Do 7. Jan 2016, 23:23
Sechs Monate später, Mai 1147, Regensburg, wenige Tage vor dem Aufbruch zum zweiten Kreuzzug
Gretlin schmiss die Tür hinter sich ins Schloss, so dass es wie ein Donnerschlag durch die langen Gänge des Klosters Sankt Emmeran, das man der königlichen Familie für die Zeit ihres Aufenthalts in Regensburg zur Verfügung gestellte hatte, dröhnte. Wütend stapfte sie durch einen Kreuzgang und blieb zitternd vor Wut an einem Brunnen in einer verschnörkelten Nische stehen.
Seit sechs Monaten wurden die Königssöhne Heinrich und Friedel bereits von ihrem Herren Eberhardt von Katzenelnbogen unterrichtet. Man hatte Jakob, der ungefähr im gleichen Alter wie der junge Thronfolger war, auf Wunsch des Heilers Gabriel gestattet an den Lehrstunden teilzunehmen und diese Tatsache führte jeden Tag aufs Neue zu Zwist und Problemen, da Heinrich es nur mit äußerstem Widerwillen duldete gemeinsam mit einem Jungen eines niederen Standes unterrichtet zu werden.
Eberhardt erwartete von seinen Schülern Interesse, Fleiß und Fügsamkeit und schien jeden Abend aufs Neue einsehen zu müssen, dass er damit auf taube Ohren stieß: Heinrich stiftete seinen jüngeren Bruder tagtäglich zu Ungehorsam und Streichen an, fand es besonders amüsant statt zu lernen kleine Gehässigkeiten gegen den gleichaltrigen Jakob auszuprobieren, der sich aufgrund seines Standes nicht wehren konnte und Gretlin fragte sich wie lange der Kainit wohl noch gute Mine zum bösen Spiel machen würde.
Sie selbst litt nicht weniger: Es fiel in Gretlin Zuständigkeitsbereich vor jeder Unterrichtsstunde die Aufgaben der Kinder zu kontrollieren und zu besprechen und mit Ausnahme von Jakob war das ein schwieriges, undankbares Unterfangen, denn als Frau wurde sie von dem angehenden König nicht akzeptiert.
Sie war zum einen Ghul, zum anderen die Nichte des Königs. Warum um alles in der Welt musste sie sich tagtäglich so etwas bieten lassen?
Gretlin blickte zu den blühenden Blumen und Kräutern des Klostergartens, die im letzten Sonnenschein des Tages zu leuchten schienen. Von irgendwoher roch sie Flieder, Jasmin und wilden Wein. Sie umklammerte den Rand eines Wasserbeckens, so dass ihre Knöchel weiß wurden. Bevor sie noch etwas vor Wut zertrümmerte…
Ein unterdrücktes Lachen in ihrem Rücken ließ sie herum fahren. Sie erkannte den Ghul Sebastian, der an eine Säule gelehnt da stand und sie amüsiert von oben bis unten musterte. „Wie siehst du denn aus?“
Ein kurzer Anflug von Wut wollte sie übermannen als sie den jungen Mann sah, aber sie konnte sich obwohl sie sich konzentrierte nicht recht erinnern warum. Obwohl das der definitiv falsche Moment war, freute sie sich dennoch ihn zu sehen.
Die schwarze Tinte, die Heinrich auf ihrem Gesicht ausgeleert hatte, lief noch immer an ihren Haaren und Kleidern herab, tropfte auf den edlen Steinboden und das weiße Marmorbecken.
Sebastian schüttelte den Kopf. „Lass raten: Unserem kindlichen Mitkönig Heinrich haben die Schriften von Platon und Sokrates nicht geschmeckt, wie?“
Er trat näher heran und kam neben ihr zum Stehen.
„Nein, Mathematik. Er hält die Berechnung von Strecken für unsinnig, da das Wissen dazu von den Arabern stammt, die sein Vater demnächst bekämpfen wird.“
Der junge Mann verzog das Gesicht zu einem spöttischen Grinsen. „Das kann ich gut verstehen: Man sollte gleich das ganze neuartige arabische Zahlensystem abschaffen. Die Chemie und Arzneikunst der Araber sind auch alles Humbug, ebenso wie die Camera obscura, der von Alhazen beschriebenen Luftdruck und seine Linsen zum Vergrößern von Objekten. Kühlhäuser für die Sommermonate um Nahrung haltbar zu machen? …Braucht keiner…“
Gretlin winkte mit einer Handbewegung ab. „Ja, ja… Alles Humbug.“ Sie holte tief Luft, tauchte dann ihr Gesicht in das klare kalte Wasser des Brunnens ein und wusch sich die Tinte von der Haut. Das Wasser wurde schlagartig schwarz.
