Mi 13. Mai 2015, 17:10
Kapitel IV Paris; Kloster St. Denis, September 1067
Lucien ging mit den anderen Novizen zum Unterricht ins Klosterkapitel. Der Junge war mittlerweile ein ganzes Jahr in der Abtei und es ging ihm gut. Bei allen körperlichen Tätigkeiten war er schnell und fleißig, egal ob der Garten umgegraben werden musste, eine neue Mauer angelegt wurde oder der Abt beschlossen hatte, dass das Refektorium, in dem die Mönche ihre Mahlzeiten einnahmen, einer gründlichen Reinigung unterzogen werden sollte. Er arbeitete hart und er tat es gern. Die Mahlzeiten waren gut und ausreichend und er war sich sicher, dass er in dem Jahr ein ordentliches Stück gewachsen sein musste. Obwohl er sich ein wenig schwer tat wenn es darum ging Stunde um Stunde schweigsam in der Bibliothek über das Evangelium zu philosophieren und innere Einkehr zu halten, wurde er doch von fast allen Mönchen gelobt und Bruder Ignatius wurde ein ums andere Mal für die Auswahl seines besonderen Schülers in hohem Maße respektiert. Nachdem man ihm und den Novizen seines Alters in diesem Jahr die Grundkenntnisse der lateinischen Sprache beigebracht hatte würden die Jungen im nächsten Jahr Lesen und Schreiben lernen und Lucien war mehr als erpicht auf diese Fähigkeiten, denn sie zeichneten neben der Kenntnis der Sprache der alten Römer einen gelehrten Mann aus.
Eine Tätigkeit im Kloster bereitete ihm in besonderem Maße Freude: er hatte eines Tages eine unwichtige Botschaft zu Bruder Thomas in die Werkstatt bringen sollen und war fasziniert in dem sonnendurchfluteten Schuppen stehen geblieben. Die hellen Strahlen fielen durch die von Holzstaub durchzogene Luft und zeichneten gerade, wie mit einem Lineal gezogene Linien.
Lucien erkannte Kreuze mit den Figuren des Heilands, aber auch Tiere wie Stiere, Schafe und Adler, die für die Evangelisten standen, die Jungfrau Maria, wunderschöne Engel, die mit ihren scharfen Schwertern die Teufel der Unterwelt zurück in die Hölle verbannten. Manche Figuren wurden gerade erst aus den großen Holzblöcken frei gelegt und der Junge bestaunte, die Kunstfertigkeit des dicklichen Mönches, der mit den Werkzeugen auf das Holz einarbeitete. Mit offenem Mund stand er da, bis ihn der Pfaffe grummelnd anmurmelte: „Willst du den ganzen Tag da so Maulaffen Pfeil halten? Wenn du grad nix zu tun hast, nimm dir die feine Pfeile da drüben und polier mir den Engel hier.“
Bruder Thomas drückte ihm ein wunderschönes Stück Kirschholz in die Hände und von diesem Zeitpunkt an verbrachte er jede freie Minute in der Werkstatt.
Lucien teilte sich sein Zimmer mit einem blonden Jungen seines Alters, Adrian. Der eher zierliche zweitgeborene Sohn eines unwichtigen Bezirksrichters war ein fleißiger, frommer Schüler, eher schweigsamerer Natur und unglaublich froh darüber der strengen Herrschaft seines Vaters entkommen zu sein. Nur seine wenige Jahre ältere Schwester fehlte ihm, wie er jede Nacht betonte, wenn er sie in seine Gebete einschloss. Lucien mochte den ruhige zuverlässigen Kameraden, der ihn in der Mitternachtsmesse genau in den Momenten anstieß und aufweckte in denen der Prior gerade in ihre Richtung schaute und der ihn immer dann die Antworten in Latein zuflüsterte, wenn die Lehrer besonders schwere Fragen stellten.
Im Herbst seines zweiten Jahres wurde den beiden Knaben ein zusätzlicher Zimmergenosse zugeteilt: Bei Dominik handelte es sich um den letztgeborenen Sohn eines einflussreichen Pariser Adeligen. Trotz seines auffallenden roten Haares war er ausgesprochen hübsch anzusehen und wusste um sein Charisma und seine Fähigkeiten die Erwachsenen jederzeit in die von ihm gewünschte Richtung lenken zu können. Ein Blick der unschuldig wirkenden blauen Augen und alles war wieder gut. Obwohl der Fürstensohn schnell der Liebling der Lehrer wurde, war er bei den Novizen aufgrund seiner überheblichen arroganten Art alles andere als beliebt und wurde wann immer möglich gemieden.
