Sa 5. Nov 2016, 23:10
Lucien, BrüggeEs war September in Brügge und das Wetter hatte es noch einmal mehr als nur gut mit der Stadt gemeint. Die Nächte waren warm und erinnerten an laue Sommertage, während der bereits beginnende Herbst seinen würzigen Duft verbreitete. Das Brautpaar hatte großes Glück mit dem Wetter gehabt. Lucien war der Einladung von Karl van de Burse und Marie von Erzhausen artig gefolgt auch, wenn sie insgesamt recht wenig mit dem Hauptmann zu tun hatten. Lucien verstand aber inzwischen genug von höfischer Etikette um zu wissen, dass wohl irgendwer der Adeligen oder hochgestellten Persönlichkeiten Anstoß daran genommen hätten, wenn der Hauptmann nicht zu gegen gewesen wäre. Abgesehen davon waren auch die meisten anderen Kainiten der Stadt zugegen. Lucien hatte bereits mit Alida gesprochen, die sich in einer großen Traube aus van de Burses aufgehalten hatte und Lilliana hatte er von weitem gesehen. Wegen ihrer nächtlichen Gäste hatte man sich verständigt am Nachmittag mit einem Fest zu beginnen um dann genau an Mitternacht in dem Rohbau der neu errichteten Kathedrale von Brügge zu in einer feierlichen Zeremonie zu heiraten. Dieser Ablauf war zwar ein wenig ungewöhnlich, aber trotz allem weit davon entfernt bei irgendwem Fragen aufzuwerfen, immerhin war man erheblich exzentrisches Verhalten von Adeligen gewöhnt. Es war langsam Zeit sich wieder in Richtung Stadt zu bewegen und Hochzeitsgesellschaft machte sich in kleineren Gruppen auf in Richtung Westtor der Stadt. Die nachmittägliche Feier hatte in einem kleinen Apfelhain außerhalb der Stadtmauer stattgefunden und man konnte noch immer den fruchtigen Duft von noch nicht geernteten Früchten wahrnehmen. Lucien ließ Zelte, Lichter und Spiele hinter sich und würde irgendwann von einem bekannten Gesicht in der Menge begrüßt. Claude von Paris, der Blutrichter lächelte dem Hauptmann zu und hatte in der linken Hand einen Bratapfel und in der rechten einen Humpen in welchem sich, wie der Gangrel erschnuppern konnte Aldurbräu befand. Er kam auf den Gangrel zu und verbeugte sich leicht. “Es ist schön euch hier anzutreffen Lucien Sabatier. genießt ihr die Feierlichkeiten.” Da Claude ein Landsmann war sprach er ihn auf Französisch an und bevor er eine Antwort abwartete versenkte der Richter seine Zähne in dem saftigen Apfel und spülte alles mit einem guten Schluck Bier hinunter. Danach wischte er sich mit dem Handrücken den Mund ab und ging im langsamen Schritt mit Lucien in Richtung Stadt. “Kann ich euch etwas Bier anbieten? Ich sehe ihr sitzt auf dem Trockenen.” Claude von Paris war ein fähiger, allen voran aber sehr gerechtigkeitsliebender Mann, der jene die den Frieden in der Stadt störten verurteilte. Lucien arbeitete ihm sozusagen zu, aber abgesehen davon hatten sie wenig miteinander zu tun. Alida hatte mehr Verbindungen mit dem Franzosen und schien recht große Stücke auf ihn zu halten auch wenn sie einmal scherzhaft erwähnt hatte, dass der Richter durchaus eine große Schwäche besaß und zwar wohlschmeckenden Speisen und Getränke, insbesondere Süßigkeiten.
