Fr 1. Jan 2021, 23:15
Sie musterte den Knaben und unterdrückte nur mit Mühe ein verwundertes Kopfschütteln. Diese Worte hätten viel mehr zu einem alten, erfahrenen Mann als zu einem Kind gepasst - und sterblich war er offenkundig. Es erfüllte sie mit einem gewissen, vagen Unbehagen, sie aus einem so jungen Mund zu hören. Daher sah auch Louisa eine Weile lang sinnierend über das Wasser, suchte mit ihren Blicken kleine Wirbel auf der Oberfläche und verharrte auf ihnen, während sie nachdachte. Endlich sah sie zu dem Jungen, und zum ersten Mal seit langer Zeit zog ein Lächeln über ihr Gesicht, das weder lasziv war noch berechnet. Man hätte es warm nennen können, und vielleicht war es das gerade, weil sie sich dessen nicht bewusst wurde - und ebensowenig das Düstere in ihrem Herzen. "Nein, das tust du nicht" versicherte sie und schmunzelte leicht. Sie beugte sich leicht vor und fragte nach einem kurzen Zögern: "Sag, hast du etwa Angst vor mir?" Ihre Augen ruhten wie große, klare Spiegel auf seinem Gesicht.
Wieder schien es tatsächlich so als ob er über ihre Frage nachdachte. „Ich weiß es nicht, Herrin.“ Er wirkte wieder jünger und verunsichert. „Sollte ich mehr Angst vor euch haben als vor dem, was sonst des Nachts durch diese Gassen schreitet?“
Fast sofort öffnete sie den Mund, um ihm zu sagen, dass er das nicht müsse - doch etwas ließ sie zögern. Es war, als blicke ihr ein Unsichtbarer über die Schulter, der sie höhnisch fragte: Bist du dir sicher, dass der Knabe dich nicht zu fürchten hat? Wärest du seine Mutter, würdest du ihn gern in der Gesellschaft einer Kreatur wissen, wie du eine bist…? Es war wie ein Schlag ins Gesicht, der gleich Säure brannte. Sie biss sich auf die Lippen. Doch dann gewannen der Trotz und eine unbestimmte Sehnsucht in ihr die Oberhand. "Nein. Nein, du musst mich nicht fürchten, mein Junge. Ganz gewiss nicht" sagte sie leise, aber fest. Ihre schlanke Hand legte sich auf die des Knaben, die nur wenig schmächtiger war. Leicht, regelrecht sanft - aber kalt. Das Lächeln der Kainitin bei der Berührung wirkte irgendwie traurig, und noch etwas lag darin. Eine stumme Bitte...?
Hendrik zuckte leicht zusammen, als sie unerwartet seine Hand berührte und spannte sich an. Nicht weil sie kalt war, denn er ließ seine Finger einen Moment auf der Tischplatte liegen bevor er sie zurück zog, sondern wahrscheinlich weil er ein Kind war, das keine Berührungen zulassen wollte oder konnte.
Nach einiger Zeit nickte er. „Man hat euch eure Börse gestohlen, wenn ich recht vermute. Ich habe die Taschendiebe auf dem belebten Platz gesehen und euch, wie ihr versucht habt, ihrer habhaft zu werden.“
Es war nur ein kurzer Moment der Berührung gewesen, und er entzog sich ihr sofort wieder. Dennoch kam es ihr vor, als habe sie die Wärme der kleinen, sterblichen Hand anders empfunden als die der vielen stattlichen, gesunden jungen Männer, mit denen sie des nächtens das Lager geteilt und deren Lebenssaft sie gekostet hatte. Sie ließ ihre Hand eine ganze Weile auf dem Tisch liegen, ehe sie sie langsam zurückzog. Dann legte sie sie flach auf ihre Brust, als könne sie das bisschen Wärme bewahren und in ihr Herz fließen lassen. Wieder ein Lächeln, das eine winzige Ahnung von Trauer enthielt, als sie ihm antwortete: "Richtig. Der Diebstahl. Wenn du mir mehr sagen kannst, soll es zu deinem Schaden nicht sein."
