Vampire: Die Maskerade


Eine Welt der Dunkelheit
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 Betreff des Beitrags: Alea iacta est (Alidas Geschichte)
BeitragVerfasst: So 6. Jul 2014, 14:11 
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Windau, frühes Frühjahr 1092

Alida schlug mit der Faust auf den Holztisch, so dass das Geschirr klapperte und ein mit rotem Wein gefüllter Becher ins Schwanken geriet. In letzter Sekunde gelang es ihrem Gegen-über nach dem Becher zu greifen.
„Vermaledeite Hunde. Verflucht s….“ Ihre Stimme bebte vor Zorn. Christian hob die Hand und unterbrach sie kurzerhand. „Alida! Versündig’ dich nicht. Das sind diese Bastarde nicht wert.“
Die blonde Frau schüttelte ungläubig den Kopf und starrte auf die ausgebreiteten Dokumente vor ihnen. Obwohl von draußen das Sonnenlicht des späten Nachmittags durch die Butze Glasscheiben fiel war es in dem Raum dämmrig, so dass sie mehrere Kerzen entzündet hatten um besser sehen zu können. Ein warmes Feuer prasselte im Kamin und hielt die letzte winterliche Kälte des Märztages draußen.
„Ich begreife nicht, dass sie zu einem solchen Betrug fähig sind. Haben die Händler von Windau denn gar keine Ehre im Leib? Wenn dieser Betrug an den Rat der Hanse weitergetragen wird, verlieren sie wahrscheinlich noch im selben Monat ihre Mitgliedschaft in der Hanse.“
Christian lachte kurz auf, griff nach dem Becher und lehrte ihn mit einem Zug. „Bevor du noch mal auf die Idee kommst, auf den Tisch zu hauen.“ Seine blauen Augen zwinkerten ihr zu, doch gleichzeitig lag ein ernster Ausdruck darin. „Du weißt doch, dass ein großer Teil der ortsansässigen Händler dem Adelsstand angehört. Die haben ihre Mittel und Wege zu bekommen, was sie wollen. Sicher wird ein solcher Skandal zu einem Ausschluss von Windau und damit zu großen finanziellen Verlusten für die hiesige Händlergilde führen, aber die Prüfung des Geschehens wird Monate dauern. Allein bis wir unsere Anklage dem derzeitigen Eldermann Franz Ebert vortragen haben, vergehen zwei Monate. Soweit ich weiß hat er sei-nen Wohnort nach Bremen verlegt. Außerdem müssen wir in der Lage sein, unsere Anklage zu beweisen. Versuche hier in diesen Stadtmauern einmal einen Bürger zu finden, der bereit ist, gegen seinen Herrn auszusagen, dass ihm befohlen wurde nicht für einen Händler von außerhalb zu arbeiten.“
Alida griff nach dem zweiten Becher und tat es ihrem Bruder nach. Der Wein war sauer und brannte in der Kehle doch genau das war es, wonach ihr jetzt verlangte. Warum sollten nur Männer ihren Frust im Alkohol ertränken können?
Sie ballte erneut die Hände zu Fäusten und zwang sich diese wieder zu öffnen. Lang atmete sie aus. „Für die Mitgliedschaft in der Gilde von Windau haben wir 5000 Gulden gezahlt. Damit steht uns vertraglich der freie Handel in der Stadt, die Eröffnung unseres eigenen Kontors und die Errichtung von Lagerräume und Schiffsanlegestellen offen. Das ist ein Vermögen… und nun gibt es hier, obwohl wir uns schon seit zwei Wochen die Füße wund laufen, weit und breit keinen einzigen Arbeiter, der bereit ist in unsere Dienste zu treten. Trotz dem dreifachen Preis, den wir für die Arbeit zu zahlen bereit wären. Und niemand außer den Bürgern von Windau hat die Erlaubnis in der Stadt Gebäude zu errichten… aber unser Gold ist ihnen gut genug… “
Der blonde Mann legte ihr beschwichtigend die Hand auf die Schulter. „Vielleicht sollten wir es dabei bewenden lassen. Es hat einem Bürger noch nie viel Glück gebracht sich mit den hohen Herren einzulassen… oder sich gar gegen sie zu stellen?“ Er blickte sie fragend an.
„Christian? Ist dir klar, was das bedeutet? Wir haben im letzten Jahr eine Handelsniederlassung in Edinburgh gegründet. Der Handel mit dem Rohmetall und der schottischen Wolle ist noch nicht angelaufen… Und in Brügge haben wir dreißig Arbeiter für unser zweites Handelskontor eingestellt. Die Gulden für die Mitgliedschaft in der Windauer Gilde hat uns der ehrenwerte Balduin Steenbaggers geliehen… und der wünscht sicher sein Geld zurück und nicht Vorträge über vertragsbrüchige Slawen…“ Sie blickte ihm in die blauen Augen, die den ihren so ähnlich waren. „Vater hätte das nicht zugelassen. Ihm wäre sicher etwas eingefallen…“ Gedankenverloren streifte ihr Blick durch den Raum. „Wir müssten mindestens 50 Arbeiter entlassen. Das bedeutet vorerst Hunger für 50 Familien.“ Ihr Blick wurde hart. „Nun gut. Jetzt müssen wir uns erst einmal dem Speichel leckenden Unterhändler der adeligen Händlergilde stellen. Wie heißt der Mann: Igor?“
„Ivan, wenn mich nicht alles täuscht.“
Christian löschte die Kerzen, verschloss die Pergamente erneut in den ledernen Bullen und verließ mit Alida das Gebäude. Er warf ihr beim Hinausgehen einen dicken Wollmantel und Fäustlinge zu.
Draußen war es wenige Grad über null. Große Schneehaufen schmolzen träge dahin und begruben die kopfsteingepflasterten Straße unter einer dicken Schlammschicht. Einzelne von Ochsen gezogene Wagen kämpften sich unter heftigen Peitschenschlägen der Besitzer durch den Morast. Alida zog den Umhang fester um die Schultern. Die feuchte Kälte schien sich direkt von ihrer Haut in ihre Knochen einschleichen zu wollen.
Der Bote der hiesigen Händlergilde wartete am derzeit trocken gelegten Brunnen im Zentrum von Windau. Eine große knorrige Linde knarrte im Wind und streckte ihre kahlen Äste in den grauen Himmel. Es roch nach Schnee. Der große braunhaarige Mann hatte ein glattes Lächeln auf den Lippen, das jedoch nicht die Augen erreichte. Er sprach sie in Deutsch an: „Liebste Frau Alida van de Burse, Herr Christian van de Burse. Es ist mir eine Freude, Euch in unserem schönen Ventspils, euch vertraut unter dem Namen Windau, begrüßen zu dürfen. Es ist mir eine Ehre euch mit Rat und Tat bei der Errichtung eurer Handelsniederlassung behilflich sein zu dürfen.“
Als der in schwarzen Samt gehüllte Mann sich einen Moment umwandte und mit weit aus-schweifender Gestik die Infrastruktur und Schönheit der Stadt lobte, warfen sich die Geschwister einen vielsagenden Blick zu und Christian flüsterte tonlos: Welche Hilfe? Beide wussten: Diese Geste war nichts als eine Posse.
Er führte sie durch die Gassen, vorbei an den Handelshäusern, dem Rathaus, den Palästen der Adeligen, über Brücken und an großen Gehöften vorbei. Er lobte die tadellosen Bürger, die fleißigen Bauern und die ehrenwerten Fürsten und kam mit einem Seitenblick auf Christian gar nicht mehr aus dem Schwärmen von der Schönheit der livländischen Frauen heraus. Langsam begann der erste Schnee zu fallen und schmolz augenblicklich auf ihrer dicken Winterkleidung. Einzelne Flocken glitzerten in den letzten Sonnenstrahlen in den hellblonden kurz geschorenen Haaren ihres Bruders, der versuchte mit einigen belanglosen an Ivan gerichteten Floskeln die Stimmung etwas aufzulockern. Die Kälte kroch immer tiefer in ihre Mäntel. Ihr Rundgang führte die Gruppe schließlich an der großen gemauerten Hafenanlage und den Lagerhäuser. Alida hielt es nicht mehr aus. „Verzeiht Meister Ivan. Uns ist aufgefallen, dass sich die gemeinen Bürger schwer tun in unsere Dienste zu treten. Es gibt viele Tagelöhner, die in den Straßen warten und sich nach Arbeit umsehen. Aber keiner erklärt sich bereit unser wohl-gemeintes Angebot anzunehmen. Könnt ihr mir dies erklären?“ Ein entschuldigendes Lächeln breitete sich auf der Miene des Mannes aus. „Die Windauer Bürger sind einfache, ja, aber-gläubige Menschen. Sie zögern bevor sie sich einem Fremden anvertrauen. Aber das wird sich gewiss in den nächsten Monaten ändern.“
„Gewiss.“ Alida blickte über die riesigen Koggen mit gerafften Segeln und den livländischen Flaggen um ihren skeptischen Blick zu verbergen. War es Aberglaube, der einen hungrigen Mann und seine Familie eher betteln ließ als einer Arbeit nachzugehen oder vielmehr die gepanzerten Wachmänner mit ihren Hellebarden, die scheinbar überall in den Winkeln der Stadt zu finden waren?

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„Verzeiht, aber wir sollten zurückgehen. Diese schneidende Kälte macht einen Ausflug zu einer gar ungemütlichen Angelegenheit“, ließ sich Christian vernehmen.
Ivan nickte und wandte sich um. Alida zögerte. „Meister Ivan. Verzeiht, wenn ich nachfrage, aber wäre dieser Weg unter den im Moment gegebenen Umständen nicht kürzer?“ Sie deutete direkt die Straße entlang zu den Wimpeln der Stadtmauer, die sie in einiger Entfernung er-kennen konnte. Alida erkannte das Unbehagen auf dem Gesicht ihres Führers.
„Ihr habt ein gutes Gespür, meine Dame. Der Weg wäre kürzer, führt jedoch direkt durch das Armenviertel der Stadt. Keine passende Umgebung für eine Dame.“ Christians Augen funkelten als er Alida zublinzelte. Er kannte ihre Gedanken. „Macht euch keine Gedanken um meine Schwester. Sie weiß gar wohl mit Pfeil, Bogen und Dolch umzugehen. Und mit einer Handelsniederlassung in dieser prächtigen Stadt steht es uns wohl an über alles in dieser Hanse-stadt…“ Er zögerte einen denkwürdigen Augenblick. „… Bescheid zu wissen.“
Ivan blieb nichts übrig, sie auf direktem Weg zur Stadt zu führen, wollte er der Höflichkeit genüge tun. Die gepflasterte Straße wand sich durch eine kleine Ansammlung schäbiger Hütten ohne Fenster durch deren Dächer der Regen nach innen tropfte. Die Eingänge waren not-dürftig mit Türen verrammelt und mit Stofffetzen verhängt. Ab und an schlurfte eine in Lumpen gehüllte Gestalt durch die Baracken und warf ihnen einen kurzen Blick zu.
„Wer sind diese Menschen?“ wagte Alida zu fragen.
„Das sind Flüchtlinge.“ Sein Blick verriet die Verachtung, die er für die Menschen empfand. „Sie sind letztes Jahr zu uns gestoßen. In ihrer Heimat ist ein großer Krieg ausgebrochen, der wohl viele das Leben gekostet hat. Sie haben mit Sack und Pack ihre Heimat verlassen und standen irgendwann mit ihren Eselskarren und Familien vor unseren Mauern und wünschten Einlass und eine Bleibe. Stellt euch vor: es sind gar andersgläubige der orthodoxen Kirche, die einen Patriarch statt unseres Heiligen Vaters anbeten und sogar Juden darunter.“ Ivan schüttelte den Kopf und wagte ein verschwörerisches zuversichtliches Lächeln. „Sie waren reich. Also hat unser Stadtrat ihnen für viel Gold die Stadtrechte verkauft. Allerdings gibt ihnen niemand hier eine bezahlte Arbeit. Sie werden sich also wohl oder übel demnächst eine neue Bleibe suchen müssen.“
Sein verschmitztes Grinsen verriet den Stolz auf das Handeln der obersten der Stadt und seine Brust schwoll an, als wäre ihm selbst der grandiose Einfall geglückt.
Christian sah Alida an und in seinem Blick lag eine unausgesprochene Warnung doch Alida ließ sich nicht beirren und schritt kurzerhand auf eine vermummte Frau zu, deren Atem vor ihrem Mund als kleine weiße Wolke aufstieg. „Verzeiht. Seid ihr vielleicht des Flandrischen mächtig?“ Sie versuchte es in den anderen Sprachen, die sie kannte und vermied dabei das Deutsche, das Ivan so gut beherrschte. Doch die Frau starrte sie nur mit großen, ängstlichen Augen an und wandte sich dann ab.
Ivan trat mit einem gewinnenden Lächeln an ihre Seite. „Das sind einfache, plumpe Menschen. Es ist wohl etwas viel zu erwarten, dass sie einer der gängigen Sprachen mächtig sind.“ Er legte ihr eine Hand auf die Schulter und schob sie so höflich wie nur möglich weiter.
Irgendwann verabschiedete er sich mit höflichen, zuversichtlichen Worten an der Bleibe, die die Geschwister in der Zeit ihres Aufenthalts gemietet hatten.
Alida und Christian suchten die Wohnstube auf. Eine Magd sowie ein Knecht, die sie aus Brügge begleitet hatten, hatten bereits ein Feuer im Kamin entzündet und einen Braten mit Rüben zubereitet. Alida sog den köstlichen Duft ein und ließ es sich gemeinsam mit ihrem Bruder und dem Gesinde am großen Tisch in der Küche schmecken. Sie bedankte sich bei den Dienstboten und entließ sie damit sie sich zur Nachtruhe begeben konnten. Alida ließ sich derweil neben Christian vor dem Kamin in einem großen Sessel nieder und überprüfte noch einmal die Papiere, legte sie dann jedoch weg. Zu so später Stunde würde ihr das Durchsehen keine neuen Erkenntnisse bringen. Sie griff nach einem Buch mit dem Titel Nomoi, das sie vor kurzem von einem Händler aus Griechenland geschenkt bekommen hatte. Es war die kostbare Abschrift einer Abhandlung eines alten Philosophen namens Platon, der darin Gedanken über den idealen Staat beschrieb. Sie schlug die Seite auf, die sie zuletzt gelesen hatte: „Soweit also die Staatsformen das Gemeinwohl anstreben, sind sie im Hinblick auf das schlechthin Gerechte richtig; diejenigen aber, die nur das Wohl der Regierenden anstreben, sind verfehlt und allesamt Abweichungen von den richtigen Staatsformen; denn sie sind despotisch, der Staat ist aber eine Gemeinschaft von Freien.“
Von irgendwoher vernahm sie ein Klopfen. Sie blickte den blonden Mann ihr gegenüber an. Christian nickte. Er hatte es auch vernommen. Er erhob sich und öffnete nach kurzem Zögern die Haustür. Alida hatte die Hand an einen Dolch gelegt, den sie stets am Gürtel trug. Vor der Tür stand in der Schwärze der Nacht eine Gruppe von vier vermummten Gestalten, drei davon hochgewachsen, eine klein und zierlich. An den armseligen Kleidern erkannte Alida die vier als Bewohner der vor der Stadt liegenden Armensiedlung.
„Dürfen wir eintreten?“ vernahm sie in klarstem Latein eine männliche Stimme. Christian zögerte kurz, dann nickte er, trat zur Seite und ließ die Gestalten passieren. Alida musterte sie genauer. Es handelte sich um zwei Frauen; eine wohl Mitte zwanzig, eine in mittleren Jahren, einen Mann mit rotem exakt geschnittenem Vollbart und einen Knaben von wohl acht Jahren mit kurzen braunen Haaren. Alidas Blick blieb an den ängstlichen Augen des Jungen hängen. Sie waren von einem so warmen Kastanienbraun, das es fast ins Rötliche überwechselte und stachen aus dem blassen Gesicht hervor.
Alida nahm den Besuchern die Mäntel ab und bot ihnen nach dem Gebot der Gastfreundschaft etwas zu essen an. Der hungrige Blick ließ sie ahnen, dass die Gestalten das Angebot nicht ablehnen würden. Sie führte alle in die warme Küche an den großen Buchenholztisch. Die Frauen griffen ohne Zögern zu. Der Junge und der Mann jedoch schüttelten nur die Köpfe als sie ihnen einen Teller mit übriggebliebenem Rübengemüse reichen wollte.
Die grauen Augen des Mannes musterten die flandrischen Geschwister. Dann sprach er erneut in perfektem Latein: „Ich bin Victor. Die Frauen sind Alischa, die Witwe des Meisters der Zimmermannsgilde, und Livia, meine Frau. Der Junge hier ist mein Sohn Emilian. Wir sind Opfer eines großen Krieges, Flüchtige aus Minsk. Der Krieg, der derzeit in Romania herrscht hat auch vor unserer Heimat keinen Halt gemacht. Niemand versteht das eigentliche Ziel des Schlachtens: Die Feindbilder, die die Obrigkeit heraufbeschwört wechseln wie das Wetter und die Soldaten streben wie die Fliegen….“ Seine Augen fixierten einen Punkt weit in der Vergangenheit. Er zögerte bevor er fortfuhr. „Wir konnten im Gegensatz zu den meisten Mitgliedern unserer Familien mit einem Teil unseres Habe fliehen. Viele starben bei der Flucht… Um bleiben zu können tauschten wir all unseren Besitz in Gold und ließen es im Tausch für die Bürgerrechte hier in Windau bei den Stadträten. Niemand von uns hätte ahnen können, dass uns der Zugang zu einer ehrlichen Arbeit verwehrt bleiben würde. IM Sinne der Obrigkeit traut sich kein Bürger uns anzustellen.“ Er betrachtete die Frauen und den Jungen, der an seiner Seite saß und den Kopf gesenkt hielt. „Früher war ich Goldschmied und Händler. Nun gelingt es mir nicht einmal mit Betteln meine Familie zu ernähren. Viele sind in diesem Winter verhungert oder wurden durch ein Siechtum dahin gerafft. Ihr wart heute in unserer…. Siedlung. Ich bin mir sicher, ihr seid euch unserer misslichen Lage bewusst...“ Erneut wanderte sein Blick zu Ihnen. „Vielleicht können wir uns gegenseitig unterstützen?“
Die Blicke, die sich die Geschwister zuwarfen bedurften keiner verbalen Kommunikation.
Alida wagte es offen ihre Gedanken auszusprechen: „Der Stadtrat hat euch betrogen. Genauso wie uns.“ Ein leichtes rachsüchtiges Lächeln legte sich auf ihre Züge. „Ihr benötigt Arbeit um eure Familien zu ernähren? Wir benötigen Arbeiter um Gebäude zu bauen und sie für uns zu bewirtschaften. Seid ihr dazu in der Lage?“ Die ältere Frau nickte hoffnungsvoll. „Wir verfügen über die nötigen Kenntnisse und wir haben einige fähige Handwerker unter uns. Viele von uns waren in Minsk eigenständige Meister, Händler und auch Gelehrte.“ Die jüngere Frau legte ihr bekräftigend eine Hand auf den Unterarm. Ihre Worte waren leise aber eindringlich: „Und wir wissen wofür wir kämpfen.“
Alida vermied es näher auf den zögernden Blick ihres Bruders einzugehen. „Ich bin mir sicher, wie werden zu einer guten Übereinkunft kommen. Und ich schwöre im Namen meiner Familie, es soll euer Schaden nicht sein.“ Sie streckte dem großen rothaarigen Mann namens Victor ihre Hand entgegen. Ohne zu zögern ergriff er diese und drückte zu. Seine Finger waren wohl noch vom Frostwetter der Märznacht eiskalt. Dann schlugen auch die anderen Mit-glieder der Gruppe ein. Auch die Finger des kleinen Jungen schienen wie erfroren doch seine Augen musterten sie interessiert und wachsam.
Mehrere Stunden saßen sie am Tisch zusammen, erörterten Konzepte, besprachen Handels-strategien und begutachteten die Baupläne, die Alischa grob auf ein altes Pergament skizzierte.
Alida entließ die vier Besucher schließlich gegen Mitternacht mit Vorräten und einigen getragenen Kleidern, die sie noch in einer Kiste gefunden hatte. Sie schloss die Tür.
Christian atmete tief ein und sah sie an. Sein Blick hatte etwas Unheilverheißendes an sich.
„Alida? Ich schätze deine Intuition in geschäftlichen Dingen wirklich sehr, aber diesmal habe ich ein wahrlich mulmiges Gefühl. Ist dir klar, was wir hier tun? Wir sollten uns nicht mit den Fürsten der Stadt anlegen. Das kann nur böse enden. Was wir hier starten, kann vom Stadtrat nicht abgelehnt werden, aber jeder wird die offene Rebellion darin erkennen.“
Alida grinste nur: „Sollen sie doch. Wird Zeit, dass sie ihr arrogantes, überhebliches Spiel nicht mehr mit jedem spielen können. Irgendjemand muss sich ihnen irgendwann einmal widersetzen. Die Zukunft wird weisen wie erfolgreich die östlichen Fürsten gegen die Hanse und zwei fremde Bürger von Flandern vorgehen werden.“
Christian löschte das Kerzenlicht.


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Verfasst: So 6. Jul 2014, 14:11 


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Windau, September 1096

Alida ging vorsichtig über die frisch gepflasterte Straße. Einzelne Steine waren noch glatt und das Lehmgemisch, das man an manchen Stellen zur Befestigung verwendet hatte, war nach den Regenfällen der letzen Wochen noch nicht gänzlich getrocknet. An ihrer Seite schritt ein junger, hochgewachsener Mann mit braunem Haar. Georg war seit drei Jahren von Christian als Verwalter für das Gut der Familie in Brügge angestellt wurden. Als Sohn des alten Knechts ihres Vaters waren die Geschwister Christian, Alida und Maria gemeinsam mit ihm aufgewachsen und Alidavertraute ihm wie einem Bruder. Die blonde Frau warf ihm einen verstohlenen Blick zu und musterte das wohl geschnittene Gesicht und die Muskeln, die sich unter seinem Leinenhemd abzeichneten.

