Di 26. Dez 2017, 16:41
Das Feuer prasselte in einiger Entfernung beinahe friedlich im Kamin und erhellte das ehemals spartanisch eingerichtete Zimmer, dass sich im Laufe der Jahrzehnte mit allerlei mehr oder weniger wichtigem Tand gefüllt hatte. Nasse wollene Socken hingen an der Feuerstelle zum Trocknen, auf hölzernen Regalen reihten sich kleine Armeen von selbst geschnitzten Tierchen aneinander, die auf das Auslaufen der Arche Noah zu warten schienen und in einer großen Speisekammer duftete es nach eingelegten Früchten und geräucherten Würsten, für die, das wussten nur die wenigen Eingeweihten, der Bewohner des Hauses, eigentlich kaum Verwendung fand. Gemütliche, mittlerweile schon ein wenig abgewetzte Teppiche bildeten gemütliche farbige Flächen auf dem steinernen Fußboden und weiche Felle hatte jemand an den Wänden und über den Stühlen und auf der Bank ausgebreitet.
Lucien ließ das Schnitzmesser über das weiche Korbweidenholz fahren, glättete die Kanten und streckte sich in dem wohlig weichen Ledersessel. Es war gar nicht so leicht für einen Gangrel der dekadenten Bequemlichkeit dieses häuslichen Lebens zu widerstehen, fand er. Er konnte sich Mithru und Vanya nur allzu lebhaft vorstellen, wie sie ihn, den Schattenwolf, in dieser Nacht abfällig als verweichlichten ‚Kettenhund von Brügge‘ betiteln würden. Aber heute war heute und morgen war ein anderer Tag. Morgen mochte er sich erneut beweisen, wie hart das Leben da draußen sein konnte. Doch für heute…
„Wie ging die Geschichte denn nun weiter?“ Hendrik erinnerte ihn erneut mit bittender Stimme daran, dass er erst in der Mitte seiner Erzählung angekommen war, die er dem Jungen immer wieder aufs Neue zum Besten geben musste.
„So wie alle guten Geschichten weitergehen: Mit einer wilden Verfolgungsjagd durch die nächtlichen Wälder und einem Kampf auf Leben und Tod.“ Die Stimme des Hauptmanns war rau wie immer und passte perfekt zu der dämmrigen Umgebung des Zimmers. Er begann erneut zu schildern wie ein tapferer ehemaliger Räuber den Sohn des Kaisers vor den bösen Horden des größten Feindes Heiligen Römischen Reiches gerettet hatte, wie der Mann Seite an Seite mit einem Werwolf gekämpft hatte, einen mächtigen Magus getroffen und schließlich den Dank des Kaisers entgegen nehmen konnte. Die Schilderungen des seltsamen Tages, den der ehemalige Räuber, unvorstellbarerweise dank Magie unter der Sonne in den Reihen der Sterblichen verbringen konnte und die mehr als intimen Stunden mit dem unbekleideten, überaus attraktiven weiblichen Werwolf verschwieg er tunlichst vor dem neugierigen Knaben.
„Und was ist mit dem Prinzen passiert?“, holte ihn die Stimme Hendriks zurück aus seinen Gedanken. „Der wurde in einem fernen Königreich in Sicherheit gebracht und wuchs bei einem tapferen Fürsten auf, der ihn in allen Tugenden unterrichtete die für einen jungen Adeligen von Bedeutung sind…“ Lucien überlegte. „Wie man ein Schwert mit der gleichen Sicherheit führt wie einen Weinpokal oder eine Schreibfeder… oder dass die Hose passend zum Gewand und Mantel gewählt wird…“
Der Knabe lachte schallend bei der Vorstellung.