Lucien bewunderte zwar die Schlagfertigkeit und den zynischen Spott des Jungen aber da auch Adrian und Lucien diesen zu jeder denkbaren Gelegenheit zu spüren bekamen da Dominik alles andere als erfreut darüber war mit zwei Knaben des einfachen Pöbels das Zimmer teilen zu müssen, war Luciens Geduld irgendwann erschöpft. Die Jungen lagen nachts in ihren Betten und wie jeden Abend sprach Adrian seine Gebete in denen er seine Schwester miteinschloss. Dominiks beißende Bemerkung ließ nicht lange auf sich warten: „Verdammt! Halt endlich die Klappe. Keinen interessiert, was du da zu erzählen hast. Gott will einfach nur seine Ruhe von deinem Gejammer und deine Schwester, wenn sie auch nur halbwegs bei Verstand ist, hat auch besseres zu tun als ihre Gedanken an so ein winselndes Etwas wie dich zu verschwenden.“ Lucien fuhr hoch, war innerhalb weniger Schritte am Bett des Fürstensohnes und riss ihn am Kragen zu sich hoch in die Dunkelheit. Sei Gesicht war nur wenige Zentimeter von dem seines Gegenübers entfernt und seine Züge waren vor Wut verzehrt. „Jetzt hörst du mir mal gut zu, du arrogantes Schwein! Was bildest du dir eigentlich ein, wer du bist? Du glaubst, die Tatsache, dass deine Eltern da draußen die Welt regieren, macht dich hier drin zu was Besserem? Falsch gedacht! Du bist der, was? Neuntgeborene? Deine Eltern haben da draußen keine Verwendung für dich und sind froh, wenn sie dich in dieses Kloster abschieben können. Da draußen bedeutest du ihnen nichts, bist nur eine weitere Last, ein weiteres Kind, das sie irgendwie unterkriegen müssen. Vielleicht können sie dich ja, wenn‘s dir hier nicht gefällt, zum Ritter ausbilden lassen, auf dass du dein Leben für die Heilige Kirche im fernen Palästina lässt. Na, würd dir das gefallen? Hier drin sitzen wir alle im gleichen Boot! Klar? Wenn du nicht so ein selbstgerechtes Arschloch wärst könnte man ja glatt mit dir auskommen… Also: halt die Klappe, oder verschwinde!“
Dominik war schlagartig still und auch die weiteren Wochen verbrachte er schweigend, ließ die Jungen in Frieden. Lucien begann sich schon fast zu fragen, ob der Knabe je wieder sprechen würde. Eigentlich war es ihm egal.
Eines Samstag Nachmittags war es an den Novizen sich wie jede Woche die Beichte abnehmen zu lassen. Pater Thomas übernahm an jenem Tag diese Aufgabe. Die Jungen sahen der Beichte also gelassen gegenüber. Bruder Thomas hörte in den seltensten Fällen zu sondern begleitete die gemurmelten Worte der Jungen stets mit gleichmäßigem Schnarchen. Am Ende wenn das Flüstern verstummte erwachte er leise grummelnd, brummte jedem für die Absolution zehn Ave Maria auf und schlief weiter. Lucien war als letzter an der Reihe und wartete mit der wenigen Geduld, die er noch aufbringen konnte. Nach der Beichte standen den Jungen zwei Stunden zur freien Verfügung bevor der nächste Gottesdienst beginnen würde und alle anderen gingen bereits ihrer Wege. Adrian stolperte an ihm vorbei. „Lucien? Bruder Thomas ist heute gut gelaunt. Für jeden nur fünf Ave Maria. Ich wart‘ vor dem Refektorium auf dich. In Ordnung?“ Lucien nickte und schritt in die große, stille Kathedrale. Wie vor einem Jahr fiel das Sonnenlicht durch die hohen Fenster und malte bunte Bilder an die Wände und auf die mächtigen Steinplatten. Er trat an den dunklen Beichtstuhl, schob den Vorhang zur Seite und nahm Platz. Ohne lange Zeit verstreichen zu lassen begann er mit: „Vater, ich habe gesündigt.“ Er verharrte einen Moment und hörte das gleichmäßige Schnarchen des Mönches. Er unterdrückte ein erleichtertes Seufzen und fuhr in leisem Tonfall fort um den Beichtvater nicht zu wecken.
