Sa 26. Jan 2019, 22:12
Lucien erwachte durch die Schmerzen, die an seinen Gliedern rissen. Die Schwäche, die von ihm Besitz ergriffen hatte, dämpfte das Brennen der Wunden ein wenig und benebelte seine Sinne. Er erinnerte sich an eine unendlich lang erscheinende Fahrt in einer zugenagelten Kiste… ein Sarg, eine Truhe? Meeresrauschen, Hufgetrappel, Gesprächsfetzen, die er nicht genau belauschen konnte und das Quietschen von Wagenrädern. Schließlich hatte man ihn, er wusste nicht mehr genau wie, entpflockt und er hatte gerast. Er war auf jemanden losgegangen… Ja, der verhüllte Mann, den er bereits in Aachen gesehen und dem es gelungen war, ihm aus der Schwärze eines dunklen Hinterhalts heraus einen Pflock ins Herz zu rammen… Doch anstatt ihn mit seinen Klauen in winzige blutige Fetzen zu zerreißen, hatten seine Schläge kaum eine Wirkung gezeigt. Er erinnerte sich an einen Fausthieb des Vermummten mit einem Stahlhandschuh, der ihn schließlich die Sinne geraubt hatte. Wo um alles in der Welt war er. Er sah sich um:
Alles in und an ihm brannte, schmerzte und signalisierte schier übermenschliche Anstrengung über eine lange, endlose Zeit ohne wirkliche Erinnerung. Es blieben ihm nur einige fragmentarische Erinnerungsfetzen, welche die durchwachsenen und verwirrenden Bilder in seinem dumpfen Schädel langsam wieder in eine konsistente Wirklichkeit verwandelten. Er war nicht mehr in Deutschland. Er war gepflockt und über den Seeweg über eine weite Strecke hinweg irgendwohin transportiert worden, vermutlich ins Heilige Land, vielleicht auch ganz woanders hin. Der rote Schleier hatte ihn aus Wut und Hunger einmal überkommen aber es fiel ihm schwer auch nur ansatzweise eine Erinnerung aus seinem gemarterten Kopf zu zaubern, die dem Gangrel gesagt hätte wen oder was er da angegriffen hatte. Geschweige denn ob dieser jemand jetzt noch lebte. Seine grauen Augen wanderten langsam in dieser merkwürdigen Höhle hin und her und seine Nase sog die Raumluft tief in tote Lungen. Es musste draußen, wo immer ‚draußen’ auch war zumindest Nacht sein, sonst wäre er unweigerlich dem Schlaf anheimgefallen. Mit einem grimmigen Grunzen sah er an sich herab und prüfte die Sicherheitsvorkehrungen, die man getroffen hatte um ihn festzuhalten. Das es welche gab, war eine Selbstverständlichkeit. Sonst würden in kürze nur noch zerhackte Leiber seinen Weg in die Freiheit pflastern.
Lucien befand sich in einer Zelle, deren Wände aus bloßem Stein zu bestehen schienen. Es war warm und stickig und es roch nach Öl. Talglichter und zwei hell brennende Fackeln waren an den Seiten außerhalb seiner Zelle angebracht und versetzten alles in oranges Licht. Seltsamerweise war er nicht an Armen und Beinen gefesselt, wie er erwartet hatte, sondern nur in einer Zelle, die mit Eisengittern vom Rest des Raumes abgesetzt war.
Er konnte eine Stimme hören, die er bereits ein Mal gehört hatte. Sie klang rau, abgenutzt und lauernd. „Er kommt zu sich. Ich zweifle euer Urteil nicht an, aber nach wie vor ist es mir ein Rätsel warum ihr diesen hier entpflockt habt, Martin.“
„Das ist eine sehr, sehr lange Geschichte, Nathaniel… Vielleicht werde ich sie euch eines Tages erzählen…“ war die Antwort einer leicht amüsiert klingenden Stimme.
„Wie auch immer. Ich schaffe sein Blut weg und bringen es zu den Uluren. Sollen die sehen, was sie aus dem ‚Tier‘ herausbekommen.“
Lucien konnte aus dem Augenwinkel sehen, wie dem Mann mit einer Hand Einhalt geboten wurde. „Ich will, dass mit allem weiten gewartet wird.“
„Hm… wie ihr wünscht, Martin.“ Der Mann zog die Nase hoch und spuckte in eine Ecke.
Lucien spitzte die Ohren, die im fackelerleuchteten Licht der ansonsten stickigen, dunklen Gefängniszelle ohnehin die offensichtliche Widernatürlichkeit seiner Natur abzeichneten. Der Hauptmann musst in zweifacher Hinsicht seine Mundwinkel zu einem schiefen Lächeln verziehen. Einerseits aufgrund der simplen Tatsache, dass man vergessen hatte ihn ordentlich und buchstäblich an die Wand zu nageln und andererseits, weil er die Stimmen aus der Finsternis vor ihm nur allzu gut kannte und voneinander zu unterscheiden wusste. Da waren verräterische Merkmale seines Clans, waren derzeit mehr als zweitrangig. Die Waffen und das Rüstzeug hatte man ihm abgenommen, lediglich das Untergewand und die Stiefel waren ihm geblieben. Aber mehr würde er wohl auch nicht brauchen. Was mochte den Bischof wohl dazu getrieben haben ihn nicht an Ort und Stelle zu vernichten, sondern mit sich zu schleifen und dann so halbherzig hier wegzusperren? Der Mann musste sich, passend zu seiner Arroganz, ziemlich sicher und überlegen fühlen. Mit ein paar Schritten kam er an der Gefängnistür an und legte den Kopf schief.
„Euer ehrenwerter Gefolgsmann mag ein feiges und dummes Schwein sein, Bischof, aber ich möchte ihm fast zustimmen. Du wirst nachlässig. Glaubst du ein wenig Eisen und Stein hindert mich daran die in Streifen zu teilen?“, meinte er in schneidend ruhigem Tonfall zu den Schemen innerhalb seines Gesichtsfeldes.
Lucien erkannte den anderen Mann, der mehrere große Gefäße auf einem Tisch absetzte, als er Luciens Stimme vernahm und sich umwandte.
Auch die Stimme war ihm bekannt. Wie hatte er Luciens Angriff überleben können? Oder war das nur eine falsche Erinnerung. Er trat mit einer gemächlichen Ruhe auf die Zelle zu und stülpte sich dabei einen stählernen Eisenhandschuh über. „Du hast wohl nach gestern immer noch nicht genug, was? Wir können das kleine Spiel gerne wiederholen.“ Ein herausforderndes Grinsen breitete sich auf seinem Mund aus. „Ich hätte nicht übel Lust drauf!“
Die andere Person war tatsächlich Martin, der beide mit stoischer und interessierter Miene musterte.
Lucien kniff misstrauisch die Augen zusammen und betrachtete abwechselnd Martin und den ihm ebenfalls bekannten Mann, welchen er eindeutig als Nathaniel identifizieren konnte. Geradewegs jener Nathaniel, der ihn in Deutschland in eine Falle gelockt und anschließend gepflockt hatte. Derart vorgeführt zu werden, hätte normalerweise eine unglaubliche Blamage für den Gangrel bedeutet, allerdings drängten sich erneut schemenhafte Erinnerungen in seinen Geist, die ihn unablässig und beinahe instinktiv davor warnten, diesem merkwürdigen Handschuh zu Nahe zu kommen. Wie immer es Nathaniel geschafft hatte ihm, dem Wolf im Schatten, zu entkommen und den Spieß sogar noch umzudrehen war ihm nach wie vor ein Rätsel. Aber es war offensichtlich, dass es einen Grund dafür geben musste warum es ihm gelungen war und warum die Sicherheitsvorkehrungen in dieser Zelle geradezu lächerlich waren. Er erwog es darauf ankommen zu lassen, aber in seinem derzeitigen Zustand würden seinen Feinden wohl schon die einfachsten, offensichtlich magischen Tricks einen immensen Vorteil verschaffen. Der Hauptmann legte den Kopf schief und lächelte schief. „Leg deinen Handschuh ab und tritt in die Zelle du stinkender Haufen Dreck und wir wiederholen unser Stelldichein von letztens. Mal sehen wie du dann abschneidest.“ Er wandte sich in Richtung Martin und ließ sein Lächeln abrupt fallen. Eiserne Kälte und unverhohlener Hass, standen ihm ins Gesicht geschrieben.
„Du hast sicher einen triftigen Grund dafür mich noch nicht hingerichtet zu haben. Ansonsten wäre ich wohl längst in der Hölle und würde dort geduldig auf dich warten. Da ich sicher nicht von einem spontanen Akt der Nächstenliebe bei dir ausgehen kann, hast du anderes mit mir vor. Sprich Herr Bischof und lass nichts aus. So oder so nähern wir uns beide dem sicheren Ende dieser Geschichte.“
Nathaniel riss sich tatsächlich den Handschuh von den Fäusten, die er wütend geballt hatte. „Ich schlag ihm die Überheblichkeit aus der schiefen Visage.“
Ein leises Lachen ließ ihn innehalten. „Nathaniel? So heißblütig kenne ich euch gar nicht. Was hat dieser hier an sich, dass ihr so aus der Haut fahrt.“ Martin war näher getreten und sah Lucien in der Zelle an.
Der großgewachsene Mann schnaubte abfällig auf, drehte dann jedoch auf dem Absatz. „Ich hab was bei euch gut, Martin. Verlasst euch darauf, dass ich es einfordern werde. Und vergesst nicht es in eurem Brief an den Superior zu erwähnen. Ich vergesse es mit Sicherheit nicht.“ Er griff erneut nach den Gefäßen, versah den Gangrel mit einem letzten eisigen Blick und verließ dann den Raum, dessen Tür er hinter sich schloss. Lucien roch Blut.