Lucien hatte die Feierlichkeiten bisher überraschenderweise in vollen Zügen genossen und das obwohl ihm durchaus bewusst war, dass die an ihn ausgesprochene Einladung, wohl nur der Vollständigkeit und Höflichkeit halber erfolgt war, denn wirklich viel zu schaffen hatte er weder mit dem Zweig der van de Burse dem Karl angehörte, noch mit den Erzhausener Edelleuten, von denen er noch weniger wusste. Immerhin spielte das Wetter mit und die Bürger und Untoten der Stadt hatten einen annehmbaren Grund sich eine knappe Zeit lang nicht mit den alltäglichen und allnächtlichen Mühen, Sorgen und Problemen herumplagen zu müssen. Es gab Musik, Spiel und Tanz und obgleich er selbst nichts von all den Köstlichkeiten, allen voran dem ausgezeichneten Bier probieren konnte, fand er das generelle Ambiente aus sich vergnügenden Massen und duftenden Speisen äußerst einladend. Ausnahmsweise hatte er sich seine Ausgehuniform angelegt, die im Grunde nicht mehr war als eine etwas vornehmere Variante seiner ganz alltäglichen Kleidung und selbst wenn er großen Pomp und Glamour nicht allzu sehr schätzte, empfand er es als richtig und wichtig dem Anlass entsprechend gekleidet zu sein. Wenigstens einmal im Jahr auf einer Hochzeit. Claude wurde von ihm mit einem leichten Schmunzeln, sowie einem leicht wehmütigen Blick begrüßt. Bratapfel und Bier - es hätte so schön sein können und blieb ihm dennoch verwehrt. Umso mehr gönnte er aber Claude diese kleinen sterblichen Kostbarkeiten und setzte ebenfalls zu einer knappen Verbeugung an, bevor er selbigen zurück in die Stadt begleitete. Der Gangrel wechselte angenehm überrascht ebenfalls zum Französischen über, eine nette Gelegenheit sich ganz ungezwungen in seiner Landessprache zu unterhalten, die für ihn in Brügge mittlerweile so gut wie gar nicht mehr zur Anwendung kam. Zwar hielt er nicht viel von Paris oder dem Pariser Hof aber Claude war ein guter und pflichtbewusster Richter, dem man nichts Schlechtes nachsagen konnte. Allein deshalb schätze er ihn, selbst wenn er ihn abseits von Verurteilungen und Hinrichtungen nur selten zu Gesicht bekam. Beide saßen sie im selben Boot. „Schön auch euch zu sehen Claude. Ja in der Tat gefällt mir dieser Abend bei weitem besser als ich für möglich gehalten hätte. Für gewöhnlich eigne ich mich ja nicht besonders für Feste und Familienfeiern aber ich glaube die Stadt kann ein wenig Zerstreuung zu so einem festlichen Anlass gut gebrauchen.“ Er pausierte und korrigierte sich nur einen Sekundenbruchteil später. „Das heißt, ich kann so etwas gut gebrauchen“, fügte er schmunzelnd hinzu und machte eine ablehnende Handbewegung auf sein Angebot hin. „Ich würde liebend gerne aber ich bin selbst an so einem Abend im Dienst; ihr wisst ja wie das ist.“ Er sah sich nach den lachenden Gesichtern und farbenfrohen Zeltwänden um, aus denen es noch immer verführerisch duftete. Immer wieder machten sich einige Grüppchen auf zur eigentlichen Hauptveranstaltung und auch er schritt an der Seite von Claude weiter voran. Nicht besonders schnell, man hatte ja keine Eile. „Jetzt heiraten die van de Burse und die Erzhausener. Na, war ja nur eine Frage der Zeit bis sich sowas ergibt findet ihr nicht?“, versuchte er offensichtlich das Gespräch weiter aufrecht zu erhalten.
Claude hatte inzwischen seinen Apfel verspeist und das letzte Bier getrunken. Schließlich seufzte er und klopfte zufrieden auf den Lederwams den er trug. Der mittelalte Mann mit grauen Strähnen in Haar und Bart war keineswegs korpulent und schien fit für sein Alter, aber man sah an dem kleinen Bäuchlein das er die schönen Seiten des Lebens definitiv zu schätzen wusste. Er lächelte dem Gangrel zufrieden zu.”Wisst ihr Hauptmann Brügge mag eine riesige Stadt sein, aber wo die Liebe hinfällt kann man eh nie vorhersehen. Abgesehen davon gibt es so viele van de Burses in der Stadt, dass ich glaube das es einfacher ist einen von ihnen angeheiratet in der Familie zu haben als nicht. Eure Freundin Alida habe ich heute noch gar nicht gesehen ist sie hier? Ich wollte nämlich noch ihren Rat bezüglich ein paar Kleinigkeiten einholen.” Während die beiden Männer plauderten passierten sie das Westtor und schon von weitem konnte man das Gerippe der neu errichteten Kathedrale ausmachen. Es sah aus als wäre sie mit hunderten Kerzen erleuchtet und die Glocken klangen fröhlich um die Gäste zu begrüßen. Von irgendwoher kam schließlich eine weitere bekannte Gestalt angelaufen, Gregor der Wachmann. Er blieb direkt vor dem Hauptmann stehen und hielt sich die Seite. Er schwitzte und musste erst ein paar Mal tief Luft schnappen bevor er sprechen konnte. “Hauptmann...:” Er atmete schnell. “Ich bin so froh das ich euch gefunden habe. Es gab einen Mord. Zwei Gardisten am Nordtor wurden niedergemacht und wir befürchten das jemand die Ablenkung in der Stadt nutzt um zu rauben oder zu plündern. Was sollen wir tun.” Gregor stützte sich auf seinen Oberschenkeln ab. Seine Atmung hatte sich noch nicht wieder völlig normalisiert. Aus dem Gesicht von Claude war jegliche Fröhlichkeit gewichen und von Besorgnis abgelöst worden.
