Sa 21. Mär 2020, 21:46
Die Gebäude um sie herum wirkten allesamt schon eine gute Weile lang verlassen und dementsprechend verfallen und ungepflegt. Selbst in dieser kalten Winternacht zeichnete das fahle Mondlicht ein Bild von marodem Mauerwerk und morschen, an rostigen Angeln hängenden Holztüren, welche allmählich von der Natur zurückgefordert wurden. Die Dächer der meisten Barracken, anders konnte man sie nicht mehr bezeichnen, waren zumeist eingefallen oder löchrig. Der übernatürliche Sturm hatte sich kurzerhand in ein laues Lüftchen verwandelt und war nun, da sie sich in dieser trügerisch stillen Winteridylle genauer umsah, vollends verklungen. Mit ihren geschärften Sinnen war es ihr ein leichtes das trostlose etwas von einem Dorf vor ihr genauer in Augenschein zu nehmen. Hie und da entdeckte sie alte, eingetrocknete Blutflecke auf Stellen am Boden, die nicht vollkommen vom Schnee bedeckt waren. Ein Blick zu den Häusern in der Nähe der alten Kirche offenbarte zudem vereinzelt, tiefe Risse in Wänden und Türbögen, wie von Klingen oder Klauen. Irgendetwas stimmte an diesem Dorf tatsächlich ganz und gar nicht und je näher sie sich auf die Kirche zubewegte desto intensiver wurde ein faulig-süßlicher Geruch der aus dem Inneren zu kommen schien. Einem Sterblichen wäre er gar nicht aufgefallen, so dezent entfaltete sich das Aroma selbst unter Einsatz ihrer kainitischen Disziplinen. Alida hatte zudem das beklemmende Gefühl beobachtet zu werden. Magische Schutzsiegel wie man sie von den Tremere oder anderen Geschichten und Erzählungen her kannte, konnte sie jedoch nicht entdecken. Es wäre ihr aber auch denkbar schwer gefallen irgendetwas Derartiges eindeutig identifizieren zu können. Dazu fehlte ihr schlichtweg die Expertise.
Ganz offensichtlich war dieser Ort in keinster Weise sicher vor den Wolflingen. Alida schlussfolgerte, dass sie hier gewesen sein mussten. Wie sonst würden sich die Klauenspuren und das Blut erklären lassen? Alida zog ihr Schwert und ging vorsichtig auf die Gebäude zu. Sie fixierte die Kirche. Das Gefühl beobachtet zu werden jagte ihr einen eisigen Schauer den Rücken hinunter.
Es konnte sich bei näherer Betrachtung tatsächlich wohl nur um Klauenspuren handeln. Die ausgefransten Ränder an den morschen Balken und Türen waren zu zerborsten und gesplittert als das eine gerade geschliffene Klinge sie getroffen haben konnte. Offenkundig hatte hier vor langer Zeit wohl einmal ein Kampf stattgefunden. Die Häuser vor ihr waren früher einmal sicher recht ansehnlich gewesen. Solider Stein, gutes Holz, robuste Bauart. Wenig prunkvoll dafür praktikabel und zusätzlich mit mittlerweile schimmligen Stroh zur Isolierung ausgekleidet. Bei einigen standen die Fensterläden offen oder hingen lose and den Fenstern, bei anderen waren sie geschlossen. Manche Türen waren zerborsten oder durchlöchert, andere waren noch intakt. In der Schwärze hinter den Fenstern konnte Alida nichts ausmachen. Doch hinter einem der breit gemauerten Schornsteine, auf den Dächern eines besonders ausladenden Hauses, erspähte sie eine knappe Bewegung. Was immer sich dort duckte, war nicht viel breiter oder höher als der Schornstein selbst.
Alida versuchte sich nicht anmerken zu lassen, dass sie etwas gesehen hatte. Wer immer dort oben saß… ein Wolfling mochte es wohl nicht sein. Sie versuchte sich grob zu orientieren und überlegte, ob es wohl eine Möglichkeit geben konnte, ihren Beobachter selbst zu überraschen. Vorsichtig ging sie näher.