„Es waren einige Taschendiebe auf dem Platz unterwegs. Habt ihr jemand speziellen beobachtet?“
Interessant - er hat also den Platz allgemein und nicht mich im speziellen im Blick behalten, wie es aussieht, ging es ihr durch den Kopf. Einerseits beruhigend für das Sicherheitsbedürfnis eines nächtlichen Wesens, andererseits fühlte sie unvernünftigerweise so etwas wie Enttäuschung. Sie war womöglich einfach zu gewohnt, sich stets der Aufmerksamkeit anderer sicher sein zu können... "Ein Knabe mit auffälligen Ohren und wirrem Haar stieß mich an" gab sie zurück. "Es will mir scheinen, dass er entweder mit dem Dieb unter einer Decke steckte oder selbst derjenige war." Sie versuchte den Rotzlümmel möglichst gut zu beschreiben, soweit er ihr noch im Gedächtnis war.
Hendrik kaute auf seiner Unterlippe und überlegte. „Das wird wahrscheinlich Daan gewesen sein. War ein Gaukler in der Nähe? Ein Jongleur oder Feuerschlucker?“
Erstaunt hob sie die Augenbrauen. "Ja, in der Tat... Ein Gaunerpärchen, das gemeinsam die Leute ausnimmt. Der eine lenkt sie ab, der andere bestiehlt sie?" Wieder beugte sie sich nach vorn, diesmal allerdings mit dem erwachenden Interesse einer Katze, die einen Sperling in der Nähe heranflattern sieht und sich überlegt, ob sie ihn wohl mit einem Sprung und ihren Tatzen erreichen könnte.
Der Junge nickte. „Wahrscheinlich. Es sind zwei Brüder, die eine kleine Gruppe Kinder anführen, die sich mit Diebstahl über Wasser hält. Die Gruppe ist harmlos.“ Er hob erneut an. „Vor etwas mehr als einem Jahrzehnt gab es hier in Brügge eine wirklich brutale Schlacht. Viele Menschen wurden abgemetzelt, es gab Straßen, da soll kein Stein mehr auf dem anderen gestanden haben. Im Nachhinein wurde es als Angriff von französischen Söldnerheeren vertuscht. Nach allem, was ich gehört habe, war es ein Angriff einer Kainitin aus dem Clan der Drachen, die sich die Herrschaft über die Stadt sichern wollte und dazu ‚Verwandte‘ aus dem Osten um Hilfe gebeten hat. Mit Mühe wurde dieser Angriff abgewehrt, die Heere zurückgeschlagen.“ Er lachte kurz tonlos auf. „Zwei unserer Kainiten hier sollen einen Voivoden von hinten angegriffen und gemeinsam vernichtet haben. Auch wenn man einen solchen Kampf vielleicht als unehrenhaft ansehen müsste, würde ich genau das gleiche tun.“ Er besann sich auf das eigentliche Thema. „Es gab damals eine von einem Kainiten angeführte Diebesgilde. Der Kainit hat seine ‚Leute‘ für die finale Schlacht hinzubeordert und alle wurden sie abgeschlachtet. Joris, das ist der Bruder von Daan, der als Gaukler auftritt, hat sich vorgenommen in die Fußstapfen seiner Vaters zu treten. Außerdem hat er die anderen Waisenkinder, die es wollten, unter seine Fittiche genommen. Kinder, die aus den Waisenhäusern oder vor brutalen Verwandten wieder zurück auf die Straße geflohen sind. Sie haben nicht viel, aber kommen halbwegs über die Runden. In den letzten Wochen gab es jedoch mehr und mehr Schwierigkeiten. Es gibt dieses Jahr kaum Getreide und das treibt die Preise für Nahrungsmittel in schier unerträgliche Höhen. Das bekommen derzeit fast alle zu spüren, aber ganz besonders die, die kaum was haben.“
