Do 9. Aug 2018, 15:55
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Andy hatte einen wirklich miesen Tag. Nicht einen von der Sorte, an denen man am Ende eines schier niemals enden wollenden Arbeitstages abends zerknirscht nach Hause kam, weil einfach alles schieflief und man sich zu guter Letzt mit einem gekühlten Frustbier entspannt vor den Fernseher setzte und die ganze Welt zum Teufel wünschte, nein. Es war noch um einiges schlimmer als er es sich in seinen hässlichsten Alpträumen hätte ausmalen können. Und allein die Tatsache, dass er jetzt darüber nachdachte während sein Blut aus drei tiefen, dunkelrot umrandeten Einschusslöchern an seinem Bein und dem linken Oberarm quoll, fühlte sich so unwirklich und surreal an, dass er gerne ein verrücktes Lachen ausgestoßen hätte. Wenn da nur nicht die Kälte und drohende Müdigkeit gewesen wären, die sich langsam seiner Glieder und seines Geistes bemächtigten.
Mühsam schleifte er sich über den dreckigen Fußboden bis hin zum Tresen; spürte nach wie vor die Präsenz seiner Peinigerin im Nacken. Ausgerechnet eine Frau hatte ihn angeschossen und eine hübsche noch dazu. Seine Mutter hatte ihn immer davor gewarnt sich mit merkwürdigen Frauen einzulassen und sein Vater hatte ihm zusätzlich immer angeherrscht aus seinem Leben etwas zu machen. In diesem Augenblick bereute er zutiefst, die wohlgemeinten Ratschläge seiner Eltern in den Wind geschlagen zu haben, obgleich wirklich niemand davon hätte ausgehen können, dass die blonde Schönheit mit den kalten Augen ihn bereits nach einem Monat buchstäblich ‚abschießen‘ würde. Andy lehnte sich keuchend gegen eines der vielen, ihn umringenden Bücherregale und betrachtete mit trägem Blick Camille. Das war zumindest der Name, den sie ihm in diesem kleinen Café im French Quarter vor einiger Zeit genannt hatte. Sie stand nach wie vor da und hatte die halbautomatische Sig Sauer auf ihn gerichtet. In ihrem Gesicht fand sich nicht einmal auch nur die Spur dieses zauberhaften Lächelns, das mühelos Stahl hätte erweichen können, im Gegenteil.
Jetzt war es eben zu diesem kalten, unnachgiebigen Stahl geworden und die einzigen Geräusche, die derzeit an seine Ohren drangen, waren das unablässige Hämmern der Trommeln, Pfeifen und Toben der aufgepeitschten, vorbeiziehenden feiernden Menge vor dem kleinen, mit Rollgittern gesicherten Bücherladen und sein eigener, unregelmäßiger Atem.
„Warum?“, brachte er lediglich mit gequältem Gesichtsausdruck hervor. Warum hatte sie ihm das angetan? Warum hatte sie ihn umschwärmt und war mit ihm tanzen gegangen? Und warum räumten nun ihre ihm völlig unbekannten Freunde einen kleinen, unscheinbaren und absolut harmlosen Bücherladen aus? Ein Laden, der ihm nicht einmal gehörte, sondern in dem er nur gelegentlich aushalf? Gab es nicht lohnendere Ziele, wenn man sich einfach nur bereichern wollte? Warum musste sie ihn deshalb erschießen? Warum war er heute länger geblieben anstatt die Einladung von Steven anzunehmen und auf der Mardi Gras Parade ordentlich einen drauf zu machen? Tausende, wirre Gedanken zogen durch seinen Kopf und überschlugen sich; waren auch mit simpler, kühler Logik nicht zu ordnen. Insbesondere deswegen nicht, da sich aus all den Zweifeln, dem Wahnsinn und dem bitteren Schmerz ein einfacher, klarer Gedanke schälte. Mit Nachdruck erinnerte ihn dieser daran: Er würde heute Nacht sterben. Er würde heute und hier sterben und wusste nicht einmal wieso. Andy heulte wimmernd auf als im Keller unter ihm ein weiteres, schweres Bücherregal umgestoßen wurde. Das Bersten von altem Holz fuhr ihm durch Mark und Bein. Was zur Hölle suchten seine Mörder da unten?