„Ich habe meine Mitbrüder um ihre Portionen beim Essen beneidet und hätte mich gerne bei ihrem Teller bedient, ich bin wohl zu jeder Mitternachtsmesse eingenickt, auch wenn es keiner bemerkt hat, ich habe mich beim Apfelpflücken zu Beginn der Woche mit vielen reifen Früchten eingedeckt und vergessen, die zehn Ave Maria von der letzten Beichte zu beten.“ Er wartete einen Moment um nach wie vor die ruhigen Geräusche des Mönchs zu vernehmen bevor er weiter machte. „Des Weiteren begehre ich die Tochter des Müllers, ein wirklich hübsches Mädchen, das bei der Messe immer in meine Richtung sieht. Mit der wär‘ ich gern mal ein paar Minuten allein…“ Lucien grinste.
„Tatsächlich? Ist dem so?“ Die fremde, dunkel verstellte Stimme ließ ihn schlagartig zusammen fahren und das Grinsen verschwand von seinen Zügen. Dann wurde das kleine Fenster, das zwischen den Beichtstühlen angebracht war aufgeschoben, und er erkannte das lachende Gesicht von Dominik. „So? Und was hast du mit den ganzen Äpfeln gemacht? Alle allein gegessen? Ob da wohl zehn Ave Maria reichen?“ Lucien riss die Tür zum anderen Teil des Beichtstuhls auf und zog den rothaarigen Jungen von der Bank hoch. Das Grinsen lag nach wie vor auf dessen Zügen. „Komm schon Lucien, wenn du nicht jedes Mal, wie ein attackierter Wolf jeden anfahren würdest, könnt man glatt gut mit dir auskommen.“ Lucien stand einen Moment unschlüssig da, dann lachte er und schüttelte den Kopf. Er machte auf dem Absatz kehrt, ließ den Fürstensohn stehen und ging Richtung Ausgang, doch Dominik folgte ihm dich auf den Fersen. „Die Tochter des Müllers also? Kann ich gut verstehen… bei dem Hintern und den Augen… wobei ich drauf schwören könnte, dass sie immer in meine Richtung sieht.“ Er hatte die Pforte nach draußen erreicht und schritt hindurch.
Draußen wartete Adrian, der ebenfalls ein fast schuldbewusstes Grinsen auf den Lippen hatte. „Und? Die Müllerstochter, oder?“ Er sah Lucien und Dominik in gleichem Maße an. Der rothaarige Fürstensohn nickte. „Jep. Genau wie bei uns beiden.“ Luciens Blick wanderte von einem zum Anderen: „Ihr beide habt das geplant? Ich dachte, ihr könntet euch nicht ausstehen?!“ Dominik zuckte mit den Schultern. „Dinge ändern sich, oder?“ Dann deutete er zur Küche des Klosters. „Ich hab dem Koch vorhin geholfen Apfelkuchen zu backen und den hab ich zum Kalt werden auf die Fensterbank gestellt. Sollen wir nicht mal schauen ob noch was davon übrig ist, bevor sich die Vögel alles holen?“ Fröhlich schlenderte er in Richtung Küche und wartete darauf, dass seine Zimmergenossen ihm folgten.
Die Monate verstrichen und alles lief in ruhigen, gleichmäßigen Bahnen. Adrian, Dominik und Lucien entwickelten sich zu einem effizienten Trio: Adrian überzeugte mit seinem wachen Verstand und seinem Wissensdurst, Lucien durch seine Fähigkeit immer zur richtigen Zeit am richtigen Ort zu sein und mit anzupacken und Dominik mit seinem Charme, Humor und seiner Überredungskunst. Ab und an traf er sich mit Bruder Ignatius, der wohlwollend auf seinen Schüler herabsah, dem nicht mehr viel fehlte bis er die Größe des Mönchs erreicht hätte und der ein ums andere Mal betonte, welcher Segen es gewesen war, dass der Herr ihre Wege gekreuzt hatte. Ja, er war stolz auf Lucien.
