Fr 30. Jan 2015, 22:40
Windau, 14.4.1098
Alida seufzte. Nervös wischte sie sich die verschwitzten Hände an ihrem Kleid ab. Sie ging zur Tür am Ende des kleinen Warteraums, machte kehrt, ging wieder Richtung Eingangstür, wendete erneut. Sie schien dieses Ritual nun schon seit Stunden zu vollziehen. Die erste Stunde hatte sie auf einer der Bänke, die an den Wänden des spärlichen Vorraumes aufgestellt waren, gesessen. Dann hatte sie es nicht mehr ausgehalten und war aufgesprungen. Man ließ sie mit Absicht warten. Als Demütigung, als Belehrung für Arroganz und Überheblichkeit. Um sie auf den niederen Platz zu verweisen, der ihr zustand. Dennoch harrte sie aus und betete ab und an zu Gott, Jesus oder einem Heiligen dessen Namen sie am Ende des Gebetes bereits wieder vergessen hatte. Sie ging wieder auf die große prunkvolle Pforte zum Saal der Adeligen zu, hob die Hand wie um Anzuklopfen und ließ sie dann wieder sinken. Ihr Blick richtete sich auf den Boden und Wut stieg in ihr auf. Anklopfen würde als Affront angesehen werden und die Audienz, die man ihr zugesichert hatte, würde vertagt werden. Wieder machte sie kehrt und ging an eines der kleinen Fenster, das so verdreckt war, dass der Blick nach draußen nicht möglich war. Es dämmerte bereits und der Tag neigte sich dem Ende zu. Wieder tat sie ein paar Schritte, hielt jedoch inne als sie das Schaben der Eingangstür vernahm, die sich geräuschvoll öffnete. Ein draußen positionierter Wachmann in einer verrosteten schäbigen Rüstung hielt die Eichentür auf und ließ einen Mann eintreten. Ihre an die Dunkelheit gewöhnten Augen waren nicht in der Lage das von hellem Tageslicht umrahmte Gesicht zu erkennen. Der Wachmann zog die Tür wieder hinter sich zu und Alida eilte der gestalt dessen Schritte ihr so bekannt waren entgegen.
Georg, der hochgewachsene Gutsverwalter der Familie van de Burse umarmte sie kurz und sah sie besorgt an. „Alida? Hältst du es noch immer für eine gute Idee auf die Audienz bei den adeligen Vorständen der Stadt zu warten? Du musst hier weg! Und zwar schnell.“ Alida zog eine Augenbraue hoch. Georg sprach in den seltensten Momenten ohne den vertrauten Brügger Akzent. Nur dann wenn es über alle Maßen ernst war.
Alida nickte. „Was konntest du draußen in Erfahrung bringen? Was spielt sich in Windaus Straßen ab? Und wie kommt es zu den Unruhen?“
Georg atmete tief ein um sich zu sammeln: „Seit die Bewohner von Minsk sich vor einigen Jahren hier angesiedelt haben und Frederik und du sie in eure Dienste genommen haben steigt der Wohlstand der ehemaligen Flüchtlinge. Sie haben saubere Häuser, ihr täglich Brot, wissen, sie werden ihre Familie und ihre Tiere durch den Winter bringen können. Es geht ihnen gut. Die Bewohner von Windau können das nicht von sich behaupten. Der Dienst bei den Edlen und Angesehenen von Windau wirft kaum genug ab um von der Hand in den Mund zu leben.“
Alida nickte. Diese Umstände waren ihr seit einigen Jahren bekannt. Ungeduldig blickte sie ihn an und er fuhr fort. „Das Alles hat zu Neid in der Bevölkerung geführt und schon seit langem wird gemunkelt, dass es dabei nicht mit rechten Dingen zugehen kann. Dass der Teufel mit im Bunde sein müsse, ein Pakt geschlossen wurde…“ Alida gab eine abfällige Bemerkung von sich. „Pah. Das ist doch Unfug. Der Stadtrat von Windau hat die Minsker Bürger unter unvorstellbaren Zahlungen aufgenommen um sie im Anschluss draußen vor den Toren der Stadt ohne die Möglichkeit auf einen Broterwerb verhungern zu lassen. Alle wissen das. Hätten wir sie nicht angestellt, hätten die Flüchtlinge ihren elenden Zug auf der Suche nach einem neuen Zuhause fortsetzen müssen oder sie wären elendig an Hunger oder Krankheit verstorben. Der einzige Teufel in dieser Stadt sitzt hier drin!“ Sie deutete auf die große mit Intarsien verzierte Tür zum Rathsaal und Wut funkelte in ihren blauen Augen.
