Mi 27. Feb 2019, 23:26
Dumpf hallte ihre Hand auf dem schweren Eichenholz wider. Erst einmal, dann ein zweites und sogar ein drittes Mal. Nichts regte sich. Eine Weile wartete sie so gefangen in der Ungewissheit, ob ihre bürgerliche Kleidung für diese wohlhabende Familie aus Kaufleuten überhaupt vertretbar wäre oder ob man sie ohnehin bereits aus einem kleinen Fenstergiebel aus beobachtet und für unwürdig befunden hätte. Gerade als sie schon mit dem Gedanken spielte, vielleicht habe sie am Ende doch noch das falsche Haus erwischt, wurde von innen ein schwerer Riegel zurückgeschoben und mit einem schweren Knarren und Rucken, die Eingangspforte aufgezogen. Aus dem in Kerzenschein getauchten Spalt zwischen Straße und Haus, überflogen die kritischen Augen einer mürrisch dreinblickenden Frau mittleren Alters die Erscheinung Louisas. Sie trug ein recht züchtiges Häubchen und wirkte aus irgendeinem Grunde sehr geschäftig; mehr bei ganz anderen Gedanken und Problemen als dem plötzlichen Gast an der Pforte. „Wer begehrt Einlass zu so später Stunde?“, fragte sie in misstrauischem Tonfall. Ihre Augen wanderten erneut über Louisa. „Ich glaube nicht, dass ich euch schon einmal gesehen habe Fräulein.“ Dem Schnitt, den Farben und der Machart ihrer Kleidung zu urteilen, handelte es sich um eine offensichtliche Dienerin des Hauses van Hauten. Ob ihres Alters, konnte man annehmen, das sie wohl auch schon etwas länger in den Diensten der Familie stand.
Ihre Ungeduld war schwer zu bezähmen, doch Louisa wusste, dass sie gar keine andere Möglichkeit hatte. Also wartete sie in wachsender Unruhe, sich immer wieder umsehend. Sie hatte das ungute Gefühl, jeder Moment länger auf der Straße würde die Gefahr erhöhen, dass ein hiesiger Kainit ihrer gewahr wurde und sie zur Rede stellte, vielleicht gar angriff. Entsprechend erleichtert fiel ihr Seufzer aus, als endlich Geräusche hinter der Tür zu hören waren. Sie musterte die Frau ihrerseits, schätzte deren Äußeres und die Art ein, wie sie sich gab. Da es ihr weder geraten schien, Aufsehen zu erregen, noch, van Hauten zu brüskieren, beschloss sie sich zu benehmen, machte einen kleinen Knicks vor der Fremden und schenkte ihr ein gewinnendes Lächeln. "Bitte entschuldigt die Störung zu solcher Stunde, mijn dame! Ich habe eine dringende Botschaft an Herrn Jan van Hauten zu überbringen und bitt' Euch schön, ihn zu fragen, ob er so gnädig ist, mich anzuhören. Mir wurde aufgetragen, sie ihm persönlich zu sagen, bitte um Entschuldigung, mijvrouw." Ihre Stimme war leise, bescheiden, wie gegenüber einer Höhergestellten, und sie vergaß auch nicht, die Augen züchtig niederzuschlagen, nachdem sie höflich um Einlass gebeten hatte. Noch blieb der Ring verborgen, hoffte sie mit ihrem Charme das erste Hindernis zu nehmen.
Das züchtige Benehmen der blonden Frau schien die Dienerin milde zu stimmen. Nichtsdestotrotz schnalzte sie maßregelnd mit der Zunge. „Tse, tse, tse, Kind… Habt ihr auf die Kirchturmuhr geschaut? Es ist bereits elfe vorbei.“ Sie schüttelte den Kopf. „Kommt morgen früh wieder.“
Die Brujah war sich nicht zu schade, ein wenig zu schauspielern. "Ach, bitte, könnt Ihr nicht fragen, ob es doch möglich wäre? Die Botschaft ist dringend – ich weiß ja, es ist sehr spät, doch ich darf nicht zögern, wenn mein Herr es doch befohlen hat! Mijvrouw... auf Euch wird der gnädige Herr doch gewiss hören" schmeichelte sie und gab sich zugleich den Anschein, furchtsam zu sein. "Ich werde bestraft, wenn ich ihm nicht ausrichte, was mir aufgetragen wurde. Habt doch Mitleid!" Sie faltete sogar bittend die Hände. Gleichzeitig ließ sie unsichtbare Kräfte auf die Bedienstete einwirken. Kräfte, die aus ihrem dunklen Erbe entsprangen und von denen sie selbst kaum wusste, wie sie wirkten. Es geschah halb unterbewusst, als sie versuchte, mit ihrem flehenden Blick das Herz der Frau zu erweichen. Sie aktivierte Präsenz.