Der Hauptmann der Nachtwache quittierte das Lachen von Hendrik ebenfalls mit einem leicht süffisanten Grinsen, während seine Hand langsam streichelnd durch das braune Fell des Wolfs an seiner Seite glitt. Fenris hatte es sich nahe dem Kaminfeuer an der Seite seines Herrn gemütlich gemacht und ließ den Blick gelegentlich träge zwischen Lucien und Hendrik hin und her wandern. Wenn der Gangrel für seinen sterblichen Besuch den Kamin befeuerte und das saftige Fleisch mit dicker Bratensoße übergoss, dass es nur so zischte, fiel bisweilen auch immer etwas für ihn ab. Und da sein Herrchen sich nicht besonders viel aus Braten zu machen schien und Hendrik unmöglich solch riesige Portionen allein verdrücken konnte, gab es auch stets bei weitem mehr als nur abgenagte Knochen und die üblichen paar Reste, die bei einem Bankett dieser Art abfielen. Zufrieden grollend genoss er die prasselnde Wärme und das gelegentliche Knacken der säuberlich aufgestapelten Holzscheite.
Ein etwas zaghaftes Klopfen störte mit einem Mal die Ruhe. Jemand schien an der Haustür Einlass zu verlangen.
Interessiert und leicht argwöhnisch war es wiederum Fenris, der sich als erstes mit einem halb misstrauischen, halb neugierigen Grummeln bemerkbar machte und sich von seinem gemütlichen Lager erhob, um sich Richtung Eingangstür zu bewegen. Die spitzen Ohren richteten sich wachsam auf und der buschige Schweif verharrte in abwartender Position.
Lucien tat es dem Vierbeiner beinahe exakt gleich, obgleich er sich nicht dazu hinreißen ließ sofort und unverzüglich den bequemen Ledersessel zu verlassen. Ein paar zischende Tropfen Bratensoße verdunsteten im Kaminfeuer, bevor der Hauptmann sich dazu durchrang den Kopf ein Stück weit zu drehen. Seufzend hob er die Schultern und gleich dem Tier an seiner Seite, war ihm anzumerken, dass er sich empfindlich in seiner faulen und bequemen Ruhe gestört fühlte. Er winkte Fenris mit klarer und befehlsgewohnter Stimme heran und ließ ihn zu seinen Füßen Platz nehmen; hieß ihn dort zu verweilen. An das klopfende Geräusch an der Tür gewandt rief er mit lauter und durchdringender Stimme: „Ja? Wer begehrt Einlass zu so später Stunde?“ Ein Seitenblick ging in Richtung Hendrik. Noch war der Abend nicht dermaßen vorangeschritten, als dass Jean oder Marlene sich hätten Sorgen um den Knaben machen müssen.
„Konstantin, Meister Sabatier“, war eine undeutliche Stimme von draußen zu vernehmen. Der nächtliche Besucher wartete, bis man ihm die verriegelte Eingangspforte öffnete.
Draußen vor der Tür prasselte der heftige Regen vom schwarzen Himmel in die Aprilnacht herab und durchweichte alles und jeden: die schlammige Straße, die moosigen Strohdächer der umliegenden Stadthäuser und auch die verhüllte Gestalt, die vor seiner Tür wartete.
Die Person schlug die dicke, wollene Kapuze zurück, die sie vor dem Regen schützen sollte und Lucien erblickte graue Augen, die ihn fast etwas vorsichtig anblickten.
Er verbeugte sich zur Begrüßung. „Verzeiht, Meister Sabatier. Ich bin hier um Hendrik zu den Van de Burse zu bringen. Marlene hat noch im Anwesen ihrer Familie zu tun und Jean wird unerwarteterweise heute für den Nachtdienst benötigt. Ich soll die Kinder zu Marlene bringen.“ Er sah den Hauptmann an und etwas wie Neugier blitzte in seinen hellen Augen auf.