Was immer sich dort verstecken mochte, Alida wurde aufgrund der merkwürdig-klickenden Geräusche, die ihr Beobachter mit seinen Bewegungen auf dem Dach verursachte, unmittelbar bewusst, dass es sich unmöglich um einen Menschen oder ein gewöhnliches Tier handeln konnte. So vorsichtig sie sich dem Haus näherte, so vorsichtig lugte gleichsam etwas hinter dem Schornstein hervor, das sie zum letzten Mal wohl in der Kellerbehausung ihrer Verwandtschaft vermutet hätte. Es handelte sich um nichts Geringeres als einen umgedrehten, menschlichen Kopf, an den jemand spinnenartige Beine angebracht haben musste, die sich auch genauso wie eben jene verhielten und der Fortbewegung dienten. Die trüben Augen des Kopfes dienten ganz sicher nicht mehr dem Sehen, dafür wuchsen dem Ding zwei Fühler aus dem Halsstumpf an dessen Ende sich ein weiteres Paar Augen befand. Die fauligen Zähne des Kopfes bewegten sich wie ein groteskes Maul schabend auf und zu, als das Wesen sie im wahrsten Sinne des Wortes beäugte. Zwar war sie als Tzimisce einiges gewohnt aber das kleine, ekelhafte Monstrum strahlte eine scheußliche Widernatürlichkeit aus, die einfaches Fleischformen noch überbot. Das Ding war auf jede erdenkliche Art und Weise falsch. Wie eine Fackel unter Wasser.
Alida verspürte ein widerliches Würgen beim Anblick des grotesken fleischgeformten ‚Etwas‘. Sie versuchte sich zusammen zu reißen. Sie war hier im Osten. Nicht in ihrem vertrauten, ‚behüteten‘ Brügge. Ein Gedanke festigte sich in ihrem Kopf. Ganz offensichtlich war sie hier richtig. Das musste nach wie vor das Anwesen eines Tzimiske sein… Sie überlegte einen Augenblick, was sie tun sollte, verneigte sich dann jedoch in die Richtung der Monstrosität. „Ich suche den Herren dieses Anwesens. Befindet er sich derzeit hier?“
Das kleine Monstrum antwortete der blonden Händlerin nicht, obgleich ihre höfliche Anfrage in diesen Landen und unter diesen Umständen sicher sehr löblich und angebracht gewesen wäre. Stattdessen knackte es nur zappelnd mit den spinnenartigen Beinen und öffnete den fauligen Mund hastig in die Luft schnappend. Alida spürte mit einem Mal die Präsenz einer immensen Gefahr, die sich schlagartig hinter ihr, scheinbar aus dem nichts erscheinend, manifestierte. Ein Schatten legte sich auf sie und sie roch verwesendes Fleisch. Für gewöhnliche warnte sie ihr Auspex vor derartigen Dingen oder zumindest hätte sie etwas hören, sehen, vielleicht gar riechen müssen. Diesmal war es einfach da, als ob es mit einem Mal erschienen wäre. Als sie sich umdrehte sah sie einen Berg von einem Werwolf. Doppelt so groß wie die Exemplare die sie verfolgt hatten, gespickt mit knochenartigen Auswüchsen und Dornen, die Augen kränklich leuchtend. Das Ungetüm hatte in Wahrheit eigentlich nur noch wenig mit den Woflingen die man an und für sich kannte gemein, soweit sie das ihrem Wissen nach beurteilen mochte. Ein beinahe vier Meter hoher Koloss der einfach so aufgetaucht war. Seine Pranken konnten Schädel wie Trauben zerquetschen und die Klauen teilten keine Soldaten, sondern Pferde in zwei Hälften. Ein bestialisch stinkender Atem wehte ihr entgegen. Entweder trank das Vieh niemals frisches Wasser oder es fraß vielleicht sogar Leichen. Die sehnigen Muskeln spannten sich an, als der Wolfsschädel sich seitwärts drehte. Mit einem knurrenden, sabbernden Gurgeln sprach er in schwer verständlichem Russisch: „Warum bist du hierhergekommen? Du musst dir den Tod wahrlich wünschen kleiner Mensch. Dein Kadaver wird meinen Hunger stillen. Sprich ein Gebet, Mensch.“
Alida schluckte und wurde sich dieser unnötigen Geste, so lächerlich sie ihr in diesem Moment erscheinen mochte, bewusst. Was, um alles in der Welt, war dieses Ungetüm? Ein Wolfling? In dieser Umgebung? Ihre Chancen gegen dieses Geschöpf bestehen zu können rechnete sie gegen Null, vielleicht konnte eine Flucht mit Geschwindigkeit gelingen? Sie versuchte die Schultern zu straffen und steckte das Schwert zurück in die Scheide. Sie deutete eine Verbeugung an, das Geschöpf nicht aus den Augen lassend und jeden Moment bereit zur Flucht, und sah es sich soweit ihr das mit gesenkten Liedern möglich war, mittels Auspex an.