„Alida! Nicht so laut“ flüsterte Georg und erst jetzt bemerkte Alida, dass ihre Stimme langsam an Lautstärke zugenommen hatte. Sie nickte und Georg setzte die Unterhaltung im Flüsterton fort. „Vor drei Nächten sind zwei alte Männer fast zeitgleich wenige Minuten vor Mitternacht verstorben und eine Hure im Hafenviertel der Stadt gibt an einige Bürger von Minsk zum gleichen Zeitpunkt dabei beobachtet zu haben, wie sie einem ortsansässigen gefürchteten Schläger oder Mörder, was weiß ich, zusetzten. Victor soll dabei gewesen sein. Und sein Sohn.“
„Emilian? Das kann ich mir nicht vorstellen. Victor liebt den Kleinen abgöttisch. Er würde ihn nie in irgendeine Gefahr bringen.“ Alida dachte an Victor, den Mann mit dem rotem exakt geschnittenem Vollbart und inoffiziellen Anführer der Flüchtlinge und seinen Sohn mit dem kurzen braunen Haar und den rot braunen Augen, die immer aus dem blassen, kränklich wirkenden Gesicht heraus stachen, das klare Lachen des Jungen und die klugen Bemerkungen, die er von sich gab, wann immer sie die Familie antraf. Die Geschwister van de Burse waren längst gern gesehene Gäste bei Victor und seiner Frau Livia. Man saß zusammen, besprach Alltägliches, Geschäfte, den Klatsch und Tratsch auf den Straßen, lachte gemeinsam und genoss die milden Abendstunden. Emilian, der Sohn des Ehepaares schien vor allem an Alida einen Narren gefressen zu haben und war bei jedem Treffen zugegen.
Alida sah Georg fragend an. „Selbst wenn diese Begebenheiten Tatsachen wären, erkenne ich darin nicht das Problem…“
„Der Schläger wurde am nächsten Morgen blass, leblos und ohne jegliche Verletzung im Hafenbecken aufgefunden. Es wurden Stimmen laut, die von einem satanischen Ritual reden, dass den Tod von mehreren Leuten um Mitternacht beinhaltet.“
Alidas Augen weiteten sich sorgenvoll. „Verdammt. Georg. Das ist doch absoluter Schwachsinn. Da sterben zwei alte Männer friedlich in ihren Betten und ein gefürchteter Schläger fällt im Suff ins Hafenbecken und ertrinkt und schon sollen die Minsker daran die Schuld tragen. Das ist Wahnsinn!“
„Alida! Du hast absolut recht. Dieser Wahnsinn ist mit Sicherheit von den neidischen Adeligen der Stadt inszeniert, die ihre Ausrufer in die Wirtshäuser und auf den Marktplatz gestellt haben, damit sie dort ihre Parolen von sich geben und gegen die Neuen Unmut stiften. Die adelige Bevölkerung hat seit ihr hier seid unglaublich an Macht und Einfluss eingebüßt und ihr Reichtum schwindet dahin. Was denkst du wohl? Sie wollen Rache! Und die bekommen sie nun.“
Alidas blaue Augen starrten ihn an und darin lag die Frage, die sie nicht auszusprechen wagte.
„Victor, vier andere Männer von Minsk und Alischa, die Witwe des Meisters der Zimmermannsgilde wurden inhaftiert und der Hexerei angeklagt. Zwei Stunden nach Sonnenuntergang werden sie brennen. Die Scheiterhaufen werden gerade auf dem Marktplatz aufgeschichtet. Wo immer ein Minsker sich sehen lässt wird er bespuckt, beschimpft oder gar schlimmeres…“
Alida sah ihren alten Freund aus Kindertagen mit offenem Mund an und ein Ausdruck blanken Entsetzens lag auf ihren Zügen. Ihre Stimme war nur ein Hauch. „Das kann nicht wahr sein.“
Georg bestätigte nur mit einem traurigen Nicken seine Worte.
„Verdammt. Wie steht es mit meinem Bruder, Georg? Wann wird Christian eintreffen?“ Der blonde junge Mann war bereits in den Morgenstunden nach Goldingen, eine Stadt in wohl dreißig Meilen Entfernung gereist. Dort lagen drei Koggen der Familie van de Burse vor Anker mit wohl achtzig Mann Besatzung, die sie zur Verstärkung nach Windau beordern wollten.
