Mo 16. Nov 2020, 22:20
Hintergrund:
Zwischen Sonnenuntergang und Sonnenaufgang
November 1230Jemand hatte ein Fenster geöffnet und warme Nachtluft strömte durch die Gänge der stets kühlen Festung. Warme Nachtluft… Es war mittlerweile Mitte November und noch immer war die ihm so vertraute Kälte in weiter Ferne. Wie es wohl derzeit um Brügge bestellt war?
Lucien wusste, dass die Stadt in den Händen von Gerrit, Rhajala, Liliane und den anderen Kainiten Brügges wahrscheinlich gut aufgehoben war. Mit Zwist und Krieg war derzeit nicht zu rechnen, aber man konnte sich natürlich irren.
Lucien wusste, es wurde Zeit… Sein Dienst würde bald beginnen. Der Herrscher des Heiligen römischen Reiches deutscher Nation war durch das Geschick der Kainiten Flanderns vor einem Attentat verschont geblieben auch wenn man die Attentäter nicht hatte fassen können, war nun doch zumindest in dieser Hinsicht Ruhe eingekehrt. Der Kaiser hatte alle Hände voll zu tun die unterschiedlichen Befindlichkeiten der Ritter, die sich auf dem Kreuzzug befanden, auszubalancieren. Eine schier unmögliche Aufgabe, wie Lucien immer wieder mitbekommen konnte.
Friedrich hatte ihm wie bereits zuvor einen Posten in seiner Leibgarde angeboten und Lucien hatte wie immer dazu tendiert abzusagen. Dem jungen Kaiser war es jedoch gelungen Lucien das Versprechen abzuringen wenigstens ein paar Monate in seine Dienste zu treten.
Nun gehörte er zur obersten nächtlichen Leibgarde des Monarchen.
Lucien sog die bereits abkühlende Nachtluft in seine toten Lungen und ließ den Blick missmutig über die steinernen Zinnen, die wehenden Fahnen, Standarten und Truppenzelte gleiten. Das Land in dem er sich augenblicklich befand war kein Segen für einen aus westlichen Ländern stammenden Sterblichen. Tagsüber war es schwül, heiß und trocken, nachts jedoch sanken die Temperaturen merklich. Gewiss würden sich die Soldaten, so wie es immer der Fall war bald an die neuen Umstände gewöhnen genauso wie die Veteranen und alten Hasen unter den Kreuzrittern, die ohnehin weitaus schlimmeres gesehen oder erlebt hatten, sodass ihnen etwas Hitze oder Kälte recht nebensächlich erscheinen musste. Der Hauptmann von Brügge hatte sich zunächst geweigert den kaiserlichen Überwurf anzulegen; bestand darauf seine verstärkte Lederrüstung mit den gegerbten Insignien Brügges zu tragen. Nach und nach war aber selbst ihm klar geworden, dass seine unnatürliche Blässe und seine für einen Kreuzzug unangemessene Erscheinung eher Unwohlsein hervorrief denn Kameradschaft und Vertrauen. Schließlich hatte er sich die Tunika übergeworfen und siehe da: Plötzlich war er gar nicht mehr so bedrohlich und fremdländisch. „Kleider machen Leute…“, flüsterte er leise vor sich hin und musste unwillkürlich an Liliane denken. Immer wieder hatte er mit seinen durchdringenden Augen die Nacht zum Tag werden lassen; hatte jedoch sorgefältig darauf geachtet dabei nicht bemerkt zu werden. Dem Kaiser waren zwar weitaus mehr Kreaturen und übernatürliche Wesenheiten zugetan, als er für möglich gehalten oder für gut befunden hätte, aber den Großteil dieser erbärmlichen Welt machten immer noch Sterbliche aus. Selbst wenn sie gepanzerte Helme, Kettenhemden und das Kreuz auf der Brust trugen. Nun, gerade weil sie das Kreuz auf der Brust trugen. Eigentlich eine selten dumme Idee von ihm sich der Leibgarde des Kaisers anzuschließen… aber über den Punkt der ‚wirklich dummen Idee‘ war er längst hinaus. Er hatte nun einmal zugesagt. Mochten es politische Überlegungen gewesen sein, die Tatsache das sein Ego sich gestreichelt fühlte dem Kaiser zu dienen oder die Vorstellung das Friedrich gut für sein Land und in weiterer Folge auch Brügge wäre. Mit einem grimmigen Grunzen zog er die ledernen Handschuhe fester und ließ die Finger über den Schwertknauf gleiten. Ein beruhigendes Gefühl.