Der Hauptmann lachte laut auf und schüttelte belustigt den Kopf. Wo der Mann recht hatte, da hatte er wohl ganz einfach recht. Und dass er die schönen Seiten des Lebens genoss, hätte er ihm auch im Traum nicht versucht auszureden. Claude hatte seines Erachtens nach nur dieses eine Leben, sofern man nicht der christlichen Kirche Lehren nach an ein Paradies oder die Hölle glaubte und das sollte er auch nicht jeden Tag mit Kümmernis und Gram zubringen, wo er doch schon ohnehin tagaus tagein Mörder, Diebe, Betrüger und anderes Gesindel verurteilte und ziemlich direkt ihren Tod am Strick oder eine lange Inhaftierung veranlasste. „Tja die van de Burse sind schon eine Größe, mit der man in dieser Stadt wohl oder übel rechnen muss und mit dieser Hochzeit können wir wohl auch wieder Nachwuchs erwarten. Vielleicht werdet ihr auch mal eine van de Burse ehelichen, wer weiß? Ich hörte Alyssa wäre noch frei und wäre nicht auf den Kopf gefallen. Und Alida… ich glaube ich habe sie nur kurz bei ihrer Familie gesehen, sie ist dieser Tage wohl wieder schwer beschäftigt fürchte ich; Geschäfte in Gent.“ Er hob den Blick leicht an und seine Laune hob sich noch ein gutes Stück weit. Eindrucksvoll lag der Rohbau der Brügger Kathedrale vor ihm und er musste sich schon schwer zusammenreißen nicht dümmlich vor sich hinzugrinsen. Nur den Eingeweihten war bekannt, dass kein Adeliger oder wohlhabender Gönner den Bau veranlasst hatte, auch wenn der Großteil der Stadt dies glauben mochte. Der Initiator des Baus dieser religiösen Bastion war ein widerlich breitschultriges Monster, das direkt unter den Häusern der Bürger lebte und dessen Gesicht mehr einem wandelnden Alptraum als einem Menschen glich. Manchmal fragte er sich was Gerrit mit all dem bezweckte aber auch er musste gelegentlich zugeben, dass es durchaus Vorteile haben konnte einen Bischofssitz bereitzustellen. Allen voran um Martin von Brüssel auszustechen natürlich. Gerade wollte er auf einen Giebel deuten, da kam Gregor angerannt. „Ich glaube wir sollten auf dieser Seite…“ Weiter kam er nicht, da wurde er schon vom Wachmann mit erschreckenden Neuigkeiten überhäuft. Der Hauptmann wirkte für einen Moment sogar verärgert, dass jemand es wagen konnte ihm so die gute Laune zu verderben und schwor sich noch im selben Moment, jeden einzelnen dieser Unruhestifter mit einem Tritt aus der Stadt zu befördern. „Ah verdammt, nicht einmal auf einem Fest hat man seine Ruhe. Diesen Bastarden ist aber auch gar nichts heilig.“ Er wandte sich rasch an Claude. „Ich fürchte diese Nacht wird nicht so ruhig, wie wir es uns gewünscht hätten; entschuldigt mich bitte. Richtet den Brautleuten aus das sie Vorsicht walten lassen sollen aber vermeidet wenn möglich eine Panik. Karl ist Ritter und wird mit der Situation umzugehen wissen.