„Ach, Kindchen…“ Der misstrauische Ausdruck verschwand von ihren Zügen und freundliches Wohlwollen nahmen deren Platz ein. Die Dienerin kam einen Schritt auf Louisa zu und legte ihr mütterlich den Arm um die Schulter. „Es muss ja wirklich eine wichtige Nachricht sein, dass man euch so mitten in der Nacht durch die Stadt jagt. Und dann noch ganz allein, so ein junges Mädchen, wie ihr es seid… Kommt doch herein.“ Sie zog Louisa ins warme Innere des Anwesens und schloss leise die Tür hinter sich. „Die Herrschaften befinden sich gerade in einer wichtigen Besprechung. Ich werde den jungen Herrn sogleich fragen, ob er euch im Anschluss empfangen kann. Ich bin mir sicher, ich kann ein gutes Wort für euch einlegen, Kindchen. Folgt mir doch.“
Louisa unterdrückte ein zufriedenes Grinsen, während sie sich beeilte, hineinzuschlüpfen. Vielmehr ließ sie noch einen Knicks folgen und versicherte: "Habt, vielen, vielen Dank, mijvrouw! Ich werd' auch gewiss nicht stören und will warten, wo Ihr es mir sagt." Den Ring verbarg sie, indem sie die Hände in einer sittsamen Geste halb unter ihre Schürze gleiten ließ. Der Dienerin wurde ein strahlendes Lächeln zuteil. Wer konnte schon wissen, wozu man ihre Gunst womöglich noch einmal brauchen würde?
Louisa wurde in einen schmalen, spärlich eingerichteten Vorraum geführt und geheißen auf einer harten Holzbank Platz zu nehmen. Die Dienerin verschwand einen Moment hinter dicken Eichentüren, die den nächsten Raum abtrennten, und kam einige Atemzüge später wieder heraus. Sie wirkte blass und versuchte ihre wahrscheinlich stets vorhandene Beherrschung weiterhin aufrecht zu halten.
„Wartet bis die Besprechung beendet ist. Dann mögt ihr eintreten, lässt der Herr van Hauten ausrichten.“ Sie nestelte an den Rüschen ihrer Haube, wandte sich dann wieder Louisa zu. „Ich wünsche euch einen guten Abend, mein Kind. Wenn euch später noch nach einem Glas warmer Milch mit Honig ist, dann sucht mich in der Küche auf. Es ist auch noch was vom abendlichen Braten übrig… “ Sie nickte mit einem wohlwollenden Lächeln und kehrte dann zurück in einen anderen Teil des Gebäudes um dort zu beaufsichtigen, anzuordnen und weiterhin die Kontrolle über die Belange des Haushaltes zu behalten.
Louisa konnte von drinnen erhitzte Stimmen hören, die miteinander disputierten. Die Türen waren so dick, dass das Gehör von normalen Sterblichen nicht in der Lage wäre, auch nur einen Satz zu vernehmen. Ihre geschärften Sinne jedoch ermöglichten vieles…
Folgsam, wie man es von einer einfachen Magd erwarten durfte, setzte sie sich auf die Bank und lispelte noch ein leises Dankeschön. Sie sah der Frau neugierig nach und versuchte zu lauschen, sah aber bei ihrer Rückkehr wieder bescheiden zu Boden und gab vor, nichts von der Blässe der anderen zu bemerken. "Das werde ich. Habt nochmals Dank, mijvrouw" nickte sie. Auch das Angebot erwiderte sie mit einem dankbaren Lächeln, als sei sie geschmeichelt – auch wenn ihr natürlich weder nach Milch noch nach einem Braten der Sinn stand. Kaum war die Dienerin aber verschwunden, spitzte sie die Ohren und lauschte sehr angestrengt. Sie runzelte die Stirn und beugte sich im Sitzen immer weiter vor, doch sie konnte nichts unterscheiden. Ärgerlich biss sie sich auf die Lippen.