Sebastian grinste breit. „Wie hübsch du bist. Beim nächsten Dreikönigstag solltest du den wiesen Mohren Caspar spielen, findest du nicht?“ Er zog ein Taschentuch hervor, hielt es unter den sauberen Wasserstrahl und fuhr ihr über Stirn und Wangen.
Gretlin dankte es ihm mit einer säuerlichen Grimasse. Kurz blickte sie sich um, wusste aber eigentlich bereits ohne den Blick nach links und rechts geworfen zu haben, dass sie alleine waren. Seit Eberhardt sie zu seinem Ghul gemacht hatte vertraute sie mehr auf ihr Gefühl als auf ihre Sinne.
„Ich glaube nicht, dass man Heinrich derzeit wirklich etwas beibringen kann. Der Junge ist so selbstüberzeugt und respektlos. Und keiner wagt es ein Widerwort zu geben. Nicht einmal unser König Konrad käme auf die Idee seinen Sohn ab und an zu ermahnen.“
Sebastian nickte nachdenklich. „Konrad hat in all den Jahren versucht Heinrich zu seinem Nachfolger aufzubauen. Seit er laufen kann, hat man ihm eingetrichtert, dass er König von Gottes Gnaden ist und damit unfehlbar, seine Entscheidungen wie immer er sie trifft, von einer höheren Macht abgesegnet. Das kann in der Art und Weise auf lange Zeit nicht gut gehen.“
Die junge Frau sah ihn an. „Eins verstehe ich nicht: Unsere Meister üben als Berater des Königs tagtäglich großes Einfluss auf ihn aus. Und wenn es keiner laut aussprechen würde, sind sie es doch, die einen großen Teil der Geschicke dieses Landes lenken. Warum haben sie dem allen nicht Einhalt geboten? Dieser wahnwitzigen Idee mit dem Kreuzzug, der Mitregentschaft eines zehnjährigen verzogenen Kindes…? Ein einziger Satz meines Meisters würde genügen und der König würde sofort gehorchen.“ Sie schüttelte ungläubig den Kopf.
Sebastian wandte seinen Blick vom schwarzen Wasser zu ihrem Gesicht. „Ich schätze, wenn sich unsere Herren zu offensichtlich in diese Belange einmischen, wird das Verdacht erregen. Die Kirche sucht immer wieder aufs Neue nach ‚Dämonen’ wie ihnen. Und ja, dein Meister Eberhardt kann als Angehöriger des Clans der Hexer Menschen zum Gehorsam zwingen, aber das bleibt nicht unbemerkt. Man gehorcht, ob man will oder nicht, aber man vergisst diesen Moment nie wieder. Und das hat unerwünschte Folgen.“ Er schwieg einen Moment und verzog das Gesicht dann zu einem ironischen Grinsen. „Und wie sagt bereits das Buch der Bücher, Gretlin? Die Wege des Herrn sind unergründlich!“
Gretlin fuhr sich ein letztes Mal mit dem Tuch über das Gesicht und überprüfte, dass es sich nicht erneut schwarz färbte. „Ich muss zurück in die Bibliothek bevor die Kinder noch die Bücher in Brand stecken und zu dem Freudenfeuer tanzen.“
Sebastian hielt sie am Arm zurück bevor sie sich abwenden konnte und hielt ihr eine Schriftrolle entgegen. „Die ist von Oswald, dem guten malkavianischen Freund unserer Herren. Es enthält seine Aufzeichnungen über die Sternbewegungen der letzten Monate. Er hat mich gebeten morgen früh bei Sonnenaufgang die genaue Position von Mars, Jupiter und Venus zur Sonne zu bestimmen, weil er hofft damit die schlimmsten Schicksalsschläge des Kreuzzuges vorhersehen zu können.“ Er drückte ihr das Pergament in die Hand. „Kommst du mit?“
Gretlin kribbelte es in den Fingerspitzen. Zu gern hätte sie die Schriftrolle sofort geöffnet und mit dem Lesen begonnen, doch sie nickte und verstaute das Pergament stattdessen in einer ihrer Taschen, die nicht allzu nass geworden war.
Sie grinste. „Das weißt du doch, oder?“
Sebastian begleitete sie ohne zu fragen zurück zu den Unterrichtszimmern. Die Jungen hatten längst ihre Bücher und Hefte zusammen gerafft und verstaut. Sie wussten durch den Glockenschlag zur fünften Stunde, dass die Übungskontrollen durch Gretlin vorbei waren und sie bis zur weiteren Lehrstunde durch Eberhardt zwei Stunden Zeit zur freien Verfügung hatten. Gretlin stand neben Sebastian und sah seufzend zu wie die Jungen den Raum verließen. Wenigstens waren die Bücher heil geblieben und nichts Weiteres zu Bruch gegangen.