Lucien öffnete die schwere Eichentür einen Spalt und vergewisserte sich, dass die vertraute Stimme hinter der eisenverstärkten Konstruktion auch zu dem entsprechenden Gesicht passte, obgleich er nicht besonders viel Vorsicht walten ließ. Man mochte ihm Bequemlichkeit oder simple Torheit vorwerfen, aber in Zeiten wie diesen, war es eher unwahrscheinlich, dass ein Attentäter oder unbekannter Kainit sich unbemerkt in die Stadt schlich um ihn zu ermorden. Krieg lag in der Luft. Bürgerkrieg um genau zu sein und da sich die verschiedenen Fraktionen und Lager noch nicht vollständig formiert hatten, waren Reisen in Flandern derzeit für jedermann ein zweischneidiges Schwert. Niemand wusste, wer schlussendlich auf wessen Seite stehen würde. Der strömende Regen durchweichte den Boden und gleich nachdem der Hauptmann die Tür vollends aufgezogen hatte und das Gesicht des vertrauten Knaben erkannte, bat er Konstantin einzutreten. Hinter ihm wurde wieder die Verriegelung vorgeschoben, nachdem der Gangrel noch ein letztes Mal missmutig den strömenden Regen begutachtet hatte. „Ein ganz schönes Sauwetter da draußen. Setz dich, Junge, und wärm dich etwas auf. Es gibt Braten und ein wenig Rübeneintopf.“ Er wies Fenris streng an sich zu benehmen, während er Hendrik bedeutete noch einen hölzernen Teller und ein weiteres Besteck zu holen. „Ein unverhoffter Wachwechsel? Na ja, hoffentlich fallen nicht noch mehr Leute aus. Dieses feuchte Wetter kriecht den Männern in alle Glieder. Da können wir uns glücklich schätzen einen der besten Heiler des Landes in unserer Stadt zu wissen.“ Der Hauptmann nickte zwinkernd in Richtung Hendrik und nahm Konstantin den regendurchtränkten Mantel ab, um ihn nahe dem Feuer zum Trocknen aufzuhängen. In Richtung des Jüngeren meinte er nur entschuldigend die Schultern hebend: „Tja Hendrik, du hast es gehört. Sieht so aus als müsstest du bald fertig werden mit dem Braten. Deine Mutter wartet schon auf dich.“ Konstantin schenkte er großzügig aus einer Karaffe einen Schluck Wein ein. Dafür, dass er sich nichts aus sterblicher Nahrung machte, mimte er auf geradezu bemerkenswerte Weise den zuvorkommenden Gastgeber. Immerhin war er jemand, der zehrenden Hunger und Durst nur allzu gut kannte.
Der junge Mann wurde in die Stube geschoben und grinste Hendrik von oben herab zu. „Na, Kleiner?“
Der Junge verschränkte mit gespielter Kränkung die Arme vor der Brust. „Ich bin nicht klein!“
„Doch, bist du!“ Der Ältere fuhr ihm wie einem jungen Kind durch die Haare und Hendrik stieß ihm die Hand weg. Ganz offensichtlich ein Spiel, dass sie nicht selten zu spielen schienen, denn jeder kannte seine Rolle.
Der Hauptmann der Nachtwache ließ die Kinder ihre Späße und ihren Unfug treiben, gab es doch später einmal ohnehin nicht mehr besonders viel, dass einem die Tage und Nächte mit ausgelassener, ungezwungener Freude versüßte. Nicht das er seine Existenz verfluchte oder das sterbliche Dasein als niemals endenden Alptraum betrachtete, aber dennoch würden beide Jungen später einmal Verantwortung für ihre Stadt und ihre Gemeinschaft und Familien übernehmen müssen. Da waren Momente wie diese eher rar gesät.
Konstantin wehrte sich nur halbherzig als ihm Becher und Teller in die Hände gedrückt wurden. „Meister Sabatier... ich habe leider nicht viel Zeit...“ Er begann zu essen und Lucien erkannte, dass er sich nur mit Mühe beherrschen konnte nicht die ganze Schüssel in Windeseile zu verdrücken. Dieser Mann war Zeiten des Hungerns gewohnt, das war offensichtlich.
