November 1929, BrüggeDer Priester schritt mit demütig gesenktem Haupt die langen Reihen seiner Basilika entlang. Obwohl das Gebäude nicht so groß war wie manch anderer Prachtbau in Flandern, so war er dennoch stolz über die Bedeutung und die prächtige Einrichtung des heiligen Kirchenschiffs.
Sein Blick wanderte von der schwachen Flamme des ewigen Lichts, die mit Ausnahme der Kerze, die er selbst in Händen hielt, die einzige Lichtquelle in der Basilika war, zu der kleinen Phiole in der Mitte des Altarschreins. Ehrfürchtig hielt er einen Moment inne, sog tief die Luft ein. 'Das Blut Christi', das wahre, heilige Blut. Diese Reliquie war eine der bedeutendsten im ganzen Abendland und der ganze Stolz eines jeden Geweihten, der je dieser Kirche in Brügge vorgestanden hatte, so auch ihm selbst. Er hielt auf die vorderste Treppenstufe zu, wo er wie jeden Morgen sein Gebet zu verrichten gedachte, bevor in zwei Stunden der morgendliche Gottesdienst beginnen würde.
Er spürte das vertraute Gefühl des alten Teppichs, roch das intensive, leicht modrige Aroma der uralten Bänken und Wandverkleidungen. Er hörte wie der sintflutartige Regen des frühen Novembermorgens eiskalt gegen die noch schwarzen Buntglasfenster klatschte und es dann auf dem Kopfsteinpflaster der Straßen zu kleinen Bächen zusammen lief. Ein mehr als vertrautes Geräusch für diese Jahreszeit. Wie jeden Morgen knarrte eine der prächtigen Bodenfliesen als er seinen Fuß darauf setzte.
Eine plötzliche Eingebung ließ ihn erstarren: Eine Unebenheit in dem so vertrauten Gefüge. Er sah sich um, spürte sein unruhig klopfendes Herz und suchte nach dem 'Fremdkörper'. Er hielt unbewusste die Luft an bis sein Blick schließlich nach geraumer Zeit auf einem dunklen Bündel in der zweiten, äußeren Bankreihe hängen blieb. Ein Gläubiger? Zu dieser fast gottverlassenen Uhrzeit? Vielleicht ein Bettler, der in der Basilika Zuflucht vor der eiskalten, verregneten Nacht gesucht hatte? Aber diese Hungerleider wurden doch für gewöhnlich bereits in der unteren Eingangshalle der Kirche mit mehreren gut verschlossenen Türen daran gehindert in die obere Basilika zu gelangen. Er schluckte schwer, bemerkte seinen eigenen raschen Atem. Er war ein Mann Gottes und brauchte sich in dieser Basilika nicht zu fürchten, rief er sich ins Gedächtnis.
Er versuchte die Schultern nach hinten zu strecken und seinem Schritt einen ebenmäßigen Klang zu geben. Mit der von ihm erwarteten Zuversicht ausstrahlenden Ruhe trat der alte Priester näher. Seine Worte richtete er an das zusammengesunkene Bündel ohne dessen Gesicht zu erkennen. „Möge der Herr mit dir sein, mein Kind.“
Nach wie vor rührte sich nichts, doch der Priester ließ sich Zeit. Langsam hob die in einen verfilzten, dunklen Mantel gehüllte Person den Kopf und der Priester musste all seinen Mut und seine Selbstbeherrschung zusammen reißen um nicht entsetzt nach hinten zu springen und die Flucht zu ergreifen.
In der dunkeln Eichenbank saß eine junge Frau mit strähnigem Haar und tiefen Ringen unter den Augen. Obwohl ihre Züge nicht älter als 25 Jahre wirkten, sah sie verhärmt und zu Tode erschöpft aus. Vielleicht hatte sie Schwindsucht im letzten Stadium, kurz vor ihrem Ableben, versuchte sich der Priester einzureden und er wusste nicht ob ihn dieser Gedanke nun beruhigen oder in Panik versetzen sollte. Zumindest würde diese fast immer tödliche Krankheit das viele Blut erklären, das ihre Arme bedeckte und ihr von den blassen Lippen tropfte.