Die restlichen Kainiten seiner Gruppe waren wieder zurück in den Westen gereist. Nur Leif war noch hier. Brunhild hatte sich im Rahmen ihrer Aufgaben einen Sonnenbrand zugezogen, der teilweise an schwere Verbrennungen erinnerte. Es war kaum vorstellbar, dass ein Sterblicher so unter den Strahlen der Sonne leiden konnte, aber wahrscheinlich hatte das kainitische Blut, das durch ihre Adern floss seinen Teil dazu beigetragen. Seit mehreren Wochen kümmerte sich Leif um die Gesundheit seiner Ghulin und entgegen seiner sonst so übernatürlichen Heilkünste gelang es ihm diesmal nicht eine rasche Besserung herbeizuführen. Das einzige Licht am Ende des Tunnels war, dass Brunhild wahrscheinlich keine Narben davontragen würde.
Lucien wusste, was von ihm erwartet wurde. Offiziell war er nur dazu abgestellt irgendwo zu stehen und zu verhindern, dass sich jemand mit einem Messer auf den Kaiser stürzen konnte. Inoffiziell jedoch ging es um so vieles mehr. Lucien analysierte die Festungsanlagen, überprüfte deren Zustand, überlegte Wege um aus dem Palast hinein- und auch hinaus zu kommen, er nahm als in der Ecke platzierte Leibwache an geheimen Audienzen teil und wurde von Friedrich um seine Meinung zu den Besprechungen gebeten. Mitunter begleitete er den jungen Mann auch auf nächtlichen Streifzügen durch die Soldatenlager und Schänken der Stadt. Friedrich hörte auf seine Berater, unterließ es jedoch nach wie vor nicht sich direkt vor Ort selbst ein Bild der Lage zu machen.
Der Kaiser war, wie man so schön sagte ‚ein Mann des Volkes‘ und der Soldaten. Das war einerseits rührend und zutiefst menschlich, andererseits aber auch ein großes, kalkuliertes Risiko das Friedrich offenbar bereit war regelmäßig einzugehen. Die Verbrüderung mit dem einfachen Soldaten am Feld, ob in Verkleidung oder in Amt und Würden, half ihm gewiss das Vertrauen und die Loyalität seiner Männer zu gewinnen bzw. aufrechtzuerhalten. Es machte diese ganze ‚Leibgarde‘ Vereinbarung aber äußerst gefährlich und angespannt für den Gangrel. Wenn der Kaiser nachts frei herumspazierte um sich das Heerlager anzusehen oder einen Eindruck der aktuellen Lage zu gewinnen, konnte man niemals sicher sein, dass nicht vielleicht doch der eine oder andere Spion die Gerüchte, der Kaiser gehe gerne inkognito zum einfachen Volk, genauer überprüfen würde. Was wiederum zwangsweise nur zu einem weiteren Attentat führen konnte. Nein, leicht hatte es der Brügger Hauptmann gerade nicht, wenn man sich seine Pflichten genauer besah. Umso erleichterter war er gerade deswegen, wenigstens Leif um sich zu wissen, auch wenn dieser die letzten Tage viel Zeit bei Brunhild verbringen musste. Die Sonne in diesem Land war auch wirklich grausam. Immerhin bekam er in seiner Tätigkeit als höchstpersönlicher Leibwächter und Vertrauter des Kaisers sehr viel von der Politik am wirklich großen Spielbrett mit; lauschte Würden- und Entscheidungsträgern, besah sich Strategien und Taktiken, bekam Einblicke in die hohe Kunst der Diplomatie und das tagtägliche Herumschwänzeln der Günstlinge und Speichellecker. Mit einem Seufzen wandte er sich von der Balustrade ab und schritt weiter die Zinnen entlang. Noch ein kurzer Blick über die Ostseite und schon würde er sich wieder ins Innere der Burg zurückziehen können.
Der Blick auf die Stadt war beeindruckend. Hier, das war Lucien klar, war der Orient.
Er sah hinaus und spürte erneut die warme Luft und roch das Salz des Meeres darin.
Lucien bemerkte mit einem Mal, dass sich irgendetwas in seiner Umgebung verändert hatte. Irgendetwas… er sah sich um. Das Licht! Lucien bemerkte, dass sich etwas am Schein der Fackeln, die den Gang beleuchteten, anders verhielt.
Es nahm ab und zu. Der Gangrel sah in die entsprechende Richtung und erblickte einen lautlosen Schatten, der näher und näher kam. Die absolute Stille, die die Gestalt umgab war erschien Lucien mehr als ungewöhnlich.