Für Lucien hätte es ewig so weiter gehen können, doch zum Weihnachtsfest des Jahren 1067 ereignete sich eine Begebenheit, die das Leben der Jungen für immer verändern sollte. Der alte Abt Ägidius, ein freundlicher, menschenliebender jedoch wenig ambitionierter Gottesmann wurde in ein kleines Kloster auf dem Land versetzt und statt seiner wurde ein fremder Mönch namens Gregor zum neuen Abt ernannt. Gregor galt als gottesfürchtig, streng, dominant und sollte das Kloster in den nächsten Jahren zu weiterem Ruhm verhelfen.
Kurz nach seiner Ankunft begann er das klösterliche Leben in seinem Sinne umzugestalten und Zucht und Ordnung hielten Einkehr. Lucien war es gewohnt hart zu arbeiten und kannte weit schlimmere Umstände, und so tat er weiterhin seine Arbeit und ließ auch die Strafen, die man ihm mehr weil es so erwartet wurde als dass er sie wirklich verdient hätte auferlegte über sich ergehen.
Erst als zunächst Adrian und dann auch einige der anderen jüngeren Novizen immer stiller wurde merkte Lucien, dass irgendetwas ganz und gar nicht stimmte. Sein Zimmergenosse schwieg fast nur noch und auch seine nächtlichen Gebete, die immer das Einschlafen der Knaben begleitet hatten blieben aus. Sowohl Dominik als auch Lucien redeten auf den blonden Sohn des Richters ein, dass er endlich berichten solle, was los sei, aber der Junge presste die dünnen Lippen aufeinander und schwieg beharrlich.
Der Kreis der schweigenden Novizen vergrößerte sich mit jeder Woche, die verstrich. Lucien bemerkte es nicht nur in den Stunden in denen die Knaben ihre Freizeit genießen sollten, sondern auch in den Unterrichtsstunden und während der Arbeit. Die anderen waren fahrig, unkonzentriert, gleichzeitig wachsam und ängstlich. Irgendwann gehörte auch Dominik zu diesem Kreis und sosehr sich der Junge aus Nimes auch bemühte, er konnte das Schweigen nicht durchbrechen. Eines Nachts, die ersten warmen Frühlingtage begannen langsam den Schnee, der das Kloster in seiner eisigen Umarmung festhielt aufzutauen, hörten sie die leise Stimme von Adrian im Dunklen.
„Wisst ihr, was mit meiner Schwester geschehen ist?“ Er wartete, schien mehr zu sich selbst als zu den Jungen zu sprechen. „Der Bruder unserer Mutter hat sie ein ums andere Mal geschändet. Immer und immer wieder, viele Jahre lang. Eines Tages, als sie merkte, dass sie schwanger war, ergriff sie solche Verzweiflung, dass sie sich an unseren Vater wandte. Doch Vater hat sie nur ins Gesicht geschlagen, sie als Hure beschimpft und ihr gedroht sie in Schimpf und Schande aus dem Haus zu jagen. Ich war gerade neun Jahre alt und sie hat mir in dieser Nacht immer wieder über den Kopf gestrichen und mir gesagt, dass nur Engel frei sind und wegfliegen könnten. Wenige Stunden später ist sie auf die Stadtmauer gestiegen und hat sich hinuntergestürzt. Am nächsten Morgen fand man das, was von ihr übrig war. Ich habe sie nie wieder gesehen.“
Lucien lief bei den Worten des Knaben ein eisiger Schauer über den Rücken und er hörte wie Dominik in seinem Bett schwer schluckte. Er fand für den Rest der Nacht keinen Schlaf mehr.
Am Morgen des übernächsten Tages fand man die Leiche von Adrian im Hof des Klosters. Er war des Nachts auf den Glockenturm von St. Denis gestiegen und in die Tiefe gesprungen. Da ein Tötungsdelikt außer Frage stand war allen Mitgliedern der Klostergemeinschaft bewusst, dass sich der junge Richtersohn des schwersten Verbrechens schuldig gemacht hatte in dem er sich selbst gerichtet hatte. Er war damit verflucht und sein Leib durfte nicht in geweihter Erde ruhen. Deshalb verscharrte man die Leiche in einem Massengrab für Mörder und andere Verbrecher vor den Toren der Stadt.