Er trat einen Schritt zurück um einen potentielle Ansteckung zu vermeiden und wiederholte seine Worte. „Möge der Herr mit dir sein.“ Von einer Schwindsüchtigen erwartete er ein Husten, das jedoch nicht einsetzte, als die kleine Frau zu sprechen begann. Ihre Stimme war brüchig, rau, als wäre sie Jahrzehnte nicht benutzt worden und sie sprach in einem seltsamen altertümlichen Dialekt. „Das Blut da oben, das 'Heilige Blut', es ist nicht echt, wisst ihr das? Das wahre 'Heilige Blut' hat ein Mann getrunken, den ich einst Freund nannte...“ Ihre Stimme war leise, als spräche sie zu sich selbst und wurde erst lauter als sie ihn mit blassen Augen ansah.“Vermögt ihr mir die Beichte abzunehmen, Vater?“
Er schien zunächst verwirrt, nickte jedoch schließlich mit ruhiger, selbstgerechter Zuversicht mit dem Haupt. „Gewiss, meine Tochter.“ Sein Herzschlag verlangsamte sich. Nur eine verwirrte, verlorene Seele, die die Hilfe des Herrn erflehte... Er verbannte die ganzen unsinnigen Phantasien von Teufeln, Monstern und Dämonen, die die Schatten der Nacht heraufbeschworen zurück ins Land der Märchen und deutete auf den Beichtstuhl im Seitenschiff. Die vermummte Frau erhob sich langsam und schritt schwerfällig hinter ihm zu dem Kasten der Buße aus dunklem Eichenholz. Während der Priester auf dem samtenen Polster Platz nahm, das seine alten Knochen schonte, kniete die Frau auf der harte Holzbank, die den Büßern vorenthalten war. Der Priester schob das kleine Brett vor dem verbindenden Fensterchen fort und beäugte das schmutzige Gesicht der kleinen Frau. Er schlug ein Kreuzzeichen, das die Unbekannte erwiderte und sprach die vertrauten Verse in Latein „Laudetur Jesus Christus“
„In Aeternum, Amen“ Das Latein der Büßerin klang so flüssig als hätte sie es jahrelang gelernt oder gar gesprochen.
Der Priester sprach ein paar Bibelverse, die er sich eigentlich für die heutige Messe zurecht gelegt hatte und wartete schließlich darauf, dass die Frau anfing. Sie ließ sich Zeit und ihre Worte waren nur ein kaum vernehmbares Flüstern in den Schatten der Nacht
„Vater, ich habe gesündigt.“ Sie stockte als fiele es ihr schwer weiter zu sprechen. „Ich habe geschlafen... viel, viel zu lange geschlafen. Durch mein Tun damals hatte ich Unheil und Unglück über meine Familie herauf beschworen. Das waren andere Zeiten, lang, so lang her als Brügge reich und mächtig war. Ich wollte daraufhin die Verantwortung nicht mehr tragen, die so schwer auf meinen Schultern lag, wollte einfach nur weg laufen vor allem, was ich in der Hoffnung Brügge zu retten falsch gemacht habe, vor den anklagenden Gesichtern, den vorwurfsvollen Blicken. Ich habe ihre Gedanken gelesen, obwohl ich das vielleicht nicht hätte tun sollen und gewusst, dass viele wollten, dass ich verschwinde und nie wieder auftauche.
Der größte Teil meiner Familie verließ daraufhin Brügge und ging nach England. Ich wusste, mein Neffe würde sich um sie kümmern. Er war gut darin. Wahrscheinlich um einiges besser als ich. Ich wusste nicht, wie ich den Niedergang Brügges aufhalten sollte, konnte den Tod von so vielen, die mir etwas bedeuteten nicht ertragen und mir fehlte die Kraft weiter zu kämpfen. Also entschied ich mich dazu zu... schlafen und nicht mehr aufzuwachen. Das ist so eine verführerische Vorstellung, fast wie Erlösung.“ Die Lippen der Frau nahmen einen bitteren Zug an. „Aber das ist es nicht, denn irgendwann, über kurz oder lang, wird man wieder erwachen.“ Sie schwieg wohl eine ganze Minute bevor sie weiter sprach. „Ich wusste, dass es meiner Familie gut ging. Ich bin in der Lage es zu spüren. Sie wuchs, gedieh, hatte Erfolg, vermehrte ihren Reichtum. Frederik schien alles richtig zu machen, denn sie waren glücklich. Vor vier Tagen aber...“ Sie schluckte schwer. „Irgendetwas muss passiert sein. Ich habe einen solchen Bruch im Gefüge gespürt wie nie zuvor. Leid, Tränen, Elend. Frederik... er... er... ist tot.“ Ihre fahlen Augen sahen hilfesuchend zu dem Priester, der nicht recht wusste, was er zu der verwirrten Schilderung sagen sollte. So murmelte er nur ein genuscheltes „Sprich weiter, mein Kind.“
„Ich bin aufgewacht. Ich weiß auch nicht, wie das geschehen konnte.“ Ihr Blick senkte sich zu ihren Händen herab und blieb an den schmutz- und dunklem Blut verkrusteten Händen hängen. „Ich habe vier Menschen getötet, die mir zufällig über den Weg liefen. Alles Leben aus ihren dünnen Adern gesaugt und ich habe es geliebt. Oh Gott, wie hat mir das gefehlt... Ich bin zu meinem alten Zuhause zurück gegangen und habe dort einen Mann angetroffen, der behauptete der Besitzer und ein Van de Burse zu sein, aber ich habe sein Blut gekostet und da war kein Quäntchen van de Burse drin enthalten. Er hat für diese Lüge mit dem Leben bezahlt.“
Wieder sah sie hilfesuchend zu dem Priester, der wie erstarrt stocksteif dasaß und sich nicht zu rühren wagte. „Vater, ich weiß nicht, was ich nun tun soll.“
„Berichte weiter, mein Kind,“ war die monotone Antwort.