Jakob blickte sie mitleidig an und versuchte ein aufmunterndes Lächeln. Gretlin unterdrückte ein Aufstöhnen. Selbst ein zehnjähriger Waisenjunge hatte Mitleid mit ihr… Wundervoll…
Heinrich stieß seinen jüngeren Bruder mit der Tasche, die seine Bücher enthielt, etwas rüpelhaft von der Seite an.
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„Und Friedel? Sollen wir in der Küche vorbei schauen und uns beim Honigkuchen und Met bedienen, die die Küchenmägde für das Festgelage später vorbereiten? Wir könnten ein wenig Unruhe in der Küche stiften.“ Der Junge grinste breit.
Der jüngere Bruder blickte etwas scheu zu Jakob, dann wieder zu Heinrich. Er schien zu überlegen. Er wich dessen Blick aus als er antwortete. „Jakob hat auf dem Markt einen Stand entdeckt, der ganz viele Chemikalien und Arzneien aus dem Osten verkauft. Er meint, es passieren allerlei lustige Sachen, wenn man die miteinander mischt. Sie werden bunt, manches verpufft mit einer stinkenden Rauchwolke. Ich möchte gern mit ihm schauen gehen, was es da so gibt.“
Der Thronfolger sah Friedel ungläubig und voller Gerinnschätzung an. „Soll das ein Witz sein? Du gehst lieber mit diesem bettelnden, verwaisten Schreibersohn auf den Markt statt mit mir in die Küche?“
Gretlin bemerkte, wie sich Sebastian neben ihr bei dieser Bemerkung über seinen Bruder straffte. Mit einer kaum merkbaren Handbewegung hielt sie ihn zurück.
Der zweitgeborene Königssohn schluckte, hob dann den Blick und sah seinen Bruder so lange es ihm möglich war an. „Ich habe keinen Hunger und will nicht in die Küche. Ich gehe mit Jakob auf den Markt.“
Heinrich lief puterrot an. Er funkelte Jakob wütend an, ballte die Hände zu Fäusten als wolle er im nächsten Moment jemanden schlagen. Gretlin konnte erkennen, dass er kurz davor war laut loszuschreien. Der Anblick des wutschnaubenden, aufmüpfigen Jungen, der ausnahmsweise mal nicht seinen Willen bekam, war göttlich. Sie versuchte ein Lachen zu unterdrücken, doch es gelang ihr nicht. Sie begann loszuprusten und merkte, dass Sebastian in ihr Lachen einstimmte. Auch Jakob konnte sich ein gehässiges Grinsen nicht verkneifen.
Heinrich sah die Leute um sich herum ungläubig an. Dann schrie er seinen Bruder an. „Dann geh’ doch. Wirst schon sehen, was du davon hast.“ Er streckte den Erwachsenen seine Faust entgegen. „Und ihr auch!“ Dann stürmte er davon.
Gretlin spürte ein kaum merkliches warnendes Pochen hinter den Schläfen, doch sie unterdrückte es. Kichernd sah sie den Jungen hinterher als sie gemeinsam die Bibliothek verließen. Sie warf einen Blick zu Sebastian, dem es noch immer schwer viel das Lachen zu unterdrücken, und stieß ihn an. „Lass uns gehen!“
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Gretlin und Sebastian kämpften sich durch die dicht gedrängten Straßen von Regensburg. Überall lagerten bewaffnete Männer in den Farben ihrer Lehnsherren. Mächtige, furchteinflößende Kriegsrösser stapften über die gigantischen steinernen Brücken der Stadt und die einfachen Bürger taten gut daran im letzten Moment vor den Tieren und ihren Herren in strahlenden Rüstungen zur Seite zu springen bevor sie unter den Hufen zertrampelt werden konnten. Ein Kriegsross, das wusste Gretlin, war für genau solche Kampfsituationen ausgebildet. Überall boten Händler zu überteuerten Preisen Waren feil, die laut ihren gellenden Rufen lebensnotwendig im ‚Heiligen Land’ waren: löchrige Stiefel, von Flöhen bewohnte Decken, ein Kreuz, das der Heilige Bonifazius mit eigenen Händen aus der heidnischen Donareiche geschnitzt und damit geheiligt hatte.