Wieder wurde ihre Frage nur mit einem traurigen Kopfschütteln quittiert. „Nicht vor Morgen früh…“
Alidas Gedanken rasten und schienen sich doch stets nur ohne Ergebnis im Kreis zu drehen. Sie kaute an ihrer Unterlippe. „Georg. Verlass das Rathaus. Versuch so viele Bewohner wie du retten kannst auf unser Schiff im Hafen zu bringen.“
Der Blick, der dem ihren begegnete war nach wie vor besorgt. „Und was ist mit dir?“ Die junge Frau versuchte ein Lächeln. „Ich versuche hier mein Glück. Vielleicht kann ich den Stadtrat von diesem Wahnsinn abhalten und sie dazu bringen das Urteil abmildern zu lassen.“
„Und wie willst du das anstellen?“
„In dem ich ihnen das gebe, was sie wollen…“
Alida betrat mit festem Schritt den großen Ratssaal. Die Wappen der hiesigen Adelshäuser waren in bunten Farben an die gegenüberliegende Wand gemalt und mit reichen Schnörkeln in Blattgold versehen. Links und rechts von ihr waren zu beiden Seiten Tische aufgestellt hinter denen schwarz gekleidete Schreiber mit Tinte und Pergament saßen um Notizen zu verfassen und die gesprochenen Worte im Sinne ihrer Herren nieder zu schreiben. Vor ihr, erhöht am Ende einer kurzen breiten Treppe befand sich eine lange Eichentafel an der wohl die zehn einflussreichsten Adeligen der Stadt saßen und laut miteinander schwatzten. Ab und an wurde das Geplauder durch ein Rülpsen oder das heftiges Gebell zweier Hunde unterbrochen, denen man einen Knochen vom Tisch zugeworfen hatte und die sich nun darum balgten. Alida blieb am Fuß der Treppe stehen und betrachtete wie das Festgelage langsam von unbemerkten Dienern abgetragen wurde und die Herren sich ein ums andere Mal mit ihren Bierhumpen zuprosteten. Sie senkte demütig das Haupt und wartete lange Minuten in dieser Haltung aber niemand schien auch nur Notiz von ihr zu nehmen. Sie räusperte sich leise und einer der Adeligen mit rotem Gesicht und Bierschaum im üppigen Vollbart gab einem Schreiber ein Zeichen. Der dünne Mann erhob sich und sprach mit lauter jedoch dünner Stimme: „Meine hohen Herren. Die Händlerin, Frau van de Burse, ersucht um eine Audienz.“
„Tut sie das?“ Der schwarz gekleidete Mann ganz zur Rechten der Tafel musterte sie abfällig. Sie kannte das Gesicht: Imanov. Der adelige Bürger, der wohl am meisten von seinem Reichtum eingebüßt hatte. Er hatte seine Angestellten stets schlecht behandelt und diese, angespornt vom Handelsgeschick der Familie van de Burse hatten ihrem Herren den Rücken gekehrt und sich selbstständig gemacht. Dabei hatten sie ihrem uncharismatischen Lehnsfürsten im selben Handstreich die Handelspartner ausgespannt und damit den Verlust desselbigen noch vergrößert.
Imanov kaute lange und ausgiebig und ließ sich einen weiteren Silberkelch mit Wein eingießen. Dann fuhr er mit gelangweilter Stimme fort: „Was will sie denn?“
Der Schreiber richtete das Wort an Alida. „Frau van de Burse. Was wünscht ihr?“ Alida hatte das Gefühl alles um sie herum müsste sich gleich in Wohlgefallen auflösen und sie selbst aus einem bösen Traum erwachen. Sie sah den dünnen Schreiber an. „ich möchte…“ Dann schüttelte sie jedoch den Kopf und trat einen Schritt näher auf die Treppe zu. Einige der Adeligen wollten sich empört aufgrund eines solchen Affronts aus ihren Sesseln erheben, ließen sich dann jedoch zurück in die Polster sinken als sie sahen, dass sich die blonde Bürgerin aus Flandern auf die Knie sinken ließ und den Kopf demütig zu Boden wandte. „Bitte, ihr hohen, ach so mächtigen Herren. Verzeiht mein ungebührliches Verhalten, aber die Zeit drängt. Erlaubt, dass ich Unwürdige mein Wort direkt an euch richte?“
Imanov strich sich mit den Fingern über das spitze Kinn und ein wohliges Lächeln legte sich auf seine Züge. Dieses Verhalten hielt er offensichtlich für angemessener als die bisherige Arroganz der Bürgerin des niederen Standes. Wieder ließ er einige Minuten verstreichen und tat als würde er nachdenken. „Die Bitte sei ihr ausnahmsweise gewährt. So soll sie denn sprechen.“ Er ließ seinen Worten eine gönnerhafte Geste folgen.
„Meine hohen Herren…“ Alidas Worte waren laut und klar. „In den Toren eurer Stadt bricht derzeit ein Aufstand aus. Fünf Bürger aus Minsk wurden der Hexerei angeklagt und zum Tode auf dem Scheiterhaufen verurteilt.“
„Und?“ Einer der Fürsten sah sie mit gelangweiltem Blick an.
„Dies kann nicht im Sinne des hohen Rates sein. Eine Unruhe führt zu Gewalt, Plünderung, Vandalismus und in fast allen Fällen zu unkontrollierbaren Bränden…“
Der Adelige mit dem Vollbart unterbrach sie. „Langweilig, sie soll…“ Doch Imanov brachte ihn mit einer knappen wütenden Geste zum Schweigen. „Sie soll weiter reden!“
„Meist werden die Geschäfte und Gehöfte der Adeligen als erstes im großen Chaos, das ausbricht, geplündert. Die Brände machen weder vor reichen noch armen Häusern halt und im Tumult, der ausbricht vermag keiner mehr Freund von Feind zu unterscheiden.“
Imanov blickte sie mit eisigen Augen an. „Was schlägt das unwissende Weib vor?“
„…Dass die hohen Herren in ihrer Weisheit die Hinrichtung verschieben und ihre Wachen für Ordnung sorgen lassen.“
Einige Männer tuschelten miteinander und machten mitunter zustimmende Bemerkungen doch Imanov brachte sie wieder mit einer Geste zum Schweigen.