Die große Tür aus dunklem Eichenholz wurde nach wohl 15 Minuten geöffnet und drei stämmige Männer mittleren Alters schritten hindurch. Sie schienen über irgendetwas aufgebracht… vielleicht eine Meinungsverschiedenheit mit demjenigen, der sich noch im Inneren des Zimmers befand? Einer beäugte die vermeintliche Magd, die still wartete, misstrauisch, reckte das Kinn dann jedoch ein wenig höher und holte erneut zu den anderen beiden auf. Zwei ältere Männer sowie eine Frau von wohl 30 Jahren folgten. Auch sie warfen der blonden Frau nur ein paar kurze Blicke zu. Was immer die ‚Magd‘ eines fremden Arbeitgebers hier zu suchen hatte, es gehörte definitiv nicht zu ihrem Belang sich darum zu kümmern.
Das feine Gehör Louisas konnte das leise Flüstern des einen Alten hören: „Jan mag vielleicht recht haben, aber es ist ein ordentlicher Batzen Geld, der uns damit entgeht. Ein Jammer. Und die Van de Burse haben wahrlich genug davon.“
Die Frau erwiderte ebenso leise um ‚fremden Ohren‘ zu entgehen. „Großvater Willem, Gott hab ihn selig, hat immer gesagt: Mach bei tags nur Geschäfte, bei denen du nachts ruhig schlafen kannst. Damit sind wir doch immer recht gut gefahren…“
Die Personen verließen den Raum und Stille kehrte ein.
Louisa vernahm das Geräusch der Dienerschaft, die, wahrscheinlich in der Küche, alles für das morgige Frühmahl zubereitete. Geschirr klapperte irgendwo. Das feine Tippen von Pfoten verriet die Mäuse, die über ihr auch in diesem Haus ein und aus gingen. Vom Raum nebenan war das Kratzen von Feder auf Tinte zu hören.
Sie sah den Unbekannten unauffällig nach. Dann wanderte ihr Blick zu der Tür. Forschend musterte sie die Schwelle. Dann stand sie auf, dachte nach einem kurzen Moment daran, sich weiterhin den Anschein der bescheidenen Dienerin zu geben – man mochte sie ja noch immer beobachten – und ging dann, wie sie geheißen worden war. Immer auf das Kratzen der Feder horchend, näherte sie sich, bis sie im Durchgang stand. Leise räusperte sie sich. "Mijnheer van Hauten..?" Sie entsprach ihrer Rolle nach wie vor: leise, zögerlich klangen ihre Worte. Den forschenden, schnellen und vorsichtigen Rundumblick verbarg sie unter ihren langen Wimpern und indem sie wiederum rasch zu Boden schaute.
Bei dem Raum handelte es sich um ein großes, edel eingerichtetes Besprechungszimmer. An dessen anderem Ende loderte ein Feuer in einem großen Kamin, das das Zimmer in warmes, gelbes Licht tauchte. Kerzen brannten in zwei großen Kronleuchtern und beleuchteten eine lange Tafel und die teuren dazugehörigen, mit Leder bezogenen Lehnstühle. Gobelins und weiche Teppiche dämpften das Geräusch ihrer Schritte leicht.
Auf einem der Stühle saß eine vornübergebeugte Gestalt und ließ die Feder mit raschem Schwung über ein Dokument sausen. Sie sah nicht auf, warf dann Schreibsand über das Pergament, schob es zur Seite und erhob sich.
Der jung aussehende Mann war von imposanter, hünenhafter Statur und überragte Louisa sicherlich um fast zwei Haupteslängen. Er war breitschultrig, trug ein einfaches braunes Gewand und erinnerte in diesem Moment eher an einen kräftig zupackenden Schmied als an einen bürgerlichen Kaufmann aus einem Patrizierhaushalt. Der kurze Bart und das Haar waren ordentlich gestutzt. Er musterte sie einen Moment, zunächst skeptisch, dann interessiert und verbeugte sich schließlich vor ihr. Die Stimme des Mannes war so tief wie man es bei seiner Statur erwartete. „Ihr habt darum gebeten mich zu sprechen? Was kann ich für euch tun?“
Vor dem Feuer, so angenehm das Licht war, schreckte die Kainitin zunächst zurück. Auch als sie sich wieder unter Kontrolle über sich erlangt hatte, hielt sie einen respektvollen Abstand von den züngelnden Flammen, die untotes Fleisch so leicht versengen konnten. Den Mann musterte sie ihrerseits mit Interesse und, ihre Rolle vergessend, recht keck für eine "Magd". Seine Statur gefiel ihr offenkundig, wie ihr Blick über die wuchtigen Formen wanderte. Doch nach einigen Atemzügen löste sie sich von dem Anblick und erwiderte seinen Blick. "Ich komme von weit her, Mijnheer" begann sie vorsichtig. "Und ich brauche wirklich Eure Hilfe, denn ich bin fremd hier." Ihr Blick huschte kurz zur Tür. Dann fuhr sie fort: "Ein Mann nahm sich meiner an, als ich in Not war. Er empfahl mir, mich an Euch zu wenden und um Eure Hilfe zu bitten. Er gab mir dies hier..." Sie holte die Hand unter der Schürze hervor und hielt den Ring ins Licht.