Der Gangrel kniff die Augen zusammen und war für einen Moment versucht die Dunkelheit vor sich zu teilen, um den vermeintlichen Angreifer besser wahrnehmen zu können. Die Tatsache, dass der Schatten kein einziges Geräusch von sich gab ließ nichts Gutes vermuten. Schlussendlich entschied er sich dagegen – womöglich hätte er dem potentiellen Angreifer damit seine Anwesenheit verraten. Eindeutig musste es sich hier um ein übernatürliches Wesen handeln, ob Magier, Kainit oder was der Teufel in diesen Gegenden so lauerte, konnte er nicht mit Gewissheit sagen. Es gab viele Möglichkeiten für die Gestalt sich zu bewegen; zahlreiche Abzweigungen, die sie wählen konnte aber der Hauptmann hoffte, dass sie an ihm vorbeihuschen würde, sodass er sie aus dem Hinterhalte stellen könne. Flinken Fußes, huschte er in einen Gang zu seiner rechten und zog langsam das Schwert aus der Scheide. Er hob die Damaszenerklinge an und machte sich bereit für einen gewagten Sprung nach vorne, der seinem Gegner mit etwas Glück den Kopf von den Schultern trennen würde. Da sich der Schatten lautlos bewegte, würde er sich auf seine Augen verlassen müssen. Er spähte um die Ecke, um abschätzen zu können wie lange der Angreifer wohl noch bis zu seiner Gabelung brauchen würde. Falls er abbiegen würde, musste er ihm selbstredend eilig hinterher.
Lucien vernahm einige Augenblicke lang nichts, dann plötzlich war das Geräusch von mit Leder beschlagenen Stiefeln um so lauter. Als würde es, plötzlich aus dem Nichts heraus, auftauchen. Einen Moment war es still, dann vermeinte Lucien etwas zu hören, dass wie ein Atemzug klang.
„Hauptmann Sabatier?“ Die Stimme klang fest, so als wüsste sie, dass er sich irgendwo hier aufhalten musste. Der Sprecher musste noch recht jung sein. Der Klang der Sprachmelodie kam ihm vertraut vor.
Lucien stutzte und senkte das Schwert. Konnte es sein, dass er den Schatten gar kannte und nur auf die Distanz nicht eindeutig zuordnen konnte? Die Stimme kam ihm merkwürdig vertraut vor obgleich äußerliche Jugend und Stimmlage kein Garant für niedriges Alter oder Lebenszeit war, wie er selbst nur allzu gut wusste. Er seufzte innerlich; ließ es aber dabei bewenden und fing nicht damit an nachzudenken, welche anderen Kainiten oder übernatürlichen Vasallen des Kaisers ihm augenblicklich die Treue geschworen hatten und zusammen mit ihm hier ‚Dienst‘ versahen. „Ich bin hier“, sagte er mit lauter Stimme und trat mit einem schweren Satz nach vorne auf den Gang.
Der Mann, der im Gang nach ihm Ausschau hielt, tat einen raschen Schritt nach hinten. Offensichtlich war er ein wenig überrascht über die Schnelligkeit, mit der der Gangrel um die Ecke preschte.
Im Licht der Fackeln konnte er eine recht hochgewachsene Gestalt erkennen. Der Mann musste um die 25 sein.
Er verbeugte sich auf eine ihm unbekannte Weise. „Baldric la Salle ist mein Name.” Lucien merkte nun, warum ihm der Klang vertraut vorgekommen war: Die Muttersprache seines Gegenübers musste Französisch mit dem Dialekt des Languedoc sein. „Der Fürst schickt mich.“ Um welchen Fürst es sich wohl handeln musste, verschwieg er wie selbstverständlich.
Lucien besah sich den jungen Mann und nickte leicht belustigt. Ja, er war gewiss tot und in Wahrheit nur noch eine spazierengehende Leiche und dennoch, empfand er es als sehr angenehm und wohlig vertraut die Sprache seiner ursprünglichen Heimat wieder hören zu dürfen. Offenbar war er nicht der einzige Untote im Regiment des Kaisers. Es wunderte ihn im Grunde nicht weiter, wenn er an all die Magier und Werwölfe dachte mit denen der Fürst Umgang pflegte. Mit einer schwungvollen Bewegung versuchte sich der Gangrel ebenfalls an einer Verbeugung. „Lucien Sabatier, aber das dürfte euch schon bekannt sein. Es freut mich euch kennen zu lernen, Baldric. Ich nehme an, der Fürst verlangt nach meiner Anwesenheit?“ Obgleich er es ein wenig genoss ins Französische wechseln zu können, war es ihm wie üblich zuwider sich allzu lange mit Floskeln aufzuhalten. So kam er gleich auf den Punkt.