„Die Unruhen sind aufgrund ihrer ketzerischen Worte und Taten ausgebrochen. Sie sind Ausländer, Unwissende, die glauben unterscheiden zu können was richtig und falsch ist und dabei den ihnen durch Gott zugewiesenen Platz verschmäht haben um seinen allumfassenden Willen zu leugnen. Sie haben die Bevölkerung aufgewiegelt und sie zu Ungehorsam angetrieben. Zu Ungehorsam ihren Herren gegenüber.“
Alida biss sich auf die Lippe und schmeckte das volle metallene Aroma von Blut, das sich in ihrem Mund ausbreitete. Dennoch biss sie fester und senkte demütig das Haupt um nicht doch ein unkontrolliertes Wort von sich zu geben.
„Was gedenkt ihr als Vergebung für unsere Schuld annehmen zu können?“ Wieder sah sie das Funkeln in den Augen des dünnen Adeligen. Er hatte gewonnen.
„Dort drüben liegen einige Papiere.“ Er deutete mit seinem schmalen Zeigefinger auf einen großen Schreibtisch rechts von ihr. „Diese mag sie unterzeichnen, so sie denn ihre Verfehlung einsehen möge und uns um Vergebung bitten will. Dann mögen wir das Chaos, das sie ausgelöst haben vielleicht beenden“
Alida nickte und trat langsam an den Schreibtisch heran. Die Blicke der Fürsten folgten ihr und bohrten sich in ihren Rücken. Sie überflog die Pergamente, griff nach den Seiten und wurde sich erst nach dem zweimaligen Lesen der Zeilen bewusst, was sie unterzeichnen sollte. Es handelte sich um ein Schuldgeständnis für Aufwiegelei, Gotteslästerung und Aufforderung zum Ungehorsam gegen die Obrigkeit. Alida wusste was als Begleichen der Schuld gefordert werden würde bevor sie die entsprechenden Absätze zu Gesicht bekam. Die Familie van de Burse hatte sich umgehend aus der Hansestadt zu entfernen und ihre gesamten Besitztümer in Windau an den adeligen Stadtrat zu überschreiben. Sollten sie nicht bis zum Ende des nächsten Tages die Tore der Stadt verlassen haben, würde die Anklageschrift offiziell verlesen werden: ein Todesurteil.
Alida schluckte schwer. Das alles sollte sie unterzeichnen? Diese unsinnigen Papiere? Sie hatten einiges an Vermögen in die Stadt investiert, die Minsker Bevölkerung verdankte zum einen der Familie van de Burse zum anderen ihrem eigenen Geschick den Wohlstand und ihr war klar, was aus den ehemaligen Flüchtlingen werde würde, wenn sie nicht mehr da waren. Sie hätte die Möglichkeit sich an den Hanserat zu wenden. Die Macht der Hansestädte im Nord- und Ostseeraum war gewaltig und über kurz oder lang würden die Adeligen in Windau klein bei geben müssen. Aber auf der anderen Seite: was würde geschehen, wenn sie es nicht tat? Die Ausschreitungen gegen die Menschen würden noch in dieser Nacht viele Tote fordern und die Überlebenden wären ihres jetzigen Zuhauses beraubt. Sie war es den Menschen schuldig. Diese Leute verließen sich darauf, dass sie das in ihrer Macht stehende tat um sie zu schützen. Sie sah Victor vor sich, Livia und den kleinen Emilian und schluckte das Blut hinunter, das noch auf ihrer Zunge zu kleben schien. Christian hatte damals Recht gehabt als er sie gewarnt hatte nicht die macht der Adeligen herauszufordern. Es war ihre Schuld. Sie griff nach einer Feder, schloss die Augen und setze ihren Namen unter das Pergament. Der Schreiber zu ihrer Rechten wartete nicht ab bis die Tinte getrocknet war, sondern rollte die Papiere bereits zusammen und verwahrte sie in einer hölzernen Rolle, die er einem Diener überreichte. Imanov nickte lächelnd und wandet ein paar Worte an einen Wachmann, der neben ihm stand: „Bewacht die Paläste der hier Anwesenden. Sollte sich ein Bewohner von Windau unseren Anwesen nähern, dann stecht ihn nieder. Zieht die Brandwache von Windau ab und positioniert sie in den Straßen unserer Besitztümer. Wenn sich jemand weigert wird er hingerichtet. Sorg dafür, dass bei uns alles bereit steht um einen Brand unverzüglich löschen zu können.“ Der Wachmann salutierte und bestätigte den Befehl: „Wird erledigt, Herr!“
Alida stellte sich erneut an den Fuß der Treppe. „Ich habe unterzeichnet und möchte euch demütigst bitten für Ordnung in eurer glorreichen Stadt zu bitten.“ Sie wartete, erhielt jedoch keine Antwort. Irgendetwas lag schwer in der Luft und schien sie erdrücken zu wollen.
