kopf leicht nach links und rechts, wog scheinbar das für und wider ab. "Hm.. ich bezweifle das wir die Strecke in einer Nacht schaffen werden, eher zwei würde ich sagen aber immerhin noch rechtzeitig, um deinen merkwürdigen Unbekannten nicht zu versäumen. Und als Treffpunkt würde ich doch einfach das Südtor vorschlagen, da sind wir dann schon mal in die richtige Richtung unterwegs."
Sie erhob sich aus dem bequemen Sessel und griff nach ihrem Mantel. „Beantwortest du mir eine Frage, Lucien? Jean erscheint mir ein wirklich fähiger und netter Bursche zu sein und die Art wie er dich verehrt ist außergewöhnlich… aber…“ sie sah ihm in die grauen Augen. „Wie kommt es, dass jemand wie du dem Jungen vertraut? Du teilst ihm in kürzester Zeit Geheimnisse mit, die selbst einem Erwachsenen lange Zeit schlaflose Nächste beschweren… und… auch wenn ich denke, dass dem nicht so ist, woher weißt du, dass es sich bei ihm nicht um einen Spion handelt?“ Sie trat näher an ihn heran. „Bei anderen Kainiten wie zum Beispiel Liliana würde ich das Verhalten nicht weiter verwunderlich finden. Aber bei dir?“
Bei Alidas Worten musste Lucien über sich selbst Schmunzeln und kniff kurz die Augen zusammen. "Ja, du hast vollkommen recht. Ich töne zwar die ganze Zeit, dass man nur sich selbst trauen kann und dann übergieße ich Schweinefleisch mit Bratensoße für ein sterbliches Kind, über das ich so gut wie nichts weiß und das mir zum Verwechseln ähnlich sieht. Eine Dummheit sondergleichen, es ist gefährlich, unüberlegt, dumm und naiv - ganz so wie du sagst, es wäre eigentlich etwas das Lill anstünde aber....". Luciens Blick glitt in den Flur nach hinten, an dessen Ende sich Jeans Zimmer befand. "Ich mag den Jungen und ich habe das Gefühl, dass ich... irgendetwas von mir mit ihm hinterlasse, mehr als nur Leichen und ausgeweidete Feinde. Mein Wissen und meine Erfahrungen leben in ihm weiter... vielleicht ist es auch nur die allzu menschliche Vorstellung eines Lebens das ich niemals hatte." Er sah Alida ernst an. "Entweder er ist, wer er vorgibt zu sein und es ist alles in Ordnung oder der Junge wird mein Untergang werden, meine größte Schwäche, wenn ich ihn so völlig sorgenfrei an meiner Existenz teilhaben lasse... ein widerlicher Plan der eines Sebastian von Augsburg wohl würdig wäre... vielleicht ghule ich ihn auch.. aber das ist eigentlich nicht meine Art."
Alida nickte, schien aber nicht wirklich zu begreifen. Sie hatte das Gefühl gehabt endlich verstanden zu haben, welche Art von Mann Lucien war und dann überraschte er sie doch wieder mit dem was er sagte. Da Lucien sich nicht von seinem warmen Platz am Kamin erhob reichte sie ihm die Hand und hielt sie wohl einige Sekunden zu lang fest. Er reichte ihr die Hand und erhob sich, um sie zu verabschieden. "Oder ich töte ihn, falls es notwendig werden sollte, das kann nur die Zeit zeigen. Der Junge ist oft mit Marlene zusammen, hab doch du auch ein Auge auf ihn. Anders werden wir nie herausfinden auf wessen Seite er wirklich steht."
„Nach wie vor das alte Misstrauen. Hätte mich auch verwundert…“ sie schmunzelte. „Werd ich machen. Falls Jean während du weg bist bei meiner Familie bleiben möchte, ist er herzlich eingeladen.“ Sie nickte ihm noch einmal zu und wandte sich zur Tür.
„Danke, dass du mich begleitest. Dann bis morgen zur achten Stunde des Abends.“
Zu ihrer Zusammenfassung bezüglich ihres Aufbruchs nickte er nur beipflichtend. "Kein Problem. Also bis morgen dann am Südtor." Er sah ihr nach bis durch die Tür, wieder in den Hof verschwunden war und schüttete dann, das restliche Fett mit Schwung in den Kamin. Die Feuerfontäne die kurz aufloderte ließ selbst ihn zurück schrecken und sein inneres Tier knurrend aufschreien. Soviel zum Thema Feuer.
Alida machte sich auf den Weg und war einige Zeit später beim Anwesen ihrer Familie angekommen. Sie betrat das Hauptgebäude durch einen der Nebeneingänge um möglichst wenig Lärm zu verursachen und schlich durch die Küche. Im Ofen brannten nach wie vor die Reste des Kochfeuers und verströmten eine wohlige Wärme. Es roch nach Brotteig und eingelegtem Gemüse. Die blonde Frau manövrierte sich im Halbdunkel an Tischen und Stühlen vorbei als sie plötzlich hinter sich ein Räuspern hörte. Sie wandte sich um und blickte in das von Kerzenlicht erleuchtete Gesicht ihres Verwalters Georg. Die Zeit hatte tiefe Kerben in das einst gut geschnittene Antlitz ihres alten Freundes hinterlassen und dessen Haar dünn und grau werden lassen. Auch wenn er sich nach wie vor gerade hielt erkannte sie das Gewicht der Jahre auf seinen Schultern.
„Alida. Ich dacht‘ scho‘, du kämst gar nit mehr heim.“ Er lachte. „Frederik hat erzählt, du machst dich morgen uff de Weg nach Leuven. Weite Streck‘. Ich hab dir ‚en paar Sachen zusammen suche lasse. Findste‘ in deiner Kammer. Du passt auf dich uff, gell?“ In seiner Hand erkannte er ein Buch in dem er wohl vor kurzem noch gelesen haben mochte.
„Ich hab den Hauptmann der Stadtwache, Lucien Sabatier, gebeten mich zu begleiten.“
„Un? Kannste dich auf den verlasse?“
Sie überlegte und grinste dann. „Ich glaub schon.“ Sie trat einen Schritt auf Georg zu und umarmte den alten Mann. „Danke. Ich bin bald wieder da. Du passt derweil auf alles auf?“
„Ei. So wie immer halt.“
„Ach ja, falls der Neffe von Sabatier, ein Junge namens Jean, hier auftaucht, dann kümmer‘ dich um ihn, ja?“
Er nickte, wandte sich wieder um und humpelte zurück in die Lesestube. Alida schluckte und betrachtete den seit dessen Jugend unsicheren Gang des Alten. Ein schweres Gefühl stieg in ihr auf. Hätte sie das, was geschehen war verhindern können? Wenn sie achtsamer gewesen wäre? Es machte keinen Sinn über vergangene Begebenheiten zu grübeln aber nun verlangte sie erneut von Georg nach einem Jungen zu sehen und das weckte unliebsame Erinnerungen...
Alida atmete tief den vertrauten Geruch der Küche ein und ging dann durch den Flur Richtung Garten. Sie schritt durch das hohe Gras und über die gewundenen Kieswege. In der Nähe der leise vor sich hinfließenden Kanäle wuchsen Kapuzinerkresse und Pfefferminz, neben den Apfelbäumen blühten die Himbeeren. Alida trat näher an den Apfelhain heran und setzte sich schließlich an den Stamm eines alten Baumes. Sie spürte die raue Rinde, lehnte den Kopf an den Stamm und schloss die Augen. Dieser Baum war lange vor ihr bereits hier gewesen. Von ihrem Großvater oder Urgroßvater gepflanzt und es fühlte sich gut an, dass es nach wie vor Dinge gab, die älter waren als sie selbst. Sie griff mit den Händen in die weiche Erde und wusste, sie war schon immer genauso mit Brügge verwurzelt gewesen wie diese Gehölze. Tief reichten sie in das Erdreich, zogen daraus die Kraft ihre Äste gen Himmel zu strecken, jedes Jahr aufs Neue zu blühen und Früchte zu tragen. Alida öffnete die Augen und füllte den Inhalt ihrer Hand in einen Beutel. Mehrere Apfelblüten rieselten mit den Erdklumpen hinein. Wie hatte Lucien gesagt: ‚Nimm deine Heimat einfach mit wenn du gehst‘.
So hatte sie etwas, das sie stets an das erinnerte, was ihr hier in Brügge wichtig war: ihr Zuhause, ihre Familie, ihre Freunde, die Erinnerungen, die Straßen der Stadt, die Kanäle, das ewig an- und abschwellende Meer…