Die Augenbrauen des Mannes verengten sich fragend und er trat ein paar Schritte näher an sie heran. Mit einem Blick, der um Erlaubnis zu bitten schien, nahm er ihr das Kleinod aus der Hand und hielt es gegen das Licht um es näher zu betrachten. Sie konnte einen Ring von ebensolcher Machart an seiner linken Hand ausmachen. „Das ist der Ring meines… von Arjen van Hauten. Woher habt ihr ihn?“ Die Frage, das konnte Louisa am Klang der Stimme erkennen, war eher rhetorischer Natur.
"Aus seiner eigenen Hand." Sie wirkte nun selbstbewusster, nachdem sie aus ihrer angenommenen Rolle gefallen war. Oder eher: kecker. Herausfordernd beinahe. Eine Mischung aus Nervosität und trotziger Selbstbehauptung in einer Welt, in der sie schon oft hatte lernen müssen, wie wenig eine junge Frau vielen galt. Es kostete sie sichtlich einige Überwindung, zuzugeben: "Ich käme nicht zu Euch, wenn ich andere Möglichkeiten hätte, Freunde oder Verwandte. Aber die habe ich nicht. Ich weiß nicht, wohin, kann aber auch nicht zurück dahin, wo ich herkomme." Ihre schlanken Finger gruben sich in ihre Röcke, zerrten an dem Stoff, ehe sie sich auch noch abrang: "Ich kann Euch auch wenig bieten, um mich erkenntlich zu zeigen. Also... bitte ich Euch: Nehmt Euch meiner an, Mijnheer van Hauten."
Er ließ den Rin mehrmals abwägend in seiner Hand hin- und herwandern. Schließlich schloß er sie etwas zu heftig als hätte ihn etwas erzürnt und schob das Schmuckstück in seine Tasche. „Ihr mögt mir bitte gestatten den Ring zu behalten. Ein Van Hauten legt diesen Ring nicht ab. Das ist ein Gebot in dieser Familie. Ich werde ihn daran erinnern, wenn ich ihn das nächste Mal sehe, wenn ihr erlaubt.“ Er knirschte mit den Zähnen, trat dann mit mehreren großen Schritten zu der Eichentür, die noch immer geöffnet stand und verschloß sie nach einem aufmerksamen Blick nach rechts und links mit weit ausgebreiteten Armen. Dann kam er erneut auf sie zu. „Mein Name ist Jan van Hauten. Arjen van Hauten hat mir vor einigen Monaten geschrieben. Er berichtete mir von jemandem, der Unterstützung, eine Zuflucht, benötigen würde. Er beendete seinen Brief mit der Bemerkung, dass er nicht wüsste, ob die Dame tatsächlich die Hilfe anzunehmen gedenke, weil er sie nicht mehr angetroffen hätte.“ Er sah sie genau an, schien sie zu mustern. „Nun denn. Ihr seid hier. Das ist es, worauf es ankommt.“ Er deutete zu einer Sitzgruppe, die in einer Ecke stand. „Nehmt doch Platz, wenn es euch beliebt.“ Er selbst ließ sich in eines der Polster fallen. Das Gewicht des hünenhaften Mannes ließ das Holz knarren.