„Ihr hohen Herren: Ich bitte Euch. Dort draußen sterben Menschen.“ Ihre Stimme war ein Flehen.
„Sagt dem Weib aus Flandern, dass wir uns morgen um die Angelegenheit kümmern mögen. Wir müssen nun zunächst einmal bei uns selbst nach dem Rechten sehen…“
Ohne sie noch einen Blickes zu würdigen erhoben sich die Adeligen geschlossen und traten ab. Mit einem ungläubigen Kopfschütteln verfolgte Alida, wie sie laut diskutierend das Gebäude durch eine Hintertür verließen. Am Pferdegewieher erkannte sie, dass dort mehrere Kutschen auf die Männer gewartet haben mussten.
Sie wollte schreien, ihre Fäuste in das schmale Gesicht des Fürsten Imanov rammen, irgendetwas tun… Sie wandte sich um und trat langsam aus dem Saal. Sie stieß die Tür hinter sich zu und befand sich wieder im kleinen Warteraum. Mittlerweile war es draußen dunkel und keine Kerze erleuchtete in diesem Zimmer die finsteren Wände. Sie lehnte sich mit dem Rücken an die schwere Eichentür und merkte erst jetzt, dass sie am ganzen Körper zitterte. Sie schluchzte und Tränen der Verzweiflung rannen über ihr Gesicht und verschleierten ihren Blick. Sie wollte sich nieder gleiten lassen, mit den Händen die Knie umfassen und in einer Ecke darauf warten, dass dieser Albtraum ein Ende finden würde. Sie warf den Kopf in den Nacken und atmete tief durch. Es würde kein Erwachen geben. Es gab nur das hier und jetzt. Das, was sie tun konnte.
Sie rannte aus dem Gebäude und ließ die Wachen hinter sich, die sie festhalten wollten und ihr wüste Beschimpfungen hinterher riefen, die sie nicht verstand. Sie lief so schnell sie konnte Richtung Marktplatz. Wann immer sie einen der ehemaligen Minsker Bürger zu Gesicht bekam versuchte sie ihn dazu zu überreden sich zum Schiff zu begeben, aber nur bei einigen Witwen mit kleinen Kindern hatte sie Erfolg. Die meisten glaubten nicht daran, dass das Urteil tatsächlich vollstreckt werden würde und begaben sich zum Markt um dort einschreiten zu können, wenn es tatsächlich soweit kommen sollte. Sie war noch immer am Laufen als sie bemerkte, dass die angespannte Stimmung zu kippen begann. Sie sah, dass fünf junge Männer auf einen Handwerker aus Minsk einschlugen und nach ihm traten als er zu Boden ging. Ein junges wohl dreizehn Jahre altes Mädchen wurde von der Hand ihre Mutter gerissen und in eine Seitenstraße geschleppt. Die Wachleute, die für Ordnung sorgen sollten hieben wahllos in die Menge und legten besonders dann viel Kraft in ihre Attacken wenn sie einen ehemaligen Flüchtling an seiner Kleidung oder Frisur erkannten. Nachdem ein paar Steine an ihren Helmen abgeprallt waren, rissen sie die stählernen Klingen aus ihren Schwertscheiden und der Boden begann sich wo immer sie erschienen rot zu färben.
Die junge Frau versuchte sich von den schlimmsten Tumulten fern zu halten, riss dann und wann eine bekannte Person zur Seite bevor sie ein Hieb erwischen konnte und rief dieser etwas leiser „Schiff! Hafen! Schnell!“ zu und tatsächlich begannen mehr und mehr Bewohner dem Aufruf zu folgen. Ihr schien, dass jeder zu realisieren begann wie ernst die Lage wurde. Sie duckte sich unter einer Keule und sprang in letzter Sekunde nach links in eine dreckige nach Kot stinkende Seitengasse. Kurz hielt sie inne und atmete heftig ein und aus. Dann hörte sie eine helle vertraute Stimme, die ihren Namen rief: „Alida!“ Der kleine Junge stand wenige Meter entfernt in einer dunklen wenig beachteten Hofecke. Alida sah sich kurz um und war mit wenigen Schritten bei ihm. Sie riss Emilian in ihre Arme und drückte ihn fest an sich. Das Gesicht des Jungen war rot von Blut obwohl sie keine Verletzungen sehen konnte und sie vernahm sein Schluchzen dicht an ihrem Ohr. Sie hörte sich selbst die Worte sagen, die sie nie hatte aussprechen wollte, da sie wusste, dass sie zu keiner Zeit wahr werden würden: „Emilian. Alles wird wieder gut. Alles wird gut.“ Er antworte nicht sondern drückte nur seine Wange und seine Nase in ihre blonden Haare. Leise vernahm sie seine Stimme. „Ich habe Mama verloren. Wir waren auf dem Weg zum Marktplatz. Sie hat gesagt, dass wären wir Vater schuldig. Dass wir da wären… wenn…“ er sprach nicht weiter. „Aber dann hat ein Mann nach ihr gegriffen und sie weggerissen. Sie hat sich mit ihrem Dolch gewehrt und den Mann ins Bein gestochen so dass er laut wie ein abgestochenes Schwein geschrien hat. Aber dann wurde sie von mehreren Frauen, die sie retten wollten fort gezogen. Ich hab sie nicht mehr gesehen. Ich hab nach ihr geschaut, aber es wird immer heller und meine Augen halten das nicht mehr aus.