Sie überlegte angestrengt. Der Junge wusste Dinge, die zu wissen für einen Sterblichen in einer anderen Domäne wohl den raschen Tod bedeutet hätten. Louisa wurde aus alledem nicht recht klug. Dies war nach allem, was sie von ihrem Meister erfahren hatte, eine der ungewöhnlichsten Domänen, die man sich vorstellen konnte! Was war mit der Maskerade, dem eisernen Gesetz der Nacht? Zog Brügge nicht den Zorn anderer, noch mächtigerer auf sich, wenn es den Schleier über den Untoten derart dünn werden ließ...? Dennoch... die hohe Politik sollte nicht ihre Sorge sein, solange sie sie nicht persönlich betraf. Daher rieb sie die Hände langsam gegeneinander, bis sie schließlich meinte: "Ich verstehe. Doch du weißt, wo man diesen Joris findet?" Sie hielt in der Bewegung inne, spitzte leicht die Lippen und fuhr dann fort: "Ich möchte meinen Besitz wiedererlangen. Doch kann ich in gewisser Weise verstehen, dass sie sich irgendwie verschaffen müssen, was sie brauchen. Vielleicht bin ich in der Lage, ihnen dabei ein wenig zu helfen..." Ihrem inneren Auge boten sich mehrere interessante Wege dar. Ein Netzwerk kleiner, flinker Augen und Ohren, die sich allüberall bewegten - mochte es nicht äußerst nützlich sein, sich hier Kontakte zu sichern? Was bedeutete es dagegen schon, einen kleinen Dieb mit einer simplen Warnung laufen zu lassen, statt ihn für seine Impertinenz büßen zu lassen... Und wenn man die Sache in die rechte Richtung lenkte, war für sie nichts Schlimmes daran zu finden, wenn sich die kleinen Halunken ihren Teil holten, in einer so reichen Stadt! Letztlich: Tat sie nicht genau dasselbe, auch wenn ihre Methoden andere waren? Auch Louisa war nicht reich geboren worden, auch sie hatte schon als kleines Mädchen sehnsüchtig auf die prallen Geldbörsen mancher Edler geschielt, mit deren Inhalt Hunger und Not lange, lange Zeit zu bannen gewesen wären.
Hendrik überlegte. „Nein, ich weiß nicht, wo sich die Gruppe aufhält. Ich habe sie ab und an bei ihren Diebstählen beobachtet. Einer hat vor Jahren mal versucht meine Börse zu entwenden und dabei meine Aufmerksamkeit erregt.“ Er zuckte mit den Schultern als wäre das nicht weiter von Belang für ihn. „Aber ich erkenne sie wieder, wenn ich sie sehe. Meistens sind sie auf dem großen Platz am Belfried unterwegs. Da gibt es in der Regel die meisten Menschen.“
Wieder murmelte sie "Du scheinst in der Tat über sehr wache Sinne zu verfügen." Mehrere Male nickte sie, dann griff sie mehr aus der Gewohnheit heraus zu ihrem Becher und benetzte ihre Lippen leicht. "Nun, wie ich schon sagte, wenn du mir behilflich bist, kann ich womöglich auch dir einen kleinen Wunsch erfüllen. Und vielleicht hätten wir auf dem Weg nach dem Belfried auch Zeit, uns noch ein wenig zu unterhalten." Ihr Satz schloss mit einem unausgesprochenen Fragezeichen. Sie gestattete sich wiederum ein Lächeln. "Sofern du mich begleiten darfst. Sicherlich hast du all die interessanten Dinge, welche du mir erzähltest, von jemandem erfahren, der wie ich ahne, nicht unbedingt möchte, dass du mit Fremden sprichst." Auch dies klang halb nach einer Frage.
Bei ihrer Bemerkung, ob er sie denn begleiten dürfe zuckte ein Schatten über sein Gesicht und der widerspenstige Gesichtsausdruck, den sie bereits im Elysium ‚Zur blutigen Jungfrau‘ als er aus den Räumlichkeiten des Unholds Belinkov gestürzt war, gesehen hatte, breitete sich wieder auf seinen Zügen aus.
Ihm lag eine Erwiderung auf den Lippen, die ihn offensichtlich wütend stimmten und die er nur mit Mühe herunterschlucken konnte. Wahrscheinlich hatte ihre Bemerkung ihn an etwas erinnert, das ihm nicht gefiel. Seine Stimme war leise als er weitersprach. „Ich tendiere generell eher nicht dazu mit Fremden zu reden. Wenn ihr euch um die Wahrung der Traditionen Gedanken macht, braucht ihr nicht besorgt sein. Die anderen Sterblichen…“ Er überlegte es sich anders und machte eine wegwerfende Handbewegung um das Thema zu beenden. Seine Stimme war wieder ruhig als er weitersprach. „Ich gehe davon aus, dass keiner derjenigen, auf die es wirklich ankommt, etwas einzuwenden hätte, wenn ich euch helfe eure Börse zurück zu bekommen.“ Der kaum sichtbare Hauch eines Lächelns huschte über seine Mundwinkel. „Sofern ich in einem Stück wieder zu Hause ankomme.“
Sie schwieg, merkte sich aber den Gesichtsausdruck des Jungen. Hier war etwas, das sie sehr gut verstehen konnte. Und da sie wusste, wie sie selbst reagiert hätte, wenn das Thema in Bezug auf den Hidalgo und sie nicht fallen gelassen worden wäre, beschloss auch Louisa, diesen Punkt später wieder aufzugreifen. Stattdessen schenkte sie ihm ein weiteres Lächeln und meinte munterer als zuvor: "Nun, von mir wird niemand etwas Unnötiges erfahren. Es wird unser kleines Geheimnis bleiben." Sie zwinkerte ihm zu und langte erst in die Tasche ihrer Schürze, wo sich jedoch nur ein paar kleine Scheidemünzen fanden, dann unter ihr Mieder, ehe ihr wieder einfiel, dass die Börse von dort ja gestohlen war... dieser kleine sterbliche Halunke musste sehr geschickte Finger haben... "Oh, glaube mir, wenn jemand damit drohen würde, könnte ich ihn schon davon überzeugen, uns beiden nichts zu tun." Dieses Lächeln war nun wieder ganz wie das einer Katze.
Der Hauch eines Lächelns wurde zu einem Grinsen. „Da bin ich ihr absolut sicher, Herrin.“ Er nahm einen Schluck aus seinem noch immer mehr als halbvollen Bierhumpen. „Wollt ihr noch heute Nacht nach den Jungen Ausschau halten oder dies morgen tun?“
"Ich halte es für geraten, ihm nicht allzu viel Zeit zu lassen, mein Geld auszugeben. Auch wenn ich ihm sicherlich nicht den Kopf abreißen werde, vielleicht sogar ein Angebot für ihn und seine Kameraden habe, so bin ich doch auch nicht derart reich, dass mir der Inhalt meines Geldbeutels völlig gleichgültig wäre." Sie wies mit einem ebensolchen Grinsen auf ihre Kleidung, die zwar nach einer anständigen Bürgersfrau, mitnichten aber nach einer Edeldame, dem Weib eines Großkaufmanns oder dergleichen aussah. "Aber lass dir Zeit, die Nacht ist noch jung" meinte sie und sah zum Himmel. Ja, das Tagesgestirn, es war noch weit entfernt auf seinem Lauf über den Himmel... sein Nahen spürte sie stets, selbst mit geschlossenen Augen.
Ihn schien ihre Antwort zu freuen. „Dann lasst uns aufbrechen.“ Er legte eine weitere, kleinere Münze auf den Tisch und schob den Krug von sich weg. Ich würde vorschlagen zurück zum Markt zu gehen. Vielleicht haben wir Glück.“
Sie nickte und stand auf. Da er offenbar Berührungen als bedrohlich empfand, beschäftigte sie ihre Hände, indem sie ihre Röcke ganz leicht zum Gehen raffte, und meinte: "Nun denn, versuche wir unser Glück. Vielleicht sind die Sterne der Nacht uns hold."
Hendrik ging schweigend zurück Richtung Platz. Er warf ab und an einen Blick zu seiner Begleitung, konzentrierte sich aber ansonsten auf den Weg der vor ihnen lag. Wenige Minuten später hatten sie den Platz erreicht, der sich sichtlich gelehrt hatte. Ein paar Händler waren bereits dabei für die morgige Prozession Stände aufzubauen.
Hendrik blieb einen Augenblick stehen und deutete zum Brunnen und zu der großen Kathedrale. „Den besten Blick über den Platz hat man entweder vom Brunnen oder von den Stufen dort drüben.“
Louisa folgte dem Jungen und bewegte sich dabei mit dem Geschick der Kainitin, die gewohnt war, sich mit dem Licht von Fackeln, Kerzen und anderen trüben Quellen zufrieden geben zu müssen. Die Welt der Farben war für sie ohnehin verloren. So hatte sie genug Muße, sich ebenfalls aufmerksam umzusehen. Und vielleicht war es einfach das spürbare Selbstbewusstsein, das sie ausstrahlte, doch kaum jemand schien gewillt, die einsame Frau und den Jungen anzusprechen. "Nun, da ich die Gesichter der Burschen nicht alle kenne, wäre es nicht sinnvoll, sich zu trennen" entschied sie. "Am besten versuchen wir unser Glück beim Brunnen." Das Gotteshaus maß sie nur mit einem kurzen, unbehaglichen Blick.