Mo 29. Mai 2023, 22:19
Prag, September 2017
Leise tropfte der nasse Regen gegen die großen, dunkel gerahmten Fenster des Kunsthistorischen Museums von Prag. In dem gelegentlich von grollenden Donner und dem Lichte des von zuckenden Blitzen eingehüllten Gebäudes, brannten nur noch wenige Lichter. Das Flackern der Beschilderung der Notausgänge, das grelle Leuchten der Bildschirme des Sicherheitspersonals und eine einzelne altertümlich wirkende Schreibtischlampe. Vor dieser Lampe gebeugt stand Apollonia von Waldstein, vor einem ausladenden Eichentisch und sah sich das aktuelle Portfolio für die nächste Ausstellung des Museums an. Die kundige Magierin hätte längst zuhause sein müssen aber der, offen ausgesprochen, erzwungene Ehrgeiz den sie ihrem Arbeitgeber nunmehr zur Schau stellte, war nun einmal notwendig, so sie denn ihren Job behalten wollte. Der Museumsdirektor hielt große Stücke auf sie. Aber seit dem letzten Abenteuer mit ihrer Kabale, hatte er ihr unmissverständlich zu verstehen gegeben, das er tagelange, unentschuldigte Abwesenheit nicht einmal für eine von Waldstein hinnehmen würde. Es hieß also sich zu beweisen und wie konnte man dies besser bewerkstelligen als mit ein paar unbezahlten Überstunden.
Ihr Schreibtisch, einer von vielen, stand augenblicklich im direkten Anschluss an das großzügig angelegte Lager des Museums in welchem Exponate nicht nur sicher gelagert, ent- und wieder zusammengepackt sondern auch katalogiesiert, überprüft, gekennzeichnet und schussendlich auch verwahrt wurden. Eigentlich hatte sie für die kommende Ausstellung „Könige, Herrscher, Fürsten - Zwischen Göttlichem und Vergänglichem“ noch ausreichend Zeit all ihre notwendigen Vorbereitungen zu treffen, da im Grunde gerade erst die ersten wirklichen Ausstellungsstücke, Leihgaben und Repliken eingetroffen waren. Die Druckerei hatte gerade gestern erst die Auftragsbestätigung für die Flyer und mannshohen Plakate verschickt; Kollegen hatten jetzt erst ein einheitliches Layout für die Beschilderung gewählt. Und obgleich man gerade erst am Anfang stand, stand sie nach wie vor hier und befleißigte sich einen guten Eindruck zu hinterlassen. Draußen regnete es in Strömen, es war kurz nach halb neun und das einzige Geräusch, abseits vom prasselnden Regen, dem Donner und dem elektrostatischen Summen der Luftentfeuchter, hörte sie nur in weiter Entfernung die leise Melodie des Radios von Frantisek „Franti“ Sykorova, dem immer gut gelaunten Wachmann, der mit seinem bereits weit fortgeschrittenen Alter schon zum permanten Inventar des Museums gehörte. Gerüchten zufolge sollte es aber nächsten Sommer tatsächlich soweit sein und er würde endlich den verdienten Ruhestand antreten.
Apollonia lehnte sich in dem breiten Schreibtischstuhl zurück und kaute überlegend auf dem Ende ihres Bleistifts und machte sich dann ein paar Notizen in einem fein in Leder gebundenem Buch. Die Ausstellung hatte noch ein paar Monate Zeit und es war gut bei diesem Gewitter nicht das Gebäude verlassen zu müssen. Allerdings gab es noch so viele andere Dinge zu erledigen, dass die junge Frau manchmal gar nicht recht wusste, wo ihr der Kopf stand: Informationen über Wilhelmine einholen, mehr über die Gegner der ‚Blutigen Gilde‘, die es ja vermutlich gar nicht gab, einholen, dem Orden des Hermes zu Diensten sein und gleichzeitig war es dringend notwendig ihrer Tante Antonia wieder einmal einen Besuch abzustatten. Der Zustand der älteren Magierin hatte sich in den letzten Monaten nicht gebessert und Apollonia machte sich Sorgen. Es war keine Freude am Bett der Bewusstlosen zu sitzen, ab und an nach ihrer Hand zu greifen und leise auf sie einzureden um die Stille zurückzudrängen, die aus jeder Ecke zu kriechen schien. Sie seufzte beim Gedanken an die Tätigkeiten und versuchte sich auf das hier und jetzt zu konzentrieren.