“ Alida sah sich um und erkannte, dass an mehreren Stellen Brände entflammt waren, die die Nacht zum Tag zu machen schienen. Sie schüttelte den Kopf, verstand nicht wovon der Junge sprach, aber das war ihr im Moment auch völlig egal. Sie drückte ihn noch einmal fest an sich und ließ ihn dann wieder zu Boden. „Wir finden deine Mutter. Versprochen.“ Eine dunkle Ahnung machte sich in ihr breit, dass sich diese Aussage vielleicht früher als beabsichtigt als wahr erweisen würde und ein Schauer lief ihr den Rücken hinab. Emilian sah sie besorgt an und griff nach ihrer Hand. Seine Finger fühlten sich einskalt an und wieder fragte sie sich ob er vielleicht doch aus mehreren nicht auf den ersten Blick sichtbaren Wunden blutete, aber der Junge bewegte sich so flink und geschickt durch die Menschenmassen, dass sie diese Gedanken verwarf. Wie von einem sechsten Sinn geleitet gelang es dem Jungen jede Schlägerei und jeden von oben herabstürzenden brennenden Holzbalken zu umgehen.
Schließlich standen sie auf dem großen weiten Marktplatz. Wie von einer unsichtbaren Präsenz abgeschirmt waren die Gewaltakte noch nicht bis hierher vorgedrungen. Vielleicht lag es an den allgegenwärtigen Wachen oder an der erwartungsvollen Vorfreude der Zuschauer. Eine Hinrichtung, vor allem eine Anklage auf Hexerei, war eine Seltenheit und umso gespannter blickten die Männer und Frauen zu den hohen Scheiterhaufen in der Mitte des Platzes. Emilian riss weiter an ihren Fingern. „Da vorne ist Vater. Komm! Schnell!“ Alida wollte Emilian zurückreißen. Ihn nicht bei dem was kommen würde zuschauen lassen, aber sie wusste, wenn sie an seiner Hand ziehen würde, dann hätte sie ihn endgültig verloren. So folgte sie ihm und es gelang der blonden Frau und dem kleinen Jungen mit einiger Mühe tatsächlich in die Mitte des Marktplatzes zu gelangen. Ihr Blick wanderte zu den Holzstößen und sie erkannte dort die fünf Gestalten: Alischa, drei kräftige hochgewachsene Handwerker mit traurigen gefassten Gesichtern. Sie kannte die Männer: Ein Maurer, ein Schuhmacher und ein Schmied, die mit ihrer Meinung nie lange warteten und offen aussprachen, was alle dachten. Und ganz links war Victor. Sie trugen schlichte braune Büßergewänder und einen hölzernen Rosenkranz um den Hals. Ihre Hände waren mit festen eisernen Fesseln gebunden. Ein Amtmann stand vor den Scheiterhaufen und verlas die Anklageschrift in der hier gängigen slawischen Sprache, die Alida nach wie vor nicht perfekt verstand. Sie wollte die Augen schließen, einfach stehen bleiben, am liebsten in einer der Nebengassen verschwinden, aber Emilian riss sie mit sich. „Komm, Alida.“ Dann blieb er plötzlich stehen. „Heb mich bitte hoch.“ Sein Blick war ernst. Sie musste sich wieder auf die Lippe beißen um nicht los zu weinen und erneut schmeckte sie das Blut. Sie sah ihm fest in die faszinierenden Jaspisaugen und schüttelte langsam den Kopf. Sie beugte sich zu ihm und legte ihm die Hände auf die Schultern. „Nein, Emilian. Das solltest du nicht sehen.“ Sein Gesicht hatte einen flehenden Ausdruck angenommen. „Bitte…“ Sie atmete tief ein und zog ihn erneut an ihre Brust. Sie hielt ihn so, dass er genauso groß war wie sie und beide blickten in die Richtung des Minsker Anführers. Sie wusste nicht wie Victor sie in der gewaltigen Menschenmasse entdeckt haben mochte, aber sein Blick war mit einem Mal fest auf die Augen seines Sohnes gerichtet. Er achtete weder auf die Fackeln, die entzündet wurden noch auf die beginnende Glut an seinen Füßen. Dann traf sein Blick den ihren und setzte sich in ihr fest. Sie spürte, was er ihr sagen wollte als würde er neben ich stehen und eine Hand auf ihren Arm legen: „Pass auf ihn auf!“ Sie blinzelte die Tränen weg, die ihre Sicht verschleierten und ihre Wangen hinunter liefen und nickte dem Freund, der dort vorne angebunden stand, zu. Als die Flammen höher zu lecken begannen, riss sie Emilians Kopf herum und drückte ihn an den ihren damit er das, was folgen sollte nicht weiter anschauen konnte. „Nicht, Alida! Lass mich, “ hörte sie seinen Protest aber sie hielt ihn nur noch fester. „Nein. Emilian.“ Sie strich ihm über den Kopf, der sich nach wie vor zu den Flammen umwenden wollte bis der Junge aufgab und sie nur noch sein leises Schluchzen an ihrem Ohr hörte. Sie hatte das Gefühl es Victor schuldig zu sein nicht den Blick abzuwenden und so brannte sich ein Bild auf ihre Netzhaut, das sie nie wieder vergessen sollte.