“ Er klopfte ihm auf die Schulter und ging raschen Schrittes davon; deutete Gregor an ihm zu folgen. Der Mann war viel gelaufen und gerannt aber das wäre wohl nicht das einzige Mal, dass sie in dieser Nacht außer Atem kämen. Dafür war die Nachtwache da. „Du gehst zu Rupert und dann weckt ihr beide alle verfügbaren Leute, auch die Reservisten. Schichtpläne sind gestrichen, Feiertagsurlaub könnt ihr vergessen. Dann wirfst du den Patrouillenplan von heute über den Haufen und machst mit zwei anderen Leuten die volle Runde. Ich will Posten an allen Toren und an allen Schießscharten. Die Straßen rauf und runter, Kontrolllisten und Fackellicht. Wo immer die sind, es können nicht so viele sein, das wäre aufgefallen. Und auf dem Fest schlagen die nicht zu, die sind nicht dumm. Wenn es etwas Wertvolles gibt, dann holen sie es sich gerade jetzt aus den Häusern. Lagerhäuser, Händler, Reichenviertel, da gehen wir zuerst hin. Auf jetzt.“ Er stieß Georg weiter voran und gemahnte ihn weiter zur Eile. Er selbst rannte in die Wachstube und alarmierte die Nachtbereitschaft und die Wechselpatrouille; informierte über die Lage am Nordtor. „Ich sehe mich persönlich dort um. Zwei kommen mit, zwei bleiben in der Wache, der Rest macht seine Runden. Augen auf ihr Schlafmützen. Wenn morgen auch nur ein Groschen fehlt mach ich jeden von euch Traumtänzern persönlich dafür verantwortlich.“ Damit machte er sich auf zum Nordtor.
Die Glocken schlugen inzwischen immer lauter und überdeckten das Gemurmel des Gästestroms von dem sich der Gangrel immer weiter entfernte. Lucien fühlte sofort in Alarmbereitschaft versetzt und fiel sofort in seine wohlbekannte Rolle als Beschützer der Stadt. Es hatte wahrscheinlich nicht einmal zwanzig Minuten gedauert bis er die ganze verfügbare Wachmannschaft der Stadt auf die Beine gestellt hatte um was immer hier vorging im Keim zu ersticken. Irgendetwas aber störte Lucien, machte ihn unruhig und zwang ihn immer wieder den Blick über die Schulter zu werfen. Schließlich kristallisierte sich ein furchtbarer Gedanke in seinem Kopf und wurde zur grausamen Realität. Er wollte es zuerst nicht wahrhaben, aber die Luft war erfüllt von Asche und verbranntem Holz. Er hatte den Geruch zu Beginn noch auf die Fackeln geschoben die überall den Weg zur Kathedrale säumten, aber es gab keinen Zweifel mehr. Das Gotteshaus war nicht von Kerzen erleuchtet, sie musste von innen lichterloh in Flammen stehen und schon bald hörte er die ersten Rufe durch die Straßen schallen, die immer lauter und panischer wurden. “Feuer!”, “Es brennt!” “Aus euren Betten!” Der Rohbau lag in der Mitte der Stadt und mit dem trockenen Wetter der letzten Tage und dem Wind hatte dieser Brand das Potential die halbe Stadt einzuäschern. Der zuvor klare Himmel bedeckte sich zunehmend dank dem Rauch der nun offensichtlich von der Kirche aufstieg. Er als Kainit war so gut wie machtlos gegen diese Naturgewalt, eine Erkenntnis die ihm siedend heiß einfiel als er die breit offen stehenden Türen des Nordtors erreichte. So schwer es ihm vielleicht fiel aber man musste sich auf die Menschen verlassen den Brand so gut wie möglich einzudämmen, auch wenn es wegen der Größe der Kirche ein beinahe unmöglich Unterfangen darstellte. Das Glockengeläut über der Stadt legte sie wie ein Tuch über die unwirkliche Szenerie.