„Bitte…“, flehte er erneut in Richtung der schweigend vor ihm verharrenden Frau. „Camille. Wenn es um Geld geht… nimm dir was aus der Kasse. Die Bücher hier sind wertlos, wir sind kein Antiquariat. Das wusstest du! Ich habe dir nie etwas getan…“. Zischend fasste er an sein blutüberströmtes Bein, das die blaue Jean bereits in tiefes, dunkles Rot getaucht hatte, das aufgrund der dämmrigen Beleuchtung in der Nähe des beinahe nostalgisch wirkenden Ladentisches, fast Schwarz wirkte.
Camille hob die Waffe erneut langsam an und deutete ihm an still zu sein. „Ich heiße nicht Camille und was immer du glaubst zu wissen ist bedeutungslos. Es tut mir aufrichtig leid, denn es war nicht geplant dich heute noch hier anzutreffen, Andy. Aber die Nornen weben das Band des Schicksals manchmal auf wundersame Weise.“ Sie schenkte ihm ein bedauerndes Lächeln als draußen auf der Straße ein weiterer Paradeböller knallte und pfeifende Feuerwerke bunte Lichtfetzen auf das dunkle Holz der Einrichtung warfen. „Ich heiße Brunhild“, meinte sie monoton und legte den Kopf dabei leicht schief.
Andy zwinkerte einige Male ungläubig und stöhnte erneut schmerzverzerrt auf. Doch bevor er noch zu einer wie immer gearteten Antwort hätte ansetzen können, stapften bereits schwere Schritte über den Stiegenaufgang des Kellers. Einer der Kerle, die so urplötzlich mit Camille, oder Brunhild, wie sie sich selbst nannte, kurz nach Ladenschluss im Deckmantel des Mardi Gras über den Hintereingang eingebrochen waren, schleppte einen aufgeklappten Laptop zur Ladentheke und platzierte ihn dort. Der Mann würdigte die langsam verblutende Aushilfe, die zusammengeknickt an ein Regal gelehnt von Brunhild bewacht wurde, keines Blickes, sondern rief nur laut durch den Laden: „Ich habe es gefunden, er hatte es hinter einem doppelten Boden versteckt.“ Aus den Augenwinkeln nahm Andy wahr, das nicht nur er selbst verletzt zu sein schien, sondern auch der dunkel gekleidete Mann, der hinter dem Laptop versank, denn er verzog gelegentlich krampfhaft das Gesicht und bewegte die Finger der rechten Hand als ob sie ihn beständig schmerzten. Es roch irgendwie nach verbranntem Fleisch.
Draußen auf der Straße schwollen erneut die Trompeten an und begleiteten einen rhythmischen Samba, der gut und gerne aus Brasilien selbst hätte stammen können. Die Boxentürme der Paradewägen waren so laut gedreht worden, dass sie beinahe übersteuerten. Dennoch, auch wenn er Mühe hatte sich aufgrund des Blutverlustes noch auf irgendetwas länger als ein paar kurze Augenblicke zu konzentrieren, hörte Andy weitere Schritte, die irgendwie abgehakt auf dem kalten Boden aufsetzen. Der Mann hinter dem Laptop, sowie auch Brunhild, hoben für einen Moment den Kopf und sahen erwartungsvoll in Richtung des Durchgangs zur sich verbreiternden Verkaufsfläche. Im grellen Licht der mit alten Neonröhren bestrahlten, halb zerstörten oder zu Boden geworfenen Bücherregale, schritt ein Mann durch kleine Ansammlungen von Büchern in Richtung Theke und stützte sich dabei gelegentlich mühsam auf einen schweren Gehstock. Der dunkel gehaltene Anzug passte ihm wie angegossen und auch er würdigte das kleine Häufchen Elend in der Ecke des Raumes keines Blickes. Merkwürdigerweise glitt sein suchender Blick noch ein letztes Mal über den sorgfältig sortierten Bücherbestand im vorderen Teil des Geschäftslokales, bevor er sich über das grelle Leuchten des Laptopdisplays beugte und seine hellen Augen wandern ließ.