Umso zufriedener betrachtete Lucien den jungen Konstantin, der offenbar zwischen seinen Ausflügen von Gent nach Brügge und zurück nicht besonders viel zu beißen bekam. Er nahm nicht an, dass er bei Alida hungern müsste, demnach wurde wohl in Gent nicht besonders üppig mit sättigenden Speisen aufgewartet. „Iss nur“, meinte er ruhig und goss noch etwas Soße über den Braten. „Die paar Minuten wird Marlene auch noch warten können, ansonsten kannst du ihr ausrichten, ich habe darauf bestanden.“
Schweigend stopfte er Braten, Eintopf und Soße in sich hinein während Hendrik in raschen Worten die Geschichte wiederholte, die ihm soeben erzählt worden war. Lucien grinste selig, konnte er sich doch nicht eines gewissen Stolzes erwehren, auch wenn man diese Geschichte, um sie etwas schmackhafter zu machen, hie und da etwas dicker auftragen hatte müssen. Im Nachhinein klangen diese ‚Abenteuer‘ gerade für Kinder immer ganz besonders spannend, obwohl sie in der Realität dann nicht besonders ‚erfreulich‘ gewesen waren.
Ein erneutes Klopfen riss die zwei Männer und den Jungen aus ihrem Treiben. Dieses Mal war das Geräusch durchdringend, laut und fordernd. Jemand rief etwas und hämmerte erneut an die Pforte. Die Worte konnte Lucien nicht wirklich verstehen. Deutsch? Irgendetwas klang wie 'ein' und 'schnell'. Fenris knurrte bedrohlich und erhob sich um mit wachsam gesenktem Haupt Richtung Tür zu schreiten. Er fletschte die Zähne. Konstantin und Hendrik wechselten einen Blick und der Ältere ließ den Teller noch halbvoll auf ein Regal fallen. „Wir verschwinden durch die Hintertür!“ Seine Stimme war bestimmt, doch Hendrik sah Lucien an und ließ seine Hand zum Küchenmesser gleiten. Fragend blickte er den Gangrel an.
Als die Stimme mit dem eigentümlichen Dialekt gedämpft durch die eisenbeschlagene Tür hallte und Fenris zu knurren begann, fuhr Luciens Hand an sein Schwertheft. Kaum war das dumpfe Pochen an der Tür verklungen, da nickte der Hauptmann sowohl Hendrik als auch Konstantin bestätigend zu. Es bedurfte keiner weiteren Worte, denn der Ältere der beiden hatte gleich erkannt das möglicherweise Gefahr im Verzug war. Allein mit Blicken deutete Lucien Konstantin an, dass er sich um Hendrik kümmern sollte, während letztgenannter einen vielsagenden Blick bekam, der ihn dazu anhalten sollte das zu tun, was der Ältere ihm auftrug. Kaum waren die beiden Jungen durch die Hintertür verschwunden und Fenris mit ein paar Einhalt gebietenden Worten wieder ein Stück weit in Richtung Kamin verbannt worden, da öffnete der Gangrel das Tor hinaus zum strömenden Regen der unfreundlichen Aprilnacht. Er hatte ein paar Fetzen Deutsch vernommen. Und da er mit der fürstlichen Verwandtschaft von Lilliane nicht allzu viel zu tun hatte, drängte sich allmählich ein Verdacht auf, der tatsächlich auf Probleme hindeutete. Auf Latein sprach er rau nach draußen, während seine Augen den Besucher kritisch beäugten: „Und wer glaubt da, dass ihm so schnell geöffnet wird? Ich hoffe, ihr habt einen guten Grund so spät an meine Pforte zu hämmern.“
'Macht auf!“, gefolgt von einem heftigen Fluch, konnte der Hauptmann eine eher junge, männliche Stimme in deutsch vernehmen. Erneut folgte das laute Klopfen. Dann wechselte die Stimme in Latein. „Bitte, Meister Sabatier, öffnet.“ Er schien abgelenkt und hatte ganz offensichtlich Schwierigkeiten sich auf die fremde Sprache zu konzentrieren.
