Vampire: Die Maskerade

Ihr Ghul schien mehr als erleichtert zu sein, seine Herrin wiederzusehen. Er sprang von dem Pferd und schloss die Brujah in seine muskulösen Arme, eine spontane Gefühlsregung, die sie sonst selten erlebte, da Odric normalerweise sehr berechnend war und seine Emotionen gut im Griff hatte. Nachdem sich der blonde Riese vergewissert hatte, dass ihr nichts fehlte, begann er sofort zu berichten. „Theresa Kymena ist zu uns gekommen und teilte uns mit, dass ihr überrascht und angegriffen wurdet. Sie sagte, dass ihr dabei getrennt wurdet und in unterschiedliche Richtungen auseinandergetrieben worden seid. Einer der Männer muss entkommen sein, woraufhin die Dame Kymena dessen Verfolgung aufgenommen hat und ich mich natürlich auf die Suche nach dir begeben habe.“

In Odrics Zügen konnte Louisa so etwas wie den Stolz eines jungen Buben erkennen, der der Überzeugung war, etwas richtig gemacht zu haben und nun Lob erwartete. Ihr Ghul mochte seine Emotionen in den meisten Fällen gut unter Kontrolle haben, aber nach all der Zeit, die die beiden inzwischen miteinander verbracht hatten, konnte die Kainitin ihren blutsgebunden Diener doch in den meisten Fällen lesen wie ein Buch.

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- Do not go gentle into that good night. Rage, rage against the dying of the light. -

Ähnlich wie bei Odric waren auch die Beweggründe seiner Herrin oft berechnend. In dieser Situation allerdings fiel es schwer zu sagen, inwieweit sie den Ghul für seinen Einsatz belohnen wollte und wie sehr sie seine Umarmung tatsächlich genoss. Jedenfalls wurden ihm ein Erwidern der Geste und ein Kuss auf die Wange zuteil, und er hatte für einige Zeit das angenehme Gefühl der wohlgebauten Kainitin in seinen Armen. "Das war rasch reagiert und gut gedacht", spendete sie ihm auch das wohl erwartete Lob. "Ich bin froh, dass du zu meinem Schutz hier bist." Eine zumindest nicht ganz von der Hand zu weisende Versicherung, fühlte sie sich doch außerhalb der Mauern, ohne direkt verfügbaren Schutz vor dem Sonnenlicht, etwas nervös – ihr Verstand mochte ihr noch so oft sagen, dass besagter Schutz, dass die Refugien der Stadt bequem vor dem Sonnenaufgang zu erreichen waren. Manche sagten, dass es hier draußen andere Wesen gebe, welche des Nachts auf die Jagd gingen und den Kainskindern nicht unbedingt freundlich gesonnen seien.

"Der Dame Kymena ist also ebenfalls nichts Ernstes zugestoßen", stellte Louisa erleichtert fest. "Dennoch, dieses Attentat muss bekannt gemacht werden. Die Angreifer waren darauf aus, uns zu vernichten!" Bei der Erinnerung an das tödliche Feuer, mit dem man sie und die Tremere attackiert hatte, begann sie vor unterdrückter Wut zu zittern. Sie hatte sich, zumindest in ihrer neuen Domäne, halbwegs sicher gefühlt, doch mit dem Überfall war sie ganz unvermittelt mit einer direkten Bedrohung ihrer Existenz konfrontiert geworden, mit der sie nicht gerechnet hatte. Intrigenspiele, schmerzhafte Nadelstiche, Demütigungen durch missgünstige Kainiten, ja – aber dies?!

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Als Odric sich – mit leichtem Unwillen – wie die Louisa erfreut feststellen konnte, von ihr gelöst hatte, begann er zu sprechen. Die Brujah konnte dabei zu gleichen Teilen Sorge, aber auch eine nicht überhörbare Faszination erkennen. „Ich bin immer noch froh, dass dir nichts zugestoßen ist. Dennoch scheint mehr dahinterzustecken und ich frage mich, was genau. Diese Männer schienen nach allem, was ich bis jetzt gehört habe, gut vorbereitet zu sein. Wissen wir mehr über die Motive dieser Männer, oder wer genau ihr Ziel war? Du, die Dame Kymena, oder ging dieser Angrif allgemein gegen die Kinder der Nacht?“ Ihr Ghul begann sich in Richtung Brügge zu bewegen und führte das Pferd am Zaumzeug langsam hinter sich her. Sie würden laufen müssen, denn das Tier hielt einen gesunden Abstand zu der Kainitin, schien aber gut genug ausgebildet, um nicht sofort in Panik zu verfallen.