Das Hier und Jetzt bestand tatsächlich aus einer Arbeit, die ihr eigentlich Spaß machte, sie erfüllte und immer wieder forderte. Gerade jetzt war es doch recht fordernd, da gerade der Beginn einer Ausstellung die meiste Planung in Anspruch nahm. Natürlich war die Ausstellung jetzt kein überragender Moment von internationalem Ausmaße, aber auch in ihrer Branche musste man Kompromisse eingehen und da für andere interessante Exponate einfach Zeit und Mittel fehlten, hatten man sich auf die aktuelle Thematik geeignet. Immerhin hatte sie schon ein paar feste Zusagen aus Berlin und Paris erhalten, sodass man den interessierten Besuchern auch wirklich etwas bieten konnte. Der Bleistift kratzte feine, dünne Linien auf sorgfältig gewalztes Papier und neben ihr lag noch ein halb angebissenes Subway-Sandwich. Draußen am Gang hörte sie hallende Schritte die langsam näher kamen. Untermalt wurden diese eher langsamen Schritte von leiser, getragener Musik die schnulzig und wie aus dem falschen Jahrhundert klangen. Einen Moment später, steckte auch ganz unvermittelt schon Franti seinen Kopf durch den Spalt in der Bürotür und klopfte gegen das Holz. Zwei gutmütige, freundliche Augen blickten Apollonia entgegen und der ältere Mann verzog das Gesicht zu einem freundlichen Lächeln. „Schon wieder so spät, Kind? In letzter Zeit schlägst du dir regelmäßig hier die Nacht um die Ohren. Eine Dame in deinem Alter sollte ausgehen und sich amüsieren. Du bist doch noch jung. Die Statuen und Bücher sind morgen auch noch da.“ Franti hatte sie bereits nach den ersten zwei Wochen nach ihrer Einstellung ‚Kind‘ genannt und dabei war es auch einfach irgendwie geblieben. Es hatte keinen herabwürdigenden Anklang und der Hermetikerin war es bald schon so vorgekommen, als hätte es sogar etwas Väterliches. Mit ein paar weiteren Schritten kam er auf die Magierin zu, an seiner Seite baumelte ein kleines Taschenradio das leise seine Melodie spielte. Er hielt ihr einen Becher hin, in der anderen hielt er eine Thermoskanne. „Lindenblütentee. Kein gekaufter. Meine Frau trocknet ihn selber. Es gibt nichts Besseres bei diesem Wetter.“
Apollonia lachte und lächelte. „Franti? Sie sind einfach Gold wert, wissen Sie das? Danke. Das Angebot nehme ich gerne an.“ Sie ließ sich von dem duftenden Gebräu einschenken. „Wahrscheinlich gehören wir beiden einfach heute Abend hierher. Oder, was meinen Sie? Ich sollte vielleicht ausgehen, sie vielleicht zu Hause vorm Kamin mit ihrer Frau den Wintergarten oder die nächsten Rosenbüsche planen. Oder einen kleinen Urlaub? Den hätten Sie sich wohl genauso verdient wie ich.“ Wieder folgte ein Lachen.“ Sie nahm einen Schluck.