Andy konnte sich nicht helfen, aber es hatte fast den Anschein, als bewegte sich nur eines der beiden Augen. Das andere blieb starr. Brunhild knirschte ungeduldig mit den Zähnen und ihr Griff schloss sich härter um den Schaft ihrer Waffe. Keiner wagte den Mann anzusprechen, als er mit zusammengekniffenen Augen offensichtlich ein paar Textzeilen überflog. Schlussendlich wagte die Frau es dennoch ein paar Worte an den augenscheinlichen Kopf der mysteriösen Einbrechergruppe zu richten. „Ist es das, was wir gesucht haben, Leif? Sind es die Pläne?“, fragte sie mit unverhohlener Hoffnung in der Stimme.
Der Mann, Leif also, hob den Kopf und schüttelte ihn resignierend, bevor er mit der Rechten hart auf den Ladentisch schlug. Der Hieb war so stark, dass es sich fast so anhörte als würde jemand erneut ein mehrere hundert Kilo schweres Bücherregal zerlegen. Zischend hob Leif den Kopf und rezitierte offenbar den Inhalt des gefundenen Textes:
„Teurer Freund. Wie du heute feststellen kannst, wirst du das, was du suchst, hier nicht finden. Fast bin ich versucht zu schreiben, dass ich dies bedauere. Aber ich maße mir an zu behaupten, dass ich dieses Spiel, das du mir aufgezwungen hast, langsam fast ebenso gut beherrsche wie du. Natürlich, du magst darauf beharren, ich wäre es gewesen, der dich gezwungen hat es zu beginnen… Selbstverständlich, das muss man dir anrechnen, geht nichts über das Massaker, das du mit deinen Gefolgsleuten im Gildehaus in Houston veranstaltet hast. Der Schlag, den du meinem Clan (und leider auch mir durch die Vernichtung eines geschätzten Kindes) versetzt hast, ist einer, an dem man wohl noch in einem Jahrhundert zu knabbern haben wird. Lass dir nur gesagt sein: Desto mehr Freunde man verliert, desto weniger scheinen sie einem zu bedeuten, nicht wahr? Eine traurige Gegebenheit, aber auch ein lindernder Gedanke. Möge es dir ebenso ergehen. Bezüglich des Aufwandes, den du heute betrieben hast: Tröste dich mit der Tatsache, dass deine Kontakte nicht falsch lagen, sondern nur nicht bedacht hatten, dass auch ich ein paar wertvolle Informanten hie und da verstreut zur Verfügung habe. Als kleines Geschenk an dich habe ich die Informationen deiner derzeitigen Zuflucht an die Jäger weitergeleitet. Ich hoffe, du hast nichts von Wert in deinem Aufenthaltsort?
Genieß die Parade. Dieses Jahr soll sie besonders prächtig werden. Ich hoffe, du kannst sie trotz meiner kleinen Andenken vom letzten Mal genießen, aber ich denke, du schaffst das auch einäugig und humpelnd. Ich denke, wir sehen uns beim nächsten Mal. Oder vielleicht auch nicht.
