So 4. Apr 2021, 09:41
Lucien erwachte durch den beißenden Schmerz des Hungers, der sich durch seine Eingewei-de zu fressen schien. Das Tier in seinem Inneren, wo auch immer in seinem Körper es seine unheilige Existenz manifestiert hatte, riss an seinen Ketten und verlangte nach Vita: nach dem Lebenselixier anderer um sein eigenes Sein aufrecht zu erhalten. Es fiel Lucien schwer einen einzigen klaren Gedanken zu fassen als er sich von dem weichen Lager erhob auf das er sich am letzten Morgen niedergelassen hatte. Er bemerkte nicht den weichen, hauchdün-nen Stoff oder die leuchtenden Farben und feinen Stickereien der Decken und Kissen, son-dern nur das Bedürfnis nach Blut.
Leif, der ein Zimmer nebenan zugewiesen bekommen hatte, erwachte fast zeitgleich durch einen heftigen Disput, der durch die geschlossene Tür zu ihm drang. Offensichtlich stritten die beiden französischen Zwillingsbrüder. Er konnte einige Wortfetzen auffangen und allein an der Art und Weise wie jeder seine Worte betonte, war es ein leichtes für ihn die vom Ton her eigentlich identischen Stimmen zu unterscheiden.
„Beruhig‘ dich erst mal, Baldric. Es ist ja alles gut ausgegangen…“
Die Antwort kam heftig und wütend. „Du bist quasi in zwei Hälften zerlegt worden. Was wäre wenn dieser Thorson nicht zur Stelle gewesen wäre? Wenn er nicht über die Fähigkei-ten verfügt hätte, dir zu helfen? Ich hab dich schon so viele dutzende Male wieder zusam-men flicken müssen und dieses Mal hat wieder bewiesen, dass ich nicht immer zur Stelle sein kann.“
Henri versuchte zu beschwichtigen. „Es war ein Kampf und keiner hätte ahnen können, dass wir direkt in eine solche Falle laufen würden… Vielleicht ist es ja Teil unseres gemeinsa-men Schicksals, dass ich immer noch hier stehe. Solange du stehst, stehe ich auch wieder auf.“ Leif konnte quasi hören, wie Henri seinen Bruder mit einem Grinsen wieder versöhn-lich stimmen wollte.
Baldric schienen seine Worte nur noch aufbrausender zu machen. „Im Vergleich zu den Kre-aturen der Nacht, Untote, Werwölfe, was auch immer, sind wir Frischfleisch. Verletzlich und unfähig wie Neugeborene. Nichts anderes. Die zerlegen uns in zwei Hälften bevor wir uns auch nur umgedreht haben! Du magst hervorragend im magischen Duell sein und ich ein vorzüglicher Heiler… Was nützt es uns dennoch im entscheidenden Moment, Henri? Ich werde dir vielleicht nicht immer helfen können, wenn du dich unnötigerweise in Gefahr be-gibst, oder dein und mein Leben nicht für immer bis in alle Ewigkeit verlängern können…“ Er zögerte bevor er weitersprach. „…und vielleicht will ich das auch irgendwann nicht mehr.“
Henris Stimme kam leise und ohne einen Hauch von Erregung. „Was meinst du damit?“
Baldrics Stimme war in diesem Moment kaum von der seines Bruders zu unterscheiden. „Das weißt du genau…“
Henri kam nicht mehr dazu etwas zu erwidern, da ein laut vernehmliches Klopfen an Leifs Tür die Nachtruhe beendete. „Sabah al cher“, wurde der Nordmann durch die Tür hinweg begrüßt.