Mit Zorn kannte sie sich bestens aus, oh ja! Er schummerte immer und ewig in ihrem Blut. Darum machte sie auch eine rasche Handbewegung und sagte: "Wenn es für Euch etwas bedeutet, dann möchte ich für ihn bitten: Er hat mir nur helfen wollen!" es lag ein wenig mehr Heftigkeit in den letzten Worten, als sie wohl beabsichtigt hatte. Daher hielt sie kurz inne, verfluchte innerlich die Schwäche ihrer Blutlinie und senkte den Blick. "Er hat Euch einen Brief geschrieben?!" Das schien sie dann doch zu überraschen. Dennoch setzte sie sich auf seine Worte hin, wenn sie auch in einer vorsichtigen Pose wie ein misstrauisches Tier auf der Kante des Stuhls sitzen blieb. Sie sah sich um, die vielfachen Anzeichen von Reichtum mit einer Mischung aus Neid und Bedauern in sich aufnehmend. Schließlich meinte sie, an ihre eigenen Worte anschließend: "Ich bin sicher, er hätte mir den Ring nicht gegeben, wenn er eine andere Möglichkeit gehabt hätte, sicherzugehen, dass ich mich vor Euch ausweisen könnte." Ihr Blick hatte einen fragenden Ausdruck. Sein... was hatte van Hauten sagen wollen? Sein Zögling? Sein Kind? Sie konnte nicht ganz verbergen, dass sie ein ungutes Gefühl bei dem Gedanken hatte, es mit einem jener Alten zu tun zu haben, vor denen sie geflohen war.
Der Mann, der sich als Jan van Hauten vorgestellt hatte, schüttelte bei ihren Worten den Kopf. „Es ehrt euch, dass ihr für ihn sprecht. Aber ich bin mir sicher, er hätte euch den Ring auch dann gegeben. Das ist seine Art, wenn man so will.“ Er unterdrückte offensichtlich ein Seufzen. Wieder musterte er sie. „Euer Name ist Louisa, wenn ich mich recht entsinne? Aus der Familie der Gelehrten?“
Sie öffnete den Mund, um zu widersprechen, ließ es aber dann doch sein. Weniger aus Angst denn aus der Einsicht heraus, dass der Mann vermutlich sogar recht hatte. Arjen van Hauten hatte nicht den Eindruck gemacht, als sei er ein vernünftiger Mann, wenn es um Leidenschaften ging. Und genau das hatte sie anziehend gefunden: den Gegensatz zu ihrem Meister, der stets und unermüdlich die Vernunft predigte, dem Intellekt huldigte, dem Wissen und der Selbstbeherrschung. "Ja, so heiße ich: Lousia Vandevoort. Und der mir den Kuss gab, gehört diesem Clan an." Sie hielt inne, neugierig, ob er auf die deutliche Distanzierung reagierte. Denn sie wollte nicht gelehrt sein, nicht den Geist vor das Fleisch stellen, nicht vernünftig handeln! Sie wollte genießen, erleben, erfahren! Aber ob ein Alter das verstand..? "Ich will ehrlich sein: Vielleicht ist es nicht ungefährlich, mir zu helfen. Ich... bin ohne sein Einverständnis gegangen." Sie zögerte nochmals, dann brach es aus ihr hervor: "Ich wollte frei sein! Frei, versteht Ihr? Ich will niemandem im Wege sein, nur tun dürfen, was mir gefällt!"
Jan van Hauten ließ einige Sekunden verstrichen. „Jede Nacht birgt für uns die ein oder andere Gefahr, oder? Einige Kainiten in dieser Stadt halten sich hier auf, weil es woanders für sie zu gefährlich sein mag. Wie wohl viele andere Kainskinder in anderen Städten.“ Er nickte. „Und Freiheit, da würde euch mein Erzeuger, ein Kind der Könige“, fügte er mit einem winzigen Schmunzeln hinzu, „sicher recht geben, ist mit der Fähigkeit für sein Tun Verantwortung zu übernehmen, die wichtigsten Werte, die einem Mann oder einer Frau zu eigen sein sollten. Sofern ich ihn recht zitiere…“
Sie war merklich überrascht von seiner freundlichen Antwort, sah ihn unsicher an. Dann nickte sie. "Ja... ja, da habt Ihr wohl recht. Ihr wollt mir also helfen?" Mit einem schiefen Lächeln wies sie auf ihre einfachen Kleider. "Ich habe nicht einmal großen Besitz, um mich zu bedanken. Nichts, das ich Euch geben könnte." Ihr schien ein plötzlicher Gedanke zu kommen, und obwohl sie ihre Chancen damit verringern mochte, fügte sie scharf hinzu: "Auch mich selbst nicht! Selbst wenn ich..." Hier stockte sie. Wusste ihr Gegenüber mehr über sie, als sie ahnen konnte? Hatte man ihm schon berichtet, dass er einer Frau Einlass gewährt hatte, die lange nicht viel mehr als eine gewöhnliche Straßendirne gewesen war?