Vampire: Die Maskerade

Die Botschaft Kobalts überraschte die Brujah. Weniger ob der Geschwindigkeit, mit der der Nosferatu sie ihr hatte zukommen lassen, als vielmehr ob ihres Inhalts. Hatte sie ein zu großes Interesse bei dem Schreiber hervorgerufen, ihren Appell an die Verpflichtung Kobalts gegenüber der Domäne und seinem eigenen Clan in seiner Wirkung unterschätzt? Es blieb indes nichts anderes übrig, als das einmal eröffnete Spiel fortzusetzen, und so setzte sie umgehend ein Antwortschreiben auf, in dem sie ihre Freude bekundete, ihn so offen für das Angebot zu finden, und ein Treffen in der folgenden Nacht vorschlug. Als Treffpunkt gab sie einen kleinen Platz an, in dessen Umgegend sie schon mehrfach ihre nächtliche Suche nach menschlichem Blut erfolgreich getätigt hatte. Niemandem sollte dort mittlerweile noch die namenlose Straßendirne auffallen, die in einem adretten Bürgerinnenkleid mit Umschlagtuch ganz unüblich für ihre Profession gekleidet des Nachts immer wieder auf Kundenfang ging.

Gerüchte mochte es geben, dass die Geheimnisvolle, die man ihres honigblonden Haars halber das "goldene Meisje" getauft hatte, in Wahrheit eine biedere Bürgersfrau oder gar eine Adelige sei, die auf diese Weise das Abenteuer suche. Genaueres aber wusste niemand, woher sie stammte und warum sie sich Männern gegen Bezahlung hingab – dass diejenigen aber mit ihren unvergesslichen Erlebnissen in den Armen der Dirne prahlten, hatte ihr einen gewissen Ruf verschafft. Louisa verfügte nicht über die Fähigkeit Kobalts, sich vor neugierigen Augen gänzlich zu verbergen, vertraute aber darauf, dass sie in ihrer Maske kaum unerwünschte Aufmerksamkeit auf sich ziehen würde – außer jener liebesbedürftiger Sterblicher. Sie gab Kobalt in ihrem Schreiben an, er solle nach dem "Meisje" Ausschau halten und einen kleinen Obolus für ihre Dienste bereithalten, es könne sich für ihn lohnen... beim Verfassen der Zeilen huschte ein amüsiertes Schmunzeln über ihre Züge.

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~ Begehren ist die Triebfeder allen Handelns ~

Die nächste Nacht brach schnell heran. Kobalt hatte keine Antwort auf ihre letzte Nachricht geschickt, aber die Brujah hatte ein sicheres Gefühl, dass der Nosferatu erscheinen würde.

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- Do not go gentle into that good night. Rage, rage against the dying of the light. -

In dieser Nacht war das "gouden Meisje" wieder einmal zu erblicken. Ganz wie man sie in den Kreisen zahlungskräftiger und liebeshungriger Handelsherren kannte, flanierte die junge Frau mit dem honiggelben Haarschopf über einen kleinen Platz mit einem hübschen alten Brunnen, umgeben von bieder wirkenden Bürgershäusern. Ein Platz, weit genug entfernt von den Residenzen und Kontoren ihrer Kundschaft, um die Herren nicht in die Verlegenheit zu bringen, etwa von unbedarften Kunden oder gar ihren Ehefrauen beim Gespräch mit einem fremden Frauenzimmer erwischt zu werden – zugleich jedoch nah genug, um bequem erreichbar zu sein, wenn sich denn die Nachricht unter den Wissenden herumsprach, dass die beliebte Edeldirne Herren der Schöpfung heute eine entspannte Nacht zu bieten bereit stehe.