Obwohl es den Jungen verboten war das Kloster zu verlassen, kletterte Lucien nach der Mitternachtsmesse über die Klostermauern, legte die Kutte ab und ging durch die dunklen einsamen Straßen von Paris. Erst nachdem er wohl eine viertel Stunde gewandert war und die Glocke ein Uhr schlug bemerkte er, dass er verfolgt wurde. Er wartete eine Weile bis der rothaarige Junge zu ihm aufgeschlossen hatte, dann gingen beide Knaben schweigend nebeneinander her bis sie das Grab vor den Toren erreicht hatten. Der Boden war feucht und morastig, es stank nach Verwesung da man die Leichen nicht tief genug begrub und wilde Hunde und andere Tiere nach den Überresten scharrten und sich daran satt fraßen. Lucien schluckte schwer, faltete dann die Hände und wiederholte das Gebet, das Adrian jeden Abend in gleicher Weise aufgesagt hatte. Lucien vergaß auch nicht die Schwester seines Freundes zu erwähnen, auch wenn er das Mädchen nie kennen gelernt hatte. Dominik stimmte leise in die Worte mit ein. Dann zog Lucien den einfachen Rosenkranz des blonden Jungen hervor und warf ihn auf die feuchte Erde.
Er drehte sich zu Dominik um und griff fest nach dem Arm des Jungen. So fest, dass er den Schmerz auf den Zügen des Fürstensohnes erkannte. „Dominik? Ich will wissen, was los ist. Es ist genug, wirklich genug…“
Sein Freund wandte den Blick ab, schwieg weiter, doch Lucien verstärkte noch seinen Griff. Dominik griff nach Luciens Faust und zog sie fort. Dann traf ihn der Blick der blauen Augen mit eisernen Entschlossenheit. „In Ordnung, Lucien. Der Abt, Bruder Georg, er schändet die Jungen, jeden einzelnen, der ihm gefällt. Immer und immer wieder. Die Mönche wissen fast alle davon, aber irgendeiner von den obersten Geistlichen dieses Landes hält wohl schützend seine Hand über dieses Schwein, so dass keiner gegen ihn vorgehen kann. Manche wie Adrian hat er sich besonders gerne vorgenommen…“ Lucien blieb der Mund offen stehen. Dominik schüttelte den Kopf und seine Stimme klang fast ein wenig wütend. „Tu nicht so, Lucien! Von uns allen warst du doch immer der Rationalste... Du weißt doch am ehesten, wie die Welt wirklich aussieht. Wahrscheinlich hast du bisher einfach nur Glück gehabt. Du bist groß und kräftig und mit deinen dunklen Haaren wahrscheinlich einfach nicht der Geschmack unseres geistlichen Oberhaupts. Pass einfach auf, dass der Abt dich nie irgendwo allein erwischt…“ Lucien fasste Dominik bei den Schultern, zwang ihn den Blick zu erwidern. „Hat er dich auch…?“ Er sprach den Satz nicht zu Ende, denn der beschämte abgewandte Blick seines Gegenübers war Antwort genug. Lucien Worte waren nur ein Flüstern. „Es tut mir leid.“
Dominik biss die Lippen aufeinander. „Spar die dein Mitleid und bete, dass er dich nicht in die Finger bekommt.“
Lucien warf noch einen letzten Blick zurück zu dem gigantischen unübersichtlichen Grab in dessen feuchter Erde irgendwo Adrians Körper lag, ein gefallener Engel…
Schweigend gingen die Jungen nebeneinander zum Kloster zurück. Lucien bemerkte die stummen Tränen seines Freundes aber er atmete nur tief ein und schritt weiter. Was sollte er sonst tun?