Sie hörte das Schreien der Frau und der drei Männer als ihnen das Fleisch vom Leib verkochte und plötzlich ging alles in einer gigantischen Stichflamme auf als Victor in Flammen aufging. Hell und klar wie eine Explosion, die die anderen sofort von ihrer Todesqual erlöste und die Kleidung der Zuschauer in den ersten drei Reihen verkohlte oder in Brand steckte. Die Menschen gerieten in Panik, versuchten von der Mitte des Platzes zu entfliehen. Sie stießen sich um, hieben nach einander um so schnell wie nur möglich zu entkommen. Alida tat mehrere Schritte nach hinten, drehte sich einmal und wurde plötzlich von einem großen breitschultrigen Mann umgerempelt. Sie ließ Emilian überrascht los und schlug auf dem Kopfsteinpflaster auf. Blut lief aus einer Kopfplatzwunde. Emilian stand neben ihr und versuchte ihr wieder auf zu helfen. Sein Blick war voller Entsetzen. „Mama ist irgendwo hier, aber ich weiß nicht wo… Ich kann es nicht spüren. Es sind zu viele…“ Alida stellte sich auf die Zehenspitzen und versuchte Livia irgendwo zu erblicken. Tatsächlich! Ungefähr in zwanzig Meter Entfernung konnte sie erkennen, dass die junge Frau von drei Männern in eine dunkle Gasse gezerrt wurde. Sie schluckte schwer und riss dann erneut den Jungen an sich. Sie konnte ihn wohl kaum in der Menge stehen lassen. Wenige Meter vor der kleinen Nebenstraße zog sie ihren Dolch heraus und sah Emilian eindringlich an. „Ich versuche deiner Mutter zu helfen. Du bleibst hier!“ Sie wartete seine Antwort nicht ab sondern rannte ohne lange zu überlegen in die Straße. Die Männer waren dabei auf die junge Frau einzuschlagen. Mehrmals hatten sie den Kopf von Emilians Mutter gegen die Wand gehämmert und längst war Livia bewusstlos. Sie hörte die Männer miteinander streiten, verstand aber nichts von dem Gesagten. Ein breitschultriger Glatzkopf nestelte an seiner Hose während ein andere der Männer mit einem Dolch nach der Bewusstlosen stach und ihr dann ohne ein einziges Mal mit einer Wimper zu zucken die Kehle durchschnitt. Alidas Klinge traf ihn im selben Moment im Nacken und er ging zu Boden aber sie wusste, dass sie einen Sekundenbruchteil zu spät gekommen war. Die beiden übrigen Männer ließen von der Bewusstlosen ab. Der Glatzkopf ballte die Hand zur Faust und rammte sie Alida gegen den Schädel. Sie verlor für kurze Zeit das Bewusstsein und ging zu Boden. Der andere bückte sich nach dem Dolch während der Glatzkopf mit seinen harten schwarzen Stiefeln auf sie einzutreten begann. Mit Mühe gelang es ihr sich nach dem zweiten Tritt zur Seite zu rollen und wieder auf die Füße zu kommen. Schwankend suchte sie einen Ausweg, eine Möglichkeit zur Flucht und erkannte im gleichen Augenblick Emilian, der hinter den Männern stand. Auch er hielt einen Dolch in der Hand und ein entschlossener Zug umspielte seinen Mund. Er wirkte ein wenig größer, stärker, aber Alida war klar, dass ihre Sinne ihr einen Streich spielen mussten. Sie bekam erneut einen Faustschlag gegen die Schläfe und spürte im gleichen Moment den scharfen Schmerz der Klinge in der Hand des anderen als sich diese in ihre Lunge bohrte. Dann folgte der Stich in den Bauch bohrte und sie spürte wie der Dolch von links nach rechts gezogen wurde. Sie wollte ein letztes Mal nach den Männern schlagen, ihnen ihre Faust in die hässlichen Visagen schmettern doch sie hatte keine Kraft mehr. Sie ließ sich fallen und schloss die Augen.