Franti schenkte ihr von dem dampfenden Tee in ihren Becher und unmittelbar darauf roch es unverkennbar intensiv nach Lindenblüten. Der Mann lachte ebenfalls und schenkte sich ebenfalls aus der Kanne ein; nahm dann einen Schluck und hob lächelnd die Schultern. „Vermutlich hast du recht Kind. Naja, ich für meinen Teil will auf jeden Fall noch etwas von der Welt sehen. Ich bin zwar nicht mehr der Jüngste...“, er lächelte und nahm einen weiteren Schluck Tee, “... aber ich habe meiner Frau versprochen das wir noch einmal eine Kreuzfahrt machen. Das hat sie sich zu ihrem letzten Geburtstag gewünscht und die Kinder legen etwas dazu. Anton, mein Enkel, will unbedingt ein Bild von seinem Opa mit Kapitänsmütze. Er ist ganz vernarrt in Schiffe. Vielleicht schenken wir ihm mal einen Segelkurs oder etwas Ähnliches.“ Franti stellte die Kanne ab und sah sich etwas in Apollonias ‚Werkstatt‘ um. „Aber du hast schon recht Kind. Dieses Wochenende muss ich langsam anfangen ein paar Pflanzen winterfest zu machen. Und... woran arbeitest du heute Nacht anstatt die Männer wissen zu lassen was für eine attraktive, alleinstehende Frau du bist?“
„Im Moment an der neuen Ausstellung. Es wird einige interessante Sachen zu sehen geben und natürlich ist es wichtig, dass sich alle Altersklassen davon angesprochen fühlen. Schwerter und Burgen für die Kleinen, Schmuck von Fürstinnen für die Besucherinnen, Kriegskunst für die Männer.“ Sie winkte ab. „Das ist jetzt sehr stereotyp, ich weiß.“ Sie schmunzelte. „Ich werd‘ mir später noch eine Kleinigkeit vom Automaten holen. Kann ich Ihnen was mitbringen?“
Der ältere Mann machte eine wegwerfende Bewegung mit der Hand. „Ach stereotyp, was macht das schon? Hauptsache die Leute, ob groß oder klein kommen gern ins Museum. Das ist ja heutzutage nicht mehr so selbstverständlich. Ich finde es gut, das du versuchst für alle etwas zeigen zu können, an dem sie Freude haben.“ Franti hab seine Kanne an und schüttelte sachte den Kopf. „Das ist wirklich lieb von dir Kind danke, aber Agathe hat mir ein paar Brote und noch etwas vom Krautsalat eingepackt. Ich bin gut versorgt.“ Er schüttelte wie um zu zeigen das dem auch tatsächlich so wäre, seine Thermoskanne. „Mach heute nicht zulange. Ich werde ja immerhin in einer Stunde abgelöst, dich löst niemand ab und du wirst dafür auch nicht bezahlt.“ Mit diesen Worten machte Franti zwinkernd kehrt und überließ Apollonia wieder ihrer Arbeit. Hinter ihr stapelten sich bereits großen, kleine und sogar wahrhaft riesige Transportkisen aus schwerem Holz, gut verpackt, vermutlich ausgepolstert und stoßentlastet bis in die letzten Ecken. Für jedes Objekt war fast immer ein halbes Buch an Übernahmedokumenten mit kleingedrucktem und Querverweisen zu unterfertigen. Die Magierin arbeitete schließlich mit Objekten von unschätzbarem historischem, wissenschaftlichem, kulturellem und nicht zuletzt auch finanziellem Wert. Apollonia nahm gerade einen weiteren Schluck aus ihrem Becher während in weiterer Ferne die Musik von Franti durch die Museumshallen schallte und langsam leiser wurde. Dann gab es mit einem Mal einen dumpfen Aufprall von draußen, der bis an ihre Tür drang. Die Musik war noch sehr leise wahrzunehmen. Aber die Schritte hatten aufgehört.