Harsch hieß er die beiden Wachmänner an seiner Seite die schweren Holztüren schließen und den Durchgang versperren, während er selbst sich in Richtung der Innenstadt umdreht und die Augen angestrengt zusammenkniff, um über die Entfernung und Dunkelheit etwas zu erkennen. Aber da war nichts, das ihm in dieser Situation hätte helfen können. Die Glocken schlugen wie von Sinnen, ein dröhnendes und alarmierendes Schallen das jeden Brügger Bürger schlagartig aus seinem Schlummer oder der Festtagslaune befördern würde. Der Rohbau des Domes brannte und er hatte es nicht früh genug wahrgenommen; jetzt kroch ihm dafür umso giftiger der beißende Geruch von verbranntem Holz und heißer Asche entgegen. Ja er hätte sogar schwören können, dass er bei den ersten verzweifelten Rufen der aus dem Schlaf gerissenen Einwohner, den warmen Lufthauch des tosenden Brandes, selbst noch auf diese Distanz spüren konnte. Aber wie es nun einmal in seiner Natur lag, war er buchstäblich dazu verdammt die Hoffnung auf eine rasche Löschung des Brandes in die Hände der Sterblichen dieser Stadt zu legen. Was immer hier vorging, wer immer den Brand gelegt hatte; er hatte eine unüberwindbare Hürde für ihn geschaffen und irgendeine Stimme in seinem Hinterkopf sagte ihm, dass dies kein Zufall war. Karl van de Burse und Marie von Erzhausen heiraten. Wer könnte ihnen dermaßen übles wollen? Doch genauso wie seine Ohnmacht im Anbetracht der wachsenden Flammen, blieb auch diese Frage vorerst unbeantwortet. Er suchte nach den Leichen der ermordeten Wachposten und schlug dabei mit der Faust gegen die Tür zum Aufgang der Wehrmauer. „Verdammte Teufel… wenn ich euch erwische ersäuf ich euch eigenhändig im Fluss“, fluchte er grimmig vor sich hin, während er den ersten der beiden Toten umdrehte. Vielleicht gab es ja irgendeinen Hinweis, irgendeine Kleinigkeit die ihm mehr Aufschluss über diese vermaledeiten Vorgänge in der Stadt bieten konnte. „Es muss doch irgendetwas geben… niemand ist so gründlich… es sei denn…“, murmelte er abgelenkt vor sich hin, als er sich die Wunden besah.
Plötzlich hörte der Gangrel einen weit entfernten Donner und neben ihm begannen Regentropfen in den Staub und auf die gepflasterten Straßen zu fallen. Es begann ganz langsam, so als ob jemand die verzweifelten Gebete der Stadtbevölkerung erhört hätte und aus den einzelnen Tropfen wurde ein Guss. Es schien wie ein Wunder und lenkte den Gangrel für einen Moment von all dem Wahnsinn der um ihn geschah ab. Trotzdem roch er irgendwann Blut und machte die Quelle im Handumdrehen ausfindig. Beide Wachen, gute verlässliche Männer lagen in der kleinen Wachstube in ihrem eigenen Blut, welches sich bereits in braune zähe Masse verwandelt hatte. Beide waren grausam zugerichtet. Dem einen hatte man wohl mit einer Axt den Kopf gespalten und dem zweiten die Kehle durchgeschnitten. Sie mussten beim Kartenspiel gewesen sein, wie es anhand des verstreuten Blattes aussah. Sie hatten offenbar nicht einmal Zeit nach ihren Waffen zu greifen. Während er die Leichen untersuchte spürte er plötzlich einen kleinen Windhauch der zeigte das jemand eingetreten war. Eine weibliche Gestalt in einem schweren Reisemantel war zu erkennen unter deren Kapuze langes blondes Haar hervor quoll. Sie schlug die Kapuze zurück unter der ein scharfes, fein gemeißeltes Gesicht zum Vorschein kam welches völlig emotionslos auf ihn herabschaute. Ihre Stimme war wie flüssiger Honig und ihr Flandrisch hatte nur den Hauch eines Akzents. “Lucien Sabatier:” Es war keine Frage, sondern eine Feststellung. “Wenn ihr verhindern wollt, dass in dieser Nacht noch mehr Menschen sterben dann hört mir jetzt genau zu.” Wie zur Untermalung ihres Auftritts mischten sich inzwischen Donner und Glockengeläut über der Stadt, ganz so als würden sie sich gegenseitig übertrumpfen wollen. “Es liegt in eurer Hand Kainit.”