Trotz der späten Stunde würde sie ein Uneingeweihter wohl für die Frau eines gutsituierten Bürgers oder die Haushälterin eines reicheren gehalten haben, die sich bei einer späten Besorgung etwas verbummelt hatte: Ein weidenes Körbchen, bedeckt von einem einfachen Tuch, in der Armbeuge, Passanten mit einem leichten Neigen des Kopfes, einem angedeuteten Knicks und einem Lächeln grüßend, wirkte sie so harmlos, dass man sich allenfalls Sorge gemacht haben würde, ob es nicht unklug von ihr sei, sich so ohne jede männliche Begleitung zu bewegen. Denn auch wenn die Gegend als eine bessere galt, so mochte doch der eine oder andere Halunke die Gelegenheit nutzen, eine so leichte Beute auszunehmen, würde sie ihre Schritte etwa törichterweise durch ein stilleres Gässchen fern von den wachsamen Blicken anderer Bürger lenken...

Die Blondgelockte jedoch schien sich dieser Risiken nicht recht bewusst, denn sie wirkte in der Tat fast schon wie eine Müßiggängerin ohne festes Ziel, statt ängstlich nach hause zu eilen. Das war der einzige Punkt an ihr, der im Hinblick auf die nächtliche Zeit auffallen musste.

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~ Begehren ist die Triebfeder allen Handelns ~

Die Nacht war warm und sternenklar. Kühles Mondlicht erhellte die dunklen Gassen und Plätze der Stadt und tauchte in silbriges Licht. Ihre Verkleidung war wieder einmal durch und durch gelungen. Louisa spürte den ein oder anderen Blick des Begehrens und der Neugierde auf sich, aber ohne eine kleine, zusätzliche Ermutigung, würde wohl niemand so dreist sein, sie direkt auf ihre ‘Dienste’ anzusprechen. Die Gefahr eines Skandals war wohl zu groß, dass es sich doch nur um eine einsame Frau handelte, die sich im Dunkeln verlaufen hatte, oder eine Dienerin, die letzte Besorgungen erledigte.

Es dauerte etwas, bis sich Louisa eine Gestalt nährte. Ein Mann, klein, mit unauffälliger aber ordentlicher Kleidung. Seine ganze Erscheinung war komplett unauffällig. Ein durchschnittliches Aussehen und Auftreten. An einen solchen Mann würde man sich schwerlich erinnern und die Brujah konnte den Eindruck gewinnen, dass dies genauso gewollt war und es sich hier um eine Maske von Kobalt handelte. Dass dies tatsächlich der Fall war, bestätigte sich kurze Zeit später, als das ‘goudene Meisje’ schließlich ansprach. “Dies ist ein höchst ungewöhnlicher Ort für ein Zusammentreffen.” Etwas schwang in der Stimme des Nosferatu mit, von dem Louisa aber nicht sagen konnte, ob es Irritation oder Amüsiertheit bezüglich der von ihr gewählten Kulisse war.

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Die Kainitin musterte die sich nähernde Gestalt aufmerksam und verbarg ihre Neugier auch gar nicht. Nur würde ein Außenstehender ihr freundliches Lächeln und die langsamen Schritte, mit der sie dem Mann entgegenkam, sich kaum merklich in den Hüften wiegend, wohl eher als Hinweis auf ein pekuniäres Interesse verstanden haben. Sie versuchte sich zu konzentrieren und den Schleier mit ihren Augen zu durchdringen, der Kobalt umgab – so er es denn tatsächlich war. Doch selbst als er sie schließlich ansprach und damit die Vermutung zur Gewissheit machte, waren ihr Sinne, obgleich von übermenschlicher Schärfe, nicht in der Lage, seine Verkleidung zu durchschauen. Ein leichtes Gefühl von Neid kitzelte sie. Welche Möglichkeiten sich ergaben, wenn man ein beliebiges Aussehen annehmen könnte, einfach so...