Gezeichnet: S.“
Der Mann neben Leif flüsterte ein unterdrückt zorniges: „Fuck“ und betrachtete seine Hand. „Die Zeichen waren alle echt, genau wie die Siegel. Jeremiah hat uns belogen.“
Mit einem Mal fuhr Leif herum und packte den Mann am Kragen. In seinen Augen glomm ein so ungebändigter, brutaler Zorn auf, dass Andy beinahe meinte, der Anzugträger würde seinen Kollegen jeden Moment mit bloßen Händen zerreißen. „Er hat nicht gelogen, du einfältiger Narr! Sebastian hat nur deinen Fehler vor einem halben Jahr ausgenutzt und sich an die Ratten gewandt. Die spielen sich jetzt gegenseitig aus und die einzigen, die von all unseren Mühen profitieren, sind jetzt, welche Überraschung, die Spitzel und Doppelspione. Ich werde keine Hexer in New Orleans dulden und schon gar nicht unter der Führung vom ehemaligen Augsburg. Charlotte musste sterben wegen diesem dreckigen Gesindel und sie war mir bei weitem teurer als du es je sein wirst!“
Brunhild betrachtete die Szene mit kühlem Blick und schluckte schwer; wagte es allerdings nicht sich einzumischen oder das Wort an Leif zu richten. Dem gebeutelten Mann stand das Entsetzen ins Gesicht geschrieben und er hing wie eine Puppe im eisernen Griff von Leif. Erst als dieser sich nach ein paar kurzen Augenblicken des eisernen Schweigens, das lediglich von der nach wie vor dröhnenden Musikuntermalung der Parade untermalt wurde, wieder etwas gesammelt hatte, senkte er schuldbewusst den Blick, zeigte keine Gegenwehr. Leif ließ ihn los und klappte vielsagend den Laptop zu. Er atmete einige Male tief durch und wandte den Blick angespannt in Brunhilds Richtung. Nach wie vor bewegte sich lediglich ein Auge. „Wir waren diesmal wirklich nah dran, das sagt mir mein Instinkt. Aber man muss den Usurpatoren bedauerlicherweise zugestehen, dass sie seit dem Elfenbeinturm an Erfahrung im Davonlaufen und Verstecken dazugewonnen haben“ Der Salubri ergriff mit der Rechten den silbernen Knauf seines Gehstockes und machte eine auffordernde Geste in Richtung von Brunhild. „Es werden noch andere Nächte kommen für die Einhörner. Die Jagd wird fortgesetzt. Seht zu, dass wir unsere Spuren sauber verwischen und dann packt die Ausrüstung zusammen.“ Dann erst fiel Leifs Blick auf Andy, der die ganze Zeit über unbeachtet, stöhnend und gelegentlich ächzend, die verstörende und ihm vollkommen unerklärliche Szenerie beobachtet hatte. Unter dem mittlerweile kreidebleichen Mann hatte sich eine schmierige Blutlache gebildet und sein verwundeter Arm war mittlerweile taub geworden. Er konnte ihn beim besten Willen nicht mehr bewegen. Die Lippen des ehemaligen Heilers zuckten leicht, doch bevor auch nur ein weiteres Wort gewechselt werden konnte, schrillte einer dieser wirklich nervtötenden, voreingestellten Klingeltöne eines Handys durch den Raum und Brunhild, die Waffe nach wie vor auf den Sterblichen gerichtet, fasste in die Innentasche ihres Blazers.
„Wer immer es sein mag, wir sind beschäftigt“, kommentierte Leif mit einer wegwerfenden Handbewegung und wandte sich auf seinen Gehstock gestützt zum Gehen.
„Es ist… Lucien… “, meinte Brunhild knapp und sah verwundert zunächst auf das Display ihres Mobiltelefons und dann unschlüssig zu dem Salubri. Ein Ruck ging durch den Körper des Anzugträgers und er verharrte in seiner Bewegung. Das sture Geläute des kleinen technischen Kleinodes schien davon jedoch vollkommen unbeeindruckt und plärrte munter weiter.