Er war mit Martin allein., der nun noch näher an die Gitterstäbe heran kam. „Tatsächlich habe ich noch gar nichts mit euch vor, Hauptmann.“ Er spie das Wort fast aus. Ihr hättet nicht in Aachen sein sollen. Mit all dem hier habt ihr nichts zu schaffen. Und es war… nicht in meiner Absicht euch in diesem Jahrhundert irgendwie zu behelligen…“
Lucien hielt sein schiefes Grinsen weiterhin aufrecht und aalte sich genüsslich im verletzten Stolz des Schergen. Eine großartige Idee den Handschuh abzunehmen, die Zellentür aufzuschließen und ihm gegenüberzutreten. Wie wundervoll wäre es gewesen, den ehrenwerten Nathaniel mit einer flinken Handbewegung das Genick zu brechen, um sich im Anschluss ganz persönlich und mit wachsender Begeisterung um den Bischof zu kümmern. Dass es sich auch genauso abgespielt hätte, wusste jedoch offenbar auch der stoisch die Contenance wahrende Martin zu erahnen. Und deshalb wurde sein wundervoller Plan auch jäh durch ein paar knappe Worte vereitelt. Er hätte es besser wissen müssen. Nathaniel war ein Dummkopf, Martin aber führte Brügge aber nun schon eine gute Weile lang an der Nase herum und kannte die Stärken und Schwächen seiner Gegner und Verbündeten gut. Die Worte des schnaubend davontrabenden Mannes, nahm er nur noch halb wahr, richtete seine Aufmerksamkeit nunmehr vollends auf den Bischof. Offenbar war Martin nur ein weiteres Zahnrad in einem weitaus größeren Spiel, in welchem es noch andere Figuren wie beispielsweise diesen machthungrigen Otto oder den soeben genannten ‚Superioren‘ gab. Der Blutgeruch ließ ihn mit den Zähnen mahlen. Aus Hunger aber auch aus der Vermutung heraus, dass es seine Vitae war, die da in großzügigen Karaffen und Behältnissen davongetragen wurde. Lucien fletschte die Zähne und bellte ihm entgegen.
„Wage es nicht mich für dumm zu verkaufen, Bischof. Der deutsche Kaiser soll ermordet werden und durch ein machtgeiles Monster ersetzt werden, das wiederum plant sich Flandern einzuverleiben. Das ich das weder gutheißen, noch tatenlos hinnehmen kann, sollte selbst dir ach so neutralen Edelmann und Geistlichen sicher klar sein.“ Er ließ die Fingerknöchel knacken, als er die Gitterstäbe umfasste und sein Gegenüber, ohne zu blinzeln fixierte. „Wer den deutschen Thron bekommt, könnte mir gleich sein, vollkommen richtig. Aber wenn derjenige Flandern unter sich begräbt, haben wir ein Problem. Ganz abgesehen davon, dass ich es bei all meiner so nett vorangeschobenen Neutralität nicht gern sähe, wenn sich im Anschluss die nächtlichen Bewohner Deutschlands in sinnlosen Machtkämpfen gegenseitig zerfleischen und du dir ganz nebenbei ein richtig dickes Stück vom Kuchen holst. Es war nicht mein Problem aber die Umstände machen es jetzt zu meinem Problem. Und du als offensichtlicher Teil dieses Machwerks bist, Teil des Problems.“
Martin seufzte mit einem ironischen Unterton, der fast schwermütig klang. „Tse, tse, tse… heißblütig, wie immer. Vielleicht hätte euch mein Kamerad tatsächlich mit euch messen sollen? Manchen Männern soll es ja gut anstehen, wenn sie ihr Gemüt durch eine Schlägerei abkühlen können.“ Er zog die Augenbrauen in die Höhe. „Allerdings bin ich nicht bereit irgendetwas euch betreffend zu riskieren. Ich kenne einen Teil eurer Fähigkeiten und ich bin mir fast sicher, dass sie sich in den letzten 20 Jahren noch verbessert haben? Ihr gehört zu den ‚Tieren‘, da bin ich mir fast sicher. Was könnt ihr? Mit euren Klauen die Gitterstäbe zerreißen? Als Nebelwolke auf- und davonwehen? Als Ratte durch das Gemäuer huschen?“ Er lachte freudlos auf. “Ja, das traue ich euch zu.“
Er faltete die Hände wenige Zentimeter vor den Gitterstäben ineinander. „Für jemanden wie euch, der sich seiner Abstammung entsprechend, eigentlich neutral verhalten möchte, mischt ihr euch ziemlich oft in die Politik ein, findet ihr nicht?“ Der Blick der unnatürlich grünen Augen, ein ‚Geschenk‘ des Fleischformers Belinkov, musterten ihn, als wollten sie in sein Inneres sehen. „Was kümmert es euch, wer in Flandern auf dem Thron sitzt? Zwei wahnsinnige Schwestern, die sich selbst zerfleischen und dabei alle in den Abgrund reißen? Franzosen? Deutsche? Wartet ein paar Jahrzehnte, dann wird es wieder ein anderer sein. Das ist sicherer als das Amen in der Kirche. Eure menschlichen Schäfchen fressen, paaren und vermehren sich. Nahrung steht euch also immer zur Verfügung. Warum also diese Skrupel?“