Carpe Noctem (Louisa)

Die Brujah war begehrliche Blicke der Männerwelt gewohnt und suchte sie dennoch, hier ein kurzes Lächeln verschenkend und dort ein höfliches Nicken. Die Gesten Louisas versprachen nichts, honorierten aber das Wohlgefallen der Betrachter mit einer selbstbewussten Koketterie, während sie sich langsam durch den Schankraum bewegte. Sie genoss in tiefen Zügen das Gefühl, in die Lebendigkeit der hier versammelten Sterblichen regelrecht einzutauchen und sie auf sich übergehen zu fühlen, als ob sie eine erfrorene Hand in warmes Wasser tauchte.

Schließlich ließ sie sich mit gezierten Bewegungen auf einer freien Bank in einem möglichst unbeobachteten Eck nieder, soweit man im Trubel überhaupt ein solches finden konnte. Um keine Aufmerksamkeit zu erregen, winkte sie eine Schankmagd herbei und bestellte sich etwas Wein. Dann lehnte sie sich zurück, zupfte müßig an ihrem Kleid herum und hielt Ausschau nach Theresa. Sie hatte nicht auf Ausrufer geachtet, mutmaßte aber, dass Mitternacht noch keinesfalls lange genug vorüber sein konnte, um befürchten zu müssen, ihre Gastgeberin habe nicht mehr mit ihrem Kommen gerechnet.

Es dauerte nur einen kurzen Moment, bis Louisa von einer unförmigen Schankmaid angesprochen wurde. Das Mädchen war vielleicht gerade achtzehn und ausgesprochen hässlich. Sie hatte schiefe Zähne und einen stämmigen Körper, der ungeschickt vor Louisa in einen Knicks ging. Zwar verbarg die etwas zu enge Bluse einen üppigen Busen, aber irgendwie half dieser Umstand dem Mädchen weniger, als dass es ihrer Erscheinung den Anschein einer plumpen Kuh gab. „Gnäje Frou?“ Die Schankmaid hatte einen dicken Akzent, der darauf hindeutete, dass sie wohl irgendwo vernab von der Zivilisation aufgewachsen war. Erst als sie sich der Aufmerksamkeit der Brujah sicher war, sprach das Mädchen weiter. „Ihr seijd de Frou fan de Foort, nich wa?“ Louisa hörte, wie ihr Name bei der Aussprache unabsichtlich verunstaltet wurde und konnte sehen, dass Ihr Gegenüber eingeschüchtert von der schönen, jungen Frau vor sich schien. „Beite volgt me. Jeman wardete scho uf euhj.“

Mit einer Mischung aus Hochmut und Mitleid wanderte der Blick der Brujah über den ungeschlachten Leib der Magd. Hoheitlich-herablassend meinte sie: "Gut. Führ mich hin, Mädchen." Elegant glitt sie von ihrer Sitzgelegenheit, hob geziert mit einer Hand den Saum ihrer Röcke und schickte sich an, der Bediensteten zu folgen. An sich bereits gewohnt, mit ihren Bewegungen und den Formen ihres Körpers das Auge zu verlocken, musste sie sich nun schon eher zurückhalten, um den Gegensatz zu der armen jungen Frau nicht auf die Spitze zu treiben – was eine Form der Aufmerksamkeit auf das ungleiche Paar gezogen hätte, auf die sie wohl verzichten konnte. Mit kühler Selbstsicherheit gab sie sich den Anschein, sich der eklatanten Umstände nicht bewusst zu sein.

Die unansehnliche Bedienung führte Louisa durch das Innere des Drachenkopfes, immer mehr von der lärmenden Ausgelassenheit der Schankstube weg. Verwinkelt wie eh je, konnte die Brujah auch hier die Spuren von Bauarbeiten und Renovierungen erkennen. Räume wurden renoviert, Wände neu getüncht und überall duftete es nach frischem Holz. Louisa selbst wurde schließlich eine unscheinbare Treppe hinuntergeführt, die nach wenigen Stufen vor einer schweren, mit Eisen beschlagenen Eichentür endete. Die Schankmaid öffnete die Fporte und bat Louisa einzutreten. Der Raum dahinter war überraschend groß und von Lichtern hinter dünnen Papierschirmen beleuchtet. Auf der gegenüberliegenden Seite konnte die Brujah schließlich auch ihre Gastgeberin ausmachen. Theresa Kymena erhob sich von ihrem Stuhl und lächelte der gerade Angekommenen zu, während die blonde Frau von ihrer Begleitung angekündigt wurde. „Herrin.“ Die Schankmaid verbeugte sich ungeschickt, aber tief. „Eure Besuck is‘ anjekumme.“