„Das ist…“, begann Leif, schien es sich dann aber doch anders zu überlegen, machte ein paar langsame Schritte auf Brunhild zu und ließ sich das Telefon überreichen. „Ich kümmere mich darum und du machst hier alles abfahrbereit“, sagte Leif dann mit einem Mal und verschwand im Durchgang, wo seine Schritte noch einige Zeit lang zu hören waren, bevor irgendwo eine Tür zufiel. Ihm war klar, dass er sich blind auf seine treue Gefährtin und Verbündete verlassen konnte und Andy wurde dies mit einem Mal auch schlagartig klar. Er war völlig bedeutungslos, völlig. Was immer hier vorging, wer immer diese Leute waren oder wollten, er war so fern von all dem was sich da vor seinen Augen abspielte, dass er sich beinahe so fühlte, als wären dieser Leif, Camille oder Brunhild und der andere schräge Typ, nur Besucher seiner eigenen, kleinen Welt. Eine Welt, welche die Gruppe offensichtlich demnächst ‚abfahrbereit‘ verlassen würde und ‚ohne Spuren zu hinterlassen‘. Er schob sich mit seinem gesunden Arm ein Stück weit nach oben; presste sich gegen das Bücherregal da ihm der andere kraftlos eingeknickt war. Draußen war den Feiernden noch immer nach ausgelassener Party zumute, während er hier drin sein Leben aushauchen würde.
Brunhild kam abermals in sein Blickfeld und beugte sich zu ihm hinab, diesmal ohne die Waffe auf ihn zu richten, aber mit einem abgegriffenen Foto in ihrer rechten Hand. „Du sagtest, dieser Mann wäre jede Woche hier bei dir im Laden gewesen?“
Andy betrachtete das Bild und deutete ein unverständliches Kopfschütteln an. „Du sagtest, das wäre dein Professor von der Uni. Ich dachte…“, erwiderte er nur verwirrt, aber sie fuhr ihm barsch dazwischen: „Ist dieser Mann regelmäßig bei dir im Laden gewesen?“
Ein langsames, stöhnendes Nicken war die Antwort. „Ich habe dir doch schon gesagt, dass er immer wieder mal hier war. Du hast auch seine Bücherliste bekommen. Ich dachte du wolltest wissen, was er so liest?“ Aber ihm wurde natürlich sofort bewusst, dass alles was er je von ‚Camille‘ erfahren hatte eine Lüge gewesen war. Eine große, satte Lüge, die ihn jetzt das Leben kosten würde. Und er wusste noch immer nicht warum. „Wer seid ihr? Gott, ich habe nichts getan, ich schwöre es!“
Die blonde Frau machte sich noch nicht einmal die Mühe ihm zu antworten, sondern meinte lediglich, mehr zu sich selbst als zu dem Mann zu ihren Füßen: „Dann muss es eine Ablenkung gewesen sein. Er wollte, dass wir hierherkommen und seine Nachricht finden. Es ist zweifelsfrei eine Falle.“ Ohne zu zögern wand sie sich rasch von ihm ab und begab sich eilig in den hinteren Bereich des Büchergeschäfts, wo Andy bereits wieder geschäftiges Treiben vernahm. Es plätscherte und gurgelte unregelmäßig, sogar im Keller. Ganz so als ob irgendeine Wasserleitung Leck geschlagen hätte oder jemand einen Kübel Schmutzwasser über den Boden verteilte. Dann fiel es ihm mit einem Mal wie Schuppen von den Augen und sein Herzschlag beschleunigte sich; klopfte wie wild in seiner Brust: Sie wollten ihn hier drin mitsamt der Einrichtung verbrennen.