Überall waren zusammen gedrängte Männer, Frauen, ganze Familien auszumachen, die sich dem Kreuzfahrertross anschließen wollten, weil sie sich im Heiligen Land ein besseres, gottgerechtes Leben versprachen. Arme zerlumpte Bettler, bunt gekleidete Edelmänner, grell geschminkte Marketenderinnen, grunzende, brüllende und wiehernde Tiere jeder Größe…
In dem Gewühl fielen die beiden Ghule nicht weiter auf und Gretlin wusste, dass sie mittlerweile mithilfe des kainitischen Blutes im Notfall eine ernstzunehmende Gegnerin darstellen konnte. Allein ihr Blick und ihr Wort vermochten einen Feind zum Einhalten zu zwingen. Nichtsdestotrotz hatten sie sowohl Sebastian als auch ihr Meister gewarnt, dass die dunklen Gaben nicht leichtfertig eingesetzt werden durften.
Gretlin und Sebastian verließen die mächtige Stadt durch das Westtor und bestiegen nach mehreren Meilen Fußmarsch einen der mächtigen Kalksteinhügel an dessen Fuß die dunklen Wasser der Donau gemächlich vorbei flossen. Die ganze Nacht saßen sie neben einer kleinen provisorischen Hütte, die bei schlechtem Wetter als Regenunterstand dienen konnte, analysierten die Sternbilder und den Weg der Planeten, machten Aufzeichnungen, diskutierten alte Schriften, die sie auf Anordnung ihrer Herren hatten lesen müssen, lachten über das Gesicht des Thronfolgers, besprachen die Eigenarten ihrer Herren, ihre Befürchtungen bezüglich des bevorstehenden Kreuzzuges und erzählten sich schließlich alte Geschichten, die sie irgendwann mal irgendwo gehört hatten um sich gegenseitig wach zu halten.
Gretlin schlief zu guter letzt doch ein und wurde schließlich mit einem leichten Rütteln von Sebastian geweckt. „Aufwachen! Die Sonne geht gleich auf. Ich würd’ vorschlagen, du behältst den Morgenstern im Auge, ich notiere die Position von Mars und Jupiter. Einverstanden?“
Gretlin reckte sich mühsam, wischte sich den Tau aus den Haaren und wickelte sich gegen die morgendliche Kühle noch fester in ihre Decke.
Dann griff sie nach einem Stück dünner Kohle, dokumentierte alles, was nötig war, zeichnete eine Kurve durch die Punkte, die den Sternen entsprechen sollten, um die Bahn des Planeten fest zu halten.
Am Horizont ging die Sonne auf und tauchte die Kalkfelsen, den Fluss und die Wälder in goldenes Licht. Nebel hing zwischen den Baumwipfeln wie weiße Schleier und verlieh der Welt etwas seltsam Unwirkliches. Die Luft erschien ihr so klar wie feinstes Glas.
Gretlin hielt inne und sog tief die Luft ein, die nach Kiefern und Waldboden roch. Sie ließ den Kohlestift sinken und verstaute die Schreibutensilien in einer Tasche.
Sebastian zog fragend eine Augenbraue in die Höhe. „Du bist schon fertig?“
Gretlin nickte und schlang die Arme um die Beine und legte dann den Kopf auf die Knie. „Das ist viel zu schön und kein Stift der Welt kann das einfangen.“
Der schlaksige braunhaarige Mann nickte und verstaute sein Schreibgerät ebenfalls. Er lehnte den Kopf an die Außenwand des Häuschens.
„Gretlin? Wenn ich mit Gabriel in den Kreuzzug ziehe, kannst du dann ein Auge auf Jakob haben?“
Die junge Frau fuhr erschrocken zu Sebastian herum.
„Du ziehst in den Kreuzzug? Warum? Du bist kein Krieger und auch kein fertig ausgebildeter Heiler.“
Er strich sich die Haare zurück und nickte. „Nein, das bin ich nicht. Aber Konrad besteht darauf, dass mein Meister, Gabriel, als sein Heiler mit ihm zieht. Und Gabriel braucht mich. Er braucht zwei Augen und zwei Ohren, die auch tagsüber seine Order ausführen können.“
Gretlin holte mühsam Luft.
Sebastian grinste sie von der Seite an. „Hey. Du wirst mich doch nicht etwa vermissen?“
Die junge Frau zog eine Grimasse. „Wohl kaum…“ Sie zuckte mit den Schultern und versuchte so gleichgültig wie möglich zu wirken. „Aber Jakob mit Sicherheit. Du bist sein Bruder und sein großes Vorbild. Er braucht jemand, der auf ihn aufpasst und auf den er sich verlassen kann.“
Wieder folgte ein Nicken von Seiten ihres Gegenübers. „Richtig. Und dafür bist du genau die Richtige.“
Gretlin grinste dankbar. „Ich pass auf ihn auf. Versprochen.“
Der junge Mann hielt ihr die Rechte hin. „Hand drauf?“
Die braunhaarige Frau nickte bestätigend und ergriff die Finger. „Hand drauf.“
Dann erhob sie sich und begann ihre Sachen aus dem dichten Gras zusammen zu suchen. Auch Sebastian stand auf und griff nach seiner Tasche.