Sie neigte jedoch erst einmal den Kopf, lächelte so charmant, wie man es von einer Dirne auf der Jagd nach betuchten Kunden mit teurem Geschmack erwarten würde, und erwiderte dem Nosferatu leise: "Ungewöhnlich – zugegeben. Doch erstens nach meiner Erfahrung auch unauffällig, und zweitens bin ich eine Frau, die das gewöhnliche allzu rasch langweilt. Warum die Ereignisse nicht ein wenig würzen, die Sinne kitzeln?" Sie stand dicht vor ihm, ihr Weidenkörbchen nach wie vor in der rechten Armbeuge. "Lasst uns ein wenig spazieren gehen, während wir plaudern" schlug sie vor und streckte ihren linken Arm aus. "Wollt Ihr mir dazu nicht Euren Arm bieten, um mich zu geleiten, werter Herr?" fragte sie kokett und ein wenig neckend.

Doch trotz dieses Tonfalls und auch ihres freundlichen Lächelns stand in Louisas Augen bei diesen Worten ein Ernst, der Kobalt auch ohne große Menschenkenntnis auffallen würde. Sie wusste sehr gut um die Tatsache, dass viele vor der Nähe zu einem aus dem Clan der Verborgenen zurückschreckten und die Entstellten kaum einmal menschliche Nähe erfuhren. Es war eine Geste mit einer klaren Botschaft, und sie wartete gespannt auf Kobalts Reakion.

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Der Nosferatu wirkte nach wie vor irritiert und Louisa konnte den Eindruck gewinnen, dass menschliche – oder in ihrem Falle die kainitische – Nähe selten eine Rolle in seiner Existenz gespielt hat. Dennoch, wahrscheinlich aus gleichen Teilen, Neugier und guter Erziehung, bot der Schreiber seinen Arm und begann ein paar Schritte mit der Brujah zu gehen. In anderen, kleineren Städten mochte ein Paar wie die Zwei es abgeben, vielleicht der Gefahr begegnen, ungewollte Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, nicht aber so in Brügge. Dafür war die Stadt zu groß und es gab immer interessantere Dinge zu beobachten, die wirklichen Skandal oder Aufregung versprachen. Ein unbekannter Freier und seine Hure, sei sie noch sie infam, gehörten zu der flandrischen Stadt wie ihre Kanäle und Händler.

Kobalt ließ Louisa den Weg bestimmen und hielt sich während der ersten Schritte zurück und begnügte sich damit, ein paar Höflichkeiten auszutauschen. Seine Neugier schien aber schon bald die Oberhand zu gewinnen. „Ich war wirklich überrascht von Eurer Nachricht. Ich habe Gerüchte über die Etablierung eines neuen Elysiums gehört, aber mir war nicht klar, dass Ihr in dieses Unterfangen verwickelt seid, oder dass dieses Projekt schon soweit fortgeschritten ist.“ Er nickte anerkennend. „Ich gebe zu, dass auch ich in so einer Idee Potenzial sehe. Bevor wir uns über eventuelle Details unterhalten, würde mich aber interessieren, wieso Ihr Euch entschieden habt, Euren Namen mit diesem neuen Elysium zu verbinden?“

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Im Gegensatz zu Kobalt war Louisa offenkundig in ihrem Element. Sie schlenderte an der Seite ihres unauffällig wirkenden Begleiters dahin und gab sich ganz, wie man es von einer Dirne der teureren Sorte erwartet hätte. Während sie jedoch mit Gestik und Mimik vorgab, dem vermeintlichen Kunden Schmeicheleien zu Gehör zu geben, standen ihre Worte in krassem Gegensatz zu diesem Bild. "Es schmeichelt mir", lächelte sie, "dass ich Euch offenbar eine Neuigkeit mitteilen konnte. Immerhin sagt man Eurem Clan nach, stets bestens informiert zu sein." Ein glockenhelles Lachen hier und da ließ den Eindruck entstehen, die Brujah unterhielte sich kokettierend über harmlose Nichtigkeiten, während sie fortfuhr: "Nun, zum einen ist das Vorhaben an sich ein unterstützenswertes, wie Ihr ja bereits angedeutet habt. Zum anderen bin ich im Gegensatz zu Euch noch nicht sehr lange in dieser Domäne und habe die Chance ergriffen, eine herausfordernde Pflicht zu übernehmen. Es wird Euch kaum überraschen, wenn ich offen gestehe, dass ich den Nutzen für die Domäne und ihre Mitglieder mit jenem für mich selbst zu verbinden suche. Wer die Ewigkeit zur Verfügung hat, braucht Ziele und Aufgaben, um die Eintönigkeit der endlosen Nächte zu durchbrechen. Auch wünsche ich Brügge meine Fähigkeiten und meine Loyalität zu beweisen. Und nicht zuletzt", schmunzelte sie und kicherte, "würze ich meine Existenz gern mit einem gewissen Maß an Risiko. Das Unterfangen ist kein einfaches, es wird Zweifel und Widerstände geben – was könnte mich mehr reizen? Ihr seht also, der Gründe gibt es zahlreiche."