Als ob es einen unsichtbaren Wink gegeben hätte, lief nun Brunhild schnellen Schrittes erneut in sein Blickfeld und übergoss mit zwei anderen ihm unbekannten Personen den vorderen Geschäftsbereich mitsamt der Ladentheke und Registrierkasse mit beißend stinkendem Benzin. Es gurgelte, plätscherte und träufelte munter über Bücher, Flyer, aufgestellte Rabattartikel und eingetroffene Neuware in schweren Kartons. Auch er blieb nicht verschont und bekam eine übelriechende Menge der Flüssigkeit ab. Spuckend rang er um Atem und zitterte am ganzen Körper; konnte die Tränen nicht mehr zurückhalten. „Bitte! Das ist Wahnsinn! Ihr seid wahnsinnig! Das könnt ihr nicht tun! Ich tue alles was ihr wollt!“, wimmerte er schreiend in aufkeimender Panik.
Niemand reagierte – ganz im Gegenteil. Kaum war der Raum ausreichend mit Benzin getränkt, verließen Brunhild und ihre Helfer ihn wieder und verschwanden erneut in den hinteren Bereichen des Geschäftslokals. Alles schien wie einstudiert, als hätte man so etwas bereits Dutzende Male zuvor gemacht. An der Tür zum Lagerraum, in dem Brunhild Leifs Stimme gedämpft durch die bereits stark abgenutzte Holztür vernahm, blieb sie kurz stehen und klopfte sachte; öffnete dann vorsichtig die Tür.
Der Salubri war nach wie vor in sein Telefonat mit Lucien vertieft und sah fragend zu ihr; vor sich auf einem kleinen Klapptisch ein Blatt Papier ausgebreitet, auf dem er sich mit einem Stift einige Notizen machte. „Ich habe hier noch etwas zu tun und muss meine Spuren verwischen. Man hat mir ein paar dilettantische Jäger auf den Hals gehetzt. Du kannst dir sicher vorstellen wer“, sprach Leif in den Hörer und unterstrich etwas auf dem Blatt vor sich, um es damit besonders hervorzuheben.
Die blonde Frau in ihrer nachtschwarzen Garderobe nickte ihm aus den Augenwinkeln bestätigend zu und ergänzte mahnend: „Es fühlt sich an wie damals in Zürich. Sie werden wohl bereits Stellungen bezogen haben. Wir müssen uns beeilen, Leif.“
Der Jahrhunderte alte Salubri hielt das Telefon noch immer steif mit einer Hand an sein Ohr gepresst, während die andere sich auf seinen Stock stütze und nickte ihr bekräftigend zu. Kurz angebunden wandte er sich dann ein letztes Mal an seinen Gesprächspartner: „Geh nicht allein, er ist unberechenbar. Ich melde mich.“ Dann legte er auf und gab das Gerät an Brunhild zurück. „Sind wir soweit?“, fragte er und trat aus dem Lagerraum, während seine Augen prüfend über die Einrichtung glitten. Aus einem anderen Raum hörte man Andys gellende, heisere Hilfeschreie, die von den Wänden und
„Beinahe“, erwiderte die Ghulin mit einem kühlen Blick in Richtung des Eingangsbereiches.
Andy hatte es unter Aufbringung all seiner verbliebenen Kräfte geschafft sich auf den Bauch zu befördern und mühsam über den Fußboden in Richtung Ladentheke zu schleifen. Sowohl ein Bein, als auch ein Arm fühlten sich an wie gelähmt und das unablässige Bluten aus seinen Schusswunden malte fleckige Schlieren über den Boden, während er sich stöhnend, Zentimeter für Zentimeter nach vorne bewegte. Was immer diese Wahnsinnigen hier wollten, er würde hier nicht einfach sitzen und verbluten. Jetzt wo alle so plötzlich verschwunden waren, wagte er es in höchster Not die letzte ihm verbliebende Rettungsmöglichkeit zu erreichen: Unter dem Ladentisch befanden sich sowohl die Steuerung für die Rollläden als auch der Sicherheitsknopf für den Alarm. Eines von beiden musste er betätigen, bevor hier alles in Flammen aufging.
Ein Knall beendete jäh seine Gedanken während er sein Leben aushauchte und hinter der Mündung einer Pistole wurde Leifs Gesicht erkennbar.