In den nächsten Wochen vermied es Lucien allein zu sein. Wenn der letzte den Raum verließ ging auch er, egal ob die Arbeit getan war, oder liegen blieb. Die Rügen seiner Lehrer waren ihm einerlei. Eines Samstags jedoch wurde von ihm verlangt seine Arbeit zu beenden, auch wenn er dabei die Heilige Messe verpassen würde. Das Skriptorium im zweiten Stock, in dem die fortgeschrittenen Novizen die Heiligen Bücher kopierten und mit wunderschönen Zeichnungen versahen musste ausgefegt und im Anschluss gewischt werden. Eigentlich fühlte sich Lucien sicher. Alle Mitglieder des Klosters waren bei der Andacht und auch der Abt Gregor würde nicht ohne eine auffällige Ausrede davon fernbelieben können.
Der Junge hielt einen Moment inne, öffnete eines der wunderschönen Bücher mit schwerem metallenem Einband und bewunderte die faszinierende Zeichnung auf der ersten Seite
„Tse, tse, tse. Du solltest so schöne, heilige Gegenstände nicht mit deinen schmutzigen Fingern berühren, mein Sohn.“ Die schmeichelnde dunkle Stimme ließ ihn herumfahren. Er starrte in die dunklen Augen von Abt Gregor, der ihn fast um Haupteslänge überragte und roch seinen feuchten, kalten Schweiß.
Er stammelte ein „Verzeiht, Herr“ und ein „Ich muss meine Arbeit fortführen.“ Er versuchte sich an dem großen ausgezehrten Mann vorbei zu zwängen um nach seinem Besen greifen zu können, doch der Abt hielt ihn an der Kutte fest. „Die Arbeit lässt sich auch später noch erledigen. Vielleicht finde ich auch jemand anderen, der sie dir abnimmt. Würde dir das gefallen?“Luciens Worte waren hart. „Nein. Ich mache meine Arbeit gern.“
Der Abt schüttelte lächelnd den Kopf. „Waren das etwas Widerworte, mein Sohn? Wie heißt du?“
Lucien biss die Lippen aufeinander. Um nichts in der Welt würde er diesem Mann jetzt in dieser Stunde seinen Namen nennen. „Nein, Vater. Das waren keine Widerworte. Ich bedauere nur unsagbar der Messe fortbleiben zu müssen und nicht das Wort des Herren hören zu können, weil ich so langsam gearbeitet habe und deshalb möchte ich mich sputen…“
Der Priester griff nach seinem Kinn, drehte es in seine Richtung, so dass er in die dunklen Augen blicken musste. „Du warst also faul. Trägheit ist eine Todsünde. Weißt du das nicht, mein Sohn?“ Lucien riss sich frei und versuchte den Mann nicht weiter zu beachten.
Dieser griff wieder nach ihm und hielt ihn diesmal mit eisernem Griff fest. „Für wen hältst du dich, mein Sohn, dass du mich, deinen Vater, ignorierst? Auch Hochmut ist eine Todsünde. Deine Bestrafung ist dir gewiss.“ Lucien funkelte zurück. „Wagt es ja nicht…!“ Er wusste in dem Moment, in dem der Priester an ihm riss um ihn herumzudrehen, dass er zu weit gegangen war, aber er war kein Narr und ihm war klar, dass es ganz gleich war, was er zu dem Abt gesagt hätte. Gregor riss an Luciens Kutte, hielt den Jungen am Rücken fest um zu verhindern, dass er sich wehren konnte und versuchte sich gleichzeitig seiner Kutte soweit zu entledigen, dass er zur Tat schreiten konnte. Lucien schlug nach hinten um sich, aber der Mann war zu stark. Er merkte, wie sich der Mönch an seiner Unterhose zu schaffen machen wollte, erstarrte, bekam dann jedoch das schwere Buch mit dem metallenen Einband zu fassen und fuhr rasend schnell herum um es Pater Gregor an die Schläfe zu schmettern.
Einen kurzen Moment war der Mönch benommen, denn verzerrte rasender Zorn seine Züge und er griff erneut nach Lucien. Der Junge war einen großen Schritt nach links gewichen und griff nach einem länglichen Gegenstand, der auf einem der Schreibtische lag. Dann traf ihn der mächtige Fausthieb des Abts und er ging zu Boden. Er war nur eine Sekunde bewusstlos, doch die Zeit reichte dem Mönch um ihn wieder herum zu drehen und ihm die Kutter erneut nach oben zu schieben.