Die junge Frau schüttelte den Kopf. „Nein, das kann ich nicht. Bald wird es hell und alles ist da draußen so anders, so fremd. Ich erkenne nur wenige Häuser, die Kanäle riechen anders, kein Gesicht ähnelt einem vertrauten, kaum ein Baum wächst noch von denen, die damals frisch gepflanzt waren... Ich werde Zeit brauchen eine Zuflucht zu finden.“ Sie zog den Mantel zurück und entblößte die Innenseite ihres Armes. Acht schwarze Ziffern erschienen darauf, so dunkel als hätte man sie mit einem Stück Kohle hinein gebrannt. „Bevor ich erwacht bin habe ich diese Zahlen gesehen. Ich habe sie mir mit einem Stück Kohle in den Arm gebrannt um sie nicht zu vergessen. Wisst ihr, was das bedeuten mag?“
Der Priester sah irritiert das verbrannte Fleisch an. Er schluckte und schüttelte dann bestimmt den Kopf. Die Antwort kam zögernd. „Nein, mein Kind. So wahr mir Gott helfe.“
Die Beichtende erhob sich. „Ich muss gehen, Vater.“
Der Priester schien noch immer nicht zu wissen, was er sagen sollte. So vollführte das Kreuzzeichen und sagte die Worte der Lossprechung. Als die vermummte Frau Anstalten machte den Beichtstuhl zu verlassen, fuhr er rasch einige Zentimeter in die Höhe. „Wie ist euer Name?“Sein Herz pochte heftig und er hörte den Regen, der nach wie vor intensiv gegen die Buntglasscheiben hämmerte. Er konnte im schwachen Dämmerlicht des Morgengrauens die Gestalten der Fenster der Basilika erkennen, während er auf die Antwort wartete.
Sie schien zu überlegen. „Alida van de Burse.“
Er wandte den Kopf erneut in ihre Richtung, doch sie war verschwunden. Ein Blick aus dem Beichtstuhl heraus konnte nur noch einen letzten Zipfel des verschmutzen Mantels erhaschen als bereits die schweren Türen der Basilika hinter der Gestalt geschlossen wurden.
Der Priester erhob sich langsam, unschlüssig, was er nun tun sollte. Sein Schritt führte ihn zum Zentrum des Gotteshauses und er blieb schließlich mit demütig gesenktem Haupt drei Schritte vor der Phiole mit dem 'Heiligen Blut' stehen. Was hatte die Frau erzählt? Es war eine Fälschung? Während er die Hände gefaltet hielt, spürte er den Druck der verkrampften Finger auf den Fingerknöchel und betete still vor sich hin. 'Ave Maria...' Immer und immer wieder.
Viele Minuten verstrichen. Schließlich machte er auf dem Absatz kehrt und schritt zurück durch den langen Gang. Er verließ schweren Herzens die Basilika, stieg mehrere Treppen hinab und trat aus dem Gebäude hinaus. Erst als er das Büro seiner Pfarrei betrat hielt er inne. Wieder zögerte er, betete still vor sich hin und griff schließlich nach dem Hörer des neumodischen Geräts, das vor einigen Monaten hier installiert worden war. Mit zitternden Fingern griff er in der Wählscheibe nach den acht Ziffern, die ihn entfernt an diejenigen erinnerten, die die Frau sich in den Arm geritzt hatte.
Er wartete nicht ab bis sich die Stimme am anderen Ende meldete, sondern sprach sofort, als er das kurze Klicken hörte. „Alida van de Burse... Sie ist wieder da.“