„Danke, Gretlin.“ Plötzlich kam er auf sie zu, zog sie an sich, zögerte einen winzigen Augenblick und drückte dann seine Lippen auf die ihren. Sie spürte seine Wärme, nahm seinen schwachen Geruch nach Waldboden, Moos, altem Pergament, Thymian, Lavendel und Minze wahr, das kaum merkliche Kratzen seiner Bartstoppeln.
Ihr Herz schien einen Moment auszusetzen. Dann stieß sie ihn von sich. Sie suchte nach den richtigen Sätzen, aber heraus kam nur ein entrüstetes Schnauben. „Wie kannst du es wagen, Sebastian?“ Ihre Worte, das hörte selbst sie, kamen stockend und klangen halbherzig.
Er grinste sie breit an, doch in seinen Augen konnte sie ein Zweifeln erkennen. „Warum? Weil ich nur der verwaiste Sohn eines einfachen Schreibers bin?“ Er wiederholte die Worte, die Heinrich noch am letzten Abend ausgesprochen hatte um Jakob zu demütigen, und wusste, dass er sie genau daran erinnern wollte. „Und du die hochwohlgeborene Nichte des Königs?“
Er wandte ihr den Rücken zu und zuckte gespielt lässig mit den Schultern. „Wir sind beide viel mehr, aber das hast du anscheinend bisher noch nicht einsehen wollen. König Konrad, die ganzen Hochwohlgeborenen, Heinrich… wenn sie längst vergangen sind werden du und ich immer noch hier sein, immer noch unter diesem Himmel wandeln...“ Er drehte sich wieder zu ihr um, versuchte sich nichts anzumerken zu lassen und wartete darauf, dass sie zu ihm aufschloss.
Sie hob das Kinn. „Was macht dich da so sicher, Sebastian? Wir beide sind auf Gedeih und Verderb unseren Herren ausgeliefert. Mein Herr ist ein egozentrischer, bücherliebender Hexer, der am liebsten die Zukunft der ganzen Welt planen würde, dein Herr ein machtbesessener Ventrue und ihr bester Freund ein Malkavianer bei dem Witz, Irrsinn und Vernunft fließend ineinander übergehen und man nie sicher gehen kann wo das eine endet und das nächste beginnt.“
Der junge Mann sah sie entrüstet an. „Mein Herr ist ein Ehrenmann. Er hat Jakob und mich gerettet, ist mein Lehrer, so etwas wie ein Vater für mich. Er würde nichts tun, was uns schadet.“
Gretlin unterdrückte ein Seufzen, denn sie wusste, in dieser Hinsicht war ihr Freund eisern. „Sebastian? Gabriel ist ein Kainit wie alle anderen auch und du bist sein Ghul. Er wäre nicht seit so langer Zeit am Unleben, wenn er sich nicht das beschaffen könnte, was er braucht.“
Die Antwort kam prompt. „Ich würde alles für ihn tun.“
Gretlin schüttelte den Kopf. „Selbstverständlich. Und was geschieht, wenn er irgendwann einmal nicht mit dem, was du getan hast zufrieden sein wird? Wenn du etwas tust, das ihm nicht gefällt?“
Sebastian schluckte, schien einen Moment nachzudenken. Dann war wieder das Grinsen auf seinen Zügen zu erkennen. „An was denkst du jetzt? An das Küssen von Töchtern hochwohlgeborener Fürsten?“ Er riss ein paar weiße Blüten von einem Busch und ließ sie wie eine spöttische Geste der Huldigung auf Gretlin nieder regnen. Dann sah er sie herausfordernd an. „Ich würde vorschlagen, du sagst einfach deinem geliebten Vetter Friedrich Bescheid. Ich bin mir sicher, für dieses Vergehen wirft er mir noch heute den Fehdehandschuh vor die Füße und fordert mich zum ehrenhaften Zweikampf auf Leben und Tod auf. Dann wärst du das Problem los, denn er enthauptet mich sicher mit einem einzigen Streich seines Schwertes. Immerhin muss er seine Jungfrau verteidigen, nicht wahr.“
Gretlin stieß ihn fest in die Seite, grinste zurück und drohte. „Warte nur, vielleicht mach ich das noch.“