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„… und dann hat doch der Kerl, so blöd ihn der Herr wohl geschaffe’ hat, geglaubt er könne das Schwein mit Branntwein abfüllen. Du kannst de die Sauerei im Hof vorstellen. Ich glaub wir ham mit drei Leuten zwei Tage gebraucht bis es wieder halbwegs aussah.“
Alida lachte laut bei Georgs Ausführungen. Es wurde Zeit, dass sie wieder nach Hause kam. Sie vermisste den Rest ihrer Familie, vor allem ihre ruhige geduldige Schwester Maria und deren drei Kinder, die Bürger von Brügge, die Seeleute mit ihrer rauen Sprache, den Apfelhain, den Markt. Ihr fielen auf Anhieb so viele Dinge ein und sie spürte das Heimweh. Sie war bereits seit sechs Wochen in Windau. Es war nun September und bald würden die Herbststürme losbrechen. Alida spürte die Wärme der letzten Sonnenstrahlen auf ihrem Gesicht und sog die salzige Seeluft ein.

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Vor ihnen lagen die Häuser des einstigen Armenviertels. Alida war beeindruckt von dem, was die ehemaligen Bürger von Minsk erreicht hatten. Die Hütten waren geraden, weiß gestrichenen Holzhäusern gewichen. In ordentlich geharkten Gärten blühten die letzen Heckenrosen und leuchteten mit roten Äpfeln, die an niedrigen Apfelbäumen hingen, um die Wette. Viele hielten Hühner und Schweine, einige sogar eine Kuh oder ein Pferd. Victor und seine Leute planten demnächst die Errichtung einer Schule.
Die Geschäfte, die im Kontor der Familie van de Burse überwiegend von den Minsker Händlern geführt wurden, liefen prächtig und sicherten allen ein geregeltes gutes Einkommen. Derzeit war es nur an den Händlern aus Flandern den Kontor regelmäßig mit Waren zu versorgen und die Lagerhäuser stets gefüllt zu halten. Der Rest lief fast wie allein.
Sie spürte Erleichterung in sich aufsteigen, als sie an die warnenden Worte ihres Bruders dachte, der sich dafür ausgesprochen hatte einen Konflikt mit der Obrigkeit zu vermeiden und Windau zu verlassen. Der Konflikt war ausgeblieben. Die Geschäfte der überwiegend adeligen Händlergilde liefen nicht so gut wie durch den Beitritt zur Hanse erhofft. Die meisten Fürsten hatten keine Ahnung von Handel und erzielten nur Gewinne durch das Wissen und das gute Gespür ihrer Angestellten und Knechte. Diese hatten sich jedoch in den letzten Jahren, wohl auch durch den erfolgreichen Widerstand der ausländischen Händler, von ihren Herren losgesagt und waren ihren eigenen, überwiegend erfolgreichen Geschäften nachgegangen. Statt sich zu vermehren schrumpfte das Vermögen der Fürsten.
Wenn Alida ehrlich zu sich selbst war, hätte sie nie geglaubt, dass es so einfach werden würde….
Georg musterte die weißen Häuser. „Hübsches Viertel. Un’ so nah am Hafen.“ Er nickte. „Sehr praktisch. Allerdings außerhalb von de’ Stadtmauer. Vielleicht wär’s sinnvoll die irgendwann auszubauen, glaubst nit, Alida?“
Die blonde Frau nickte ebenfalls. „Absolut. Es gibt hier zwar nicht viele Überfälle, aber die Menschen wären hier draußen recht schutzlos.“
Wahrend die Sonne hinter dem Horizont verschwand und das Meer ein letztes Mal in tiefes Rot tauchte, erreichten sie den Hafen. Vier große flandrische Koggen lagen im Hafenbecken und wurden gerade mit schweren Pelzen und großen tönernen Gefäßen beladen. Am Geruch erkannte Alida sofort, dass es sich um Bienenwachs handelte. Wachs aus Russland, war wegen seiner Qualität vor allem in den Klostern und Städten Westeuropas für die Kerzenproduktion sehr geschätzt.


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Alida schritt vorsichtig über die Reling und betrat das große hölzerne Schiff. Die Segel über ihr waren gerafft und knarrten leise im Wind. Das Schwanken unter ihren Füßen war ihr so vertraut wie der feste Steinboden in der heimeligen Küche ihrer Familie. In der Dämmerung blieb sie an einem der scharfen Nägel hängen und riss sich die Hand auf. Einige Blutstropfen fielen auf das Buchenholz und hinterließen winzige rote Flecken. Mit einem Seufzen unterdrückte sie die Worte, die ihr auf den Lippen lagen. Georg trat neben sie und musterte die Wunde kritisch.
„Alles ‚n Ordnung?“ Er kräuselte nachdenklich die Lippen. „Nix Schlimmes. Sollteste aber reinigen. Ich geh’ runter un’ hol ‚ne Flasche Branntwein.“ Er klopfte ihr kurz aufmunternd auf den Arm und verschwand nach wenigen Schritten in der Tür zu den Laderäumen.
Alida war allein. Sie mochte diese Augenblicke. Sie ging zum Bug des Schiffes, lehnte sich an die Reling und lauschte den Geräuschen des Schiffes. Während sich wenige Meter unter ihr kleine Wellen am Schiffsrumpf brachen, wurden tief im Bauch des mächtigen Ungetüms Waren gestapelt und verladen. Amphoren voller Wachs wurden sicher gelagert, Kisten voller Harze festgezurrt. Einige Schafe, die Frederik einem befreundeten Gutsherrn für die Zucht versprochen hatte, blökten misstrauisch in ihrem provisorischen Stall.
Alida sog tief die kühle, salzige Meeresluft ein und betrachtete den sichelförmigen Mond, der am Horizont aufging. Sein verschwommener weißer Zwilling schimmerte im dunkelblauen Wasser. Ein Lächeln huschte über ihr Gesicht. Morgen würden sie die Heimreise antreten. Alida freute sich bei dem Gedanken an ihr Zuhause: Brügge, die große Hansestadt mit ihren alten Gebäuden, Gutshäusern und den Kanälen, die die einzelnen Stadtteile wie Straßen miteinander verbanden. Den bunten Markt, die kopfsteingeplasterten Straßen, das Geschrei der Möwen in der Luft und den Geruch der Apfelblüten im Garten ihrer Familie.
Ein seltsames Gefühl in ihrem Rücken ließ sie nach hinten sehen. Wenige Meter von ihr entfernt stand ein kleiner, in einen braunen Mantel gehüllter Junge, der sie aus großen rotbraunen Augen betrachtete. Ruhig musterte er sie, keine Regung ging von ihm aus. Er wartete. Sie erinnerte sich an die Augen. Von der gleichen Farbe wie die Halbedelsteine aus Ägypten, mit denen sie ab und an handelten, …Jaspis. Der Sohn von Victor und zzz, Emilian.
Sie lächelte ihn aufmunternd an. „Na, Emilian. Was machst du denn hier auf unserem Schiff?“
Er trat neben sie, kletterte die Holzbalken hoch und verhakte seine Füße in diesen um über die Reling schauen zu können. Seine Stimme war außergewöhnlich ruhig und überlegt für sein Alter. „Von hier kann man besser auf das Meer schauen als vom Festland. Findet ihr nicht?“ Wieder fing sie seinen merkwürdigen Blick auf. Irgendwie von der gleichen Farbe wie geronnenes Blut, ging es ihr durch den Kopf. Aber dennoch wunderschön.
„Ja, das stimmt. Aber müsstest du nicht längst zu Hause im Bett sein? Und wo sind denn deine Eltern? Für gewöhnlich toben abends keine Kinder auf unserem Schiff herum.“
Er schüttelte ein wenig empört den Kopf. „Ich tobe doch nicht, Alida.“ Die unförmliche, wenig respektlose Art des Jungen irritierte sie ein wenig, amüsierte sie jedoch gleichwohl. „Meine Eltern sind unten und organisieren die Verladung. Ich soll nicht so weit weg gehen, haben sie gesagt.“ Er blickte kurz aufs Meer und dann wieder in ihre Richtung und schien ein wenig verlegen. „Ich bin immer nachts draußen. Meine Mutter sagt, wenn ich tagsüber draußen bin, werde ich krank. Und das stimmt auch.“ Er hob einen Ärmel und zeigte ihr ein Areal vernarbter Haut. Alida nickte zustimmend, war sich aber sicher, dass die Verletzung nichts mit der Tageszeit zu tun haben konnte. Vielleicht hatten Emilians Eltern in der Vergangenheit so traumatische Erfahrungen erleben müssen, dass es ihnen einfach sicherer erschien das Kind nicht tagsüber auf der offenen Straße herum laufen zu lassen. Vielleicht war das hier in Windau sogar tatsächlich sicherer. Die Bürger aus Minsk waren nach wie vor nicht gern gesehen und wurden misstrauisch beäugt.
„Und? Magst du das Schiff?“ versuchte sie das Gespräch in Gang zu halten. Die Antwort kam prompt. „Oh ja, es ist gigantisch. Wie ein riesiges Haus… eine Kirche. Ich würde auch gerne einmal mit einem fahren.“
Alida lachte über diesen Vergleich. „Kannst du gern eines tages tun. Wenn du groß bist, fährst du mit, okay?“
Emilian sah sie ernst an. „Alida? Du hast dich verletzt. Das ist nicht gut. Mein Vater sagt, es ist für uns sehr schlecht, wenn Leute bluten. Zeigst du’s mir?“ Er schreckte ihr die Hand entgegen. Alida war irritiert. Wie konnte der Junge im Dunklen den winzigen Schnitt bemerkt haben? Dennoch legte sie ihre Hand in seine kleinen Finger. Er fuhr mit dem Zeigefinger über die Verletzung und ein Brennen bereitete sich im Bereich der Wunde aus.
„Emilian? Hier steckst du also? Du solltest doch unter Deck bleiben…“ Livia erschien in der Tür zu den Laderäumen, ging auf ihren Sohn zu und drehte ihn an den Schultern zu sich herum. „Frau Alida, es tut mir sehr leid, wenn mein Sohn euch belästigt haben sollte.“
Alida schüttelte den Kopf und lächelte. „Emilian ist eine ausgezeichnete Gesellschaft.“ Im gleichen Moment betraten Georg, Victor und ihr Bruder Christian das Deck.
Frederik schwenkte ihr fröhlich zwei Flaschen Branntwein entgegen, Georg trug zwei Krüge Met in der Rechten. „Guten Abend, Schwesterchen. Sag doch einfach wenn du die Abfahrt feiern möchtest. Du musst dich ja nicht gleich selbst verstümmeln nur um einen Grund für ein Trinkgelage mit Branntwein zu finden.“ Er lachte laut und seine blauen Augen blitzten verschwörerisch.
Er wandte sich an Victor und dessen Frau: „Vielen Dank für eure Hilfe. Nun ist alles für die Abfahrt vorbereitet. Gleich morgen bei Sonnenaufgang hissen wir die Segel und dann geht’s gen Heimat.“ Er sah Richtung Horizont und seien Stimme wurde fast ein Rufen. „Brügge! Wir kommen!“ Er klopfte dem großen Mann auf die Schultern. „Dank euch läuft alles. Ihr seid eine große Unterstützung.“
„Herr Frederik, Frau Alida,Georg. Wir wünschen euch für die Abfahrt morgen einen guten Wind. Mögen euch die Meeresgötter gewogen sein“ Der hochgewachsene Minsker schmunzelte und deutete eine Verbeugung an. Georg drückte ihm lachend einen Krug in die Hand, dann schritt die kleine Familie über die Reling und verließ das Schiff. Der kleine Junge warf einen Blick über die Schulter und winkte leicht. Die Dunkelheit hüllte sie schon nach wenigen Metern in ihren Mantel.
Die beiden Männer nahmen Alida lachend in ihre Mitte und gingen Richtung Heck des Schiffes. „Der Rest unsrer Mannschaft kommt ach bald un’ dann wird gefeiert, “ frohlockte Georg. „Nun zeig aber ma’ die Wunde her, Alida.“ Alida zog ihre Hand hervor. Georg wirkte irritiert und griff nach einer Pechfackel, die in der Nähe hing. „Das versteh’ ich jetz’ echt nit. Ich hätt’ schwör’n könn’n, dass des geblutet hat.“ Er schüttelte den Kopf. Die blonde Frau musterte ihre Hand und streckte ungläubig die Finger und schloss sie erneut. Die Haut war absolut unversehrt als wäre sie nie verletzt gewesen. Sie griff zum Met und nahm einen tiefen Schluck. „Da müssen wir uns wohl geirrt haben. Prost!“ Sie ließ den Krug rund gehen. „Bleibt mehr für uns übrig, nicht wahr.“ Sie setzte ein Grinsen auf, aber zugleich spürte sie die Erinnerung an das seltsame Gefühl im Rücken. Den Blick aus kindlichen Jaspisaugen.

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Zuletzt geändert von Alida am So 26. Apr 2015, 00:44, insgesamt 2-mal geändert.

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BeitragVerfasst: Fr 30. Jan 2015, 22:40 
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Alida seufzte. Nervös wischte sie sich die verschwitzten Hände an ihrem Kleid ab. Sie ging zur Tür am Ende des kleinen Warteraums, machte kehrt, ging wieder Richtung Eingangstür, wendete erneut. Sie schien dieses Ritual nun schon seit Stunden zu vollziehen. Die erste Stunde hatte sie auf einer der Bänke, die an den Wänden des spärlichen Vorraumes aufgestellt waren, gesessen. Dann hatte sie es nicht mehr ausgehalten und war aufgesprungen. Man ließ sie mit Absicht warten. Als Demütigung, als Belehrung für Arroganz und Überheblichkeit. Um sie auf den niederen Platz zu verweisen, der ihr zustand. Dennoch harrte sie aus und betete ab und an zu Gott, Jesus oder einem Heiligen dessen Namen sie am Ende des Gebetes bereits wieder vergessen hatte. Sie ging wieder auf die große prunkvolle Pforte zum Saal der Adeligen zu, hob die Hand wie um Anzuklopfen und ließ sie dann wieder sinken. Ihr Blick richtete sich auf den Boden und Wut stieg in ihr auf. Anklopfen würde als Affront angesehen werden und die Audienz, die man ihr zugesichert hatte, würde vertagt werden. Wieder machte sie kehrt und ging an eines der kleinen Fenster, das so verdreckt war, dass der Blick nach draußen nicht möglich war. Es dämmerte bereits und der Tag neigte sich dem Ende zu. Wieder tat sie ein paar Schritte, hielt jedoch inne als sie das Schaben der Eingangstür vernahm, die sich geräuschvoll öffnete. Ein draußen positionierter Wachmann in einer verrosteten schäbigen Rüstung hielt die Eichentür auf und ließ einen Mann eintreten. Ihre an die Dunkelheit gewöhnten Augen waren nicht in der Lage das von hellem Tageslicht umrahmte Gesicht zu erkennen. Der Wachmann zog die Tür wieder hinter sich zu und Alida eilte der gestalt dessen Schritte ihr so bekannt waren entgegen.
Georg, der hochgewachsene Gutsverwalter der Familie van de Burse umarmte sie kurz und sah sie besorgt an. „Alida? Hältst du es noch immer für eine gute Idee auf die Audienz bei den adeligen Vorständen der Stadt zu warten? Du musst hier weg! Und zwar schnell.“ Alida zog eine Augenbraue hoch. Georg sprach in den seltensten Momenten ohne den vertrauten Brügger Akzent. Nur dann wenn es über alle Maßen ernst war.
Alida nickte. „Was konntest du draußen in Erfahrung bringen? Was spielt sich in Windaus Straßen ab? Und wie kommt es zu den Unruhen?“
Georg atmete tief ein um sich zu sammeln: „Seit die Bewohner von Minsk sich vor einigen Jahren hier angesiedelt haben und Frederik und du sie in eure Dienste genommen haben steigt der Wohlstand der ehemaligen Flüchtlinge. Sie haben saubere Häuser, ihr täglich Brot, wissen, sie werden ihre Familie und ihre Tiere durch den Winter bringen können. Es geht ihnen gut. Die Bewohner von Windau können das nicht von sich behaupten. Der Dienst bei den Edlen und Angesehenen von Windau wirft kaum genug ab um von der Hand in den Mund zu leben.“
Alida nickte. Diese Umstände waren ihr seit einigen Jahren bekannt. Ungeduldig blickte sie ihn an und er fuhr fort. „Das Alles hat zu Neid in der Bevölkerung geführt und schon seit langem wird gemunkelt, dass es dabei nicht mit rechten Dingen zugehen kann. Dass der Teufel mit im Bunde sein müsse, ein Pakt geschlossen wurde…“ Alida gab eine abfällige Bemerkung von sich. „Pah. Das ist doch Unfug. Der Stadtrat von Windau hat die Minsker Bürger unter unvorstellbaren Zahlungen aufgenommen um sie im Anschluss draußen vor den Toren der Stadt ohne die Möglichkeit auf einen Broterwerb verhungern zu lassen. Alle wissen das. Hätten wir sie nicht angestellt, hätten die Flüchtlinge ihren elenden Zug auf der Suche nach einem neuen Zuhause fortsetzen müssen oder sie wären elendig an Hunger oder Krankheit verstorben. Der einzige Teufel in dieser Stadt sitzt hier drin!“ Sie deutete auf die große mit Intarsien verzierte Tür zum Rathsaal und Wut funkelte in ihren blauen Augen.
„Alida! Nicht so laut“ flüsterte Georg und erst jetzt bemerkte Alida, dass ihre Stimme langsam an Lautstärke zugenommen hatte. Sie nickte und Georg setzte die Unterhaltung im Flüsterton fort. „Vor drei Nächten sind zwei alte Männer fast zeitgleich wenige Minuten vor Mitternacht verstorben und eine Hure im Hafenviertel der Stadt gibt an einige Bürger von Minsk zum gleichen Zeitpunkt dabei beobachtet zu haben, wie sie einem ortsansässigen gefürchteten Schläger oder Mörder, was weiß ich, zusetzten. Victor soll dabei gewesen sein. Und sein Sohn.“
„Emilian? Das kann ich mir nicht vorstellen. Victor liebt den Kleinen abgöttisch. Er würde ihn nie in irgendeine Gefahr bringen.“ Alida dachte an Victor, den Mann mit dem rotem exakt geschnittenem Vollbart und inoffiziellen Anführer der Flüchtlinge und seinen Sohn mit dem kurzen braunen Haar und den rot braunen Augen, die immer aus dem blassen, kränklich wirkenden Gesicht heraus stachen, das klare Lachen des Jungen und die klugen Bemerkungen, die er von sich gab, wann immer sie die Familie antraf. Die Geschwister van de Burse waren längst gern gesehene Gäste bei Victor und seiner Frau Livia. Man saß zusammen, besprach Alltägliches, Geschäfte, den Klatsch und Tratsch auf den Straßen, lachte gemeinsam und genoss die milden Abendstunden. Emilian, der Sohn des Ehepaares schien vor allem an Alida einen Narren gefressen zu haben und war bei jedem Treffen zugegen.
Alida sah Georg fragend an. „Selbst wenn diese Begebenheiten Tatsachen wären, erkenne ich darin nicht das Problem…“
„Der Schläger wurde am nächsten Morgen blass, leblos und ohne jegliche Verletzung im Hafenbecken aufgefunden. Es wurden Stimmen laut, die von einem satanischen Ritual reden, dass den Tod von mehreren Leuten um Mitternacht beinhaltet.“
Alidas Augen weiteten sich sorgenvoll. „Verdammt. Georg. Das ist doch absoluter Schwachsinn. Da sterben zwei alte Männer friedlich in ihren Betten und ein gefürchteter Schläger fällt im Suff ins Hafenbecken und ertrinkt und schon sollen die Minsker daran die Schuld tragen. Das ist Wahnsinn!“
„Alida! Du hast absolut recht. Dieser Wahnsinn ist mit Sicherheit von den neidischen Adeligen der Stadt inszeniert, die ihre Ausrufer in die Wirtshäuser und auf den Marktplatz gestellt haben, damit sie dort ihre Parolen von sich geben und gegen die Neuen Unmut stiften. Die adelige Bevölkerung hat seit ihr hier seid unglaublich an Macht und Einfluss eingebüßt und ihr Reichtum schwindet dahin. Was denkst du wohl? Sie wollen Rache! Und die bekommen sie nun.“
Alidas blaue Augen starrten ihn an und darin lag die Frage, die sie nicht auszusprechen wagte.
„Victor, vier andere Männer von Minsk und Alischa, die Witwe des Meisters der Zimmermannsgilde wurden inhaftiert und der Hexerei angeklagt. Zwei Stunden nach Sonnenuntergang werden sie brennen. Die Scheiterhaufen werden gerade auf dem Marktplatz aufgeschichtet. Wo immer ein Minsker sich sehen lässt wird er bespuckt, beschimpft oder gar schlimmeres…“
Alida sah ihren alten Freund aus Kindertagen mit offenem Mund an und ein Ausdruck blanken Entsetzens lag auf ihren Zügen. Ihre Stimme war nur ein Hauch. „Das kann nicht wahr sein.“
Georg bestätigte nur mit einem traurigen Nicken seine Worte.
„Verdammt. Wie steht es mit meinem Bruder, Georg? Wann wird Christian eintreffen?“ Der blonde junge Mann war bereits in den Morgenstunden nach Goldingen, eine Stadt in wohl dreißig Meilen Entfernung gereist. Dort lagen drei Koggen der Familie van de Burse vor Anker mit wohl achtzig Mann Besatzung, die sie zur Verstärkung nach Windau beordern wollten.
Wieder wurde ihre Frage nur mit einem traurigen Kopfschütteln quittiert. „Nicht vor Morgen früh…“
Alidas Gedanken rasten und schienen sich doch stets nur ohne Ergebnis im Kreis zu drehen. Sie kaute an ihrer Unterlippe. „Georg. Verlass das Rathaus. Versuch so viele Bewohner wie du retten kannst auf unser Schiff im Hafen zu bringen.“
Der Blick, der dem ihren begegnete war nach wie vor besorgt. „Und was ist mit dir?“ Die junge Frau versuchte ein Lächeln. „Ich versuche hier mein Glück. Vielleicht kann ich den Stadtrat von diesem Wahnsinn abhalten und sie dazu bringen das Urteil abmildern zu lassen.“
„Und wie willst du das anstellen?“
„In dem ich ihnen das gebe, was sie wollen…“



Alida betrat mit festem Schritt den großen Ratssaal. Die Wappen der hiesigen Adelshäuser waren in bunten Farben an die gegenüberliegende Wand gemalt und mit reichen Schnörkeln in Blattgold versehen. Links und rechts von ihr waren zu beiden Seiten Tische aufgestellt hinter denen schwarz gekleidete Schreiber mit Tinte und Pergament saßen um Notizen zu verfassen und die gesprochenen Worte im Sinne ihrer Herren nieder zu schreiben. Vor ihr, erhöht am Ende einer kurzen breiten Treppe befand sich eine lange Eichentafel an der wohl die zehn einflussreichsten Adeligen der Stadt saßen und laut miteinander schwatzten. Ab und an wurde das Geplauder durch ein Rülpsen oder das heftiges Gebell zweier Hunde unterbrochen, denen man einen Knochen vom Tisch zugeworfen hatte und die sich nun darum balgten. Alida blieb am Fuß der Treppe stehen und betrachtete wie das Festgelage langsam von unbemerkten Dienern abgetragen wurde und die Herren sich ein ums andere Mal mit ihren Bierhumpen zuprosteten. Sie senkte demütig das Haupt und wartete lange Minuten in dieser Haltung aber niemand schien auch nur Notiz von ihr zu nehmen. Sie räusperte sich leise und einer der Adeligen mit rotem Gesicht und Bierschaum im üppigen Vollbart gab einem Schreiber ein Zeichen. Der dünne Mann erhob sich und sprach mit lauter jedoch dünner Stimme: „Meine hohen Herren. Die Händlerin, Frau van de Burse, ersucht um eine Audienz.“
„Tut sie das?“ Der schwarz gekleidete Mann ganz zur Rechten der Tafel musterte sie abfällig. Sie kannte das Gesicht: Imanov. Der adelige Bürger, der wohl am meisten von seinem Reichtum eingebüßt hatte. Er hatte seine Angestellten stets schlecht behandelt und diese, angespornt vom Handelsgeschick der Familie van de Burse hatten ihrem Herren den Rücken gekehrt und sich selbstständig gemacht. Dabei hatten sie ihrem uncharismatischen Lehnsfürsten im selben Handstreich die Handelspartner ausgespannt und damit den Verlust desselbigen noch vergrößert.