Ein Nicken war die Antwort. Der junge Mann machte einen Schritt nach hinten. Lucien schien es als wolle er einen Abstand zwischen sich und den Untoten bringen. Er redete in gleichmäßigem Tonfall weiter als schien es ihn nicht zu kümmern, ob irgendwo ein dritter möglicherweise mithören könnte. „Ja, es haben sich Dinge ergeben, die eine sofortige Besprechung nötig machen und Kaiser Friedrich will euch dabeihaben. Da ich wusste, wo ihr euch aufhaltet, habe ich mich bereit erklärt euch aufzusuchen.“
Die Augen des Gangrels verengten sich und er nickte langsam; jegliche Belustigung war aus seiner Miene gewichen. Was immer sich für neue Erkenntnisse oder Informationen aufgetan haben mochten, sie schienen derart wichtig zu sein, dass Friedrich die Kainiten zurate zog. Und nicht nur einen allein. Über die Tatsache, dass der junge Untote wohl gerne noch mehr Schritte zwischen sich und den Gangrel gebracht hätte, sah er rigoros hinweg. Stattdessen fragte er: „Auch wenn ich glaube die Antwort schon zu kennen aber – hat er näheres erwähnt, Baldric?“
Er schüttelte den Kopf. „Ich selbst konnte ihm die Nachricht bringen, also weiß ich Bescheid. Aber es würde zu lange dauern, jetzt alles zu berichten. Wenn ihr gewillt seid mir zu folgen werdet ihr bald über alles informiert sein.“
Lucien nickte behäbig. „Gewillt? Ich denke da wird uns beiden nichts anderes übrigbleiben. Am besten geht ihr voran. Ich bin dieser Nächte nicht immer im Bilde wo der Fürst seine Unterredungen abzuhalten wünscht. Das wechselt aus Sicherheitsgründen auch gerne mal öfter.“ Mit einem metallischen Schaben glitt der im Fackellicht glänzende Stahl wieder zurück in die Schwertscheide. „Beeindruckende Fähigkeit, die ihr da zur Schau stellt, nebenbei bemerkt mein lieber Baldric. Ihr bewegt euch buchstäblich lautlos. Wo habt ihr so etwas nur gelernt?“
Der junge Franzose wandte sich bereits zum Gehen, warf Lucien bei seiner Frage jedoch einen kurzen Blick zu. „Ich bevorzuge es, so wie ihr auch, nicht ganz so viel Aufmerksamkeit auf mich zu ziehen. In diesen dunklen Gängen ist man annähernd unsichtbar, wenn man nicht gefunden werden will und dabei nicht zu laut vorgeht.“ Er ließ Lucien den Vortritt. „Fürst Friedrich befindet sich in den blauen Gemächern zur Seeseite.“
Lucien legte den Kopf leicht schief und betrachtete die Brust des Burschen, die sich gemächlich hob und wieder senkte. Er glaubte auch Atemgeräusche zu vernehmen und insgesamt wirkte er sehr rosig und allzu lebendig. Demnach wohl kein Untoter sondern ein Ghul. Seis drum. Merkwürdig nur, dass er die Kunst beherrschte sich dermaßen geschickt und lautlos fortzubewegen. Der Gangrel war überzeugt davon, dass es sich vermutlich als äußerst spannend herausstellen würde seinen Domitor kennenzulernen. Aber das würde so oder so warten müssen, der Kaiser hatte Vorrang. „Ihr geht vor Baldric, ich bestehe darauf.“ Er vollführte eine einladende Geste. Ghul oder nicht, er kannte diesen Sterblichen nicht und auch wenn alles den Eindruck erweckte völlig korrekt vonstatten zu gehen, hatte er leidlich lernen müssen diesem trügerischen Gefühle der Ruhe und Naivität nicht zu vertrauen. „Ich werde euch kein Haar krümmen, wenn ihr mir keinen Anlass dazu gebt. Wir haben dem gleichen Mann die Treue geschworen“, fügte er knapp hinzu.
Der junge Mann schien einen Moment zu überlegen, ballte die Fäuste, um sie dann wieder zu öffnen. Die letzten Worte des Gangrels hatten ganz offensichtlich den Ausschlag gegeben, dass er tatsächlich vor Lucien her schritt. Allerdings war seine Haltung angespannt und kampfbereit. Nach wenigen hundert Metern merkte Lucien wie die Geräusche um ihn herum leiser wurden. Die Schritte der beiden Männer waren kaum noch zu vernehmen.
Sie gingen zunächst durch die dunklen, engen Gänge der weitläufigen Festungsanlage. Desto näher sie den Gemächern der regierenden Fürsten im Inneren kamen umso geschmückter und schöner war das Interieur. Weißer Marmor bedeckte den Boden, verzierte Säulen stützen eine lichte Decke, zwischen denen man vereinzelte Sterne aufblitzen sehen konnte. In keinem Palast in Europa war Lucien je solche Pracht begegnet.
Schließlich erreichten sie eine Tür, die Baldric nach kurzem Anklopfen öffnete. Der Raum dahinter war ausladend und mit allerhand Zierat versehen. Der Gangrel kannte diese Gemächer, handelte es sich doch um die Lieblingsräumlichkeiten des Kaisers.