Unvorstellbare, höllische Schmerzen rissen sie zurück in die Wirklichkeit. Sie stöhnte und griff mit den Händen zu dem brennensten Punkt der Schmerzen an ihren Bauch aber als sie die weiche feuchte Masse spürte schluckte sie nur und riss die Hand zurück. Sie öffnete mühsam die Augen und sah das Gesicht von Emilian vor sich. Panik, Angst und Verzweiflung wechselten mit einer wilden Entschlossenheit auf seinem blutverschmierten Antlitz und erst in diesem Moment bemerkte sie, dass er Blut weinte. Er hatte sie irgendwie in eine Ecke gezogen und halb aufgerichtet. Alida strich ihm mit den Fingerspitzen die Tränen von den Wangen und blickte auf die rote Flüssigkeit. In einigen Metern Entfernung erkannte sie die leblose gestalt von Livia, die Hände sorgsam auf der Brust gefaltet sowie die anderen beiden Männer teilweise zerstückelt in einer roten Lache liegend. Ihre Stimme war weniger als ein Flüstern. „Es tut mir leid, Emilian. Ich wollte, dass alles wieder gut wird. Ich habe versagt.“ Sie schloss die Augen und spürte wie die zarten Finger des Jungen über ihre Haut strichen und die Tränen weg wischten. Seine Stimme war leise. „Nein, du warst da.“ Seine Hände tasteten vorsichtig über ihren Körper, verweilten länger in der Nähe der Einstichwunde im Brustkorb während die junge Frau aus Brügge Blut zu husten begann. Sie zögerten in der Nähe der grässlichen Bauchwunde und kehrten schließlich zu ihrem Gesicht zurück. „Alida. Schau mich an!“ Mühsam öffnete sie erneut die Augen. Sie wollte sie fast im selben Moment wieder schließen aber der Blick der rotbraunen Augen hielt sie fest. „Ich will nicht, dass du stirbst, aber deine Wunden sind zu… ich kann es nicht verhindern.“ Seine Stimme war brüchig. „Möchtest du sterben, Alida?“ Sie lächelte und lachte leise. Die Fragen eines Kindes… „Emilian. Ich will nicht sterben. Ich weiß, irgendwann kommt für jeden von uns der Tag oder die Nacht. Aber ich wünschte, es wäre nicht heute.“ Sie dachte an das Versprechen, dass sie Victor gegeben hatte und das sie nie würde erfüllen können. Sie blickte den tapferen kleinen Jungen an, der ihr zunickte. Er hauchte ihr einen Kuss auf die Stirn und griff nach ihren Händen. Alida hatte keine Kraft mehr. Sie schloss ein letztes Mal die Lider und wusste, dass sie geschlossen bleiben würden. Sie ließ ihr Bewusstsein fallen und versuchte in das Vergessen einzutauchen, dass sich um sie herum ausbreitete. Von irgendwo machte sich ein warmes Gefühl in ihr breit, dass den Schmerz vergessen ließ und sie tiefer und tiefer zog. Sie tat einen letzen schwachen Atemzug, der ihre Brust zusammenkrampfte und spürte den letzen Herzschlag. Dann war es still. Sie wartete. Dann spürte sie eine Flüssigkeit, die ihre Kehle herab rann und sich in ihr auszubreiten begann. Sie konnte sich nicht erinnern jemals einen ähnlichen Geschmack auf den Lippen gekostet zu haben: klar und rein wie Wasser für einen Verdurstenden. Warm und süß wie Honigwein, oder ein Hauch Zimt irgendwie frisch wie die Blätter von Pfefferminz, die man zwischen den Fingern zerrieb… und zugleich von einer unvorstellbaren Intensität. Sie öffnete die Lippen. Irgendwo in ihrem Hinterkopf formulierte sich die Frage, ob so etwas möglich sein konnte, verschwand dann jedoch wieder in der Dunkelheit. Der Geschmack verlieh ihr eine Kraft, die sie verloren geglaubt hatte: sie spürte wie sich ihre Zunge bewegte und sie trank. Zuerst langsam und zögernd, dann wilder und gieriger. Sie saugte, wollte mehr. Sie öffnete die Augen und erblickte erneut den kleinen Jungen, der vor ihr saß und ihr seine blutigen Hände entgegen streckte. Alida riss ihren Mund mit Mühe von den aufgerissenen blutenden Handgelenken weg. „Nein. Alles ist in Ordnung.“ hörte sie die helle Stimme. Dann spürte sie die Krämpfe, die ihren Körper schüttelten, die Wunden, die ihren Körper zerrissen, den rasenden Schmerz hinter ihren Schläfen, der sie schier wahnsinnig werden ließ. Emilian nahm ihren Kopf zwischen die Hände und strich vorsichtig über die blonden Haarsträhnen. „Alida? Gleich ist es vorbei. Es dauert nicht lange. Versprochen.“
Dann starb sie.
Zuletzt geändert von Alida am So 1. Feb 2015, 08:53, insgesamt 1-mal geändert.