Lucien überdrehte die Augen. Es musste wie immer alles sofort und unverzüglich geschehen. Wenn er immer gleich jedem alten Mütterchen und besorgtem Bürger ohne Vorsicht und Verstand Tor und Tür eröffnen würde, so hätte er, wenn er auch nicht immer gleich einen Dolch in die Brust gestoßen bekäme, zumindest immer wieder einmal erhöhten Erklärungsbedarf gehabt. Oftmals hätte er den ‚Dienst am Bürger‘ aber auch einfach gerne hinten angestellt. Besonders dann, wenn er es sich gerade in angenehmer Gesellschaft an einem behaglichen Feuer bequem gemacht hatte. Aber wer fragte schon nach dem was er wollte? Seufzend riss er die Tür auf und ließ die Rechte blitzschnell wieder an sein Schwertheft fahren, bereit den kalten Stahl in jedem sich ihm entgegen werfenden Körper zu versenken. „Auf dann. Kommt herein, wer immer ihr seid. Niemand will sich im Regen unterhalten, wenn er nicht muss.“
Tatsächlich stieß sich ihm ein Körper entgegen und das mit einer Heftigkeit, die ihresgleichen suchte. Sein vermummtes Gegenüber war einer Panik nahe. Lucien hörte das Surren eines Pfeiles, der gleich neben seiner Tür einschlug und im Holz stecken blieb und das Geräusch von Stahl, der aus einer Schwertscheide gezogen wurde. In den Schatten der Nacht sprangen mehrere schwere Männer aus den Sätteln ihrer Pferde und das laute schlurfende Geräusch von schweren, durch Schlamm stapfenden Stiefeln kam näher.
Der Gangrel hörte eine fordernde Stimme auf Flandrisch. „Wir haben auf Geheiß unseres Herrn keinen Streit mit euch, Sabatier. Gebt den Spion heraus! Wir verfolgen ihn bereits seit Brüssel und wir haben es satt, dass er uns mit seinem heidnischen Teufelszauber immer wieder aufs Neue entkommt.“
Der Kopf des Hauptmanns fuhr reflexartig zurück als der dunkle Schaft des surrenden Pfeils krachend gegen seine Eingangstür knallte und dort zuckend stecken blieb. Er hatte in dem allgemeinen Durcheinander und ob der plötzlichen Überraschung keine wirkliche Zeit mehr sich kritisch davon zu überzeugen, wen er da eigentlich in seine Zuflucht einließ aber das Geräusch mehrere gerüsteter Soldaten und des leicht bellenden Brügger Akzents, ließ auf Wachleute der höchsten Obrigkeit schließen. Zumindest wollten ihn das die stapfenden Stiefel und die gezogenen Schwerter zwischen Tür und Angel weismachen. Allein die Erwähnung von ‚Brüssel‘, ließ seinen Verstand rotieren. Johanna die Wahnsinnige bereitete sich in Gent auf den Bürgerkrieg vor und Antwerpen war weit von Brügge entfernt. Die Tür einen Spalt offenlassend, lugte er in die feucht-neblige Dunkelheit hinaus und versuchte das Rüstgeschirr der Soldaten vor ihm auszumachen. Er musste wissen, in welchem Namen man hier eine derartige Hetzjagd veranstaltete, wenngleich auch der Ausdruck ‚heidnischer Teufelszauber‘ bereits auf einen ganz bestimmten Machthabenden hinzuweisen schien: Bischof Martin. Lucien brüllte in den prasselnden Regen: „Dafür das euer friedliebender Herr keinen Zwist mit mir haben will, spricht dieser Pfeil in meiner Tür mit Verlaub eine seltsam offensichtlich andere Sprache. Mir ist es gleich, wer ihr seid, oder wer euch schickt. Das hier ist Brügge. In Brügge gibt es eine eigene Gerichtsbarkeit, einen Stadtrat und Magistrat sowie einen eigenständigen Blutvogt und Gesetze. Solange ihr nicht von unserer Fürstin Johanna persönlich geschickt wurdet oder ein offizielles Schreiben mit Siegel und Zeichen jemandes bei euch trägt, dem ich zur Treue verpflichtet bin, werde ich diese Hetzjagd nicht unterstützen. Solltet ihr etwas Amtliches bei euch tragen, so wendet euch an den Stadtrat! Bis dahin ist die Rechtslage für mich nicht geklärt und was ihr hier veranstaltet ist in den Augen des Gesetzes versuchter Mord auf fremden Grund und Boden. Über die Strafe für versuchten Mord, muss ich die Herren wohl nicht gesondert aufklären oder etwa doch?“ Er wartete noch einen Augenblick ab, damit die Soldaten etwas erwidern konnten.