Die angesprochene Tremere wiederum nickte nur und entließ die Dienerin mit knappen Worten, die sich trotz ihrer Masse schnell und leise zurückzog und die Tür wieder hinter sich schloss. Mit einem entwaffnenden Lächeln wandte sich Theresa danach Louisa zu und begrüßte diese mit einem anerkennenden Nicken ihren Kopfes. „Meine Liebe!“ Die dunkelhaarige Kainitin klang beinahe ein wenig erleichtert, während sie zwei Schritte in ihre Richtung ging. Die Tremere trug wie bei ihrem letzten Treffen teure, rote und schwarze Stoffe, die mit goldenem Schmuck und Armbändern aus dem gleichen Metall akzentuiert wurden. „Ich freue mich, Euch zu sehen. Ich hatte schon Sorge, dass etwas vorgefallen sein könnte, oder schlimmer Ihr Euch im letzten Moment doch dazu entschlossen habt, meiner Einladung nicht zu folgen.“ Der Tonfall klang in keiner Weise anklagend, vielleicht ein wenig neckend und dennoch von einem Hauch Neugier unterlegt.

Sie ließ die Änderungen an der Umgebung auf sich wirken und öffnete ihre Sinne mehr, je weiter man sich von der Schankstube mit ihrem Lärm, den Gerüchen und der Hektik entfernte. Als atmete der Drachenkopf in seiner nunmehrigen Form die Persönlichkeit seiner neuen Besitzerin, bereitete sich die Brujah damit gedanklich auf ihr Treffen mit Theresa vor, während sie all dies aufmerksam in sich aufnahm. Die Schankmagd, die Louisas Sinn und Leidenschaft für schöne Körper mit ihrem plumpen, dicklichen Aussehen peinigte, verlor sich für die Kainitin wohltuend in der Vielzahl der Eindrücke, die sich ihr darboten. Sie machte daher auch das beste aus der eher ungelenken Einführung bei ihrer Gastgeberin durch die Frau, lächelte gewinnend und suchte den Gesamteindruck durch einen tiefen, sehr höflichen und eleganten Knicks auszugleichen.

"Meine hochgeschätzte Dame..." begleitete sie ihre grüßende Geste mit samtweicher Stimme und trat auf Theresa zu, um deren Hände mit ihren schlanken Fingern zu umfassen und ihr Nicken zu erwidern. "Ihr seid wieder einmal bezaubernd!" Sie schmunzelte, ging auf den neckenden Ton ihres Gegenübers ein und meinte: "Es macht mich regelrecht verlegen, wie rührend Ihr Euch um mich gesorgt habt – womit habe ich solche Aufmerksamkeit verdient?" Womit sie ein leises Lachen erklingen ließ, das eigentümlich unbeschwert für eine Frau wirkte, die immerhin nichts anderes war als eine wandelnde Tote. "Nein, es ist mir nichts zugestoßen, wie Ihr seht – nur eine kleine, aber eilige Angelegenheit, in der ich aufgehalten wurde, ein minderes Ärgernis. Und wie könnt Ihr nur auf den absurden Gedanken kommen, ich würde mir freiwillig die Freude einer Konversation mit Euch, meine Liebe, versagen?" Nun war sie es, die Theresa mutwillig zublinzelte.

Theresa lächelte freundlich und unbeschwert, erwiderte die Begrüßung kurz, indem sie Louisas Hände drückte. Dann löste sich die Tremere von Louisa. „Oh meine Liebe, ihr wäret nicht die Erste, die sich im letzten Moment anders entscheiden würde und allerlei Ausflüchte finden würde, um sich doch nicht mit einem Mitglied von Haus und Clan Tremere zu treffen.“ Sie klang amüsiert, auch wenn Louisa meinte, einen Hauch Anstrengung oder auch Verärgerung in ihrer Stimme erkennen zu können. Das Lächeln blieb Theresa jedoch erhalten und sie sprach weiter. „Ich bin mir sicher, ihr wundert Euch, wieso ich hierher eingeladen habe, oder irre ich da?“ Die Augen der Tremere fokussierten sich auf die Umgebung, unfertig, wenig aussagekräftig und ohne besonderen Reiz.

Die Brujah ließ sich ihre momentane Unsicherheit nicht anmerken, wiewohl sie doch mit erhöhter Aufmerksamkeit auf den Tonfall, die Gestik und Mimik ihrer Gastgeberin achtete. War sie selbst die Ursache für die leichte Verstimmung Theresas? Hatte die Tremere sich offenherzigere Auskünfte erwartet? Ihre für Kainiten wohl mehr als typische höfliche Abwehr der Frage konnte doch wohl kaum ein Grund für echten Zorn sein! Sie beschloss daher für den Moment gar nicht zu reagieren, als sei ihr nichts ungewöhnliches aufgefallen, und gab als kleine Versöhnungsgeste freimütig zu: "Ich muss zugeben, dass Ihr meine weibliche Neugier gereizt habt, die mir unzweifelhaft über den Tod hinaus erhalten blieb." Indem sie dem Blick Theresas folgte und ihn zu deuten versuchte, erkundigte sie sich: "Gibt es eine Sorge, die Euch umtreibt? Etwas, bei dem ich meine bescheidene Hilfe anbieten könnte?"