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Nachdenklich schritt Louisa neben ihrem Ghul her. "Das waren sie, sehr gut sogar! Sie haben gewusst, mit wem sie es zu tun haben, und sie wussten offenbar auch, wann und wo die Dame und ich uns treffen wollten." Kurz warf sie Odric einen Blick zu, verwarf aber den Gedanken wieder, dass er ja den Brief transportiert hatte, in dem der Treffpunkt erwähnt gewesen war. Die Brujah vertraute auf das Blutsband und auf die Tatsache, dass Odric sie offenkundig begehrte. Der Sterbliche war ihr in düsterer Liebe verfallen und darum als Verräter kaum vorstellbar. Und dass man ihm die Information durch List entlockt hatte, schien auch weit hergeholt.

Wohingegen... "Man könnte natürlich auch eine von uns beobachtet und ihr unbemerkt gefolgt sein. Riskant zwar, zumal ich hörte, dass die Angehörigen ihrer Blutlinie sehr scharfe Sinne haben, und mir selbst ein Verfolger ebenfalls nicht so leicht entginge. Wenn es aber so ist, kann man nur schwer sagen, ob es der Dame oder mir galt. Ich würde eher vermuten, dass sie das Ziel war. Ich habe... mächtige Feinde, aber die wünschen nicht mein Ende." Zumindest soweit sie wusste. Glaubte. Hoffte...

"Es könnte aber auch sein", sinnierte sie weiter, "dass jemand etwas gegen das neue Elysium einzuwenden hat. Dann hätten wir die Schuldigen wahrscheinlich in den Reihen der hiesigen Kainiten zu suchen." Und unter diesen waren gewiss einige, die ihre Sinne zu täuschen vermochten, vielleicht auch die der Dame. Die Angreifer selbst jedoch waren keine Kainiten gewesen, das stand außer Zweifel. Die Kainitin biss sich auf die Lippen. Viele Möglichkeiten, und eine unangenehmer als die andere. "Waren denn Spuren dieser Männer zu finden, oder hat die Dame Kymena einen Verdacht geäußert?" erkundigte sie sich.

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Stetig nährten sich die beiden Reisenden der Stadt, während sie über die Vorfälle sinnierten. „Die Dame Kymena war kurz angebunden, meinte aber, sie hätte einen der Männer unschädlich gemacht.“ Odric kratzte sich geistesabwesend an seinem rechten Ohr, eine Geste, die, wie Louisa wusste, darauf hindeutete, dass er über etwas Komplexes nachdachte oder Ränke schmiedete – wahrscheinlich eher beides. „Ich kenne die politische Situation in der Stadt nicht gut genug, um sinnvoll zu spekulieren, aber eins kann ich dir versichern, Söldner sind nicht billig. Schon gar nicht solche, die ihr Handwerk auch noch verstehen, das heißt, wer auch immer diese Leute beschäftigt, kann es sich leisten oder hat nun bei irgendwem erhebliche Schulden.“

Das Mondlicht erhellte ihren nächtlichen Weg, während Odric weitersprach, nicht ohne regelmäßig das Gelände um sie herum auf Auffälligkeiten oder böse Überraschungen zu untersuchen. „Ich kann dir auch versichern, dass Söldner Aufmerksamkeit erregen, selbst die guten, die eigentlich nicht auffallen wollen – spätestens wenn sie eine Taverne betreten. Sie haben Geld zum Ausgeben, sind meist viel zu selbstbewusst, fallen auf einfachste Schmeicheleien herein und am Ende sind es immer noch Fremde. Irgendwo müssen diese Männer untergekommen sein und ich würde darauf wetten, dass der eine oder andere sich an sie erinnert und man so mehr herausbekommen könnte.“

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"Kein schlechter Gedanke", gab die Brujah zu und ließ ihrerseits eine Locke ihres Haares wiederholt durch ihre Finger gleiten, während sie nachdachte. Auch Louisas Blicke wanderten immer wieder wachsam über die nähere Umgebung, solange man noch nicht die Stadtgrenze überschritten hatte. "Bleiben die Hinterleute noch in den Schatten, so können wir vielleicht mehr über ihre Werkzeuge erfahren. Doch wir müssen schnell handeln", schloss sie grimmig. "Nachdem diese Söldner ihren Auftrag nicht erfüllt haben, würde ich kaum mehr viel für ihr Leben geben – wahrscheinlich planen die Drahtzieher des Attentats schon, wie sie sie rasch loswerden." Sie straffte sich, warf ihr Haar zurück und legte Odric eine Hand auf den Unterarm. "Odric, du wirst dich auf die Suche nach diesen gedungenen Mördern machen, sobald wir zurück sind! Benachrichtige auch meine Kinder. Sie sollen Augen und Ohren offenhalten. Ich selbst versuche die Dame Kymena zu erreichen. Sicherlich hat sie ihre eigenen Methoden und bereits Wege zur Nachforschung beschritten, die uns verschlossen sind." Womit sie es bewenden ließ, um so zügig wie möglich weiter voranzukommen. Sie vertraute darauf, dass Odric, der aus purer Eifersucht gemordet hatte, alles in Bewegung setzen würde, um zu verhindern, dass seine Herrin womöglich zu Schaden käme. Im Gegenteil: "Aber wenn du eine Spur findest", mahnte sie eindringlich, "handle nicht, ohne mich zu benachrichtigen!" Er wäre in der Lage, den oder die Schuldigen in einem Anfall von Wut zu töten – und dann gäbe es keine Möglichkeit mehr, von ihnen etwas über ihre Auftraggeber zu erfahren.