„Franti?“ Apollonia lauschte in die Stille des Museums. War dem Wachmann etwas geschehen? War er vielleicht gestürzt? Hatte man ihn attackiert? Natürlich war das unwahrscheinlich, aber sie wusste mittlerweile, dass sie da draußen mehr Feinde hatte, als sie eigentlich vermutete. Und dass sie weder Gesichter noch Namen hatte. Sie erhob sich, griff nach einem Brieföffner, der auf dem Schreibtisch lag, und eilte in die Richtung aus der sie das Aufprallen vernommen hatte.
Der silberne Brieföffner von beachtlicher Länge in ihrer Hand funkelte im Licht der Tischlampe als sie schnellen Schrittes aus dem Lager eilte und in den nur spärlich beleuchteten Hallen des Museums stand. Spärlich war tatsächlich noch vorsichtig formuliert. Zu dieser Jahreszeit war das Museum bereits am Abend mit Flutlichtern von außen beleuchtet und auch wenn im Inneren des Gebäudes keine Festbeleuchtung vorzufinden war, so war doch immerhin in den Hauptgängen gedämpftes Licht eingeschalten. Es war stockfinster und totenstill. Nun nicht ganz. Apollonia vernahm eine leise Melodie die an den Mauern des Museums widerhallte; ganz zweifelsfrei das tragbare Radio von Franti. Sie hörte auch ein leichtes Schaben und Wimmern irgendwo vor sich, aber alles was das Museum zu diesem Zeitpunkt erhellte, war das Licht der Straßenlaternen die durch die hohen Fenster leuchteten.
Apollonia unterdrückte einen Fluch und zwängte sich in eine dunkle Nische. Sie musste sich zurück halten um nicht sofort zu Franti zu stürzen. Hastig zog sie ihr Pendel hervor, griff kurz nach ihrer Halskette, wie um sich zu vergewissern, dass sie tatsächlich da war und begann es sacht zu schwingen. Kaum hörbar hauchte sie ein paar lateinische Sätze, die ihrem Zauber Gestalt und Richtung geben sollten. Sie ließ ihren Blick vom Pendel über den Raum schweifen und suchte im Dunkeln nach etwas Verdächtigem. Und nach dem alten Wachmann.
Eng in ihre Nische gekauert, befühlte Apollonia ihr glänzendes Pendel und ließ es ihn Mustern und Kreisen schwenken, die einem streng vorgegebenem Ablauf folgten. Entsprechende Verse und Worte auf Latein waren dazu ebenfalls notwendig und musste korrekt rezitiert werden. Doch die Magierin wirkte diese Form der Magie nicht zum ersten Mal und so fiel es ihr selbst in diesem Moment leicht sich der übersinnlichen Kräfte zu bedienen, die der Welt inne wohnten. Das Pendel schwang nunmehr von selbst in die Richtung aus welcher die Musik kam, deutlich spürte sie die Präsenz eines anderen Lebewesens und ihr Gefühl sagte ihr untrüglich, das es sich um Franti handeln musste. Sie schätze die Entfernung auf vielleicht fünfzig Schritte vor ihr, und würde problemlos durch ihr Pendel in die richtige Richtung dirigiert werden. Selbst bei völliger Finsternis, so sie dies denn wollte. Die lateinischen Verse ließen das Pendel jedoch auch heftig in einem Kreis schwenken und suchend die Finger durch die Realität der irdischen Welt strecken um fremde Magie zu verorten. Es war als würde sie mit nackten Händen in völliger Finsternis tasten und dann... berührte sie eine fremde Hand. Eindeutig magisch, eindeutig erfüllt von der Hitze einer unmittelbaren Veränderung der Realität nach eigenem Willen. Kleine Knotenpunkte an Magie ließen sich vor ihr im Sicherheitsraum ertasten; flogen wie kleine Wölkchen durch den Notausgang, hinterließen eine Spur durch das Übergeschoss und formierten sich zu einer sehr starken magischen Präsenz im hinteren Bereich des Museums. Wer immer sich dort befand, er war noch immer dort.