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„Zweifel und Widerstände, so so…“ Kobalt schien mehr zu sich selbst zu sprechen, als zu seiner Begleiterin, der er geduldig zuhörte. „Ich kann nicht sagen, dass ich dem Spiel mit dem Feuer sonderlich viel abgewinnen kann, aber wenn man Euch so zuhört, kann man fast von dieser Leidenschaft angesteckt werden.“ Der maskierte Nosferatu klang aufrichtig und schien die Worte genauso zu meinen, wie er sie gesagt hatte. „Dennoch mag die Herausforderung, der ihr Euch stellen wollt, vielleicht größer sein, als es den Anschein hat.“ Es war nicht ganz einfach zu erkennen, aber Louisa wusste, dass ihr Begleiter nicht nur kokettierte. Der Nosferatu hatte von Natur aus einen vorsichtigen und zurückhaltenden Charakter, oder zumindest hatte Louisa ihn bis jetzt so kennengelernt.

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"Meint Ihr?" Sie lachte leise, musterte Kobalt aber mit einem raschen Seitenblick. "Es freut mich, wenn die Leidenschaft, die für meine Blutlinie so sprichwörtlich ist wie die Heimlichkeit für die Eure, so ansteckend wirkt. Wir sollten unsere toten Leiber nicht zum Anlass nehmen, auch unsere Herzen gefrieren und die Geister stagnieren zu lassen. Ein Wunsch, ein Plan, ein noch so fernes Ziel vor Augen hält die Seele jung. Dennoch..." Äußerlich nach wie vor die Lockung wiegender Hüften, eines engelsgleiche Lächelns und ihrer betörenden Formen darbietend, mochte der Nosferatu, der ihr so nahe war, doch spüren, dass Louisa bei allem mutwilligen Kokettieren mit ihren Reizen wie auch mit den Gefahren ihrer Pläne bei seinen Andeutungen hellhörig geworden war. "… wenn Ihr ernstliche Bedenken hegt, so kann ich Euch zwar nicht verübeln, solltet Ihr das Angebot noch einmal überdenken wollen – aber Ihr würdet meine Schuld Euch gegenüber um ein kleines erhöhen, wolltet Ihr mir Eure Überlegungen mitteilen."

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„Es sind genauer gesagt zwei Punkte, die mich beschäftigen, aber eins nach dem anderen.“ Kobalt wirkte in Gedanken, schien seine Umgebung aber dennoch nicht völlig aus den Augen zu verlieren. „Stellt Euch vor, ihr seid der einzige Bäcker in einem Dorf.“ Louisa merkte, wie ihr Begleiter weiter schritt, sie aber aus den Augenwinkeln anzusehen schien. „Wie würdet ihr es finden, wenn plötzlich ein zweiter in genau im gleichen Dorf öffnen würde? Selbst wenn er meint, er würde gänzlich andere Backwaren im Angebot haben? Meint ihr, der zweite Bäcker würde sich weigern, Brot zu verkaufen, wenn seine Kunden ihn danach fragen und Gewinn verspricht? Zu was für einem Bäcker würde ihn das machen und wie lange würde er Kunden haben, wenn er ihre Wünsche nicht erfüllt?“

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