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Imanov kaute lange und ausgiebig und ließ sich einen weiteren Silberkelch mit Wein eingießen. Dann fuhr er mit gelangweilter Stimme fort: „Was will sie denn?“
Der Schreiber richtete das Wort an Alida. „Frau van de Burse. Was wünscht ihr?“ Alida hatte das Gefühl alles um sie herum müsste sich gleich in Wohlgefallen auflösen und sie selbst aus einem bösen Traum erwachen. Sie sah den dünnen Schreiber an. „ich möchte…“ Dann schüttelte sie jedoch den Kopf und trat einen Schritt näher auf die Treppe zu. Einige der Adeligen wollten sich empört aufgrund eines solchen Affronts aus ihren Sesseln erheben, ließen sich dann jedoch zurück in die Polster sinken als sie sahen, dass sich die blonde Bürgerin aus Flandern auf die Knie sinken ließ und den Kopf demütig zu Boden wandte. „Bitte, ihr hohen, ach so mächtigen Herren. Verzeiht mein ungebührliches Verhalten, aber die Zeit drängt. Erlaubt, dass ich Unwürdige mein Wort direkt an euch richte?“
Imanov strich sich mit den Fingern über das spitze Kinn und ein wohliges Lächeln legte sich auf seine Züge. Dieses Verhalten hielt er offensichtlich für angemessener als die bisherige Arroganz der Bürgerin des niederen Standes. Wieder ließ er einige Minuten verstreichen und tat als würde er nachdenken. „Die Bitte sei ihr ausnahmsweise gewährt. So soll sie denn sprechen.“ Er ließ seinen Worten eine gönnerhafte Geste folgen.
„Meine hohen Herren…“ Alidas Worte waren laut und klar. „In den Toren eurer Stadt bricht derzeit ein Aufstand aus. Fünf Bürger aus Minsk wurden der Hexerei angeklagt und zum Tode auf dem Scheiterhaufen verurteilt.“
„Und?“ Einer der Fürsten sah sie mit gelangweiltem Blick an.
„Dies kann nicht im Sinne des hohen Rates sein. Eine Unruhe führt zu Gewalt, Plünderung, Vandalismus und in fast allen Fällen zu unkontrollierbaren Bränden…“
Der Adelige mit dem Vollbart unterbrach sie. „Langweilig, sie soll…“ Doch Imanov brachte ihn mit einer knappen wütenden Geste zum Schweigen. „Sie soll weiter reden!“
„Meist werden die Geschäfte und Gehöfte der Adeligen als erstes im großen Chaos, das ausbricht, geplündert. Die Brände machen weder vor reichen noch armen Häusern halt und im Tumult, der ausbricht vermag keiner mehr Freund von Feind zu unterscheiden.“
Imanov blickte sie mit eisigen Augen an. „Was schlägt das unwissende Weib vor?“
„…Dass die hohen Herren in ihrer Weisheit die Hinrichtung verschieben und ihre Wachen für Ordnung sorgen lassen.“
Einige Männer tuschelten miteinander und machten mitunter zustimmende Bemerkungen doch Imanov brachte sie wieder mit einer Geste zum Schweigen.
„Die Unruhen sind aufgrund ihrer ketzerischen Worte und Taten ausgebrochen. Sie sind Ausländer, Unwissende, die glauben unterscheiden zu können was richtig und falsch ist und dabei den ihnen durch Gott zugewiesenen Platz verschmäht haben um seinen allumfassenden Willen zu leugnen. Sie haben die Bevölkerung aufgewiegelt und sie zu Ungehorsam angetrieben. Zu Ungehorsam ihren Herren gegenüber.“
Alida biss sich auf die Lippe und schmeckte das volle metallene Aroma von Blut, das sich in ihrem Mund ausbreitete. Dennoch biss sie fester und senkte demütig das Haupt um nicht doch ein unkontrolliertes Wort von sich zu geben.
„Was gedenkt ihr als Vergebung für unsere Schuld annehmen zu können?“ Wieder sah sie das Funkeln in den Augen des dünnen Adeligen. Er hatte gewonnen.
„Dort drüben liegen einige Papiere.“ Er deutete mit seinem schmalen Zeigefinger auf einen großen Schreibtisch rechts von ihr. „Diese mag sie unterzeichnen, so sie denn ihre Verfehlung einsehen möge und uns um Vergebung bitten will. Dann mögen wir das Chaos, das sie ausgelöst haben vielleicht beenden“
Alida nickte und trat langsam an den Schreibtisch heran. Die Blicke der Fürsten folgten ihr und bohrten sich in ihren Rücken. Sie überflog die Pergamente, griff nach den Seiten und wurde sich erst nach dem zweimaligen Lesen der Zeilen bewusst, was sie unterzeichnen sollte. Es handelte sich um ein Schuldgeständnis für Aufwiegelei, Gotteslästerung und Aufforderung zum Ungehorsam gegen die Obrigkeit. Alida wusste was als Begleichen der Schuld gefordert werden würde bevor sie die entsprechenden Absätze zu Gesicht bekam. Die Familie van de Burse hatte sich umgehend aus der Hansestadt zu entfernen und ihre gesamten Besitztümer in Windau an den adeligen Stadtrat zu überschreiben. Sollten sie nicht bis zum Ende des nächsten Tages die Tore der Stadt verlassen haben, würde die Anklageschrift offiziell verlesen werden: ein Todesurteil.
Alida schluckte schwer. Das alles sollte sie unterzeichnen? Diese unsinnigen Papiere? Sie hatten einiges an Vermögen in die Stadt investiert, die Minsker Bevölkerung verdankte zum einen der Familie van de Burse zum anderen ihrem eigenen Geschick den Wohlstand und ihr war klar, was aus den ehemaligen Flüchtlingen werde würde, wenn sie nicht mehr da waren. Sie hätte die Möglichkeit sich an den Hanserat zu wenden. Die Macht der Hansestädte im Nord- und Ostseeraum war gewaltig und über kurz oder lang würden die Adeligen in Windau klein bei geben müssen. Aber auf der anderen Seite: was würde geschehen, wenn sie es nicht tat? Die Ausschreitungen gegen die Menschen würden noch in dieser Nacht viele Tote fordern und die Überlebenden wären ihres jetzigen Zuhauses beraubt. Sie war es den Menschen schuldig. Diese Leute verließen sich darauf, dass sie das in ihrer Macht stehende tat um sie zu schützen. Sie sah Victor vor sich, Livia und den kleinen Emilian und schluckte das Blut hinunter, das noch auf ihrer Zunge zu kleben schien. Christian hatte damals Recht gehabt als er sie gewarnt hatte nicht die macht der Adeligen herauszufordern. Es war ihre Schuld. Sie griff nach einer Feder, schloss die Augen und setze ihren Namen unter das Pergament. Der Schreiber zu ihrer Rechten wartete nicht ab bis die Tinte getrocknet war, sondern rollte die Papiere bereits zusammen und verwahrte sie in einer hölzernen Rolle, die er einem Diener überreichte. Imanov nickte lächelnd und wandet ein paar Worte an einen Wachmann, der neben ihm stand: „Bewacht die Paläste der hier Anwesenden. Sollte sich ein Bewohner von Windau unseren Anwesen nähern, dann stecht ihn nieder. Zieht die Brandwache von Windau ab und positioniert sie in den Straßen unserer Besitztümer. Wenn sich jemand weigert wird er hingerichtet. Sorg dafür, dass bei uns alles bereit steht um einen Brand unverzüglich löschen zu können.“ Der Wachmann salutierte und bestätigte den Befehl: „Wird erledigt, Herr!“
Alida stellte sich erneut an den Fuß der Treppe. „Ich habe unterzeichnet und möchte euch demütigst bitten für Ordnung in eurer glorreichen Stadt zu bitten.“ Sie wartete, erhielt jedoch keine Antwort. Irgendetwas lag schwer in der Luft und schien sie erdrücken zu wollen.
„Ihr hohen Herren: Ich bitte Euch. Dort draußen sterben Menschen.“ Ihre Stimme war ein Flehen.
„Sagt dem Weib aus Flandern, dass wir uns morgen um die Angelegenheit kümmern mögen. Wir müssen nun zunächst einmal bei uns selbst nach dem Rechten sehen…“
Ohne sie noch einen Blickes zu würdigen erhoben sich die Adeligen geschlossen und traten ab. Mit einem ungläubigen Kopfschütteln verfolgte Alida, wie sie laut diskutierend das Gebäude durch eine Hintertür verließen. Am Pferdegewieher erkannte sie, dass dort mehrere Kutschen auf die Männer gewartet haben mussten.
Sie wollte schreien, ihre Fäuste in das schmale Gesicht des Fürsten Imanov rammen, irgendetwas tun… Sie wandte sich um und trat langsam aus dem Saal. Sie stieß die Tür hinter sich zu und befand sich wieder im kleinen Warteraum. Mittlerweile war es draußen dunkel und keine Kerze erleuchtete in diesem Zimmer die finsteren Wände. Sie lehnte sich mit dem Rücken an die schwere Eichentür und merkte erst jetzt, dass sie am ganzen Körper zitterte. Sie schluchzte und Tränen der Verzweiflung rannen über ihr Gesicht und verschleierten ihren Blick. Sie wollte sich nieder gleiten lassen, mit den Händen die Knie umfassen und in einer Ecke darauf warten, dass dieser Albtraum ein Ende finden würde. Sie warf den Kopf in den Nacken und atmete tief durch. Es würde kein Erwachen geben. Es gab nur das hier und jetzt. Das, was sie tun konnte.
Sie rannte aus dem Gebäude und ließ die Wachen hinter sich, die sie festhalten wollten und ihr wüste Beschimpfungen hinterher riefen, die sie nicht verstand. Sie lief so schnell sie konnte Richtung Marktplatz. Wann immer sie einen der ehemaligen Minsker Bürger zu Gesicht bekam versuchte sie ihn dazu zu überreden sich zum Schiff zu begeben, aber nur bei einigen Witwen mit kleinen Kindern hatte sie Erfolg. Die meisten glaubten nicht daran, dass das Urteil tatsächlich vollstreckt werden würde und begaben sich zum Markt um dort einschreiten zu können, wenn es tatsächlich soweit kommen sollte. Sie war noch immer am Laufen als sie bemerkte, dass die angespannte Stimmung zu kippen begann. Sie sah, dass fünf junge Männer auf einen Handwerker aus Minsk einschlugen und nach ihm traten als er zu Boden ging. Ein junges wohl dreizehn Jahre altes Mädchen wurde von der Hand ihre Mutter gerissen und in eine Seitenstraße geschleppt. Die Wachleute, die für Ordnung sorgen sollten hieben wahllos in die Menge und legten besonders dann viel Kraft in ihre Attacken wenn sie einen ehemaligen Flüchtling an seiner Kleidung oder Frisur erkannten. Nachdem ein paar Steine an ihren Helmen abgeprallt waren, rissen sie die stählernen Klingen aus ihren Schwertscheiden und der Boden begann sich wo immer sie erschienen rot zu färben.

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Die junge Frau versuchte sich von den schlimmsten Tumulten fern zu halten, riss dann und wann eine bekannte Person zur Seite bevor sie ein Hieb erwischen konnte und rief dieser etwas leiser „Schiff! Hafen! Schnell!“ zu und tatsächlich begannen mehr und mehr Bewohner dem Aufruf zu folgen. Ihr schien, dass jeder zu realisieren begann wie ernst die Lage wurde. Sie duckte sich unter einer Keule und sprang in letzter Sekunde nach links in eine dreckige nach Kot stinkende Seitengasse. Kurz hielt sie inne und atmete heftig ein und aus. Dann hörte sie eine helle vertraute Stimme, die ihren Namen rief: „Alida!“ Der kleine Junge stand wenige Meter entfernt in einer dunklen wenig beachteten Hofecke. Alida sah sich kurz um und war mit wenigen Schritten bei ihm. Sie riss Emilian in ihre Arme und drückte ihn fest an sich. Das Gesicht des Jungen war rot von Blut obwohl sie keine Verletzungen sehen konnte und sie vernahm sein Schluchzen dicht an ihrem Ohr. Sie hörte sich selbst die Worte sagen, die sie nie hatte aussprechen wollte, da sie wusste, dass sie zu keiner Zeit wahr werden würden: „Emilian. Alles wird wieder gut. Alles wird gut.“ Er antworte nicht sondern drückte nur seine Wange und seine Nase in ihre blonden Haare. Leise vernahm sie seine Stimme. „Ich habe Mama verloren. Wir waren auf dem Weg zum Marktplatz. Sie hat gesagt, dass wären wir Vater schuldig. Dass wir da wären… wenn…“ er sprach nicht weiter. „Aber dann hat ein Mann nach ihr gegriffen und sie weggerissen. Sie hat sich mit ihrem Dolch gewehrt und den Mann ins Bein gestochen so dass er laut wie ein abgestochenes Schwein geschrien hat. Aber dann wurde sie von mehreren Frauen, die sie retten wollten fort gezogen. Ich hab sie nicht mehr gesehen. Ich hab nach ihr geschaut, aber es wird immer heller und meine Augen halten das nicht mehr aus.“ Alida sah sich um und erkannte, dass an mehreren Stellen Brände entflammt waren, die die Nacht zum Tag zu machen schienen. Sie schüttelte den Kopf, verstand nicht wovon der Junge sprach, aber das war ihr im Moment auch völlig egal. Sie drückte ihn noch einmal fest an sich und ließ ihn dann wieder zu Boden. „Wir finden deine Mutter. Versprochen.“ Eine dunkle Ahnung machte sich in ihr breit, dass sich diese Aussage vielleicht früher als beabsichtigt als wahr erweisen würde und ein Schauer lief ihr den Rücken hinab. Emilian sah sie besorgt an und griff nach ihrer Hand. Seine Finger fühlten sich einskalt an und wieder fragte sie sich ob er vielleicht doch aus mehreren nicht auf den ersten Blick sichtbaren Wunden blutete, aber der Junge bewegte sich so flink und geschickt durch die Menschenmassen, dass sie diese Gedanken verwarf. Wie von einem sechsten Sinn geleitet gelang es dem Jungen jede Schlägerei und jeden von oben herabstürzenden brennenden Holzbalken zu umgehen.
Schließlich standen sie auf dem großen weiten Marktplatz. Wie von einer unsichtbaren Präsenz abgeschirmt waren die Gewaltakte noch nicht bis hierher vorgedrungen. Vielleicht lag es an den allgegenwärtigen Wachen oder an der erwartungsvollen Vorfreude der Zuschauer. Eine Hinrichtung, vor allem eine Anklage auf Hexerei, war eine Seltenheit und umso gespannter blickten die Männer und Frauen zu den hohen Scheiterhaufen in der Mitte des Platzes. Emilian riss weiter an ihren Fingern. „Da vorne ist Vater. Komm! Schnell!“ Alida wollte Emilian zurückreißen. Ihn nicht bei dem was kommen würde zuschauen lassen, aber sie wusste, wenn sie an seiner Hand ziehen würde, dann hätte sie ihn endgültig verloren. So folgte sie ihm und es gelang der blonden Frau und dem kleinen Jungen mit einiger Mühe tatsächlich in die Mitte des Marktplatzes zu gelangen. Ihr Blick wanderte zu den Holzstößen und sie erkannte dort die fünf Gestalten: Alischa, drei kräftige hochgewachsene Handwerker mit traurigen gefassten Gesichtern. Sie kannte die Männer: Ein Maurer, ein Schuhmacher und ein Schmied, die mit ihrer Meinung nie lange warteten und offen aussprachen, was alle dachten. Und ganz links war Victor. Sie trugen schlichte braune Büßergewänder und einen hölzernen Rosenkranz um den Hals. Ihre Hände waren mit festen eisernen Fesseln gebunden. Ein Amtmann stand vor den Scheiterhaufen und verlas die Anklageschrift in der hier gängigen slawischen Sprache, die Alida nach wie vor nicht perfekt verstand. Sie wollte die Augen schließen, einfach stehen bleiben, am liebsten in einer der Nebengassen verschwinden, aber Emilian riss sie mit sich. „Komm, Alida.“ Dann blieb er plötzlich stehen. „Heb mich bitte hoch.“ Sein Blick war ernst. Sie musste sich wieder auf die Lippe beißen um nicht los zu weinen und erneut schmeckte sie das Blut. Sie sah ihm fest in die faszinierenden Jaspisaugen und schüttelte langsam den Kopf. Sie beugte sich zu ihm und legte ihm die Hände auf die Schultern. „Nein, Emilian. Das solltest du nicht sehen.“ Sein Gesicht hatte einen flehenden Ausdruck angenommen. „Bitte…“ Sie atmete tief ein und zog ihn erneut an ihre Brust. Sie hielt ihn so, dass er genauso groß war wie sie und beide blickten in die Richtung des Minsker Anführers. Sie wusste nicht wie Victor sie in der gewaltigen Menschenmasse entdeckt haben mochte, aber sein Blick war mit einem Mal fest auf die Augen seines Sohnes gerichtet. Er achtete weder auf die Fackeln, die entzündet wurden noch auf die beginnende Glut an seinen Füßen. Dann traf sein Blick den ihren und setzte sich in ihr fest. Sie spürte, was er ihr sagen wollte als würde er neben ich stehen und eine Hand auf ihren Arm legen: „Pass auf ihn auf!“ Sie blinzelte die Tränen weg, die ihre Sicht verschleierten und ihre Wangen hinunter liefen und nickte dem Freund, der dort vorne angebunden stand, zu. Als die Flammen höher zu lecken begannen, riss sie Emilians Kopf herum und drückte ihn an den ihren damit er das, was folgen sollte nicht weiter anschauen konnte. „Nicht, Alida! Lass mich, “ hörte sie seinen Protest aber sie hielt ihn nur noch fester. „Nein. Emilian.“ Sie strich ihm über den Kopf, der sich nach wie vor zu den Flammen umwenden wollte bis der Junge aufgab und sie nur noch sein leises Schluchzen an ihrem Ohr hörte. Sie hatte das Gefühl es Victor schuldig zu sein nicht den Blick abzuwenden und so brannte sich ein Bild auf ihre Netzhaut, das sie nie wieder vergessen sollte.