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„Ich werde tun, was nötig ist und sofort zurückkommen, sobald ich etwas herausgefunden habe.“ Odric klang ernst, wirkte fokussiert und Louisa konnte sofort erkennen, dass er trotz der Ernsthaftigkeit der Lage sicherlich Spaß an seiner Aufgabe finden wurde. Der restliche Weg zurück zur Stadt war nicht schwer zu überwinden und selbst zu dieser späten Stunde hinderte nach einem kurzen Gespräch niemand die beiden am Einlass.

Dies wäre normalerweise vielleicht verwunderlich, aber die Nachtwache der Stadt stand fest unter der Kontrolle des Ratsmitglieds Lucien Sabatier und einheimische Kainiten wussten, wie sie mit den Wachleuten reden mussten, ohne unangenehme Fragen gestellt zu bekommen. Kurz nach dem Wiedereintritt in die Stadt trennten sich die Wege des Ghuls und seiner Herrin für das Erste und Louisa hatte nun alle Optionen, um zu entscheiden, wie sie weiter vorgehen würde.

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Louisa nickte dem Ghul zu und ließ ihn seines Weges ziehen. Sie wusste, dass sie sich in diesem Punkt auf ihn verlassen könnte. Die Kainitin selbst beschloss zunächst einmal zum Ort des Überfalls zurückzukehren und, so gering die Aussichten sein mochten, nach Spuren zu suchen. Womöglich ließ sich ja doch noch irgendetwas über die Angreifer oder doch zumindest darüber herausfinden, welcher der beiden Frauen sie gefolgt waren. Denn dass sie von Details des Treffens vorab gewusst und demzufolge bereits an Ort und Stelle gelauert hatten, erschien der Brujah mittlerweile immer unwahrscheinlicher. Wenn sie sich umgesehen hätte, wäre es an der Zeit, die Dame Kymena zu suchen, sich nach ihrem Befinden zu erkundigen – und ihr Bedauern darüber auszudrücken, dass die tiefsitzende Furcht vor dem vernichtenden Feuer sie überwältigt hatte. Louisa war überzeugt davon, dass ihre Blutskräfte es ihr erlaubt hätten, leicht auch mit dem zweiten Angreifer fertigzuwerden. Es erfüllte sie mit Wut und Enttäuschung, dass sie nicht mehr dazu gekommen war. Denn es wäre eine sehr erstrebenswerte Sache gewesen, die Tremere vor Schaden bewahrt zu haben, nicht nur in einer Hinsicht...

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Den Ort des Angriffs wiederzufinden, war nicht sonderlich schwer. Das Feuer war inzwischen erloschen, auch wenn man die Brandspuren auf dem Grund immer noch gut sehen und auch riechen konnte. Ein wenig weiter im Gebüsch konnte die Brujah dann allerdings auf ein äußerst groteskes Bild treffen. Der zweite Söldner, klar identifizierbar an den Teilen seiner Rüstung, lag tot auf dem Boden. Louisa hatte den zweiten Angreifer nie gesehen, aber sie konnte sich denken, dass er vor dem Überfall so nicht ausgesehen hatte. Der Mann wirkte wie eine Leiche, oder die Überbleibsel eines Heiligen. Verschrumpelt, vertrocknet, die Haut wie ein altes Pergament über die Knochen gezogen.

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Nachdem sie sich vergewissert hatte, dass keine anderen neugierigen Seelen sich in der Nähe befanden, um den Schauplatz des Brandes in Augenschein zu nehmen, näherte sich die Brujah langsam den womöglich noch schwelenden Überresten. Angesichts des Gestanks froh, nicht atmen zu müssen, ging sie bei dem Leichnam in die Hocke und begutachtete ihn aufmerksam, desgleichen seine nähere Umgebung. Sie hatte keine große Hoffnung, etwas interessantes zu entdecken, das der Mann unvorsichtigerweise bei sich gehabt und das auch noch die Flammen überlebt hätte, aber sie war nicht willens, auch nur die kleinste Chance ungenutzt zu lassen. Mit einem kleinen Stock stocherte sie in der Asche herum.

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