Dieser warf einen Blick auf seine Armbanduhr und wandte sich dann völlig unbeeindruckt an die neben ihm stehende Brunhild. Die blonde Frau überreichte ihm einen Satz frischer Kleidung. „Wir teilen uns auf wie besprochen. Du nimmst den Wagen und triffst mich am vereinbarten Treffpunkt. Die anderen verfahren ebenfalls wie es unser Einsatzbriefing vorgesehen hat. Mit etwas Schläue und Umsicht sehen wir uns noch vor Tagesanbruch wieder. Schlagt ein paar Haken, wenn ihr müsst und zögert nicht zu tun, was erforderlich ist. Geht außerdem sicher, dass die Brandbeschleuniger auch verlässlich zünden, sonst bekommen wir nur noch mehr Probleme.“ Mit ein paar raschen Handgriffen hatte sich der Salubri seines Anzuges entledigt und die bereitgestellte Garderobe in Empfang genommen. Passend für diesen Anlass war sie schon im Vorfeld derart ausgewählt worden, dass es möglichen Verfolgern schwer fallen würde ihn in dem noch immer anhaltenden Getümmel ausfindig zu machen.
„Was hat Lucien erzählt?“, fragte Brunhild während Leif den teuren Designeranzug achtlos auf den Boden vor sich warf. Dort wo seine Krawatte sich mit dem schmierigen Blut am dreckigen Fußboden vollsog, lag noch immer Andy mit weit aufgerissenen Augen und rührte sich nicht mehr.
„Er ist dabei eine große Dummheit zu begehen und das, obwohl ihm das ebenfalls bewusst ist. Typisch für ihn. Bedauerlicherweise wird uns dieses energieraubende Katz und Maus Spiel jetzt in weiterer Folge wertvolle Zeit rauben, aber ich kann es augenblicklich nicht ändern. Wir müssen mit dem arbeiten, was wir haben. Alles Weitere erfährst du, wenn wir in Sicherheit sind und unsere Verfolger abschütteln konnten.“ Er legte wohlwollend eine Hand auf ihre Schulter und nickte ihr anerkennend zu. „Wir haben Sebastian abermals nicht in die Hände bekommen, aber sei gewiss, dass ich dir keine Schuld daran gebe. Ich weiß, wem ich mein Vertrauen schenken kann. Sei bitte vorsichtig und pass auf dich auf.“ Damit zog der Salubri sich abschließend die mitgebrachte Maske über und setzte den Zylinder auf, um seine Tarnung zu komplettieren. Mit eiligen Schritten verließ er das Geschäftslokal über den Hinterausgang, den er und seine Leute zuvor mit erstaunlicher Präzision aufgebrochen hatten.
Als die Tür ins Schloss fiel hörte er noch ein letztes Mal Brunhilds Stimme, die den restlichen Anwesenden letzte Anweisungen erteilte. „Fackelt es ab“, rief sie ihrem Trupp zu. Dann wurde jegliches Geräusch vom wilden Trompeten, Klatschen, Johlen, Kreischen und Brummen der wogenden, taumelnden und sich amüsierenden Masse erstickt, die sich zu den schnellen Rhythmen der buntschillernden Mardi Gras Parade bewegten.
Leif drängte sich zwischen die Ansammlung aus ausgelassenen Sterblichen und ließ sich vom Strom mittreißen. Bald schon war auch er selbst nur mehr Teil einer unübersichtlichen Traube aus schwitzenden, feiernden Leibern. Wer ihn hier verfolgen wollte, musste schon wahrlich schier unermessliche Kräfte aufbieten. ‚Oder selbst über solche verfügen‘, dachte er sich vorsichtig umsehend bei sich, während er den schwarzen Zylinder noch ein Stück tiefer ins Gesicht zog.
Wie nahe Leben und Tod doch manchmal beieinander lagen.
To Be Continued...Next time on Eternal Nights: