Mo 11. Sep 2017, 07:40
Juni 1228
Es war Sommer. Einer der heißesten seit langer Zeit. Weder die kurzen Nächte, noch die laue Brise der nahen Nordsee konnten wirklich für eine Erleichterung sorgen. In Brügge selbst war es sogar noch schlimmer. Die feuchte Hitze hing wie eine Glocke über der Stadt und Alida hörte seit Tagen schon nichts als Gestöhne und Beschwerden über die Temperaturen. Kaum jemand hatte Lust zu arbeiten, jeder schwitzte und eigentlich beteten die meisten einfach nur, dass es sich ein bisschen Abkühlen möge, insbesondere ihre Köchin Bertha, die im Moment hinter dem Feuer ihrer Küche eigentlich konstant so aussah, als hätte man sie mitsamt Kleidung in einen der Kanäle geworfen. Alida machten solche kleinen Probleme der Sterblichen natürlich schon lange nichts mehr aus, allerdings sorgten die Hitze und all das Schwitzen leider auch dafür, dass es selbst im sauberen Anwesen der Familie van de Burse ein regelrechter Dunst herrschte. Das schlichte Aufreißen der Fenster brachte auch keine Erleichterung, denn der nicht vorhandene Wind hätte auch nur den Gestank des Brackwassers der Kanäle hinein geweht. Ein paar Diener hatten begonnen getrocknete Kräuter zu verbrennen, was aber zu eher fragwürdigem Erfolg geführt hatten und eigentlich nur dafür gesorgt hatte das Haus so sehr einzuräuchern.
Es war Sonntag und Alida hatte eine Einladung erhalten. Mildred hatte sie sehr kurzfristig zu einem kleinen Abendessen in ihrem neuen Anwesen eingeladen. Das Ganze wirkte unschuldig genug, immerhin war die Gildenmeisterin der Seidenweberinnen in Brügge ihre Verwandte, aber die Tzimisce wusste, dass es eigentlich ganz und gar nicht Mildreds Art war so kurzfristig und im kleinen Rahmen einzuladen. Die Feiern und Bankette, die ihre Verwandte zu geben pflegte, hatten immer etwas extravagantes und beinahe Dekadentes, zu der so viele Gäste geladen wurden wie in die große Halle passten.
Alida fuhr mit den Fingern über das Schriftstück, das die Einladung enthielt, betrachtete die geschwungenen Linien der feinen, aber konsequenten Handschrift. Wenn Mildred sie so kurzfristig zu einem Abendessen einlud, dann musste es etwas zu besprechen geben, dessen Wichtigkeit wohl keinen allzu langen Aufschub duldete. Mildred und sie waren vor einigen Jahren aneinander geraten. Alida hatte ihr Vorhaltungen gemacht, da das Gerede, das Mildred in den Kreisen der Brügger Bürger Umlauf gebracht hatte, sie selbst und ihre Familie in den Mittelpunkt der Gespräche der Leute rückte und das vielmals nicht zum besten. Was sie in dem Moment, in dem sie ihrer ‚Nichte‘ Geschwätzigkeit vorwarf und sie daran erinnerte, das Wohl der Familie nicht aus den Augen zu verlieren, nicht verstanden hatte, war, dass Mildred genau diese Gerüchte gestreut hatte um von anderen Wahrheiten abzulenken, die sie und die Familie in weit größere Bedrängnis hätte bringen können. Alida stieß ein anerkennendes Schnauben aus: Kluges Mädchen!
Mildred war eine junge Frau, die mit Intelligenz und Gerissenheit ihren Weg ging. Sie war klug und hübsch, wusste wie sie das erhalten konnte, was sie wollte und ließ nicht zu, dass sich dabei etwas in ihren Weg stellte. Mit diesen Eigenschaften hatte sie es bis zur Gildenmeisterin der Seidenweber geschafft. Alida bewunderte die Gradlinigkeit und den festen Charakter ihrer Nichte, die sie oftmals an das sehr ähnliche Wesen ihrer eigenen Schwester Maria erinnerten. Diese Frau konnte es durchaus mit jedem Mann in Brügge aufnehmen.
Sie würde ihren Termin im Kontor für den morgigen Abend absagen.
Auch der Tag des Abendessens brachte keine Abkühlung, ganz im Gegenteil. Es war heiß, stickig und wahrscheinlich würden die wenigsten der Brügger Bürger heute Nacht Schlaf finden. Das Anwesen von Mildred lag im Grunde nicht weit von ihrem eigenen entfernt. Alida konnte das kurze Stück des Weges zu Fuß gehen, aber die Details ihrer Ankunft hatte sie noch nicht entschieden auch nicht ob sie noch jemanden mitnehmen wollte, wie zum Beispiel Cato oder Frederik. Es wurde sehr spät dunkel in dieser Jahreszeit, aber dank der Hitzewelle hatte Mildred den Zeitpunkt des Mahls erst nach Sonnenuntergang gesetzt. Damit gab es keinerlei Probleme bezüglich Alidas Anwesenheit. Trotz allem war der Sommer immer eine besondere Herausforderung für die Tzimisce und auch andere Kainiten. Es blieb einfach sehr wenig Zeit um alles Wichtige in jeder Nacht zu erledigen.
Alida suchte in den Truhen ihrer Kammer nach einem dunkelblauen Gewand aus Leinen. Das Kleid war einfach gehalten, doch an den Seiten edel verziert. Mit Freude hätte sie lieber nach dem Gewand aus der luftigen grüner Seide gegriffen, dass sie einst aus Konstantinopel mitgebracht hatte, aber ein so kostbares Tuch hätte unnötig Aufmerksamkeit mit sich gebracht und darauf wollte sie verzichten.
Sie entschied sich nur einen Wachmann als Begleitung mitzunehmen, der sie vor den Türen des Anwesens der jungen Frau wieder verlassen mochte. Mildred wäre wohl alles andere als erbaut, brächte sie den gigantischen, nach wie vor eher erschreckenden Hund Cato mit zu einem Abendessen und auf der Einladungen waren keine anderen Namen vermerkt, also entschied sie sich dazu allein zu erscheinen. Sie ging an der Seite des Wachmannes bis zu ihrem Ziel und ließ den gestandenen Kerl mit dem Knauf seines Schwertes an die Tür schlagen.
Alida erreichte schließlich nach einem kurzen Fußmarsch und in Begleitung ihrer Wache das Ziel ihres heutigen Abends. Große Holztore aus dunkler Eiche begrüßten sie und passten perfekt zu dem großen Anwesen aus Sandstein und gebrannten Ziegeln.
Mildred war nach ihrer Heirat mit einem Zunftmeister der Weber natürlich in dessen Haus gezogen, auch wenn von dem eigentlichen Gebäude nicht mehr viel übrig war. Sie hatte das alte Holzhaus abreißen lassen und ein völlig neues bauen lassen. Sie hatte sogar einen Architekten aus dem fernen Florenz kommen lassen, den Frederik ihr eigens für das Bauvorhaben empfohlen hatte. Das Ergebnis war, wie die meisten Leuten zugeben mussten, ein einzigartiger Hybrid aus flandrischer Praktikabilität und italienischer Handwerkskunst. Von außen sah man davon aufgrund der Mauern zwar nicht viel, doch die großen Fenster die viel Licht in das Haus ließen, schafften einen offenen und freundlichen Charakter, den man so weit im Norden recht selten sah.
Eine in saubere Gewänder gekleidete Dienerin öffnete Alida und mit einem formvollendeten Knicks bat sie Alida einzutreten. „Herrin, ich bin hier, wenn ihr ablegen möchtet, ansonsten bitte ich euch, den Weg in Richtung Garten zu folgen. Meine Herrin hat das Mahl aufgrund der warmen Nacht nach draußen verlegt.“ Das junge Mädchen, das wohl nicht älter als sechzehn Jahre alt war, drehte sich zu ihrer Wache. „Werdet ihr warten? Dann stehen in der Küche Bier und frisch gebackenes Brot für euch bereit.“ Sie zeigte kurz auf einen Seiteneingang der Wohl in die Küche führen würde.
Alidas Weg schließlich führte sie weiter in das Anwesen, in Richtung Garten hinein und schon von weitem hörte sie das Gemurmel einiger Stimmen und ein paar leise Harfenklänge, die das Gespräch begleiteten. Irgendwo zwischen einigen Obstbäumen konnte sie eine große Tafel ausmachen, an der etwas zehn Personen saßen, die sich offenbar bereits Wein und Bier schmecken ließen. Plötzlich entdeckte Alida auch Mildred, die ehrlich lächelnd auf ihre Verwandte zutrat. Sie küsste Alida kurz auf die linke und rechte Wange und führte sie dann in Richtung Tisch. Ihre ‚Nichte‘ trug ein dünnes Kleid aus feiner, weißer Seide welches sicherlich ein kleines Vermögen gekostet hatte, trotzdem aber wohl die sicherste Zuflucht vor der schwülen Hitze bot, die man sich vorstellen konnte. Mildreds Stimme klang fröhlich. „Wünscht du eine Erfrischung, Tante? Es gibt guten Rotwein aus der Gascogne, Florentiner Weißen, Minzwasser und natürlich auch Aldurbräu.“
Alida war ein wenig überrascht. Sie hatte, angesichts der kurzfristigen Einladung eher mit einer privaten Unterredung im kleinen Kreis als mit einem kleinen Fest gerechnet, aber wie immer gelang es Mildred ganz offensichtlich auch in einer schwülen, kaum erträglichen Nacht wie der diesigen den Gästen auf die zuvorkommenste und angenehmste Art den Abend zu einem Vergnügen zu gestalten. Fast ein wenig neidisch blickte sie auf die weiße, luftige Seide und dachte wehmütig an das grüne Kleid, das in seiner Kiste ruhen musste. Seide- Die perfekte Wahl für einen Abend wie diesen.
„Hab Dank für diese Einladung, Mildred. Florentiner Weiße wäre grandios. Aber nur, wenn es keine Umstände macht. Ein gelungenes Fest.“ Sie nickte anerkennend.
„Ich danke dir. Für deine lieben Worte, Tante.“ Mildred gab kurz darauf eine Anweisung an eine der bereitstehenden Dienerinnen und erreichte schließlich mit Alida die reich gedeckte Tafel. Am Kopfende saß der Herr des Hauses, der alte Arn van Bergen. Er war der Patriarch einer der einflussreichsten Weberfamilien der Stadt und das schon seit über sechzig Jahren. Ursprünglich hatte Mildred seinen Sohn heiraten wollen um Teil der einflussreichen Familie zu werden. Die Verbindung war beiden Seiten der Familie recht gewesen, brachte man doch so zwei einflussreiche und respektable Händlerfamilien in Brügge zusammen. Das Schicksal meinte es jedoch nicht sonderlich gut mit den Verlobten und innerhalb kürzester Zeit war Mildreds Versprochener einem Winterfieber zum Opfer gefallen. Da der Mann keine Brüder hatte, schien die Verbindung geplatzt zu sein, aber pragmatisch wie sie war, hatte Alidas Verwandte einfach den alten Patriarchen selbst geehelicht. Ein Altersunterschied zwischen einem Mann und seiner Braut war zwar nicht ungewöhnlich, hier reizte es den möglichen Rahmen jedoch voll aus, auch wenn natürlich jeder wusste, dass die Ehe aus rein wirtschaftlichen und nicht romantischen Motiven geschlossen wurde. Der alte Arn, wie er auch von vielen genannt wurde, war ein gutherziger und gerechter Mann. Er stand zu seinem Wort, hatte viele Jahre hart gearbeitet und ebenso wie Alida selbst neben dem eigenen Wohl auch das der Stadt im Kopf gehabt. Er war inzwischen erblindet, hatte nur noch zwei Zähne, aber hinter den milchigen Augen verbarg sich noch immer ein scharfer Geist. Als der alte Mann Alidas Stimme hörte, stand er unter Stöhnen seinem bequemen Sessel um Alida zu begrüßen. „Alida van de Burse. Welch eine Freude. Bitte fühlt euch ganz wie zu Hause!“
Alida deutete eine tiefe Verbeugung vor dem alten Mann an. Sie schluckte bevor sie sich erhob. Sie hatte Arn seit mehreren Jahren nicht gesehen und es erschreckte sie, wie das Alter seinen Tribut gefordert hatte. Sie erinnerte sich noch an den jungen Mann, der damals mit der Hand seines eigenen Vaters auf der Schulter um Aufnahme in die Händlergilde ersucht hatte. Ein hübscher Bursche mit wachen, intelligenten Augen. Damals war Brügge ein andere Stadt gewesen…
„Habt Dank für eure Gastfreundschaft, Meister van Bergen. Möge der Herr euch wie stets sein Wohlwollen schenken.“
Der alte Patriarch bedankte sich artig bei Alida und tauschte noch ein paar Freundlichkeiten mit ihr aus, auch wenn Alida sofort auffiel, das ihn das wenige sehr anstrengte.
„Setz dich, Arn, ich bin gleich bei dir.“ Mildreds Stimme war weich und freundlich als sie ihrem Gatten zurück in seinen Sessel half. Dann wandte die Gastgeberin ihre Aufmerksamkeit allerdings wieder Alida zu und stellte die Tzimisce den anderen Gästen vor. Es handelte sich um englische Wollhändler, die gerade eine nicht unbeträchtliche Menge ihres Rohstoffes nach Brügge geschifft hatten, mit denen der alte Arn im nächsten Jahr Tuche produzieren würde. Mildred setzt Alida neben einen Mann namens Medwick James, ein junger, gutaussehender Rotschopf, der allerdings die mit Abstand beste Kleidung unter all den Engländern trug. Dieser Umstand ließ darauf schließen, dass er wohl der war, der in der kleinen Reisetruppe das meiste zu sagen hatte.
Er war aufgestanden und hatte Alida galant begrüßt und ihr einen Platz angeboten. „Vielleicht sollte ich überlegen mir eine Braut in Flandern zu suchen, wenn alle Frauen hier so schön sind wie ihr und meine großzügige Gastgeberin.“ Er lächelte schelmisch. „Aber für solche Überlegungen bleibt auch später noch Zeit. Es freut mich sehr, eure Bekanntschaft zu machen. Der Name van de Burse ist mir natürlich ein Begriff. Niemand kommt am Handel mit Brügge vorbei ohne Geschichten über das Geschick einer der erfolgreichsten Händlerfamilien nördlich der Alpen zu hören.“ Der Mann namens Medwick erhob einen silbernen Becher der voll mit dunklem Rotwein gefüllt war und prostete Mildred zu. Auch Alidas Weißer war inzwischen serviert worden. Dann wandte sich ihr Tischnachbar noch einmal zu ihr und flüsterte beinahe verschwörerisch. „Und doch glaube ich, dass es kein Zufall ist, dass eure Verwandte uns nebeneinander platziert hat. Ich vermute daher, dass ich mich am besten an euch wende, wenn es darum geht Geschäfte zu machen?“
Innerlich schmunzelte Alida bei dem Gedanken. Ertragreiche Geschäfte kamen allen zu Gute: den van Bergens, den van de Burse, den Engländern und Brügge. Ja, wahrscheinlich hatte Mildred diese kleine Begebenheit tatsächlich eingefädelt, gerissen, wie sie war.
Erfreut ergriff sie die Gelegenheit einen neuen Handelspartner kennen zu lernen und wechselte zugleich ins Englische. „Wir Flandern sind generell dafür bekannt gute Geschäfte zu tätigen, die sich vor allem dadurch auszeichnen, dass sowohl wir als auch unsere Geschäftspartner mit ausgesprochenen Gewinnen, Erfolg und um ein paar positive Erfahrungen reicher daraus hervorgehen.“ Sie lachte bei dieser kleinen ein wenig übertriebenen Lobeshymne an ihr Volk und schmunzelte wohlwollend. Sie begann sich mit ihm über seine Anreise, seinen Eindruck von Brügge und dessen Bewohner und das Wetter zu unterhalten, fragte dann höflich nach seinen Handelswaren und Geschäften in England und kam schließlich zu den Produkten, die er feilbot und auf die Waren, die derzeit in Brügge in den Lagerhäusern der Van de Burse ruhten, zu sprechen.
In der Zwischenzeit wurden die ersten Gänge aufgetafelt. Es gab eine dicke Suppe aus Gerste und Bier, frischen Salat aus jungem Spinat und frischen Gurkenkräutern, mit getrockneten Pflaumen und Walnüssen. Es folgten Schnecken in Honig und Knoblauch deren Sud mit feinsten, weichen Weißbrot genossen werden sollte. Medwick aß langsam und schien jeden Bissen zu genießen, während der Tisch immer weiter mit Fleischpasteten aus Wild und Geflügel, die in dunkler Soße getränkt waren, beladen wurde. Der junge Händler legte sein Essmesser zwischendurch immer wieder ab um sich mit Alida zu unterhalten. Sie streiften eine ganze Reihe von Themen angefangen bei Handel über Politik bis hin zu Kunst und Sprachen. Der Mann war ein äußerst angenehmer und eloquenter Gesprächspartner, der eine breite Bildung besaß. An seinem leichten Akzent konnte Alida ausmachen, dass er ganz sicher nicht der englischen Oberschicht entstammte, sondern eher dem einfachen Volk entstammte. Sie tippte ganz und gar auf London, da die Menschen dort alle ein wenig anders sprachen als auf dem Land. Noch während sie miteinander sprachen wurde mehr Essen herbeigetragen. Birnen pochiert in gewürztem Wein, kleine kross gebratenen Heringe in Salzkruste und kleine mit Pilzen und Zwiebeln gefüllte Fasanenbrüstchen. Ein Dienern war nur damit beschäftigt rubinrote Weine, süffiges Bier und allerlei süße Liköre in den silbernen Bechern nachzufüllen. Wasser wurde kaum getrunken und die Stimmung wurde immer lockerer. Ihr Gesprächspartner ließ sich seinen Wein allerdings immer großzügig mit Wasser verdünnen. Dann wurde der Fleischgang serviert. Zwei Diener trugen ein silbernes Tablett, reichlich beladen mit einer riesigen in Honig und Thymian gebackenem Schinkenkeule, an der heiß zischend das Fett herunterlief. Dazu gab es in Zwiebeln und Mandelmilch gedünstete Leber und allerlei Wildbrett serviert mit Butter und einer cremigen Soße aus Wein und Sahne. Zusätzlich gab es noch frische, immer noch dampfende Brotleibe und eine große Schüssel mit allerlei in Nussbutter geschwenktem Wurzelgemüse. Medwick legte sich die Hände auf den Bauch und atmete geräuschvoll aus. „Ich weiß nicht wie es euch geht, aber ich kapituliere gleich.“ Er lächelte rundum zufrieden und schien sich ausgesprochen wohlzufühlen. Zwischen Fisch und Fleisch kamen sie auch auf den Handel selbst zu sprechen, den der Engländer mit Alida zu tätigen pflegte. Er wollte seine Wolle nicht mehr selbst nach Flandern verschiffen, sondern diese zentral in London abholen lassen. Die beiden Händler verstanden sich beinahe blind und ohne groß zu feilschen, arbeiteten sie ein erstes Angebot aus. Die Details mussten noch geklärt und entsprechende Verträge abgeschlossen werden, aber Alida konnte sich sicher sein, dass nicht nur sie beide, sondern auch Arn van Bergen am Ende daran verdienen würden, wenn sie das Handelshaus van de Burse beauftragen würden das Verschiffen der Rohwolle zu übernehmen. Medwick lächelte ihr mit seinen ebenmäßigen Zähnen zu. „Das ging schneller und einfacher als ich je zu hoffen gewagt hätte.“ Er aß eine der pochierten Birnen und ließ sich ein paar Stücke des Wildes munden. „Sagt mir Alida, was gibt es sonst neues aus euren flandrischen Landen?“
Alida war ausgesprochen froh darüber einen angenehmen Abend mit interessanten Gesprächspartnern verbringen zu können, vor allem, wenn sich daraus noch lohnende Geschäfte ergeben konnten. Für ihre Verhältnisse war das Essen mehr als reichlich und die Dekadenz, die durchaus darin zu erkennen lag, wohl gezielt von Mildred ausgewählt: nur das Beste für ihre Gäste!
Alida lachte als sie sprach. „Neues in Flandern? Ihr meint außer der Tatsache, dass wir uns derzeit überlegen wie man sich am ehesten Kiemen und Schwimmhäute wachsen lassen könnte um in die Kanäle und die See zu springen um wenigstens dort ein wenig Kühle zu genießen? Bevor man dahin schmilzt?“ Sie sah den Engländer an. „Was ist euch im weit gerühmten London denn zu Ohren gekommen über das Festland?“ Es erschien ihr geschickter mit einer Gegenfrage zu beginnen. Sie überlegte, was sie ihm Positives von Flandern berichten konnte. Gerüchte über verfeindete Adelsgeschlechter und drohenden Bürgerkrieg wären ihren Geschäften mehr als abträglich.
Die feinen Bienenwachskerzen, die den Tisch erleuchteten, waren bereits ein gutes Stück heruntergebrannt, als die schier unendliche scheinende Anzahl von Dienern, die Mildred zu beschäftigen schien, schließlich den Nachtisch auftrugen. Es gab süßes und gewürztes Gebäck, frische Walderdbeeren in Sahne und kleine, weiße Kuchen aus Nussmehl und Butter, die in Safranwasser getaucht waren. Zusätzlich wurde jedem Gast ein Krug mit Honig gesüßter Mandelmilch serviert. Zusätzlich aromatisiert war das Getränk mit Zimt, aber nicht einmal das war es, was den Tisch plötzlich in eine erstaunte Stille tauchte. Die Milch war wunderbar kalt, denn in der Flüssigkeit schwamm Eis welches, wie Alida wusste aus dem eigens gebauten Eiskeller stammen musste. Im Winter wurde dort frisches Eis aus den Teichen und Seen eingelagert, welches vorher mit Stroh eingepackt wurde. Ein so gekühltes Getränk schaffte es immer Eindruck zu schinden insbesondere an einem so heißen Tag.
Medwick wirkte schlagartig ein wenig ernster als Alida ihm zwischendurch ihre Frage stellte. Er hielt sich bedeckt, antwortete aber überlegt und ehrlich. „Auf der Straße spricht man noch nicht davon, aber ich habe gehört das es Spannungen im Land gibt. Viele meiner Kollegen fürchten einen Bürgerkrieg in Flandern.“ Der Rotschopf hielt einen Moment inne und überlegte. Arn van Bergen war noch vor dem Nachtisch eingeschlafen und schnarchte leise. Zwei Diener erschienen lautlos und trugen den alten Mann ins Innere des Hauses und niemand unterbrach sein Mahl. Das schien öfter vorzukommen. Medwick hatte sich davon aber nicht ablenken lassen. „Ich weiß nicht, was kommen wird, aber je nachdem wie sich diese Spannungen entladen sollten, würden auch wir in England erheblich darunter leiden. Der Wollmarkt ist einer der wichtigsten im ganzen Land und Flandern unser Hauptabnehmer.“
Alida nickte nachdenklich. Sie versuchte nicht all zu zustimmend auszusehen, teilte aber nur all zu gut die Befürchtungen des jungen Kaufmannes. „Unsere Gräfin Johanna regiert Flandern seit einigen Jahren und hat dabei ein für eine Frau beträchtliches Geschick an den Tag gelegt, das im gleichen Atemzug mit vielen anderen Herrschern genannt werden kann. Probleme gilt es dabei immer zu überwinden. Ob von außen oder aus den inneren Kreisen. Möge der Herr ihre Schritte stets auf dem rechten Pfad lenken, genauso wie die ihrer Familie und Berater.“ Alida wagte nicht mehr mit einem Fremden auszutauschen.
Bevor Medwick auch nur antworten konnte, erhob sich Mildred und plötzliche Stille kehrte an den Tisch. Die Händler wirkten alle satt und zufrieden und keiner der Anwesenden schien das ernste Thema, welches Alida und ihr Gesprächspartner angeschnitten hatten, bemerkt zu haben.
Mildred lächelte den Männern entwaffnend zu. „Meine Herren, ich hoffe, allen hat das Mahl gemundet.“ Sofort kamen Worte des Lobes und der Zustimmung, die Alidas Verwandte aber sofort überspielte. „Bitte esst und trinkt noch, doch ich werde mich nun für das erste zusammen mit meiner Verwandten zurückziehen. In der Zwischenzeit wünscht unser junger Barde hier das erlauchte englische Publikum mit ein paar Weisen zu unterhalten.“ Der braunhaarige, ausnehmend hübsche junge Mann verbeugte sich leicht und begann wie ein Engel auf seiner Harfe zu spielen. Schließlich begann er auf Englisch zu singen, die Ballade des König Arthus und seiner Tafelrunde.
Es dauert nicht lange, dann stand Mildred neben Alida und bot ihr einen Arm an. „Tante?“ Die grün-braunen Augen ihrer Verwandten sprachen Bände. Jetzt war wohl wirklich der private Teil des Abends gekommen. Die meisten der Händler folgten inzwischen dem jungen Barden. Einige nippten noch an einem Glas Wein oder knabberten an einem der Gebäckstücke. Alle schienen wie verzaubert. Es war einmal mehr erheiternd zu sehen auf welch wundersame Weise ein gutes Essen und etwas Unterhaltung manchmal wirken konnten.
Alida verabschiedete sich höflich von ihrem Tischpartner sowie den anderen Gästen und erhob sich. Sie bat den jungen Engländer doch am nächsten Abend bei den van de Burse zu einer geschäftlichen Unterredung vorbei zu kommen sofern er die Zeit erübrigen könne und nahm dann den Arm der jungen blonden Frau an. Sobald sie außer Hörweite der anderen waren, gratulierte Alida. „Ein ganz und gar gelungenes Fest. Herzlichen Glückwunsch. Deine Gäste sind beeindruckt.“
„Danke Alida. Ich glaube, meine Köchin hätte sich am liebsten selbst in die Flammen geworfen als ich ihr den Speiseplan gegeben habe, aber es scheint sich doch alles gelohnt zu haben.“ Sie gingen ins Innere des Hauses. Über dem Portal, welches in die Empfangshalle führte, war noch ein Dach gezogen wurde, welches von Säulen gehalten wurde, ein architektonisches Element, welches auf der ganzen Seite des Hauses genutzt wurde. Es erinnerte ein wenig an einen Kreuzgang, mehr noch an eine Art von Atrium, was wieder zum südländischen Stil des Hauses beitrug. Hier oben im Norden musste man tricksen. Man durfte die Kälte schließlich nicht hineinlassen, aber so gewann die Rückseite des Hauses doch ein wenig an Leichtigkeit.
Erst als sie im inneren des Hauses waren sprach Mildred wieder. „Der Abend war zwar dazu da vielleicht ein paar Handlungsbeziehungen knüpfen zu können, aber das war noch nicht alles, was du dir vielleicht denken konntest. Es gibt jemanden, der mit dir sprechen möchte, und dieser jemand wollte keinesfalls, dass jemand etwas davon mitbekommt. Das Essen hat dafür einen perfekten Rahmen geboten.“ Die Eingangshalle war prachtvoll. Es gab viel dunkles Holz und Marmor, die den weiten Weg aus Italien hierher gebracht wurden. In der Mitte des großen Treppenaufganges hing allerdings ein ganz anderer Blickfang. Es war ein Seidentuch, fein bestickt mit Scharlach und Gold welches das Wappen der Familie van de Burse darstellte. Drei goldene Geldsäcke auf einem rot-goldenen Wappen. Es war Mildreds Meisterstück gewesen, ein Beweis ihrer feinen Handwerkskunst mit dem sie zur Gildenmeisterin aufgestiegen war. Neben der ganz offenbar schmückenden Funktion hatte es wohl auch noch eine andere Funktion, denn so war ganz klar, wer hier in diesem Haus eigentlich das Sagen hatte.
Alida nickte anerkennend. „Du hast dir hier ein großartiges, bewundernswertes Zuhause geschaffen und allein für diese meisterhafte Arbeit hättest du deinen Platz im Rat der Seidenweber verdient. Nebenbei: ich mag das Motiv.“ Sie schmunzelte verräterisch. „Ich hoffe, dein Erfolg bleibt bestehen. Verdient hast du ihn. Mit dem Wollhandel mit England werden vor allem deinem Mann und seinen Gesellen weitere Tore offen stehen, aber wir erwarten in den nächsten Wochen einen Konvoi aus Andalusien. Ich bin mir sicher, er wird auch für dich die bestellte Seide mitbringen.“ Sie sah zu der blonden jungen Frau und ging auf das andere ein, was sie gesagt hatte. „Du hast mich neugierig gemacht… Welcher deiner Bekannten wünscht mich zu treffen?“
Mildred nickte ehrlich dankbar für die Worte und die Anerkennung. Beide Frauen wussten wie risikoreich das Geschäft der Seidenweber war. Wenn es an dem teuren und seltenen Rohstoff mangelte, konnten sie schlicht nicht arbeiten und jeder einzelne, noch so kleine Fehler den man beim Weben des dünnen Fadens machte, war permanent und minderten den Preis des fertigen Stoffes. Fehlerfreie, dicht gewebte und ordentlich gefärbte Seide erzielte dafür aber so unverschämt hohe Preise bei Kirche, Adel und wohlhabendem Bürgertum, dass sich das Geschäft mehr als nur lohnte. Die junge Frau führte Alida in einen Seitengang. „Oh, es ist nicht einer meiner Bekannten, sondern einer von deinen. Sie sagte, sie kennt dich und hat sich mit dem Namen Charlotte Erembald vorgestellt. Noch etwas Alida. Sie war sehr geheimnisvoll und wollte auch, dass es so bleibt. Nicht einmal die Diener wissen, dass die Frau hier ist. Ich werde in der Bibliothek warten, denn sie wollte unbedingt alleine mit dir sprechen.“ Sie ließ ihre Verwandte schließlich eintreten und schloss die Tür dann wieder hinter sich. Die Tzimisce trat in ein kleines Arbeitszimmer welches nur von ein paar Kerzen erhellt wurde. Die Gestalt, die dort auf sie wartete, war die, die sich angekündigt hatte. Sie kannten sich nicht besonders gut, aber beide Kainiten hatten schon miteinander zu tun gehabt. Charlotte Erembald saß aufrecht auf einem kleinen Sofa und nickte Alida kurz zu, während sie sofort zu sprechen begann.
„Guten Abend, Alida. Ich entschuldige mich für einen solch dilettant-theatralischen Auftritt, aber meine Anwesenheit hier sollte unter allen Umständen geheim bleiben. Bitte setzt euch wir haben keine Zeit zu verlieren, denn morgen brechen wir nach England auf.“