Der Wolf straffte sich ebenfalls und richtete sich zu seiner vollen Größe auf. Der mächtige Schädel neigte sich in die andere Richtung, als er Alida erneut genauer betrachtete. „Du bist kein Mensch, sonst wärst du schon in heilloser Angst geflohen. Ja, Angst. Die rieche ich an dir, und Tod. Tod und Verwesung, Dekadenz und Blut.“ Die Bestie schnaufte. „Hast du noch etwas zu sagen kleiner Blutsauger bevor ich deine widerwärtige Asche in alle vier Winde verstreue?“ Die Aura des Werwolfs, wenn es denn einer war, gestaltete sich für Alida als äußerst schwierig zu beurteilen. Er zeigte das glühende, unbändige Feuer der Werwesen das mit brachialem Zorn an ihm nagte, eine pulsierende Energie die loderte und waberte, andererseits waren alle Farben bleich und verschwommen, wie bei einem Untoten. Durchzogen war dieses wahre Kunstwerk an widersprüchlichen Farbschichten und wabernden Eindrücken von einer gallertartigen Schwärze die, fast als ob sie ein Eigenleben besaß scheinbar wahllos über den Körper des Ungetüms kroch. Der Wolf wirkte überrascht, durchaus bereits sie ohne zu Zögern zu töten. Doch da war auch noch etwas anderes. Ein kleiner Funke Neugier, der hie und da aufblitzte. „Deine Wahl war schlecht. Dumm genug dich hier in diesen Wäldern alleine aufzuhalten und noch dümmer hierher zu kommen. Aber jeden ereilt ein anderes Schicksal…“, hörte sie ihn sagen, als sie Augen wieder aufschlug. Er hob die Klaue. Ganz so, als gäbe es nichts das sie noch aus ihrem übernatürlichen Repertoire hätte zaubern können, um das Unvermeidbare aufzuhalten.
Alidas Augenbrauen verengten sich kurz und nachdenklich. Etwas ähnliches hatte sie noch nie zuvor gesehen. „Was bist du?“ Die Worte waren kaum hörbar, zu sich selbst gesprochen. Sie trat sprungbereit einen Schritt nach hinten, nach wie vor in der leichten Verbeugung. Sie versuchte ihrer Stimme einen festen Klang zu geben, doch klang ihr Russisch immer noch abgehackt und mit dem flandrischen Dialekt zu weich und ‚bäuerlich‘. „Ich habe mich zu Beginn dieser Nacht aufgemacht um einen mächtigen Fürsten aufzusuchen, der sich hier aufzuhalten pflegt. Der Tross mit dem ich reiste wurde überfallen und nur mit einigem Glück gelang es mir meinen Weg bis zu der Domäne des mächtigen Fürsten zu wandern. Es war nicht meine Absicht euch zu verärgern oder in euer Territorium einzudringen. Verzeiht mein Vergehen.“