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Sie hörte das Schreien der Frau und der drei Männer als ihnen das Fleisch vom Leib verkochte und plötzlich ging alles in einer gigantischen Stichflamme auf als Victor in Flammen aufging. Hell und klar wie eine Explosion, die die anderen sofort von ihrer Todesqual erlöste und die Kleidung der Zuschauer in den ersten drei Reihen verkohlte oder in Brand steckte. Die Menschen gerieten in Panik, versuchten von der Mitte des Platzes zu entfliehen. Sie stießen sich um, hieben nach einander um so schnell wie nur möglich zu entkommen. Alida tat mehrere Schritte nach hinten, drehte sich einmal und wurde plötzlich von einem großen breitschultrigen Mann umgerempelt. Sie ließ Emilian überrascht los und schlug auf dem Kopfsteinpflaster auf. Blut lief aus einer Kopfplatzwunde. Emilian stand neben ihr und versuchte ihr wieder auf zu helfen. Sein Blick war voller Entsetzen. „Mama ist irgendwo hier, aber ich weiß nicht wo… Ich kann es nicht spüren. Es sind zu viele…“ Alida stellte sich auf die Zehenspitzen und versuchte Livia irgendwo zu erblicken. Tatsächlich! Ungefähr in zwanzig Meter Entfernung konnte sie erkennen, dass die junge Frau von drei Männern in eine dunkle Gasse gezerrt wurde. Sie schluckte schwer und riss dann erneut den Jungen an sich. Sie konnte ihn wohl kaum in der Menge stehen lassen. Wenige Meter vor der kleinen Nebenstraße zog sie ihren Dolch heraus und sah Emilian eindringlich an. „Ich versuche deiner Mutter zu helfen. Du bleibst hier!“ Sie wartete seine Antwort nicht ab sondern rannte ohne lange zu überlegen in die Straße. Die Männer waren dabei auf die junge Frau einzuschlagen. Mehrmals hatten sie den Kopf von Emilians Mutter gegen die Wand gehämmert und längst war Livia bewusstlos. Sie hörte die Männer miteinander streiten, verstand aber nichts von dem Gesagten. Ein breitschultriger Glatzkopf nestelte an seiner Hose während ein andere der Männer mit einem Dolch nach der Bewusstlosen stach und ihr dann ohne ein einziges Mal mit einer Wimper zu zucken die Kehle durchschnitt. Alidas Klinge traf ihn im selben Moment im Nacken und er ging zu Boden aber sie wusste, dass sie einen Sekundenbruchteil zu spät gekommen war. Die beiden übrigen Männer ließen von der Bewusstlosen ab. Der Glatzkopf ballte die Hand zur Faust und rammte sie Alida gegen den Schädel. Sie verlor für kurze Zeit das Bewusstsein und ging zu Boden. Der andere bückte sich nach dem Dolch während der Glatzkopf mit seinen harten schwarzen Stiefeln auf sie einzutreten begann. Mit Mühe gelang es ihr sich nach dem zweiten Tritt zur Seite zu rollen und wieder auf die Füße zu kommen. Schwankend suchte sie einen Ausweg, eine Möglichkeit zur Flucht und erkannte im gleichen Augenblick Emilian, der hinter den Männern stand. Auch er hielt einen Dolch in der Hand und ein entschlossener Zug umspielte seinen Mund. Er wirkte ein wenig größer, stärker, aber Alida war klar, dass ihre Sinne ihr einen Streich spielen mussten. Sie bekam erneut einen Faustschlag gegen die Schläfe und spürte im gleichen Moment den scharfen Schmerz der Klinge in der Hand des anderen als sich diese in ihre Lunge bohrte. Dann folgte der Stich in den Bauch bohrte und sie spürte wie der Dolch von links nach rechts gezogen wurde. Sie wollte ein letztes Mal nach den Männern schlagen, ihnen ihre Faust in die hässlichen Visagen schmettern doch sie hatte keine Kraft mehr. Sie ließ sich fallen und schloss die Augen.



Unvorstellbare, höllische Schmerzen rissen sie zurück in die Wirklichkeit. Sie stöhnte und griff mit den Händen zu dem brennensten Punkt der Schmerzen an ihren Bauch aber als sie die weiche feuchte Masse spürte schluckte sie nur und riss die Hand zurück. Sie öffnete mühsam die Augen und sah das Gesicht von Emilian vor sich. Panik, Angst und Verzweiflung wechselten mit einer wilden Entschlossenheit auf seinem blutverschmierten Antlitz und erst in diesem Moment bemerkte sie, dass er Blut weinte. Er hatte sie irgendwie in eine Ecke gezogen und halb aufgerichtet. Alida strich ihm mit den Fingerspitzen die Tränen von den Wangen und blickte auf die rote Flüssigkeit. In einigen Metern Entfernung erkannte sie die leblose gestalt von Livia, die Hände sorgsam auf der Brust gefaltet sowie die anderen beiden Männer teilweise zerstückelt in einer roten Lache liegend. Ihre Stimme war weniger als ein Flüstern. „Es tut mir leid, Emilian. Ich wollte, dass alles wieder gut wird. Ich habe versagt.“ Sie schloss die Augen und spürte wie die zarten Finger des Jungen über ihre Haut strichen und die Tränen weg wischten. Seine Stimme war leise. „Nein, du warst da.“ Seine Hände tasteten vorsichtig über ihren Körper, verweilten länger in der Nähe der Einstichwunde im Brustkorb während die junge Frau aus Brügge Blut zu husten begann. Sie zögerten in der Nähe der grässlichen Bauchwunde und kehrten schließlich zu ihrem Gesicht zurück. „Alida. Schau mich an!“ Mühsam öffnete sie erneut die Augen. Sie wollte sie fast im selben Moment wieder schließen aber der Blick der rotbraunen Augen hielt sie fest. „Ich will nicht, dass du stirbst, aber deine Wunden sind zu… ich kann es nicht verhindern.“ Seine Stimme war brüchig. „Möchtest du sterben, Alida?“ Sie lächelte und lachte leise. Die Fragen eines Kindes… „Emilian. Ich will nicht sterben. Ich weiß, irgendwann kommt für jeden von uns der Tag oder die Nacht. Aber ich wünschte, es wäre nicht heute.“ Sie dachte an das Versprechen, dass sie Victor gegeben hatte und das sie nie würde erfüllen können. Sie blickte den tapferen kleinen Jungen an, der ihr zunickte. Er hauchte ihr einen Kuss auf die Stirn und griff nach ihren Händen. Alida hatte keine Kraft mehr. Sie schloss ein letztes Mal die Lider und wusste, dass sie geschlossen bleiben würden. Sie ließ ihr Bewusstsein fallen und versuchte in das Vergessen einzutauchen, dass sich um sie herum ausbreitete. Von irgendwo machte sich ein warmes Gefühl in ihr breit, dass den Schmerz vergessen ließ und sie tiefer und tiefer zog. Sie tat einen letzen schwachen Atemzug, der ihre Brust zusammenkrampfte und spürte den letzen Herzschlag. Dann war es still. Sie wartete. Dann spürte sie eine Flüssigkeit, die ihre Kehle herab rann und sich in ihr auszubreiten begann. Sie konnte sich nicht erinnern jemals einen ähnlichen Geschmack auf den Lippen gekostet zu haben: klar und rein wie Wasser für einen Verdurstenden. Warm und süß wie Honigwein, oder ein Hauch Zimt irgendwie frisch wie die Blätter von Pfefferminz, die man zwischen den Fingern zerrieb… und zugleich von einer unvorstellbaren Intensität. Sie öffnete die Lippen. Irgendwo in ihrem Hinterkopf formulierte sich die Frage, ob so etwas möglich sein konnte, verschwand dann jedoch wieder in der Dunkelheit. Der Geschmack verlieh ihr eine Kraft, die sie verloren geglaubt hatte: sie spürte wie sich ihre Zunge bewegte und sie trank. Zuerst langsam und zögernd, dann wilder und gieriger. Sie saugte, wollte mehr. Sie öffnete die Augen und erblickte erneut den kleinen Jungen, der vor ihr saß und ihr seine blutigen Hände entgegen streckte. Alida riss ihren Mund mit Mühe von den aufgerissenen blutenden Handgelenken weg. „Nein. Alles ist in Ordnung.“ hörte sie die helle Stimme. Dann spürte sie die Krämpfe, die ihren Körper schüttelten, die Wunden, die ihren Körper zerrissen, den rasenden Schmerz hinter ihren Schläfen, der sie schier wahnsinnig werden ließ. Emilian nahm ihren Kopf zwischen die Hände und strich vorsichtig über die blonden Haarsträhnen. „Alida? Gleich ist es vorbei. Es dauert nicht lange. Versprochen.“
Dann starb sie.

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Der Weg zum Ziel beginnt an dem Tag, an dem du die hundertprozentige Verantwortung für dein Tun übernimms.
Dante Alighieri


Zuletzt geändert von Alida am So 1. Feb 2015, 08:53, insgesamt 1-mal geändert.

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BeitragVerfasst: Sa 31. Jan 2015, 15:44 
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eine Tagereise vor Danzig, 28.4.1098

Christian van de Burse fand seine Schwester und den kleinen Sohn seines toten minsker Freundes drei Nächte später außerhalb der Stadtmauern in der Nähe eines dunklen, verdreckten Kanalisationsschachtes. Ihre Kleidung war zerfetzt und blutbeschmiert aber beide schienen auf den ersten Blick unverletzt. In den Augen seiner Schwester lag ein Ausdruck, den er nie zuvor gesehen hatte: der eines gehetzten Tieres, das man in die Enge getrieben hatte. Sie erstarrte und zitterte am ganzen Leib als er sie in die Arme schloss. Er führte sie zum Schiff, das wenige Minuten später mit dem wenigen, was sie hatten retten können sowie vielleicht noch fünfzig Minsker Bürgern, absegelte. Alida sprach vier Tage kein Wort und Christian stellte keine Fragen.
So blieb es ihr erspart von all den Dingen zu berichten, die geschehen waren und ihr Innerstes bis ins Mark erschüttert hatten. Die Gräueltaten und Schrecken des Aufstands, die Toten, ihr Versagen, der Ausdruck auf Victors Gesicht, die blutigen Tränen in den Augen von Emilian.
Und die Dinge, die geschehen waren, die noch tiefgreifender waren, die sie nicht verstand: wie Emilian zugelassen hatte, dass sie sich nach ihrem erneuten Erwachen auf die drei toten Männer stürzte um ihnen noch den letzten Blutstropfen aus dem Leib zu saugen. Wie er erst mit einem stummen Kopfschütteln eingeschritten war als Alida und die Bestie, die in ihrem Inneren wütete, auch vor seiner Mutter Livia nicht Halt machen wollten, wie er sie vorsichtig beobachtet hatte, wie sie ihre Finger in die schwachen Strahlen der roten Morgensonne hielt und vor Schmerzen zurück zuckte, wie er versuchte ihr Dinge zu erklären, die er selbst nur halb zu verstehen schien, Begriffe verwendete, die er nicht erklären konnte, die aber Teil seiner Geschichte waren und Teil der ihren werden mussten, wie er der blonden noch immer verwirrten Frau half den Durst zu stillen, der bei jedem Erwachen ihre Eingeweide zu zerreißen schien.
Christian saß nur an dem Bett auf dem Alida lag und an die hölzerne Decke ihrer Kabine starrte und warf ab und an einen Blick zu dem kleinen Jungen, der zusammen gesunken am Fußende des Bettes kauerte. Der Bruder saß dort und las Geschichten aus dem Buch vor, das er mitgebracht hatte: über den jungen Schafhirten David, der den Riesen Goliath mit einem Kiesel erschlug, einen Vater namens Noah, der seine Familie in einem großen Schiff rettete, den mutigen Prinzen Moses, der es vorzog auf Reichtum und Macht zu verzichten um für seine Leute zu kämpfen und mit ihnen eine neue, bessere Heimat zu finden. Alida war ihm dankbar.
Ab und an kam Georg und besuchte sie, fütterte sie mit Speisen, die sie wieder erbrach und strich ihr mit besorgtem Gesicht über die blonden Locken. Nur das Blut, das Emilian ab und an irgendwo, wahrscheinlich von Freunden der minsker Familie, auftrieb ermöglichte es ihr die nächsten Tage zu überstehen.
Es dauerte weitere fünf Tage bis Alida ihrem Bruder und Georg schließlich berichtete. Sie beließ es bei den Tatsachen, bei dem was, sie wusste und dem, was ihr für ihre Familie wichtig erschien.
Auf den Unglauben der beiden Männer folgte Erkenntnis und Begreifen, das alles nicht einfacher machte. Christian, Georg und Alida beschlossen sich in den frühen Morgenstunden der vierzehnten Nacht zu einem Gespräch einzufinden, das über das Schicksal der jungen Frau und den Knaben entscheiden sollte.
Alida verließ ihre Kabine. Sie hatte ein gelbes Überkleid angezogen, das ihre Schwester Maria geschneidert hatte und die Haare lange gekämmt und geflochten. Nichts erinnerte dem ersten Anschien nach mehr an die verstörte blonde Frau, die vor fast zwei Wochen an Bord gegangen war. Ihre Augen suchten nach Emilian, doch konnte sie den Jungen nirgendwo erblicken. Irritiert merkte sie, dass auch ihre anderen Sinne der Suche folgten, nach den Schritten von Kinderfüßen lauschten, einen schwachen Geruch aufspüren wollten, der nicht da war… Sie schritt durch die engen Gänge des Schiffes und betrat das Deck. Man hatte sich darauf geeinigt die Kapitänskajüte für das Gespräch zu wählen und die Mannschaft soweit als möglich zum Ausruhen unter Deck geschickt. Die Nacht war lau und ein silberner Vollmond erhellte die spiegelnden Wogen und die Küstenstriche, die sich mit vereinzelten Lichtern am Horizont abzeichneten. Sie roch die salzige Brise und plötzlich war da der vertraute Geruch des Jungen. Im gleichen Moment spürte sie den Blick seiner Augen als würde er neben ihr stehen und ihr seine blasse Hand auf den Arm legen.

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Sie schritt über die Holzblanken und ging auf die schmale Gestalt am Bug des Schiffes zu, die sich wieder von ihr abgewandt hatte und über das endlose Meer schaute. Alida blieb neben ihm stehen und strich ihm kurz mit einer vertrauten Geste über den Rücken.
Seine rotbraunen Jaspisaugen suchten ihren Blick. „Weißt du noch? Wir haben vor ein paar Jahren schon einmal auf einem eurer Schiffe gestanden. Damals habe ich mir so sehr gewünscht irgendwann mit einem großen Schiff mitzufahren und die Welt zu sehen und du hast gesagt, wenn ich groß wäre dürfte ich mitfahren.“ Trauer legte sich über seine Züge und er wandte den Blick ab. „Ich habe nicht gedacht, dass dieser Zeitpunkt so bald kommen würde. Weißt du, Alida? Ich bin noch nicht groß und ich vermisse meine Mutter und meinen Vater so sehr.“ Er kniff die Augen fest zusammen um die Tränen zurück zu halten. Alida nahm ihn in die Arme und drückte ihn fest an sich. „Ich weiß…“
„Du musst jetzt zu deinem Bruder und Georg. Ich werde in der Kabine auf dich warten, ja?“ Angst und Zweifel waren in dem blassen Gesicht zu erkennen. Morgen würden sie in Danzig anlegen und dort bestand die Möglichkeit das Schiff zu verlassen. Alida drückte ihm einen Kuss auf den Haarschopf und nickte. Der kleine Junge löste sich von ihr und verschwand im Schatten des Schiffes. Alida folgte dem Schein einer Laterne und betrat die Kapitänskajüte. Georg und Christian standen über mehreren Karten und Schriftstücken gelehnt an einem großen Schreibtisch in der Mitte der Kajüte. Drei Laternen erleuchteten den gemütlich eingerichteten Raum und einige kleine, runde Fenster ließen zusätzlich das spärliche Licht von draußen eindringen.

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Christian schenkte ihr ein Lächeln: „Gut, dass du da bist.“ Er nahm auf einem der Polster, die sich in der linken Ecke befanden Platz. Georg sah deutlich besorgter aus, tat es dem blonden Mann jedoch gleich. Auch Alida nahm Platz. Es war wieder Christian der sprach.
„Alida, wir haben lange überlegt, geredet und nachgedacht. Du gehörst zu uns. Du bist nach allem trotzdem eine von uns. Du bist meine Schwester. Wir wollen, dass du mit zurück nach Brügge kommst. Es wird mit Sicherheit nicht einfach, aber wir können uns sicher etwas ausdenken. Du warst schon immer eher ein Nachtmensch und die Leute haben schon vor zehn Jahren aufgehört sich darüber den Kopf zu zerbrechen. Das mit dem Blut lässt sich möglicherweise irgendwie bewerkstelligen… vielleicht kann man eine Schwester oder einen Diener im Hospital bestechen? Das Blut, das beim Aderlass abgezapft wird landet doch sonst eh nur in den Kanälen und verschmutzt unser gutes Trinkwasser. Sieht wirklich sehr unschön aus…“ Ein aufmunterndes Grinsen zuckte um Christians Mundwinkel. „Wir schauen, dass du eines der weniger beliebten Zimmer im Inneren des Hauses übernimmst. Unsere Schwester Maria erwartet ja nun ihr drittes Kind und wäre selig, wenn sie etwas mehr Platz für ihre Wiege und das Kinderspielzeug auf dem Fußboden hätte.“ Wieder lächelte er. „Wir sind für dich da. Komme, was wolle. Ist dir das klar?“ Alidas Blick wanderte von Christian zu Georg, der ebenfalls lächelte jedoch die Besorgnis nicht gänzlich aus seinem Geist verbannen konnte. Die Frau aus Brügge nickte. „Danke, es ist gut euch zu haben.“
Georg links von ihr seufzte. „Alida? Wie haben über noch etwas gesprochen: Emilian… Du gehörst zu uns. Daran gibt es keinen Zweifel. Der Junge aber nicht. Es wäre besser, wenn er in Danzig von Bord ginge. Vielleicht kann ihn eine der Minsker Flüchtlingsfamilien mitnehmen und sich um ihn kümmern bis er groß ist. Ich habe gehört, was auf dem Marktplatz mit Victor geschehen sein soll und in den Adern des Jungen fließt das Blut seines Vaters…“
Alida sah ihn entgeistert an. „Georg, das ist nicht dein Ernst, oder? Der Junge hat mich gerettet. Er hat erst vor zwei Wochen beide Eltern verloren und du willst ihn…“ Sie suchte nach einem passenden Wort. „…aussetzen? Damit verurteilst du das Kind zum Tode.“
Georgs Stimme wurde eindringlich und er legte die Hand auf Alidas Arm. „Das Kind ist unnatürlich. Das kann man in seiner Nähe spüren. Vielleicht war das Gerede der Bürger von Windau gar nicht so weit an den Haaren herbei gezogen. Vielleicht sind sie wirklich verflucht oder von Dämonen besessen. Und diese Dämonen hat er nun auf dich übertragen…“
Alidas Stimme wurde laut und Wut lag darin. „Er ist ein Kind. Er hat seine Eltern geliebt. Ich hab gesehen welchen Mut er während des Aufstands bewiesen hat um bei ihnen zu sein. Er hat niemandem ein Leid zugefügt.“ Vor ihrem inneren Auge sah sie das Bild der zwei zerstückelten Männer in der schmalen verdreckten Seitengasse, doch sie verdrängte die Bilder wieder. „Ich habe mich des Jungen angenommen und mir geschworen mich um ihn zu kümmern. Seit wann bist du so ignorant und abergläubisch? Mir scheint du bist nicht besser als die Bürger von Windau“
Georgs Stimme stand Alidas in keinster Weise nach. Wütend knurrte er zurück: „Alida! Du brauchst mich nicht zu beleidigen. Der Junge ist nicht normal. Er ist keiner von uns. Begreif das doch! Und? Ganz im Ernst? Wenn wir uns weigern ihn aufzunehmen? Wärst du bereit für den Bengel in Danzig zurück zu bleiben? Alles aufzugeben?“
Christian fuhr mit einer drohenden Geste dazwischen. Seine Stimme war eisig. „Georg! Das reicht. Diese Option stand nie zur Debatte.“
Georg funkelte zornig zurück. „Nein. Es stand nie zur Debatte, weil du und ich uns geweigert haben darüber zu reden. Aber ich weiß so gut wie du selbst, dass du über diese Möglichkeit nachgedacht hast. Dir jagen die roten Augen des Jungen genauso einen Schauer über den Rücken wie mir. Hör auf das zu leugnen.“ Christian wandte langsam den Blick ab und Alida wusste, dass ihr alter Freund Recht hatte.
Alidas Stimme wurde leiser. „Niemand kann etwas für sein Aussehen. Er hat niemandem etwas getan und nur weil er anders ist als wir ist das kein Grund ihn abzulehnen, oder? Er braucht jemanden, der sich um ihn kümmert. Er kann mit deinem Sohn Frederik unterrichtet werden, mit Evelyn spielen, sich im Haushalt nützlich machen. Er ist schlau und hat das Herz am rechten Fleck.“ Sie blickte Christian, dann Georg an. „Wenn er ein paar Jahre älter ist, kann er vielleicht in einem unserer auswärtigen Handelskontore eingesetzt werden. Dann kann er Brügge verlassen…“ Sie wartete und atmete tief ein. „… aber noch nicht jetzt.“
Georg sah sie an und schüttelte langsam den Kopf. „Alida, du weißt, ich bin mit dir zusammen aufgewachsen und ich liebe dich wie eine Schwester. Wir waren fast in allen wichtigen Belangen einer Meinung aber hier muss ich dir widersprechen. Es geht nicht nur um dich und den Jungen sondern auch um deine Familie, deine Freunde und alle, die im Haus eurer Familie leben. Ich spreche mich dafür aus, dass der Junge in Danzig von Bord geht. Das Risiko ist zu hoch.“ Der hochgewachsene Mann blickte bekümmert zu Christian. Sie wusste, niemals war es Georg schwerer gefallen seine Entscheidung offen kund zu tun. Und doch lag es zu guter Letzt an ihrem Bruder, dem offiziellen Oberhaupt der van de Burse, den endgültigen Entschluss zu fassen.
Christian wartete lang, blickte auf seine Hände und dann zu Alida und Georg. „Der Junge darf bleiben. Aber sollte es auch nur ein einziges Mal ein ernsthaftes Problem geben, dann möchte ich, dass er geht. Einverstanden?“ Er griff nach Alidas Hand und zuckte betroffen zurück als er spürte wie kalt diese war.
Alida nickte und auch Georg kämpfte sich mühsam zu einem Nicken durch. Dann stand der Gutsverwalter schweigend auf, sah sich noch einmal um. Sein Ton hatte einen Sarkasmus inne, den sie an ihm nicht kannte. „Verzeiht, ihr hohen Herren, wenn ich abtrete?“ Er wartete ihre Antwort nicht ab sondern verließ die Kajüte.
Christian sah ihm mit ungläubigem Kopfschütteln hinterher. „Verdammt, Georg. Bleib!“ Er sprang von den Polstern auf. „Alida, ich muss ihm hinterher. Du kennst ihn. Nimm es ihm nicht übel. Es ist schwer für ihn etwas zu akzeptieren, wenn es ihm wirklich wichtig ist.“ Er ging Richtung Tür.
„Christian?“ Alida erhob sich und war eine Sekunde später neben ihm. Sie spürte, wie das Blut durch ihre Haut floss, sie wärmte, ihre Wangen rötete. Sie wollte ihm keine Angst einflößen. Das hatte sie in letzter Zeit zu Genüge getan. Sie griff nach seinem Arm und zog ihn an sich. „Danke…“
Christian nickte nur und erwiderte ihre Umarmung. „Ich hab dir doch gesagt, du kannst dich auf mich verlassen.“ Alida ließ ihn los. „Und du dich auf mich.“

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Dann trat er zur Tür hinaus und folgte ihrem alten Freund mit entschlossenen Schritten.
Alida ließ das mondbeschiene Deck hinter sich und stieg wieder die Treppen ins Innere des Schiffes. Sie durchschritt enge Korridore, vorbei an ungewohnt leeren Laderäumen und großen Kisten und Fässern, die hohl klangen, wann immer das Schiff langsam schaukelte und die hölzernen Gebilde bewegte. Sie betrat ihre Kajüte im hinteren Teil des Schiffes und schloss die Tür leise hinter sich. Im Schein des Mondes, das durch ein Fenster schien erblickte sie Emilian, der auf dem Bett saß. Mehr Licht benötigte sie nicht mehr um zu erkenne was notwendig war. Er hatte ein Bündel mit den wenigen Habseligkeiten, die ihm geblieben waren bei sich: einige wenige Kleidungsstücke, ein Buch, das sein Vater einem Freund verliehen hatte und das dieser Emilian zurückgegeben hatte, den edlen, jedoch viel zu großen Mantel von Victor, den Livia ihrem Sohn um die Schultern gehängt hatte bevor sie zum Letzen Mal das Haus verlassen hatten, die Lieblingskette seiner Mutter, die sie immer getragen hatte… Der kleine Junge erhob sich und trat mit traurigem Gesicht auf sie zu.
„Alida? Du brauchst nichts sagen… weißt du… ich kann manchmal die Gedanken von Menschen erraten und… ich weiß was dein Bruder und Georg denken. Ich werde morgen Abend in der großen Stadt Danzig von Bord gehen. Vielleicht ist das besser so… für dich und deine Familie und deine Freunde. Wir haben unseren Leuten auch kein Glück gebracht.“ Er wandte den Blick ab.
Alida trat neben ihn und schloss ihn in die Arme. Beruhigend strich sie ihm über den Rücken. „Emilian? Das ist Unfug. Das, was passiert ist hat nichts mit dir oder deinem Vater zu tun. In keinster Weise. Und du wirst nicht morgen von Bord gehen. Du bleibst bei uns. Versprochen.“
Emilian sah sie ungläubig an. „Aber…? Dein Bruder? Und euer Freund?“
„Die beiden sind einverstanden.“ Der Junge benötigte einige Minuten um zu realisieren, dass Alida ihre Worte ernst meinte.
Schließlich stand er an der Tür und griff nach der Klinke. Alida spürte an der trägen Müdigkeit, die sich in ihrem Körper ausbreitete, dass die Sonne bald aufgehen würde. Sie deutete aus Gewohnheit ein Gähnen an. Der kleine Junge zögerte. „Alida? Kann ich heute bei dir schlafen?“
Die blonde Frau zuckte mit den Schultern. „Warum nicht?“ Sie warf sich aufs Bett und rutschte mit dem Rücken an die hölzerne Wand um ihm Platz zu machen. Er legte sich daneben, drehte sein blasses Gesicht in ihre Richtung und sah sie aus seinen rot braunen Augen lange an während sie nach der rauen Decke griff und sie beide zudeckte.
„Weißt du was?“ Er wirkte verunsichert und blickte sie schüchtern an. „Ich würde gern von dir trinken.“ Er zögerte. „Du musst etwas Wichtiges dabei wissen. Mein Vater hat gesagt, dass das nur Leute machen dürfen, die zusammen gehören. Wenn man von einem anderen Kainit trinkt bringt das großes Unglück über einen. Er hat mich immer ganz ernst angeschaut und gesagt, dass ich das nie vergessen darf.“ Alida nickte und lächelte insgeheim bei der Ernsthaftigkeit in Emilians heller Stimme. Sie spürte seine Angst vor Zurückweisung und erinnerte sich an die blutigen Handgelenke des Jungen in der alles entscheidenden Nacht, den unvorstellbar guten Geschmack auf ihrer Zunge und hielt ihm ihre Finger hin.
„Emilian? Du brauchst keine Angst zu haben. Wir gehören doch jetzt zusammen.“ Sie spürte wie seine kalten Finger nach ihrer Wange tasteten und behutsam darüber strichen und wenige Augenblicke später bohrte ein kurzer, fast unmerklicher Schmerz in ihr Handgelenk. Auch sie zögerte nicht länger und schmeckte Emilians warmes Blut, das ihren Körper durchrann wie die Essenz allen Lebens, süß und erfrischend. Ihr schien fast, es gab nichts auf der Welt, dass sie sonst brauchte. Die schrecklichen Bilder in ihrer Erinnerung, die brennenden Gebäude, der Hass in den Augen der Menschen wurde zu verblassenden Erinnerungen.

Einige Jahre später erfuhr Alida durch einen befreundeten Kaufmann, dass ein Dämon die kleine Hansestadt Windau heimgesucht hatte. Innerhalb von 14 Nächten tötete er jeden einzelnen Bewohner, dem es nicht gelungen war zu fliehen. Man munkelte, die Menschen starben ohne auch nur die Spur einer Verletzung aufzuweisen. In der Hanse wurde von einer Seuche gesprochen und die Stadt daraufhin nicht mehr angefahren. Bei den umliegenden Ländereien galt die Stadt von da an als verflucht, niemand ließ sich mehr in ihren Mauern nieder und mit den Jahren verfielen die Gebäude, Stein bröckelte von Stein, das Holz schimmelte langsam vor sich hin und nur der Wind blies durch die einsamen Straßen.
Alida unterließ es Emilian jemals danach zu fragen wo er sich während dieser vierzehn Nächte aufgehalten hatte.

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Der Weg zum Ziel beginnt an dem Tag, an dem du die hundertprozentige Verantwortung für dein Tun übernimms.
Dante Alighieri


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Brügge, 05. Juni 1101
Alida sah sich kurz im Wohnzimmer um. Ihre Schwester Maria und Christians Frau Katharina brachten gerade im anderen Teil des Hauses die kleinen Kinder zu Bett und die Dienerschaft war nach getaner Arbeit bereits nach Hause gegangen. Sie wusste, Georg unterhielt sich in der Küche mit der alten Annie, ihrer Köchin, über anstehenden Einkäufe und die sonstigen wirtschaftlichen Belange des Haushalts. Der Raum war bis auf Christian, der ihr gegenüber in einem bequemen Sessel saß und einige Pergamente durchsah, seine Tochter Evelyn und Emilian, leer.
Sie machte es sich bequem, legte sich quer in den Sessel und ließ die Beine von der Seite herunterbaumeln. Sie griff nach dem Brief eines befreundeten Händlers, der von neuen Handelsmöglichkeiten in Aquitanien berichtete. Dann legte sie das Papier zur Seite und ließ das friedliche Bild auf sich wirken. Die Fenster waren weit geöffnet und ließen den Duft von Flieder und Heckenrosen hinein. Sie hörte das leise Plätschern der Kanäle. Draußen war die Sonne noch nicht lange untergegangen und die warme Dämmerung senkte sich sanft über die Stadt.
Die neunjährige Evelyn und der braunhaarige, ungefähr gleichgroße Junge saßen auf dem Fußboden über einem schwarz weiß gemusterten Brettspiel zusammen und verschoben dunkle und helle Figuren. Der Junge hatte auf dem größten Markt des Jahres all seine Ersparnisse für das Spiel ausgegeben, dass er bei einem orientalisch aussehenden Händler entdeckt hatte. Sie hörte Emilians helle Stimme. „Der König des Südens war sehr erbost darüber, dass man die Goldene Stadt eingenommen hatte. Seit Angedenken der Zeit lagerte dort der Schatz seines Königreiches und niemand hatte in seinen Augen das Recht dazu ihm die Krone und die Juwelen zu stehlen. Aus diesem Grund schickte er seinen tapferen schwarzen Ritter aus um sich dem Bauernheer entgegen zu stellen.“ Das rotblonde Mädchen lachte. „Aber wenn du deinen Ritter in meine Bauernarmee schickst wird er fallen und dann steht der Weg für meine edle weiße Königin frei.“ Der Junge mit den Jaspisaugen grinste zurück. „Ja, aber du musst aufpassen. Vielleicht führt der König ja etwas im Schilde um die Königin gefangen zu nehmen. So wunderschöne Königinnen sind äußert kostbar.“ Evelyn strich sich nachdenklich über die Oberlippe und durchdachte ihren nächsten Zug erneut.

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Alida lächelte still in sich hinein und fing Christians Blick auf. Auch auf seinem Gesicht lag ein Schmunzeln. Seine Stimme war leise, so dass die Kinder ihn nicht vernehmen konnten.
„Ich bin froh, dass du und Emilian mit zurück nach Brügge gekommen seid. Es ist zwar alles anders als früher, aber im Großen und Ganzen haut das Meiste ja ganz gut hin.“ Alida blickte in Richtung der Kinder um seinem Blick ausweichen zu können. Christian hatte eigentlich Recht. Vieles hatte sich gut entwickelt und sie hatten Schwierigkeiten bewältigen können, die ihr im ersten Moment unüberwindbar erschienen, aber es gab so viel, dass Christian nicht wusste und von dem sie ihm nicht zu berichten gedachte: der Hunger, der an einem zu reißen begann sobald man einige Nächte dem Blut widerstanden hatte, die Bestie, die bereit war die Kontrolle zu übernehmen, wenn man zu geschwächt wurde oder wenn der Zorn einen übermannte, der Angst vor der Sonne, die sie so schmerzlich vermisste und dem wärmenden Feuer, das gleichzeitig alles innerhalb eines Augenblickes verzehren konnte. Ihr Blick wanderte zurück zu dem blonden Mann. „Emilian ist ein guter Junge, vielelicht etwas ernst für sein Alter. Er wird von seinen Lehrern über die Maße gelobt und er stellt sich bei allem, was den Handel und wirtschaftliche Belange angeht ziemlich geschickt an. Selbst Georg gewöhnt sich an ihn und beginnt langsam ihn ins Herz zu schließen. Vor kurzem hat er mich gefragt, ob er nicht ab und an im Hospital aushelfen könne. Mir ist bewusst, dass das natürlich zum einen eurem Interesse am Aderlass zu verdanken ist…“ er schenkte ihr ein zweideutiges schiefes Grinsen. „… zum anderen interessiert er sich für die wichtigen medizinischen Belange und besonders die Anatomie und Wundversorgung. Ich denke, es würde nicht schaden, wenn wir jemanden im Haus hätten, der ein wenig Ahnung von solchen Belangen hat, oder? Falls Evelyn oder Marias kleine Tochter Alida sich mal das Knie aufschürfen oder die alte Annie sich in der Küche die Hand verbrennt.“ Er grinste erneut und nahm einen Schluck Wein aus einem Tonkrug. Alida vermied es ihrem Bruder zu berichten, dass Emilian schon seit langem jede kleinere Wunde bei den Menschen, denen er vertraute mit einem winzigen Fingerzeig wegwischte. Alida lachte. „Bruderherz? Ausgezeichnete Idee. Ein Medicus im Haus erhöht mit Sicherheit die durchschnittliche Lebenserwartung der Familie van de Burse und ihrer Angestellten.“ Ein Schatten huschte über Christians Gesicht als er weiter sprach und seine Stimme wurde noch leiser. „Hm, Alida… Ist es dir aufgefallen? Emilian. Er wächst so langsam. Vor drei Jahren waren er und mein Erstgeborener Frederik noch gleich groß. Jetzt überragt der ihn schon fast um einen Kopf und auch Evelyn ist schon fast so groß wie er.“ Alida nickte nachdenklich und hörte dann weiter zu. „Vielleicht sollte er mehr essen… ich meine, vielleicht braucht er mehr…“ Die blonde Frau schloss zur Bestätigung nur die Augen. Er musste nicht weiter sprechen. Sie verstand auch so, was ihr Bruder meinte. „Ja, Christian. Ich werd schauen, was sich…“ Sie verstummte als sie den braunhaarigen Frederik eintreten sah. Er hatte sich eine dünne Jacke angezogen und kniete sich neben die anderen beiden Kinder auf den Fußboden. Evelyn tätigte gerade lachend ihren nächsten Zug. Frederik war tatsächlich fast einen Kopf größer als Emilian und hatte die grau- blauen Augen der van de Burse geerbt. Er war lebhaft, hatte Schwierigkeiten längere Zeit still zu sitzen, verfügte jedoch mit seinen elf Jahren über eine schnelle Auffassungsgabe und war für jeden Unfug zu haben. Als Christians Erstgeborener würde er eines Tages das Oberhaupt der Familie werden.
Frederik blickte über das Brett und griff nach einer der kunstvoll gearbeiteten weißen Türme um sie näher zu betrachten. Evelyn riss ihm die Figur jedoch wütend wieder aus der Hand. „Hey. Das ist mein Turm am silbernen Gletscher. Der muss da stehen bleiben.“ Sie setzte ihn wieder auf seinen Platz. Ihr Bruder schüttelte den Kopf. „Verzeihung. Ich wollte euch eigentlich nur fragen, ob ihr mit raus kommen wollt. Draußen ist es noch ganz warm und unser Hund hat vor ein paar Stunden Welpen geworfen. Die sind echt süß…“ Hoffnungsvoll sah er in Richtung seiner Schwester, die jedoch gedankenverloren über ihrem nächsten Zug brütete. Er deutete auf ein Glas unter seinem Arm. „Außerdem wollte ich draußen Glühwürmchen fangen gehen. Ich habe noch nie so viele gleichzeitig gesehen wie diesen Monat. Die fliegen durch die Luft wie kleine Sterne.“ Emilian schenkte ihm ein Lächeln. „Ich wollte auch schon immer mal wissen, wie diese Insekten das Licht machen. Ich würde sowas auch gern können…“ Er lachte. Evelyn sah jedoch nach wie vor nicht auf, sondern kaute nachdenklich an ihrer Unterlippe. „Vielleicht später…“ Frederik sah ihr über die Schulter. „Wie funktioniert das Spiel eigentlich?“ Evelyn schob ihn leicht genervt von sich. „Ich glaube nicht, dass du das verstehst.“ Sie wiederholte die Worte der gemeinsamen Lehrer, von denen sie wusste, dass der elfjährige Junge sie so hasste. „Dafür müsstest du mal eine halbe Stunde still sitzen bleiben können.“ Alida sah, wie der Junge einen Moment mit offenem Mund dastand, dann verdunkelte Wut seinen Blick. Er griff nach dem Brett mit den weißen und schwarzen Figuren und schleuderte es gegen die Wand. Er funkelte Evelyn und Emilian zornig an und rannte Richtung Tür. Emilian rief ihm hinterher: „Frederik. Bleib doch hier!“ Der Junge blieb am Ausgang stehen und wandte sich noch einmal um: „Dich hat eh niemand gefragt!“ Dann war er verschwunden. Alida und Christian sahen sich irritiert an und beide schüttelten die Köpfe. Ihr Bruder erhob sich. „Ich geh mal nach ihm schauen.“ Dann folgte er seinem Sohn nach draußen. Evelyn erging sich in wüsten Beschimpfungen während sie die Figuren wieder einsammelte. „Er ist so ein Blödmann.“ Der kleine braunhaarige Junge legte die Figuren zurück in die Statulle und stellte das Brett auf ein Regal. „Für heute ist’s genug, Evelyn.“ Das Mädchen wollte protestieren aber Alida schüttelte den Kopf. „Geh ins Bett!“ Sie sah dem Kind hinterher als es grummelnd das Zimmer verließ. „Jetzt muss ich wegen diesem Tölpel auch noch früher ins Bett…“
Alida ließ sich zurück in den Sessel sinken und Emilian nahm ihr Gegenüber Platz und zog die Knie an den Körper. „Hoffentlich beruhigt sich Frederik wieder.“ Alida warf ihm ein gemütliches Kissen zu, dass sich der Junge hinter den Kopf klemmte. „Geschwister und Freunde streiten halt ab und zu. Das gehört dazu.“ Ihr Gegenüber sah sie einen Moment nachdenklich an. „Nein, da ist mehr dahinter.“ Alida zögerte, ob sie nachfragen sollte, entschied sich dann jedoch dagegen. Der blasse Knabe verfügte über eine ausgezeichnete Menschenkenntnis und las mitunter die Gedanken seiner Gesprächspartner als wären sie laut ausgesprochene Worte.
Alidas Miene wurde ernst. „Emilian? Wir müssen heute jagen gehen. Aus dem Hospital ist schon seit vier Tagen keine Lieferung vom Aderlass mehr eingegangen und unsere „Freunde“ die gerne von sich trinken lassen können wir nicht behelligen ohne sie in ernste Gefahr zu bringen. Es wird Zeit.“
Die Jaspisaugen des Jungen wurden groß und Furcht blitzte darin auf. „Nein. Alida. Ich will nicht. Nicht heute… Vielleicht kommt morgen ja wieder eine Lieferung. Bitte… Lass uns noch eine Nacht warten.“ Die blonde Frau schüttelte den Kopf. „Das wird gefährlich. Jede Nacht, die verstreicht wird der Hunger größer. Bei dir und bei mir.“ Der Junge umfasste seine Knie fester als wollte er sich dahinter verstecken. Er wartete lange bevor er weiter sprach.
„Weißt du, Alida. Für dich ist das viel einfacher als für mich. Wenn ich dabei bin von jemandem zu trinken dann ist es fast unmöglich für mich wieder aufzuhören. Du reißt dich zusammen, kämpfst einen Augenblick mit dir, aber für mich ist das so unglaublich schwer.“ Er sah sie mit traurigem Blick an. „Ich will nicht, dass durch mich wieder jemand Unschuldiges stirbt.“
Alida erhob sich und griff nach seiner kalten Hand. Sie zog ihn zu sich hoch. „Emilian? Ich bin bei dir. Ich passe auf. Okay?“ Er zögerte, dann nickte er langsam. Sie griff nach zwei dunklen Mänteln und reichte dem Jungen den kleineren.
Dann schritten sie durch die mittlerweile schon dunklen Straßen der Stadt gen Hafenviertel.
Im Hafenviertel war die Wahrscheinlichkeit fündig zu werden am größten. Aufgrund des geschäftigen Treibens und der Anonymität der kommenden und gehenden Seemänner und Händler herrschte hier auch nachts noch reger Betrieb. Die Geschäfte der Kneipenbesitzer, Diebe und leichten Damen florierten. Der Nachtwächter mied die gefährlichen Gassen gerne und vergaß sobald es wirklich finster wurde die zweite Runde durch das Viertel, so dass schon ab Mitternacht keine Lampe mehr brannte. Alida wusste, dass diese Gassen nicht der rechte Ort für einen kleinen Jungen und eine junge Frau waren aber hier scherte sich keiner um den Nächsten und niemand wunderte sich über das teilweise seltsame Gebaren der Passanten. Sie gingen durch die schwärzesten Schatten und blieben stets im Dunkeln. Emilian hielt ihre Hand und wie schon vor einigen Jahren spürte er ihren Weg mehr als dass er ihn sah. Alida war schon oft mit ihm jagen gewesen. Für ihn gab es nur zwei Arten der Beute: Kranke und Verkrüppelte, da diese für seinen kleinen Körper die einzigen eventuellen Gegner waren, gegen die er ohne sich selbst in Gefahr zu bringen problemlos ankommen konnte und Verbrecher und Mörder bei denen er sich nicht zurück nahm. Emilian hatte einst berichtet, sein Vater hätte es immer so gehandhabt und es wäre Teil seiner Familientradition.

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Früher als erwartet wurden sie fündig: in einer dunklen Seitenstraße in ungefähr dreißig Schritt Entfernung hatte sich ein älterer Mann zum Schlafen niedergelegt. Mit ihren geschärften Sinnen erkannte Alida die Narben und Verstümmelungen des Bettlers: Lepra. Sie sah näher hin. Das Gesicht erinnerte mehr an ein durchlöchertes und zerknittertes Stück Sackleinen als an einen Menschen, an den Händen fehlten ihm einige Finger doch er atmete ruhig und friedlich. Niemand würde sich freiwillig an einem Leprakranken vergreifen. Alida nickte Emilian zu, der sie fragend ansah. Der Junge blickte noch einmal ängstlich zu ihr zurück, vergewisserte sich, dass sie wirklich bereit stand und trat dann näher an den Mann heran um sich vorsichtig über ihn zu beugen. Alida konzentrierte sich voll und ganz auf den Knaben.
Eine Hand riss sie herum. „Was haben wir denn hier? So hübsch und dann versteckst du dich in einer Seitenstraße? Welche Verschwendung!“ Der grobschlächtige Mann sprach ohne Akzent, kam scheinbar aus der Gegend. Er war muskulös und von unzähligen Narben entstellt, die er sich wahrscheinlich bei mehreren Wirtshausschlägereien zugezogen hatte. Seine vom Alkohol gerötete Nase war in seinem Leben mehrmals gebrochen und die kleinen Augen funkelten sie gierig an.

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Er griff fester nach ihrem Arm und drückte sie an sich. „Meine Königin, Irina, die erste, will mich heute nicht sehen. Sagt, ich stinke ihr heut zu sehr. Und dass ich keinen Kredit mehr bekäme. Dafür hab ich ja heute etwas viel schöneres gefunden“. Er riss sie herum und stieß sie in eine weitere Seitenstraße. „Lasst mich sofort los!“ kam ihr wütender Protest. Er lachte böse. „Mei hübsches Mädchen. Wie wahrscheinlich ist es, dass ich dich jetzt gehen lasse? Hm? Wolltest dich wohl hier mit deinem Geliebten treffen. Lass raten: Dein Gatte darf davon nichts wissen?“ Er zückte ein Messer und die Klinge blitze im schwachen Mondlicht. „Wenn du schön brav bist, hat dein Schatz später vielleicht auch noch was von dir. Halt schön still.“ Er hielt ihr das Messer an den Hals und machte sich an seiner Hose zu schaffen. Alida spürte, wie sich sie Schneide in ihren Hals bohrte doch das war ihr egal. Sie spürte, wie das Tier in ihr die Kontrolle übernahm und sie ließ es bereitwillig geschehen. Sie stürzte sich auf den Mann, der die Klinge, überrascht über ihre Gegenwehr, in ihren Bauch rammen wollte. Das Messer prallte jedoch an ihrer Haut ab und fiel in den Schlamm. Unglaube und Panik legte sich über die Züge des Verbrechers, er stieß sie mit all seiner verbleibenden Kraft von sich und rannte in Richtung der belebten Straße. Das Tier in ihr nahm die Verfolgung auf, sprang über Kisten und Abfall und hatte ihn fast erreicht als er plötzlich vor einer belebten Kneipe im Schein der hellen Straßenlaterne zu stehen kam. Alida spürte die Bestie, die ihm hinterher wollte, sein Blut und die absolute Vernichtung dieses Menschen suchte und sie riss sich zusammen. Es kostete all ihre Überwindung zurück in den Schatten der Straße zu treten. Der Mann sah sich noch einmal nach ihr um und ein boshaftes Grinsen legte sich über seine Züge bevor er in der Menge verschwand. Die blonde Frau wurde sich bewusst, wo sie war, warum sie hier war und Panik stieg in ihr auf. Emilian! Sie rannte zurück und blieb zehn Meter vor der kleinen zusammengekauerten Gestalt stehen, die mit dem Rücken zur Hauswand saß, die Knie umfasst hatte und langsam vor und zurück wippte. Neben ihr lag die leblose Gestalt des leprakranken Bettlers und rührte sich nicht mehr. Bedachtsam trat sie auf den Jungen zu und kniete sich vor ihm hin. Sie strich ihm über den Kopf und drehte sein Kinn in ihre Richtung. Das Gesicht war blutbeschmiert. Die rote Flüssigkeit lief ihm am Mund hinab und trat in gleichem Maße aus seinen Augen. Sie nahm ihn in die Arme und wiegte den zitternden Körper. Sie hörte immer und immer wieder seine tonlose Stimme: „Du warst nicht da. Du hast versprochen da zu sein.“ Sie spürte wie sie selbst zu weinen begann. „Es tut mir leid, Emilian.“ Lange hielt sie ihn bis seine Tränen versiegt waren und er nicht mehr schluchzte. Sie strich mit ihrem Mantel über sein Gesicht um die schlimmsten Spuren seiner Tat ungeschehen zu machen aber sie spürte, dass sie in diesem Moment den Kontakt zu ihm verloren hatte. Er war an einem Ort an den sie ihm nicht folgen konnte.
Schließlich drehte Emilian sein Opfer um und setzte es vorsichtig an die Wand. Er betrachtete das entstellte Antlitz und begann dann sacht über die Haut zu streichen. Als bearbeite er Ton statt Haut ließ er die Narben verschwinden. Alida schüttelte den Kopf. „Emilian?“ Er funkelte sie böse an und zum ersten Mal hörte sie wirklichen Zorn in seiner Stimme. „Lass mich. Schau ihn dir an. Im Leben hat ihn jeder gemieden. Er war bereits ein lebender Toter bevor ich kam. Nun habe ich ihm das einzige genommen, das er noch hatte. So soll er wenigstens im Tod den Respekt bekommen, der ihm zusteht.“ Der kleine Junge ließ sich Zeit. Vorsichtig entfernte er die Narben, schuf eine neue Nase, gerade Augenbraune und detaillierte Ohren. Alte Brandwunden wurden zu rosiger Haut und er kreierte neue lange Finger und Zehen. Emilian erschuf ein engelsgleiches Antlitz von unmenschlicher Schönheit und erhob sich dann. Er griff nach ihrer Hand und ging schweigend neben ihr her nach Hause.
Sie hatten bereits das Anwesen der van de Burse erreicht und gingen am Kanal entlang durch die Allee aus Apfelbäumen als er plötzlich inne hielt und sie zu sich drehte. Seine Stimme war leise. „Alida? Warum warst du nicht da?“ Sie schluckte schwer. „Ich konnte nicht.“ Er brachte seine Frage in exakt der gleichen Tonlage vor. „Warum warst du nicht da?“ Die blonde Frau schüttelte den Kopf und schwieg. „Warum warst du nicht da?“ Er wurde lauter und eindringlicher. „Warum warst du nicht da?“ Sie wollte nicht, dass er es erfuhr. Nicht Erinnerungen wecken, die sie beide so hart hatten bekämpfen müssen. Sie wollte nicht, dass er sich in Gefahr begab, dass er Dinge tat, die… Sie biss die Lippen aufeinander. „Lass uns nach drinnen gehen.“ Er schüttelte ebenso den Kopf, griff nach ihrer Hand, drückte sie fest und seine rot braunen Pupillen fixierten ihre blauen Augen. „Alida? Ein letztes Mal: Warum warst du nicht da?“ Sie biss sich auf die Zunge und schmeckte Blut. Sie spürte, wie etwas in ihre Gedanken eindringen wollte, spürte seine Präsenz stärker als alles andere, stärker als das Blut in ihrem Mund. Nicht die Präsenz eines kleinen Jungen sondern die eines erwachsenen Kainiten, der um vieles stärker war als sie. Ihr Geist wehrte sich, doch Emilian kannte sie zu gut, kannte jede Eigenheit an ihr, ihre Gedankengänge, ihre Gefühle und fand ihre Erinnerungen schneller als sie sie vor ihm verstecken konnte. Und schließlich das Bild des grobschlächtigen Mannes, das Messer, das Geräusch des spritzenden Morasts als die Klinge hinein fiel, das boshafte Grinsen im Laternenschein. Dann ließ sein Geist sie los und zog sich zurück. Der kleine Junge stand vor ihr und blickte sie voll Traurigkeit aber zugleich mit einer heftigen Entschlossenheit an. Lange zögerte er. Dann griff er erneut nach ihrer Hand und führte sie zurück nach Hause.

Drei Abende später.

Die Familie van de Burse saß am Tisch und speiste zu Abend. Alida griff nach dem Tonkrug mit Apfelmost und nahm einen Schluck. Dann schöpfte sie sich mehrere Löffel Erbsen auf den Teller. Die rotblonde Evelyn war sichtlich aufgeregt und zupfte ihren Vater Christian, der neben ihr saß, am Ärmel. „Du? Weißt du, was ich heute auf dem Markt gehört habe, als ich die alte Annie begleitet habe?“ Alidas Bruder lächelte wohlwollend und tat unglaublich interessiert. „Was denn?“ Georg, der ihnen Gegenüber saß goss sich Wein nach und blickte ebenfalls zu dem kleinen Mädchen. Sie berichtete mit atemloser Stimme. „In der Nähe des Hafens hat man einen Engel gefunden. Einen echten toten Engel. Er war so schön, dass die Leute überlegt haben ihn in unsere große Kirche als heilige Reliquie auszustellen. Damit er allen Glück bringt. Aber der Pfarrer hat das abgelehnt und so wurde der Engel dann heute Morgen auf dem Friedhof beerdigt. Können wir da hingehen. Auf den Friedhof?“ Christian schüttelte den Kopf und strich seiner Tochter über die Locken. „Nein. Da gehen wir nicht hin. Engel sind im Himmel und manchmal vielleicht kurz auf der Erde. Aber bestimmt nicht auf unserem Friedhof.“ Er lachte und prostete Alida und Georg zu. „Auf den guten Moselwein, nicht wahr? Der macht alles, was man so sieht ein wenig schöner.“ Er nahm einen tiefen Zug.
Evelyns Stimme wurde noch etwas leiser und sie zupfte erneut am Ärmel ihres Vaters. „Aber Papa? Die Leute auf dem Markt haben noch mehr erzählt: dass heute am hellichten Tag bei uns in Brügge ein Teufel gesichtet wurde. Ganz unglaublich hässlich. Abscheulich und abstoßend, ein Bote direkt aus der Hölle mit roten Augen und grauer Haut und dem Ansatz von abgebrochenen Flügeln. Er hat zwar behauptet, er wäre ein ganz normaler unschuldiger Mensch und jemand hätte ihm das angetan, aber die Leute haben ihm natürlich nicht geglaubt und ihn bereits wenige Minuten später gesteinigt. Vielleicht gibt es doch Engel und Teufel auf der Welt, Papa?“
Alida schluckte und sah in Richtung Emilian, der konzentriert über seinem Teller saß, nach unten blickte und gekonnt mit seinem Messer die einzelnen Fasern des Fleisches vom Knochen löste. Sie sah nach oben und traf Georgs besorgten und missmutigen Blick, der mehr sagte als tausend Worte.

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Der Weg zum Ziel beginnt an dem Tag, an dem du die hundertprozentige Verantwortung für dein Tun übernimms.
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BeitragVerfasst: Di 3. Feb 2015, 16:29 
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Brügge, Stephanitag, 26.12.1105

Alida spürte wie sich die Nacht über Brügge zu legen begann. Sie kannte diese innere Uhr, die sie vor den Strahlen warnte oder sie rief, wenn die Gefahren des Tages vorüber waren: Es wurde Zeit zu erwachen. Sie drehte sich nach links und bemerkte den kleinen leblosen Körper, der neben ihr lag, den offenen Mund gerötet von ihrem Blut, noch immer an der Beuge ihres blassen Halses. Sie strich ihm behutsam über die struppigen braunen Haare und bemerkte wie sich die kalte Gestalt langsam zu regen begann. Sie lächelte ihn an und wusste, dass er sie auch in der dämmrigen Schwärze des Zimmers so erkennen konnte wie bei hellem Kerzenschien. „Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag.“ Emilian öffnete die dunklen Augen und ein Grinsen huschte über seine Mundwinkel. „Danke.“ Er sprang aus dem Bett um das blasse Mondlicht hinein zu lassen. Die Eisblumen glitzerten an den Fenstern und ließen schemenhaft die weiße Winterlandschaft erkennen. Alles draußen lag in eisiger Erstarrung. Wie sie selbst, fuhr es ihr kurz durch den Kopf. Alida griff hinter sich, zog eine Schublade auf und förderte zwei kleine in Stoff eingewickelte Bündel heraus, die sie Emilian in die Hand drückte. „Für das Geburtstagskind.“ Sie blickte ihn ungeduldig an. „Mach auf.“ Der Junge zögerte kurz und ließ dann zunächst den münzgroßen Gegenstand aus dem Beutel auf seine Handfläche fallen. Er betrachtete neugierig den rot braunen Stein, der an einem Lederband baumelte und hängte ihn sich dann um den Hals.

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Alida verglich das Braun-Rot des Steins mit den Augen des kleinen Jungen. „Jaspis. Der soll dir Glück bringen.“ Er schenkte ihr ein Lächeln, wickelte den Stoff des zweiten Gegenstandes ab und förderte ein dickes, in Leder gebundenes Buch hervor, das den Titel „Anatomia humanitas“ trug. Er schlug wahllos eine Seite auf, die mit zahlreichen Skizzen der menschlichen Hand, ihrer Knochen, Sehnen und Bänder versehen war.

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„Es wird dir sicher bei deinem nächsten Besuch im Hospital von Nutzen sein. Aber pass gut auf, dass es nie jemand zu Gesicht bekommt.“ Ihre Mimik wurde ernst. „Ein Buch über satanische Riten wäre wohl einem Pfarrer nicht weniger willkommen um uns bei den Mächtigen der Kirche Rede und Antwort stehen zu lassen. Du solltest es in der abschließbaren Truhe in unserem hinteren Vorratskeller aufbewahren, denke ich. Jetzt im Winter gibt es kein Obst und Gemüse zum Lagern und es betritt niemand freiwillig diesen eisigen Raum. “ Emilian setzte sich wieder neben sie aufs Bett und blätterte ehrfürchtig den Folianten um. Seine schmalen Finger fuhren über die Bilder als versuche er sie zu fühlen. „Wunderbar. Danke.“ Schließlich blieb sein Blick an der Zeichnung einer weiblichen Hals,- Kinn- und Mundpartie hängen. Prüfend wanderten seine Augen über ihre Haut um beides zu vergleichen und die blonde Frau musste grinsen.
„Alida? Du trinkst von mir und ich von dir… von den Fingern, den Handgelenken…“ Er strich mit den Fingerspitzen über ihre Hand und die Haut des Armes und seine Stimme wurde leiser. „… von der sanften Beuge am Hals...“ seine Finger wanderten weiter und verharrten schließlich zögernd am Kinn, wenige Millimeter von ihrem Mund entfernt. „… aber niemals von den Lippen des anderen.“
Alida griff nach seinen Fingern und schloss seine Hand zur Faust. Dann versetzte sie ihm mit dem Zeigefinger einen Stups auf die schmale Nase und lächelte. Er zog die Faust zurück. „Weil das etwas für Erwachsene ist, die ineinander verliebt sind. Also nichts für jemanden wie dich und mich.“ Er schlug das Buch zu und schluckte. „Hast du schon mal jemanden geküsst?“ Alida musste lachen. Sie stand auf und griff nach einem dunkelroten wollenen Überkleid. „Ja, habe ich. Als ich jünger war. Mit vielleicht 15 oder 16 Jahren.“ „Wie ist es so?“ Seine Worte waren bedachtsam gesprochen. Sie schenkte ihm ein Lächeln. „Feucht“, war ihre knappe Antwort. „Und? Hast du Georg mal geküsst?“ Eine Erinnerung huschte durch ihre Gedanken. „Ja, wir haben damals eine Wette verloren. Es ging um irgendwas mit einem besoffenen Schwein.“ Sie grinste und wunderte sich, dass er nicht in ihr Lachen einstimmte.
Emilian sah Richtung Tür und wenig später hörte auch Alida wie jemand, laut ein Geburtstagslied trällernd, die Treppe hinaufstieg. Emilian schob das Buch unter seinen Mantel und ging mit schnellen Schritten zur Tür. „Ich sollte mich wohl schnell in mein eigenes Zimmer begeben bevor man mich sucht.“ Er deutete eine spielerische Verbeugung an, zog den Riegel zurück und war wenige Sekunden später im Flur des Obergeschoss verschwunden. Alida stand vor der geschlossenen Holztür und blickte nachdenklich hinter ihm her.

Der mittlerweile 15 jährige Frederik betrat die warme Wohnstube. Die Fenster waren mit dicken Vorhängen verhangen um die Kälte des Winters draußen zu halten und im Kamin prasselte ein schwaches gemütliches Feuer. Er war in edle blau graue Stoffe gekleidet und hielt sich stolz noch um einiges aufrechter als an den anderen Tagen des Jahres. Heute war der zweite Weihnachtsfeiertag und zu diesem Anlass hatte die alteingesessene Bürgerfamilie Van Hauten zu einem Ball in ihrem Anwesen geladen. Die Familie van de Burse sowie zum ersten Mal auch deren älteste Kinder, Frederik und seine 13 jährige Schwester waren geladen und der Junge konnte es kaum erwarten endlich aufzubrechen. An einem Tisch in der Nähe entdeckte er den kleinen Jungen mit den seltsamen Augen und seine Schwester, die diesen mittlerweile um Haupteslänge überragte. Beide steckten verschwörerisch die Köpfe in ein Buch und tuschelten miteinander über den wohl sehr interessanten Inhalt. Als er sich näherte schlug Emilian das Buch zu und ließ es ich seinem anscheinend funkelnagelneuen Mantel mit braunem Fellbesatz verschwinden. Das rot-blonde Mädchen sah ihn leicht missfällig an. Er suchte nach den passenden Worten, aber ihm wollte nichts Rechtes einfallen. „Evelyn, du solltest dich auch langsam fertig machen. Zur achten Stunde ist Abfahrt und im Moment siehst du noch nicht sehr präsentabel aus. Du bist eine van de Burse. Da hast du gefälligst etwas hübscher zu sein.“ Die 13jährige schwenkte ihm einen gelangweilten Blick. „Wenigstens sehe ich nicht aus wie ein aufgeblasener Gockel…“ Sie kicherte und Emilian zu ihrer Rechten musste laut losprusten. Frederik spürte, wie Wut in ihm hochkroch. Er deutete mit dem Finger auf Emilian. „Ja, du verbringst lieber deine Zeit mit diesem ewigen Knirps als mit normalen Leuten.“ Emilian schüttelte ruhig den Kopf und sah den Jungen, der ihm um zwei Köpfe überragte an. „Frederik? Lass es dabei, okay?“ Doch Frederik begann gerade erst. „Schau ihn dir doch mal an! Er ist nicht wie du oder ich, ein ewiger, mickriger Zwerg, der zu schwach ist, irgendwann mal ein Schwert in die Hand zu nehmen um als Mann die zu beschützen, die ihm wichtig sind. Außer über Büchern sitzen kann er nichts. Gar nichts!“ Der 15 Jährige sah seine Schwester beschwörend an. Evelyns Stimme war dünn. „Das stimmt nicht. Er ist mit dem Schwert und den anderen Dingen genauso geschickt. Aber du, Frederik, weißt gar nicht.“ Ihr Bruder fing den Blick der rot- braunen Augen auf, die ihn hasserfüllt anstarrten. Emilian erhob sich um den Raum zu verlassen und Frederik bemerkte wie mühsam es ihm fiel nicht Hals über Kopf hinaus zu stürmen. Frederik rief ihm hinterher. „Gar nichts kannst du, nicht wahr, Emilian? Beweis es doch. Lass uns nach draußen gehen und es wie Männer klären!“ Emilian ignorierte ihn und hatte die Tür erreicht als der Erstgeborene der Familie sich wieder an seine Schwester wandte. „Weißt du noch was, Evelyn? Dein Freund kommt doch aus dem Osten. Seine Eltern sind bei einem Aufstand ums Leben gekommen. Er hat tatenlos zugesehen wie man sie abschlachtete. Ohne auch nur einen Finger zu rühren. Ohne ihnen zu helfen, ohne irgendetwas zu tun.“ Emilian erstarrte. „So viel zu deinem tollen kleinen Freund.“ Der schmächtige Junge fuhr herum, tat drei Schritte auf ihn zu und Frederik erkannte mit einem Schauer, den puren Hass, der das Kind übermannen wollte. Der Knabe zwang sich stehen zu bleiben, ballte die Fäuste und sammelte sich. Dann schritt er energisch auf den zwei Köpfe größeren Jungen zu und verharrte. „Okay, Frederik van de Burse. Lass es uns ein für alle Mal klären. Ich habe genug von dir, von deinen tagtäglichen Gemeinheiten. Ich habe alles so satt. Hast du auch nur den Hauch einer Ahnung, wie schwer es mir fällt ein ums andere Mal still zu sitzen, wenn ein Halbstarker wie du seine kindischen unüberlegten Bemerkungen von sich gibt? Wenn ich mir nichts anderes wünsche als einfach nur auf dich los zu gehen?“ Frederik lief ein eisiger Schauer über den Rücken und er spürte, dass er zu weit gegangen war. „Du willst einen Kampf zwischen Männern?“ Der Kleine spie das Wort mit einem bitteren Sarkasmus aus. „Den kannst du haben! Los!“
Emilian lief mit einer ungewohnten Schnelligkeit aus dem Raum, warf Frederik im Hausflur auf dem Weg nach draußen eines der hölzernen Übungsschwerter zu, das der 15 jährige nur mit Mühe auffangen konnte und schmiss die Haustür hinter sich zu als die drei Kinder aus dem Gebäude getreten waren. Die eisige Nachtluft umhüllte sie und die bittere Kälte kroch den Geschwistern schlagartig in die Glieder. Er hörte die entschlossene Stimme des kleinen Jungen, die ihm mit einem Male in keinster Weise mehr kindlich erschien und ihn in Angst versetzte. Irgendwie wirkte der Knabe größer, muskulöser, bewegte sich mit unbekannter Gewandtheit. „Los! Zum Brunnen hinten im Garten.“ Evelyn riss an seinem Ärmel ohne ihren Freund damit zum Einhalten zu bringen. „Hört auf! Ich will, dass ihr sofort aufhört.“ Beide Jungen ignorierten sie. „Verdammt! Hört doch: Ihr sollt diesen Mist lassen.“ Da sich niemand auch nur nach ihr umdrehte machte sie auf dem Absatz kehrt und rannte zurück zum Anwesen der Familie. Emilian blieb schließlich am steinernen, zugefrorenen Brunnen stehen und ließ das hölzerne Schwert mehrmals in der Hand kreisen. Frederik schluckte. Die kahlen Flieder- und Apfelbäume warfen im Mondlicht fingerartige Schatten in den weißen Schnee.

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Emilian rührte sich nicht mehr, wirkte wie erstarrt. Nur seine Stimme durchdrang die eisige Luft: „Also: Ein Kampf zwischen… Männern. Wenn du zuerst zu Boden gehst werde ich von dir nie wieder ein einziges böses Wort hören. Ansonsten…“ Emilian ließ die Drohung in der Luft stehen und Frederik wagte nicht, zu fragen, was er meinte. Seine Stimme war heiser: „Und wenn du zuerst zu Boden gehst, dann wirst du nie wieder ein Wort mit meiner Schwester wechseln…“ er wusste, er würde wieder zu weit gehen wenn er weiter sprach, aber das war ihm in diesem Moment egal. „… oder mit Alida.“ Die rot-braunen Augen des kränklichen Knaben verengten sich zu wütenden Schlitzen. „Boshaftigkeit steht dir nicht, Frederik van de Burse.“ Der 15 Jährige zuckte zusammen, streckte seinem Kontrahenten jedoch die Hand entgegen. Er wollte seine Hand zurückreißen als er die eisigen Finger des Knaben berührte, drückte jedoch fester zu. „Abgemacht.“
Er hielt sein Holzschwert schützend vor sich als der erste Angriff begann. Emilian riss seine hölzerne Klinge nach oben und zielte auf den Hals des 15 Jährigen. Es gelang ihm den Hieb abzuwehren und ebenfalls mit einem harten Schwung nach der Seite des Kleineren zu schlagen. Seine Größe, Kraft und seine deutlich ausladende Reichweite ließen ihm schon zu diesem Zeitpunkt als Sieger dastehen. Emilian duckte sich gekonnt und mit schier unmenschlicher Leichtigkeit. Er tat einen Schritt zurück und der Stab seines Gegners verfehlte ihn nur mit knapper Mühe an der Seite. Der Größere warf sich mit aller Kraft nach vorne um sein Schwert auf Emilians Schulter sausen zu lassen und traf diese tatsächlich mit voller Wucht. Erschrocken über die Kraft seines Angriffs verharrte er einen Augenblick. Er wollte dem Knaben mit den seltsamen Augen zeigen, wo sein Platz war, wollte, dass er begriff wo er wirklich hingehörte, ihn aber nicht ernstlich verletzen. Emilian rollte nur einmal kurz mit beiden Schultern und ein düsteres Lächeln zeigte sich auf seinen Zügen. Wie konnte es sein, dass der Kleine nicht mal Schmerzen verspürte? Emilian duckte sich unter dem nächsten Hieb und zielte auf den rechten Arm des 15 jährigen. Frederik wollte den Schlag abwehren, aber in dem Moment in dem er begriff, dass es nur eine Finte gewesen war, traf ihn der Griff des Stabes bereits mit voller Wucht in die Magengrube. Der zweite Hieb fuhr krachend gegen seine Achillessehne, ließ ihn taumeln während noch in derselben Sekunde der dritte Schlag seine Schläfe erwischte und ihn zu Boden gehen ließ.
Mühsam kam er wieder zu sich, den eisigen Schnee im Gesicht, der seinem dröhnenden Schädel eine leichte Linderung bescherte. Ihm war schlagartig übel und er erbrach sich. Aus dem Augenwinkel bemerkte er wie Emilian seine hölzerne Waffe mit Wucht zu Boden warf und ihm die Hand entgegen streckte. Die Stimme war wieder leiser und eine Frage schwang darin mit: „Also ist es nun geklärt?“ Frederik drehte sich auf die Seite unschlüssig ob er einfach liegen bleiben oder nach der ihm entgegen gestreckten Hand greifen sollte als er eine dröhnende Stimme vernahm.
Vom Haus her kamen zwei dunkle Gestalten gerannt. Erst nachdem er mehrmals den Schnee aus den Augen geblinzelt hatte erkannte er Evelyn und den hochgewachsenen Georg, den Gutsverwalter und besten Freund seines Vaters. Die Stimme des Mannes war eine einzige Anklage: „Seid ihr wahnsinnig? Welcher Teufel hat euch geritten, dass ihr auf die Idee kommt, euch gegenseitig totschlagen zu wollen?“ Frederik brachte seine Antwort nur mit Mühe hervor. Er bemerkte, dass er aus einer Kopfplatzwunde blutete. „Wir wollten uns nicht totschlagen Wir mussten nur was klären.“ Der Blick des blonden Mannes wanderte von dem kleinen Knaben zu dem blonden Heranwachsenden. „Wer von euch kam auf diesen absolut gestörten Einfall? Wer von euch hat den anderen herausgefordert?“ Er kannte die beiden Jungen nur zu gut. „Frederik, oder? Bist du wirklich so niederträchtig einen Kleineren zu schlagen. Oh, verlass dich darauf: Ich sorge dafür, dass du niemals, so lange ich im Haus deines Vaters arbeite, zu irgendeinem gesellschaftlichen Ereignis gehen wirst. Wer der Familie van de Burse nichts als Schande macht, sollte auch dementsprechend behandelt werden.“ Frederik schloss die Augen und atmete tief ein. Er öffnete den Mund um zu antworten, hörte dann jedoch die schwache Stimme von Emilian: „Nein, es war meine Idee. Ich wollte Frederik mal zeigen, dass ich stärker bin als er.“ Der 15 Jährige hörte nur wie Georg auf den Knaben zutrat und ihm mit der flachen Hand ins Gesicht schlug. Er versuchte aufzuspringen, aber der bohrende Schmerz hielt ihn am Boden. Georgs Stimme war so eisig wie die Winternacht. „Ich habe immer gewusst, dass es eine schlechte Idee war dich von Windau mitzunehmen und dir hier ein neues Zuhause geben zu wollen. Du bist eine unberechenbare Gefahr für alle und scheinst dich und deine Emotionen in keinster Weise im Griff zu haben.“ Er deutete auf Frederik. „Das ist der zukünftige Erbe der van de Burse, und dir fällt nichts Besseres ein als ihn am Weihnachtstag zusammen zu schlagen? Du bist wahrhaftig eine Schande für die Familie. Dort wo du herkommst, im Osten, gibt es doch einige wie dich. Vielleicht solltest du überlegen dorthin zurück zu kehren?“ Frederik erkannte, wie Panik in den Augen des kleinen Jungen aufblitze. Dann wandte sich Georg von den Kindern ab und zog Evelyn ihren Protest ignorierend hinter sich her. „Ich werde mit Alida darüber sprechen.“
Frederik blieb noch zwei Minuten im eisigen Schnee liegen. Dann gelang es ihm sich mühsam aufzurichten. Er sah sich nach Emilian um und entdeckte den kleinen Jungen schließlich am zugefrorenen Brunnen. Er hatte ihm den Rücken zugewandt und starrte auf das Eis hinab. Der 15jährige trat langsam nähe rund legte dem schmächtigen Knaben die Hand auf die Schulter. „Emilian? Es tut mir leid. Ich werde das mit Georg klären. Er hat kein Recht so etwas zu sagen. Ich sage ihm die Wahrheit und zur Not bespreche ich mich mit meinem Vater und Alida. Auf die beiden wird er auf jeden Fall hören.“ Emilian wandte sich um und sah den größeren an. „Ist schon in Ordnung. Georg sieht und hört eh nur das, was er hören möchte. Das war schon immer so.“ Dann biss er sich auf die Lippen und schüttelte nur den Kopf. Frederik schluckte als er weiter sprach. „Es tut mir wirklich leid. All die gemeinen Bemerkungen, du hast sie nicht verdient… ich…“ Der kleine Junge sah ihn von unten an. „Du brauchst nicht weiter zu sprechen. Ich weiß, wie du dich gefühlt hast als deine Familie mich damals aufgenommen hat. Von einem Tag auf den anderen hast du die Aufmerksamkeit und den Respekt der Menschen, die du geliebt hast mit einem Unbekannten teilen müssen, der nicht einmal Flandrisch sprach. Ich habe das gewusst und bin doch nie wirklich eingeschritten.“ Traurig sah er zu Boden.
Frederik stand lange dort, unschlüssig was er zu diesem unerwarteten Geständnis sagen sollte. Schließlich nickte er. „Ja. Ich war eifersüchtig. Evelyn und Alida waren immer Feuer und Flamme für dich, die Lehrer haben immer dich gelobt und mich getadelt. Ich…“ Emilian wandte sich Richtung Haus und sah ihn mit den seltsamen Augen scharf an. „Frederik van de Burse? Du gehst in ungefähr zwei Stunden auf einen Ball, tanzt wahrscheinlich mit einer der hübschen Töchter des Gastgebers und sei dir gewiss, dass viele solcher Abende folgen werden. Und jetzt schau mich an! Was siehst du?“ Der hochgewachsene Junge sah ihn zögernd an, wusste nicht worauf sein Gegenüber hinaus wollte. „Nun ja, dich halt, Emilian…, einen ungefähr 8 jährigen Knaben…“ Emilian lächelte schwach. „Und? Was hast du vor 7 Jahren gesehen, als du mich zum ersten Mal erblickt hast?“ Frederik biss die Lippen aufeinander und schwieg. „Also: Worauf bitte bist du neidisch?“
Frederik hielt ihm die Hand hin. „Waffenstillstand?“ Ein kleines Lächeln glitt über Emilians Lippen als er einschlug und langsam mit Frederik zurück zum Haus ging.

Alida trat durch die Eingangshalle des Hauses und griff nach einem wollenen weißen Mantel. Sie hatte ein hellblaues Kleid mit langen Ärmeln für den Abend gewählt. Ihr Bruder, Evelyn und Frederik saßen bereits in der Kutsche und warteten auf die Abfahrt. Neben ihr kämpfte Christians Frau Katharina mit ihrem Umhang und dem ledernen Schuhwerk und trat dann ebenfalls ins Freie. Alida erblickte Emilian, der versuchte ungesehen ins Haus zu schlüpfen. Er sah niedergeschlagen aus. Die blonde Frau trat auf ihn zu, beugte sich zu ihm herunter und legte ihm die Hände auf die Schultern. „Emilian? Alles in Ordnung?“ Er wich ihrem Blick aus doch sie drehte sein Kinn wieder in ihre Richtung. „Du? Ich weiß wie schwer es für dich ist. Heute ist dein Geburtstag und wir gehen alle zu einem Fest, zu dem du nicht eingeladen bist. Nächstes Jahr werden wir einfach hier feiern und dann bist du mit dabei. Wie klingt das?“ Emilian sah sie irritiert an. Offenbar waren nicht das Fest und der Geburtstag für seine gedrückte Stimmung verantwortlich. Hinter ihr trat Georg in den Flur und ging Richtung Ausgang. „Alida? Es ist mir eine Ehre dich heute zum Fest der Van Hautens begleiten zu dürfen. Trotzdem muss ich später noch mit dir über den Jungen reden.“

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Der Blick des hochgewachsenen Mannes blieb an dem braunhaarigen Kind hängen. Daher wehte scheinbar der Wind… Alida schüttelte den Kopf. „Nicht heute, Georg. Heb dir das für eine andere Nacht auf!“ Der Mann zuckte die Schultern und zog die Tür hinter sich zu. Die blonde Frau drückte den Knaben fest an sich. Dann wollte sie ihre Familie nicht länger warten lassen und trat Richtung Ausgang. Die Stimme des Jungen war ungewöhnlich dünn und unterdrückte Wut war darin zu vernehmen. „Ich habe keine Ahnung warum du Georg als Begleitung für heute Abend gewählt hast. Ich weiß überhaupt nicht, was du an ihm findest.“ Alida sah den stummen Vorwurf in den Jaspisaugen des Knaben. „Emilian. Ich weiß, ihr beide habt eure Zwistigkeiten miteinander, aber Georg ist seit frühesten Kindertagen einer meiner besten Freunde.“ Sie versuchte es mit einem Scherz. „Außerdem ist er der bestaussehende Junggeselle hier im Haus und da muss er ja bei den Van Hautens Eindruck machen, oder?“ Emilian drehte ihr den Rücken zu und schritt davon. Alida bemerkte, dass sie etwas Falsches gesagt hatte, verfügte aber nicht über die Zeit für ausführliche klärende Worte. „Hey Emilian. Mach dir einen schönen Abend. Ich hab dich lieb.“ Er drehte sich noch einmal kurz zu ihr um, musterte sie aus nachdenklichen Augen und nickte dann. Alida lächelte ihm zu. „Ich hab dich nie gefragt: Wie alt bist du eigentlich?“ Emilian zögerte kurz als überlege er. „29“ Dann wandte er sich ab und verließ den Raum. Alida erstarrte und zum ersten Mal hatte sie den Eindruck, dass irgendetwas ganz gewaltig falsch zu laufen begann.

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Zuletzt geändert von Alida am So 26. Apr 2015, 00:40, insgesamt 1-mal geändert.

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BeitragVerfasst: Mi 4. Feb 2015, 22:34 
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Brügge, 27.12.1105

Alida durchstreifte unruhig die Zimmer des Hauses. Irgendetwas machte sie rastlos, verhinderte, dass sie sich hinsetzen wollte, etwas las oder sich auf die Arbeit konzentrierte. Immer, wenn sie versuchte sich näher mit etwas zu beschäftigen begannen die Gedanken ziellose durch ihren Kopf zu kreisen als wären sie auf der Suche nach dem richtigen Gedanken, der ihr einfach nicht einfallen mochte. Es war bereits später Abend. Sie entschloss sich noch einmal mit einem ihrer Verwalter im Kontor im Norden die letzten Rechnungen und Ladungsbescheide durchzusehen und begab sich in die Küche. Die alte Annie, ihre Köchin, knete in der Küche Teig für das Brot, das sie morgen in der Früh zu backen gedachte. Alida schenkte ihr ein Lächeln und hakte nach: „Annie, ich will ins Kontor. Hast du Frederik oder Georg gesehen?“ Annie formte einen der Laibe. „Die wollten zur Ratsversammlung, wenn ich mich nicht täusche. Heute sollen die neuen Einfuhrzölle auf Getreide besprochen werden.“ „Und die Kinder? Ich hab heut noch keins von ihnen zu Gesicht bekommen“ „Hm, Frederik hab ich nicht gesehen, Evelyn hat den Kleinen noch eine Gute Nacht Geschichte vorgelesen und ist dann ins Bett gegangen und Emilian wollte ins Hospital. Meinte, es gäbe heute einen besonders interessanten Fall.“ Alida seufzte. „Dann werde ich einen der Stallknechte fragen, ob er mich zum Kontor begleitet.“ Sie machte sich durch den Schnee auf Richtung Stall und wenige Minuten später waren einer der jüngeren Burschen und die blonde Händlerin auf dem Weg zum Kontor. Die Straßen waren glatt und sie mussten langsam reiten um die Tiere nicht ins Straucheln zu bringen. Das Gefühl der Unruhe wurde mit jedem Yard, das sie ritten größer. Als hätte sie einen wichtigen Termin vergessen, der näher und näher rückte.
Alida kam bei dem großen Fachwerkgebäude an und drückte ihrem Begleiter die Zügel des Pferdes in die Hand. Dieses war eines der Hauptgeschäftsgebäude ihrer Familie aus den Zeiten ihres Großvaters. Sie hatte das riesige Haus in dem Tag und Nacht geschäftiges Treiben von Statten ging stets geliebt. Hier wurden Handelsrouten festgelegt, Schiffe in Auftrag gegeben, Geschäfte besprochen.

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Sie suchte Jakob Gansmann auf, einen Onkel Georgs und langjährigern Angestellter der Familie van de Burse. Sie fand ihn im ersten Stock über mehrere Papiere gebeugt, die er mit einem jüngeren Kaufmann durchsah. Alida hörte den beiden einige Minuten zu und begann dann die Einnahmen und Ausgaben der vor einem halben Jahr eingeführten Handelsroute zwischen Basel und Rotterdam zu besprechen. Es fiel ihr nach wie vor schwer sich zu konzentrieren obwohl sie das Thema und die Ergebnisse interessierten.
Wieder ertappte sie sich dabei, wie sie zum Fenster hinaussah. Plötzlich vernahm sie hinter sich ein Klopfen an der offenen Tür. Alida wandte sich um und erblickte Frederik, der im Türrahmen stand und sie ernst ansah. Er war verschwitzt und leicht außer Atem. „Alida? Hast du einige Minuten für mich?“ Die blonde Frau nickte ihrem Neffen zu und die anderen Männer verließen mit einem Grüßen höflich den Raum. Sie ließ sich auf eine hölzerne Kiste sinken und deutete auf den mit grünem Stoff bezogenen Sessel, in den sich der Junge nieder ließ. „Alles in Ordnung?“ Der breitschultrige Junge nickte, biss sich jedoch nervös auf die Unterlippe. „Ich wollte mit dir reden um… Missverständnisse aus dem Weg zu schaffen.“ Alida zog fragend eine Augenbraue hoch. „Was hat dir Georg gestern über… die Meinungsverschiedenheit, die ich mit Emilian hatte, erzählt?“ Alida schluckte. Ihr war das Thema unangenehm und sie hatte bisher vermieden sich weiter damit auseinander zu setzen. „Dass Emilian dich verspottet und herausgefordert hat. Und ihr dann mit Übungsschwertern gegeneinander gekämpft habt und er dich dabei verprü… besiegt hat.“ Die grau blauen Augen ihres Gegenübers sahen sie an und er schüttelte den Kopf. „Das ist so nicht ganz richtig. Ich hab ihn beleidigt, miese Sachen über ihn und seine Eltern gesagt und den Kampf mit ihm gesucht. Georg hat mir mit Bestrafung gedroht und da hat der Kleine die Schuld auf sich genommen. Das war mutig von ihm…“ Frederik sah beschämt zu Boden bevor er weiter sprach. „Georg ist komplett ausgerastet, hat gedroht ihn zu „seinen“ Leuten zurückzuschicken und solche Sachen.“ Alida nickte. Georg hatte ihr all dies bereits erzählt und seine Position mehr als deutlich gemacht. Er sah nach wie vor eine Gefahr in dem Knaben und sprach sich dafür aus ihn wegzuschicken. Eigentlich hätte das Geständnis ihres Neffen sie erleichtern sollen, immerhin war damit ja fast alle Schuld von ihrem Ziehsohn abgefallen. Aber trotzdem fühlte sie sich als wäre irgendetwas nicht in Ordnung. Sie musste mit Emilian sprechen. Zum ersten Mal hatte sie das Gefühl, einen richtigen Gedanken gefasst zu haben.
„Frederik. Danke. Es ist mutig von dir, dass du mir die Wahrheit gesagt hast. Ich werde nach Hause gehen und mit Emilian reden. Möchtest du vielleicht statt meiner mit Jakob die Handelsrouten durchgehen und morgen berichten?“ In den Augen des Jungen blitzte Verwunderung und dann Stolz auf. Bisher hatte ihm nie jemand eine wichtige Aufgabe anvertraut. Er nickte emsig. Alida legte ihm dankbar die Hand auf die Schulter und verließ das Gebäude. Sie machte sich nicht die Mühe den Knecht zu suchen, der sich wahrscheinlich gerade irgendwo an einer Hauswand erleichterte sondern sprang auf ihr Pferd und ließ das Tier so schnell als möglich nach Hause galoppieren.
Die ferne Kirchturmglocke schlug eins als Alida wieder zu Hause ankam. Im Haus war es still. Die Bewohner schliefen in ihren Betten und das Gebäude war erfüllt von den Geräuschen der Nacht: dem Knistern der letzen Glut im Kamin, den tastenden Pfoten einer Katze im ersten Stock, dem gelegentlichen Schnarchen eines Schlafenden. Alida ging rastlos durch die Zimmer und verharrte. Annie hatte zwar erzählt, Emilian wäre zum Hospital gegangen aber ihr Gefühl verhieß ihr zu verweilen. Sie schritt durch die Stallungen, den winterlichen erfroren wirkenden Garten, wo sie noch die Spuren des gestrigen Kampfes im Schnee erkennen konnte, und sogar den kalten staubigen Dachboden, wo die Familie alte seit Generationen nicht mehr benötigte Gebrauchsgegenstände hortete. Schließlich stand sie vor der weiß gestrichenen Tür, die zum Keller führte. Ein eisiges Gefühl glitt ihren Nacken entlang als sie die Finger nach dem Türknauf ausstreckte und sie wollte schon verharren. Dann öffnete sie vorsichtig den Eingang. Sie entzündete mit großer Überwindung eine Kerze am Kamin und stieg langsam die Stufen hinab. Eisige Kälte hüllte sie ein. Sie sah sich im ersten Raum um. In den Kisten lagerten Äpfel, Hülsenfrüchte und gepökeltes Fleisch, Lebensmittel, die Annie täglich für den großen Haushalt benötigte. Alles war unauffällig und leer. Mit Mühe setzte sie einen Fuß vor den anderen und betrat den zweiten Raum. Hier lagerten Wintergemüse in großen Körben sowie einige Kürbisse. In den Regalen an der Seite stapelten sich Weinkrüge und eingelegte Früchte. Ihre Füße trugen sie nur mit Widerwillen zur letzten Tür. Der Raum wurde nur im Frühjahr und Sommer benutzt. Dort lagerten die frischen Produkte, die direkt durch den Garten über einen Seitenschacht, der ansonsten immer verschlossen war, in den Kellerraum zur Weiterverarbeitung geladen werden konnten. Jetzt im Winter gab es kein frisches Obst und Gemüse und dieser Keller war demnach leer und nicht genutzt. Erst gestern hatte sie Emilian dazu geraten sein Buch hier zu verstecken, dem wohl sichersten Platz vor unliebsamen Blicken. Ihre Hand zitterte leicht als sie die Finger nach der Klinke ausstreckte. Es war abgeschlossen. Alida atmete tief ein und griff nach dem Schlüsselbund, den sie bei sich trug. Jeder Raum konnte durch einen immer im Schloss steckenden Schlüssel abgeschlossen werden aber nur Alida und ihr Bruder Christian verfügten über die Schlüssel für alle Räume des Hauses. Alida zog den richtigen aus dem Bund öffnete vorsichtig die schwere Eichentür. Als sie eintrat schlug der süße Geruch von Blut wie eine Woge über ihr zusammen und ließ sie taumeln. Sie trat ein und zog die Tür hinter sich zu. Auch hier war es bitter kalt. In der Schwärze des Raumes konnte sie im schwachen Schein der Kerze zunächst nichts erkennen. Sie schluckte und ging langsam tiefer hinein, folgte dem süßen Geruch, der normalerweise immer sofort den Hunger in ihr rief, sie diesmal jedoch würgen ließ. Sie erkannte die Umrisse eines Tisches auf dem im Sommer Gemüse klein geschnitten oder Fleisch zerlegt wurde und darauf einen großen länglichen Gegenstand. Sie stockte, doch dann erkannte sie es deutlicher, wagte ihre Augen weiter zu öffnen und die Gestalt zu erkennen. Georg lag auf dem Tisch und rührte sich nicht. Alida erfasste Panik und sie war mit wenigen Schritten neben ihrem alten Freund. Sie fuhr ihm über das kalte, blasse Gesicht, spürte seinen schwachen Atemzug und entspannte sich. Dann wanderten ihre Augen an seinem Körper entlang, über die Brust, das Becken und die Beine. Alida tat entsetzt einen Schritt nach hinten, griff mit den Händen an den Mund, würgte und ließ die Kerze fallen. Die Haut der Unterschenkel und Füße war fein säuberlich abgezogen und lag aufgeklappt auf dem oberen Teil des Beines. Die roten glänzenden Muskeln waren fein säuberlich frei präpariert und dargestellt. Winzige dunkel- und hellrote Gefäße zogen pulsierend wie winzige Fäden über die Muskulatur, über- und unterkreuzten gelbliche Nervengeflechte und umzogen große und kleine Lymphknoten in runden Kreisen. Daneben lagen Skalpell und Pinzette. Alida erbrach sich und die rote Flüssigkeit ergoss sich über den Boden.

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Sie hörte wie sich etwas in einer Ecke regte und fuhr herum. Alles in ihr war wachsam und angespannt. Sie sah die kleine Gestalt, die langsam auf sie zukam und trat einen weiteren Schritt zurück. Die Stimme war dünn mit einem traurigen Unterton. „Du solltest nicht hier sein. Das war nicht für deine Augen bestimmt, Alida.“ Sie schüttelte den Kopf, wollte nicht glauben, was sie sah. „Er schläft und ist betäubt.“ Emilian deutete auf den hochgewachsenen Mann, der wie tot auf dem Rücken lag. „Er wird sich an nichts erinnern, keine Schmerzen haben, wird nie etwas davon erfahren. Er wird denken, er habe nur zuviel vom falschen Alkohol getrunken. In wenigen Stunden wäre ich fertig. Niemand hätte je etwas davon gemerkt…“ Sie trat auf ihn zu, ihre Augen angstvoll aufgerissen. Ihre Stimme war nur ein Flüstern. „Wie konntest du ihm das antun.“ Der Junge sah sie traurig an, blickte dann schuldbewusst zu Boden. Er schwieg. Ihre Stimme wurde lauter, fordernder. „Wie konntest du ihm das antun?“ Aber die eigentliche Frage war eine andere und sie schrie sie ihm in vollster Lautstärke entgegen, so dass er zusammenzuckte: „Wie konntest du mir das antun?“ Sie schlug ihm mit all ihr zur Verfügung stehenden Kraft mit der flachen Hand ins Gesicht, spürte wie sie die Zähne ausfuhr, wie das Tier in ihr alle Kontrolle übernehmen wollte. Es wollte vernichten: Emilian, weil er das einzige wirkliche Tabu brach in dem er einem ihrer Familie etwas antat, weil sie wusste, dass es nie wieder ein Zurück geben konnte, weil sie ihn liebte und zugleich in diesem Moment so unsagbar hasste, Georg, weil er die wunderbar rote Flüssigkeit in sich trug, die sie so begehrte und weil er Recht behalten hatte und sie ihn wegen seines Misstrauens kritisiert und oft genug gemieden hatte und sich selbst, weil sie all dies zugelassen hatte, weil sie es nicht verhindern konnte und sich selbst dafür mehr hasste als die anderen um sich herum. Sie spürte, wie das Tier durchbrach und sie ging mehrere Schritte auf Emilian zu, der zurück wich. Dann traf sie der Blick seiner rot braunen Jaspis Augen und sie hielt inne, riss all ihre Kräfte zusammen um die Bestie zurück zudrängen. Sie floh aus dem Raum, schmiss die Tür hinter sich zu und brach zusammen.


Es dauerte lange bis sie sich soweit gefasst hatte, dass sie zurück in den dunklen Raum treten konnte. Sie fühlte sich wie erstarrt, eingefroren in einem Zustand der Lethargie. Sie sah sich um und erblickte den kleinen Jungen, der mit angezogenen Knien an einer Wand kauerte. Sie ging auf ihn zu und er erhob sich. Er sah sie nicht an, wich ihrem Blick aus. Sie stand reglos da und schwieg. Dann drang seine Stimme erneut zu ihr durch. „Es tut mir leid, Alida. Ich wollte dich nicht verletzen.“ Sie nickte, nahm die Worte einfach nur zur Kenntnis. Dann trat sie zu dem leblosen Georg und schluckte. „Du musst seine Beine wieder herstellen“ Emilian schritt neben sie, ließ eine scheinbare Ewigkeit vergehen und nickte dann. Sie sah wie er mit seinen kleinen Händen über die Muskeln strich, sie massierte und in ungewohnte Formen knetete. Seine Jaspisaugen suchten ihren Blick, erkannten aber nichts darin außer einer erschütterten Maske. Seine Finger begannen zu zittern und er hielt inne. Er griff erneut nach den Muskeln doch gelang es ihm nicht seine Hände unter Kontrolle zu bekommen. Er rutschte ab und durchtrennte eines der Gefäße. Sofort schoss das rote Blut über die glänzenden Sehnen. Erschrocken fuhr Emilian zurück. „Drück da drauf. Sofort!“ Alida zögerte nur eine Sekunde und folgte dann seiner Anweisung. Der braunhaarige Junge starrte entgeistert auf seine zitternden Finger. „Alida. Ich kann es so nicht. Es tut mir leid. Du musst mir helfen.“ Alida sah in seine Richtung. Ihre Stimme war leise und tonlos. „Ich bin kein Former von Fleisch. Das weißt du. Das hier ist dein Metier.“ Emilian griff nach ihrer freien Hand doch sie entriss sie ihm wütend. „In dir, Alida, fließt mein Blut. Du kannst Fleisch genauso formen wie ich. Du musst es nur tun.“ Sie schüttelte den Kopf doch Emilian insistierte in festem und bestimmtem Ton. „Alida! Du hilfst mir.“ Sie beobachtete was er tat und mit der Zeit, mit der vertrauten Tätigkeit wurden seine Bewegungen wieder ruhiger. Sie tat es ihm nach, berührte synchron zu ihm das rechte Bein, fügte Muskeln und Gefäße an die Stellen an die sie gehörten, schob vorsichtig gelbliches Fettgewebe darüber und passte die Haut wie ein Kleidungsstück darüber an. Ab und zu griff er nach ihren Fingern, lenkte sie in die richtige Richtung, ließ sie spüren wann sie sanfter, wann fester berühren musste. Sie verschloss die Wunden mit ihren Fingerspitzen im gleichen Tempo wie ihr Lehrer und beobachtete dann das seltsame Werk, dass sie vollbracht hatten. Es hatte all ihre Kraft gekostet. Alida spürte die Macht der bald aufgehenden Sonne und ließ sich gegen eine der eisigen Kellerwände sinken. Sie legte den Kopf in den Nacken und atmete tief durch. Emilian glitt neben sie und sank genau wie sie zu Boden, Die Erschöpfung hatte sein Gesicht noch blasser werden lassen als es ohnehin schon war und er sah aus als würde er gleich zusammen brechen. Seine Stimme war leise und er sah sie nicht an. „Ich wollte es ihm heim zahlen. Weißt du? All seine Boshaftigkeiten mir gegenüber, die Tatsache, dass er mich immer abgelehnt hat und versucht hat mich fort zu schicken und uns auseinander zu bringen. Weil ich es kann und er nie etwas davon gemerkt hätte. Weil es etwas gibt in dem ich ihn um Meilen überrage. Weil er mich stets wie ein kleines Kind behandelt hat: Tu dies! Lass das! Du machst der Familie Schande.“ Viele Sekunden verstrichen. „Weil er all das ist, was ich immer sein wollte.“ Seine Jaspisaugen suchten den Blick ihrer blau- grauen Pupillen und Alida erkannte erneut die unglaubliche Traurigkeit. Sie zog den kleinen Körper an sich und schloss erschöpft die Lider.



Georg erwachte am übernächsten Morgen. Aber zu diesem Zeitpunkt hatte das Leben um Alida herum längst andere Bahnen eingeschlagen. Er humpelte leicht mit dem rechten Bein und war davon überzeugt sich im Rausch das Knie verletzt zu haben. Daraufhin schwor er lachend für immer jeglichem Tropfen Alkohol ab. Es dauerte weitere zwei Tage bis Alida ohne ihm ins Gesicht zu sehen berichtete, was wirklich geschehen war. Ihr alter Freund verschwand ohne ein Wort zu sagen für drei Monate und erschien eines Abends so plötzlich wieder, wie er fortgegangen war. Wo er gewesen war, ob er Absolution oder Rache gesucht hatte, all dies fragte Alida ihn nie.

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Der Weg zum Ziel beginnt an dem Tag, an dem du die hundertprozentige Verantwortung für dein Tun übernimms.
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BeitragVerfasst: Do 5. Feb 2015, 18:26 
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Brügge, 28.12.1105
Alida erwachte am nächsten Abend im dunklen Keller. Es war einige Grad unter Null und sie fühlte sich erstarrt. Ihre Haut tastete sich wie festes Leder und ihre von Reif bedeckten Haare brachen als sie sie zurück strich. Georg war aus dem dunklen Raum verschwunden und nichts erinnerte mehr an ihre Taten von letzter Nacht. Irgendjemand, wahrscheinlich Emilian, hatte ihr ein sauberes Überkleid angezogen. Sie durchschritt die Kellerräume und fand im Wohnzimmer schließlich Evelyn, die ihrer kleinen Base Alida gerade die Grundregeln des Schachs erklärte.
Die blonde Frau blieb am Tisch stehen und sah die Mädchen an. „Evelyn? Hast du Georg oder Emilian gesehen?“ Ihre rotblonde Nichte setzte den schwarzen Bauern, den sie eben noch verschieben wollte, wieder ab und grinste ihrer Cousine verschwörerisch zu. „Georg ist in seinem Zimmer und ist gar nicht mehr wach zu bekommen. Der muss gestern nach dem Ratstreffen ordentlich mit seinen Kumpanen gebechert haben.“ Sie lachte. „Wehe, ihr beide verpetzt mich, dass ich das gerade gesagt habe.“ Sie rückte den Bauern ein Feld nach vorne. „Emilian sollte oben sein. Ich dachte er hätte nach dir gesucht… er war oben in deinem Zimmer.“ fragend zog sie die Augenbrauen nach oben. „Er hat mir sein Schachspiel geschenkt. Toll, oder? Dabei war doch erst vor wenigen Tagen Weihnachten.“ Alida ließ die erstaunten Mädchen einfach sitzen und rannte die Treppe hinauf und in ihr Zimmer. Das Zimmer war sauber aufgeräumt, das Bett gemacht, der Schreibtischstuhl stand gerade vor dem Tisch und es roch nach frischer Wäsche.

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Von Emilian fehlte jede Spur. Alida wollte schon das Zimmer verlassen als ihr Blick auf ein weißes Kuvert fiel, das auf dem Schreibtisch lag. Sie hob den schweren Brief auf und öffnete ihn. Der braun rote Jaspis, den sie Emilian geschenkt hatte, fiel heraus sowie ein mit feiner schmaler Handschrift beschriebener Bogen Papier. „Liebste Alida…“ Weiter kam sie nicht. Sie griff nach dem Stein, den sie in der Tasche ihres Kleides verschwinden ließ und stürzte die Treppen zum Erdgeschoß hinab. Sie riss die Tür nach draußen auf und hörte noch die verstörte Stimme ihrer Nichte: „Alida, du brauchst doch einen Mantel“ als sie in die Winternacht hinaus rannte. Sie lief an den Stallungen vorbei, über die kleine Brücke über den Kanal und ließ das metallene Eingangstor des Anwesens laut hinter sich ins Schloss fallen. Sie sah nach links und rechts, wusste nicht wohin sie sich wenden sollte. Dann erspähte sie die kleinen Stiefelabdrücke im Schnee und sie rannte, der Spur folgend, nach Norden.

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Ab und an, auf belebten Kreuzungen verlor sie die Fußstapfen zwischen den Abdrücken von Pferdegeschirren, aufgespritztem Schlamm und anderen Passanten, aber wenn sie sich nach Norden wandte konnte sie ihnen wieder folgen. Schließlich befand sie sich vor dem Nordtor der Stadt.

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Die großen Holztore waren geöffnet, die Zugbrücke herunter gelassen und ein spätes Ochsengespann rollte, von einem dick in Pelze gehüllten Bauern gelenkt in die Stadt. Einer der beiden Wachmänner ließ den Wagen einfahren, signalisierte ihm dann in einem Vorhof zu halten um dort die Ladung kontrollieren und eventuell einen Zoll erheben zu können. Der andere breitschultrige Wachmann, der gerade die Zugbrücke wieder hochziehen wollte, hielt inne und betrachtete Alida, die auf ihn zukam. Seine Stimme war ein tiefes Brummen. „Gute Frau. Seid ihr von allen guten Geistern verlassen, so dünn bekleidet durch eine solch kalte Nacht zu wandern? Ihr werdet euch den Tod holen!“ Sie lachte tonlos auf. „Oh. Das hab ich schon.“ Der Mann schüttelte missmutig den Kopf und Alida sah ihn fragend an. „Habt ihr einen kleinen braunhaarigen Jungen gesehen? Ungefähr so groß?“ Alida deutete in die Luft um Emilians Größe zu beschreiben. „Ein kleiner Satansbraten mit seltsamen Augen?“ Die Stimme des Wachmanns wurde laut und feindselig. „Ich wollt den Bub nicht durchlassen, hab ihm mit einer Tracht Prügel gedroht wenn er sich nicht auf der Stelle nach Hause aufmacht. Als er nicht hörte und ich meine Worte in die Tat umsetzen wollte, hat er das hier getan.“ Der Mann zog den Ärmel seines wollenen Übergewands nach oben und entblößte seinen Unterarm auf dem der rote, fast narbig aussehende Handabdruck eines Kindes zu erkennen war. Alida nickte und sah über die Brügge umgebende Landschaft. „Den Abdruck werdet ihr bis zu eurem Lebensende behalten.“ Der Mann griff wütend nach ihr, hielt sie mit roher Gewalt am Handgelenk fest. „Was redet ihr da, Frau? Seid ihr etwa die Mutter dieses Teufels?“ Alida fuhr herum und in ihren Augen brannte eine tödliche Entschlossenheit. „Nein. Ich bin seine Tochter und wenn ihr mich nicht augenblicklich passieren lasst, dann wird mein Handabdruck euer Gesicht zieren. Das schwöre ich euch!“ Der Mann machte einen Schritt zurück und sah sie entsetzt an. Alida ließ ihn stehen und rannte über die Brücke hinaus. Sie sah die Spur, die entlang des Kanals nach Norden führte. Er wollte zum Hafen, schoss es ihr durch den Kopf. Nach Zeebrügge. Sie rannte und rannte. Ab und an stolperte sie über Äste und große Steine, die unter der dichten Schneeschicht begraben waren, aber sie rappelte sich auf und lief weiter. Schließlich erkannte sie weit vor sich eine kleine Gestalt in einem dicken Mantel. „Emilian!“ rief sie so laut sie konnte und erleichtert bemerkte sie, wie die Person stehen blieb und sich umwandte. Sie holte den Jungen ein und blieb wenige Meter vor ihm stehen. Emilian war in einen dichten Mantel gehüllt, trug dicke wollene Hosen, lederne Stiefel, eine dunkle Mütze, Schal und Handschuhe. Über den Rücken geschlungen führte er eine große Tasche mit sich. Er stand einfach nur da und wirkte klein und verloren. Alida ging näher.
„Du warst nicht da als ich aufgewacht bin.“ Sie suchte nach vernünftigen Worten für das, was sie wirklich sagen wollte, aber ihr Kopf war mit einem Mal so leer. „Ich habe dich gesucht, aber du warst nicht da. Ich will nicht, dass du gehst. “Emilian nickte nur, trat auf sie zu und berührte ihren Oberarm. „Ich würde gerne bleiben, aber das ist keine Option. Ich habe hier in Brügge eine Heimat gefunden, eine Familie, aber ich habe Angst, dass alles zerbricht wenn ich bleibe, dass ich derjenige bin, der es zerstört.“ Er seufzte und sah lang auf seine Hände hinab. „Eines kann ich nicht vergessen, auch wenn ich mir wünsche, ich könnte es: Ich habe hier keine Zukunft.“ Es sah sie aus seinen großen Augen von unten herab an. „Sie mich an Alida! Ich bin nicht schlecht. In vielem wirklich gut aber am Ende spielt es keine Rolle. Ich spreche mehrere Sprachen fließend, beherrsche das neue arabische Zahlensystem und rechne mit Zahlen, die sich einfache Menschen nicht einmal vorstellen können und doch werde ich nie jemand anderen als deine Nichten und Neffen unterrichten. Ich habe genug vom Handel von Christian und dir gelernt um ein eigenes Kontor führen zu können und dennoch würde niemand je auf mich hören. Ich bin ein Meister im Heilen von Wunden, würde einen guten Arzt abgeben, kann Entstellten ein normales Leben zurück geben aber niemand würde sich je von einem Kind behandeln lassen.“ Emilian wandte den Blick ab.
„Ich muss gehen wohin man mir befielt, tun was mir gesagt wird, nur reden, wenn ich gefragt werde.“ Er schüttelte traurig den Kopf. „Das ist keine Option wenn man die Ewigkeit vor dich hat, Alida. Weißt du: Wir versuchen es jeden Tag zu ignorieren, aber die Welt um uns herum verändert sich. Sie ist in einem ewigen Fluss und nichts bleibt wie es einst war. Auch wir Kainiten verändern uns. Langsamer… Wir haben die Möglichkeit uns zu verbessern, den Kern in uns zu entdecken und das zu werden was wir schon immer sein sollten. Unser Clan der Fleischformer weiß das in besonderem Maße und setzt es meist zuerst im Körperlichen um.“ Er schwieg und Alida schüttelte den Kopf. „Du willst in den Osten? Das kannst du nicht! Wie willst du dort überleben? Dein Vater war ein Geächteter und auch dich wird man jagen, wenn man erkennt, wer du bist.“ „Dann muss ich alles daran setzen, dass man das nie erkennen wird…“ Alida griff nach seiner Hand. „Dann komme ich mit dir.“ Emilian lächelte sie an. „Ja, das würdest du tun, Alida. Das weiß ich. Aber dein Platz ist hier. Deine Familie braucht dich. Deine Stadt braucht dich. Und du brauchst sie.“ Sie sah ihn an. „Ja, und ich brauche dich.“ Er nickte. „Ich weiß… Alida? Wir werden uns wieder sehen. Irgendwann wenn ich besser bin als jetzt. Wenn ich der bin, der ich sein will und soll. In einer anderen Zeit…“ Alida schluckte. „Du bist gut, genau so wie du bist.“ Das Kind vor ihr sah sie mit blassem Gesicht und einem schwachen Lächeln an. „Beug dich zu mir herunter. Ich will, dass du etwas begreifst.“ Alida zog eine Augenbraue nach oben, tat jedoch was er wollte und kniete sich hin. Sie betrachtete die kleine Nase und die struppigen braunen Haare. Sie sah den entschlossenen Ausdruck in den rot braunen Pupillen bevor Emilian die Augen schloss. Dann spürte sie die eiskalten kindlichen Lippen auf ihrem Mund, fragend und suchend. Sie war zu irritiert um sich zu rühren, wusste nicht, ob sie den Jungen von sich schieben oder den Kuss erwidern sollte. Sie bemerkte wie ihre Lippen zitterten, dann war es auch schon vorbei. Ein leichtes wissendes Grinsen breitete sich auf dem Gesicht des Jungen aus. „…etwas für Erwachsene.“ Er deutete eine spielerische Verbeugung an und drehte sich um. Dann schritt er in die Finsternis der Nacht und wurde nach wenigen hundert Metern von der Schwärze verschluckt. Alida starrte ihm noch immer hinterher als sie schon lange nichts mehr zu erkennen vermochte. Einem alten Ritual folgend vergrub sie die Hände in ihren Taschen und zog ein wenig erstaunt den Stein heraus. Der Rot-braune Jaspis. Sie schluckte und schloss fest die Finger darum.

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