Louisa wusste mit absoluter Sicherheit, dass sie sich gerecht der Etikette, diplomatisch und so graziös wie unter den Umständen möglich verhalten hatte. Es war also klar, dass dieser Moment der Verstimmung nichts mit ihrer Person zu tun hatte. Am wahrscheinlichsten war wohl, dass Theresas Stimmungslage etwas mit ihrem Clan oder der Art und Weise, wie dieser von anderen Kainiten behandelt wurde. In jedem Fall mochte die Brujah aus dieser Beobachtung vielleicht noch den einen oder anderen Vorteil für sich ziehen.

Theresa sprach inzwischen weiter. „Oh, es ist keine Sorge. Ganz und gar im Gegenteil. Es handelt sich eher, um eine Gelegenheit, die vielleicht für Euch interessant sein. Die Herrin Charlotte Erembald hat den Plan, dieses Etablissement in etwas Neues zu verwandeln. Sie denkt, diese Stadt wäre bereit für ein zweites Elysium und ich bin geneigt, der ehrenwerten Dame in dieser Einschätzung zuzustimmen.“ Die Tremere schien gespannt auf Louisas Reaktion zu sein. „Was denkt Ihr?' Ihr seid die neueste Bewohnerin dieser Stadt und habt sicherlich eine erleuchtende Perspektive zu diesem Thema.“

In Anbetracht ihrer Wahrnehmungen zeigte Louisa keine Reaktion auf die Verstimmung der Tremere. Sie verhielt sich vielmehr ganz so, als sitze sie der Angehörigen eines voll anerkannten Clans gegenüber, und nickte gelegentlich zu den Worten ihrer Gastgeberin. "Das zu hören freut mich, meine Liebe" meinte sie höflich und strich sich das Haar mit gezierter Geste in einer Andeutung gespannter Aufmerksamkeit hinter das Ohr. "Ein weiteres Elysium!" Ein Lächeln ging über ihre Züge. "Aber gewiss doch, eine höchst einnehmende Idee" bestätigte sie. "Meiner bescheidenen Meinung nach trägt eine Stärkung der Elysien dazu bei, Probleme in einer zivilisierten Weise beizulegen, einer subtilen, einer, wie soll ich sagen... weiblicheren? In diesem Sinne schließe ich mich Euch und der geschätzten Herrin Erembald voll und ganz an."

Nun schien der Brujah noch ein Gedanke zu kommen. Mit einem leichten Glanz in den Augen sah sie sich im Raum um. "Ich habe das Gefühl..." begann sie und wandte sich Theresa wieder zu. "...dass wir Damen uns in derlei Fragen sehr gut verstehen, ähnliche Vorstellungen haben. Vielleicht sollte man das zum Anlass nehmen, uns ein wenig, nun, enger zusammenzuschließen? Männer haben oftmals die eigenwillige Ansicht, Stärke und Einfluss gründeten sich allein auf die Person. Den Mann eben. Ein Bund Gleichgesinnter indes mag manches erreichen..." Sie ließ den Satz in der Luft hängen und machte eine kleine vielsagende Geste. Ihre schlanken Hände bewegten sich dabei in einer eleganten, aber so energischen und beredten Weise, dass man regelrecht spüren konnte, wie sich die Vitae ihres Clans an ihrer Idee zu entzünden begann.

Theresa schien von Louisas Eifer wenig überrscht zu sein. „Die Herrin Erembald hatte mir bereits prophezeit, dass man Euch wohl für ein Unterfangen wie dieses begeistern könnte.“ Die Tremere wirkte zufrieden und begann ein wenig mehr zu erklären. „Eure Idee klingt…verlockend, auch wenn ich natürlich nicht für die Lady Erembald sprechen kann. Dennoch…“ Sie fixierte ihr Gegenüber mit dunklen, intelligenten Augen. „…vielleicht wird dieses Elysium nicht so, wie Ihr Euch das vorstellen mögt, denn unsere gemeinsame Freundin hat die Idee eine ganz besondere Nische und Klientel für dieses neue und heilige Etablissement zu erschließen.“ Theresa untermalte die kryptische Aussage mit einer Frage. „Sagt, verehrte Louisa van de Voort, welchen Eindruck habt Ihr von der blutigen Jungfrau gewinnen können? Soweit ich weiß, habt Ihr Eure Zelte in der ersten Zeit in Brügge dort aufgeschlagen?“