„Herr?“ Mittlerweile hatten sich drei vermummte Gestalten aus der Dunkelheit geschält, von denen zwei inne hielten und fragend den Dritten ansahen. „Stimmt, dass, was er sagt?
Auch der Dritte blieb stehen und sog tief und fast wütend die Luft ein. Er sah die kleine steinerne Eingangstreppe hinauf, an deren Ende Lucien den Verfolgten hinein gelassen hatte und zog die Kapuze zurück. Der Hauptmann erkannte die Züge des ehemaligen Schreibers.
„Wir sind im Auftrag des Bischofs von Brüssel hier. Wenn wir die Geistlichkeit von Brügge kontaktieren müssen, dann werden Fragen aufkommen, Sabatier! Fragen, die ihr nicht beantworten wollt. Das sollte euch klar sein... Gebt den Hexer raus! Dann habt ihr keinen Ärger und wir auch ein Problem weniger.“
Der Hauptmann erstarrte als der vermeintliche Anführer der Schergen des Bischofs die Kapuze zurückzog und das ihm nur allzu bekannte Gesicht von Hans, dem ehemaligen Schreiber, zum Vorschein kam. Der dienstbeflissene, eher introvertierte Junge mit dem verkrüppelten Bein war in jener grauenhaften Nacht, da Leif Thorson seiner Vergangenheit ins Auge hatte blicken müssen, die Nacht der Roten Hochzeit, in der, abgesehen von der Schlacht um Brügge, mehr unschuldiges Blut vergossen worden war als jemals zuvor, für den Mord an Lillianes Mündel Marie angeklagt und verurteilt worden. Die Anklage war jedoch fallen gelassen worden und Gerüchten zufolge hatte der Bischof von Brüssel höchstpersönlich interveniert um dem Schreiber das Leben zu retten. Seitdem hatte man im Grunde nichts mehr von ihm gehört, aber es war ein offenes Geheimnis gewesen, dass Martin nur allzu bereitwillig seine schützende Hand über den Jungen gehalten hatte. Hans hatte offenbar neue Verbündete und eine neue Aufgabe gefunden, welch Ironie. Weitaus bedenklicher und ärgerlicher war jedoch, dass der neue Speichellecker des Bischofs mit seinen Drohungen gar nicht so Unmögliches versprach. Sicher mochte es noch ein Weilchen dauern, bis er den örtlichen Geistlichen den ‚Wunsch‘ des Bischofs derart vermittelt hätte, bis diese sich sogleich energisch an den Stadtrat gewandt hätten. An und für sich hätte Lucien damit wertvolle Zeit gewonnen, aber mit den richtigen Einflüsterungen und Beschuldigungen an der richtigen Stelle, konnte selbst der nutzlose Schreiber Hans ihm im Namen seiner Eminenz das Leben schwermachen. Und das obwohl man sich stillschweigend bereits über mehrere Jahre hinweg auf eine Art ‚Waffenstillstand‘ geeinigt hatte. Fieberhaft überlegte der Gangrel. Was immer dieser Flüchtling bedeuten mochte oder wie wertvoll er für irgendjemanden auch war, in diesem Moment ging es für ihn im Grunde genommen ums Ganze. Sollte er dem Wunsch des Bischofs nicht nachkommen, riskierte er sein Ansehen und seine Stellung als Hauptmann zu verlieren. Nichts wäre einfacher als ihn als Monster und Häretiker zu brandmarken und bis an sein Ende zu jagen. Damit wäre alles, was er sich in all den Jahrzehnten in Brügge aufgebaut hatte zum Teufel. Wie er es schon Leif gegenüber gesagt hatte, war der Bischof schon von je her ein Damoklesschwert über ihrer aller Köpfe gewesen und Alida hatte er mehrfach zum Handeln gedrängt, obgleich es aussichtlos erschienen war. Er hasste es die Füße stillhalten zu müssen und nichts gegen einen übermächtigen Feind ausrichten zu können, der ganz nach Belieben mit ihren Existenzen spielen konnte. Es galt eine Entscheidung zu treffen. Weiterhin der brave Hauptmann bleiben und ein Leben in relativer Behaglichkeit und Sicherheit führen und sich auf den Früchten seiner blutigen Arbeit ausruhen oder abermals ein schier endloses Dasein als flüchtender Vagabund führen. Lucien Sabatier war zu stolz als das er jemandem wie Bischof Martin den Hintern abwischen wollte, ganz egal wer dieser Flüchtling sein mochte. Es ging ums Prinzip.
Die dunkle Stimme des Hauptmanns fegte durch den kühlen Aprilregen. „Ich beglückwünsche dich zu deiner neuen Stellung Hans. Es freut mich, dass du Absolution erhalten hast und dein ganzes Wirken und Streben nun unserer Mutter Kirche und unserem Herrn gilt.“ Er pausierte kurz. „Aber auch wenn ich nur zurückgeben kann, dass ich keinen Zwist mit deinem neuen Herrn vom Zaun brechen möchte, so widerstrebt es mir aufs Äußerste deinem Wunsch nachzukommen. Deine Drohungen machen es da leider auch nicht besser, mein lieber Hans. Und wenn du denkst, du kannst mich mit der Macht des Bischofs, denn das sei dir gesagt: es ist nicht deine Macht, Hans, einschüchtern, so liegst du bedauerlicherweise falsch. Tu was du tun musst, Hans, dasselbe werde ich tun. Aber richte deinem Herrn aus, dass wenn er den Konflikt mit mir sucht, er ihn bekommen kann. Er soll es sich gut überlegen, denn auch wenn ich kein Würdenträger bin, habe ich einen sehr langen Atem.“ Er wollte die Tür schon schließen, fügte dann aber noch rasch hinzu: „Wende dich an den Stadtrat oder unseren Bischof, Schreiberling. Denn ich schwöre dir: Wer immer mein Haus ungefragt betritt, den schicke ich augenblicklich zur Hölle.“
Dann schlug er die Tür zu, sperrte ab und schob den schweren Riegel vor. Wenn Hans und der Bischof Krieg haben wollten und es sich nicht mehr vermeiden ließ, dann sollte es wohl so sein. Es war ohnehin nur eine Frage der Zeit gewesen und er war sich sicher, auch in Brügge ein paar Verbündete zu haben. Hastig drehte er sich zu dem Flüchtigen um. „Ich hoffe, ihr seid das hier alles wert. Ich habe gerade einen Krieg mit der Kirche für euch vom Zaun gebrochen obgleich ich zugebe, dass es früher oder später ohnehin passiert wäre. Also… wer seid ihr?“
Der Eindringling war für Lucien im ersten Moment nicht zu sehen. Draußen waren die lauten Flüche der Verfolger zu hören und die Stimme von Hans. „Das werdet ihr bereuen!“
Die Augen des Gangrel spähten misstrauisch durch das Zimmer, dann erblickte er mit einem Male die Gestalt, die auf der Bank in der Nähe des Kaminfeuers fast als wäre er ohnmächtig geworden zusammen gesunken war.
Die Kapuze war zurück geschlagen und ein vom Fieberschweiß und Regen nasses Gesicht war zu erkennen. Der blonde Mann atmete schwer und blickte ihn von unten mit glänzenden Augen an.
Das wahrscheinlich sonst so vertraute Latein ging ihm schwer von der Zunge und er musste immer wieder zwischen drin inne halten um nach Luft zu ringen. „Habt Dank, Meister Sabatier. Ich... wusste nicht, wohin ich sonst gehen sollte. Die Grenze nach Deutschland... sie wurde zu gut bewacht und es gab kein Durchkommen. Sie waren mir immer auf den Fersen, diese...“ Ein Fluch in Deutsch folgte. Die Finger des Zauberlehrlings gingen zu seiner linken Seite. Ganz offensichtlich war er verwundet.
Der Hauptmann besah sich mit einiger Überraschung den Flüchtling und für den Bruchteil einer Sekunde war so etwas wie der Anflug von Reue auf seinen Zügen zu bemerken. Er hatte gerade einem der derzeit mächtigsten, sterblichen Würdenträger seines Landes und der Domäne Brügge den Stinkefinger gezeigt und ihm mehr oder weniger hochoffiziell den Fehdehandschuh hingeworfen. Einem Würdenträger, der nicht nur mächtig und vermögend, sondern zudem auch bestens informiert über die Welt hinter dem Vorhang und insbesondere seiner Wenigkeit war. Hans mochte zwar ein Schmierenkomödiant und Hintern küssender Günstling sein, aber er würde recht behalten: Das hier würde der schicke Hauptmann der Brügger Nachtwache definitiv noch auf die eine oder andere Art schwer bereuen. Und für wen das Ganze? Für Helmut, den tollpatschigen Aspiranten eines mächtigen, deutschen Erzmagiers. Lucien verkniff sich ein Überrollen der Augen. Vielleicht standen seine Karten ja doch gar nicht so schlecht und sagte nicht schon die heilige Lilliane von Erzhausen in ihrer Segnungsschrift, dass alle Leben gleich viel wert waren? Immerhin konnte sich hier keiner über eine Selektion seinerseits beschweren.
Einen Moment lang verharrte Lucien noch an der Tür und lauschte nach draußen in den schweren Regen, ob nicht doch ein Tölpel einen Alleingang versuchen würde. Als er sich schlussendlich vergewissert hatte, dass ihnen zumindest in den nächsten Minuten nicht der Kopf von den Schultern geschlagen werden würde, ließ er Fenris Wache halten und beugte sich zu dem Jungen hinunter. „Helmut, der Zauberlehrling... Von allen möglichen Flüchtlingen mit deutscher Herkunft hätte ich dich hier am wenigsten erwartet.“ Der Hauptmann schüttelte den Kopf und besah sich die Wunden des Knaben, während er weitersprach. „Offenbar stimmt es also: Die Deutschen sammeln ihre Heere an der Grenze zu Flandern. Wenigstens damit hatte Johanna nicht Unrecht. Es wundert mich, dass du es dann überhaupt über die Grenze geschafft hast, doch stellt sich mir zudem natürlich die brennende Frage: wieso? Meister Aleister wird dich nicht ohne Grund quer durch alle möglichen Heerlager geschickt haben. Und warum verfolgt dich ein Trupp Soldaten der Privatarmee des Brüsseler Bischofs? Hast du am Ende gar bei hellstem Tageslicht gezaubert, Junge?“