Mit aller Kraft, die ihm verblieben war rammte Lucien den Gegenstand in die Flanke des Mannes und zog ihn wieder zurück. Dieser ließ schlagartig von Lucien ab. Der Junge kämpfte sich unter der Gestalt des Abts hervor und stieß erneut zu. Immer und immer wieder: in den Bauch, den Brustkorb, die Luftröhre, dahin wo er das Herz vermutete. Dann warf er voll Verachtung den blutbeschmierten Brieföffner von sich und übergab sich. Vor ihm lag die hagere Leiche des Abtes mit panischen weit aufgerissenen Augen, die ins Leere starrten. Der Zorn wütete noch immer in dem Jungen und mit aller Kraft riss er den toten Körper hoch, öffnete das Fenster des Skriptoriums, hievte ihn hinaus und ließ die Leiche ins Gebüsch vor die Mauern des Klosters fallen.
Er lehnte sich mit dem Rücken an die Wand des Gebäudes, atmete tief aus und ließ sich auf den Boden sinken. Einige Minuten saß er nur da, erstarrt von dem Schock, der sich seiner bemächtigt hatte. Dann sah er das Blut, das auf den Fließen und seinen Händen klebte. Er riss sich zusammen, sprang mit Mühe auf und holte Wasser um den Boden zu säubern. Mit etwas Glück würde man im Dunkel der anbrechenden Nacht die Spuren seiner Tat bis zum nächsten Sonnenaufgang nicht bemerken. Er schrubbte und wischte und rannte dann während die Mönche und Novizen von der Abendandacht zurück in ihre Räume schlenderten in sein Schlafgemach. Er riss sich die blutige Kutte vom Leib, warf sie unters Bett und griff nach einer neuen. Nach wie vor waren die roten Krusten an seinen Fingern zu erkennen. Als er hörte, dass die Tür geöffnet wurde, warf er sich aufs Bett, tat als würde er schlafen.
Dominik setzte sich ihm gegenüber auf seine Bettstatt und sog tief die Luft ein. Seien Stimme war leise. „Lucien? Alles in Ordnung?“Erst in diesem Moment bemerkte Lucien die Tränen, die seine Wangen hinab liefen. Es fiel ihm schwer das Schluchzen zu unterdrücken.
Der rothaarige Junge trat zu ihm und strich ihm vorsichtig über den Rücken. „Der Abt war bei der Messe nicht da. Hat er dich auch…?“ Lucien fuhr herum und sah den Jungen mit seinen grauen rotunterlaufenen Augen an. „Nein! Das hat er nicht. Er hat’s versucht. Ich habe das Schwein abgestochen und die Klostermauern hinab geschmissen.“ Dominik nickte und Lucien sah ihn an, konnte aber die Regungen in seinem Gesicht nicht lesen: Freude? Angst? Respekt? Seine Worte waren leise: „Das hast du gut gemacht. Es wurde Zeit, dass jemand das Schwein so bestraft, wie er es verdient hat. Adrian wäre stolz auf dich!“
Dann schluckte Dominik und erhob sich. „Du musst weg hier. Man wird dich des Mordes bezichtigen und alle Vergehen des Abtes abstreiten. Selbst dein Freund, Bruder Ignatius, würde sich nicht für dich einsetzen können. In wenigen Tages würde man dich köpfen oder Schlimmeres…“ Er trat zurück zu seinem Bett, bückte sich und holte eine Kiste, die er dort versteckt hatte, hervor. Er griff hinein und förderte ein ordentliches paar Kleider, lederne Stiefel sowie einen kleinen Beutel in dem einige Münzen verheißungsvoll klingelten hervor. „Hier!“ Er reichte alles an Lucien weiter. „Du brauchst das jetzt dringender als ich. Schau, dass du dich in Sicherheit bringst!“ Er wartete bis sich Lucien angekleidet hatte, dann trat er mit ihm in die Dunkelheit der Nacht und ging zur Klostermauer. Der rothaarige Junge drückte Lucien ein letztes Mal an sich. „Pass gut auf dich auf, mein Freund! Ich bin froh dich kennen gelernt zu haben.“ Lucien sah ein letztes Mal zurück, sah über die großartige Kathedrale, den Apfelhain, die Küche, aus der es Tag wie Nacht nach reichhaltigem Essen duftete, zu den Unterrichtsgebäuden. Dann kletterte er an den Steinen hinauf und verschwand in der Finsternis.