Bereits nach dem ersten sachten Plätschern, das sich innerhalb weniger Augenblicke in eine wahre Sintflut verwandelte, wandte er den Blick durch eine der Schießscharten hinaus auf den in sachten Schwarztönen gehaltenen liegenden Wald. Kein Zweifel, es regnete und wie es das tat! Er blinzelte einmal und ein weiteres Mal; konnte das Glück das der Stadt in diesem Augenblick der höchsten Verzweiflung zuteilwurde noch gar nicht fassen, doch im selben Moment wurde ihm schlagartig bewusst, das keine Gebete diesen Regen heraufbeschworen hatten. Irgendjemand oder irgendetwas, hatte da ohne Zweifel auf geradezu magische Art und Weise nachgeholfen. Wie als der Osten einmarschiert war und der Regen damals die Brände löschte. Fieberhaft kreisten seine Gedanken um den möglichen Urheber dieses scheinbaren Wunder. Gretlin? Theresa? Oder war doch Sebastian rein zufällig in der Stadt? Er biss die Zähne zusammen, als er sich die grässlichen Verstümmelungen seiner Wachleute besah. Gute Männer mit Familie und jetzt waren sie abgeschlachtet wie Vieh. Es war nicht so sehr der Anblick der Leichen, als mehr die Tatsache das sich diese Nacht in eine große Anhäufung ungeklärter Fragen verwandelte, von denen er keine zu beantworten wusste, die ihn mit verzweifelter Wut erfüllte. Zudem rannte ihm die Zeit davon, während er gezwungen war daneben zu stehen und zuzusehen wie die Minuten an ihm vorbeirasten ohne Aussicht auf eine Lösung dieses blutigen Rätsels. Angespannt riss er den Kopf zur Seite und erblickte die ihm fremde Frau in der Tür, die vom aufgepeitschtem Regen und Wind umspielt wurde, wie eine düsterer Schatten. Das Glockengeläut war ohrenbetäubend und stimmte in den Klang des prasselnden Regens mit ein. Mit einem Ruck, riss er das Schwert aus der Scheide. Der blanke Stahl spiegelte sich im Schein der dämmrigen Fackeln. „Und wer zum Teufel seid ihr? Und was habt ihr mit all dem zu schaffen? Wer steck hinter diesem Irrsinn? Es sind schon genug Leute gestorben da habt ihr recht aber ich habe gut und gerne Lust dem ganzen noch eine weitere Leiche hinzuzufügen. Sprecht Weib!“
Die blonde Frau schaute den Hauptmann mit hellen, aufmerksamen Augen an. “Das könnt ihr gerne tun Hauptmann, aber das wird nur zu noch mehr Blut und Tod führen, als eh schon. Packt euer Schwert weg und hört auf mit euren Zähne zu fletschen Wolf, dann beantworte ich alle eure Fragen. Außerdem bin ich überzeugt davon, dass ihr mich immer noch zerreißen könnt wenn ihr es als richtig erachtet, mit oder ohne euer Schwert.” Lucien spürte das ihr Mut nicht gespielt war, es sie aber trotzdem Kraft kostete nicht zu zittern. Er war eine furchteinflößende Gestalt, insbesondere wenn in Rage war. Es bestand wenig Zweifel daran, dass sie ihn als das Raubtier sah das er war.
Da war dieses kurze Flackern in seinen Augen, der Scheidepunkt den es immer in die eine oder andere Richtung zu überwinden gab, wenn man sich mit solch einer prekären Situation konfrontiert sah und eine Entscheidung des Vertrauens treffen musste. Schließlich raffte er sich und erhob sich zu voller Größe, während er das Schwert wieder zurück in die Scheide steckte. Sie hatte schon richtig bemerkt, dass es ihn nicht großartig kümmerte, ob er sie demnächst mit Zähnen und Klauen in blutige Streifen, oder mit der blanken Klinge in mundgroße Happen zerteilen würde. Schwer atmete er die kühle, durch den Regen mittlerweile auch feucht gewordene Nachtluft ein und presste sie in seine toten Lungen. Sein Blick heftete sich auf sie, als er mit dem Finger seiner rechten nach draußen deutete. „Das ist meine Stadt in der meine Kirche brennt“, der Finger wanderte auf die beiden verstümmelten Leichen, die noch immer in ihrem eigenen Blut lagen. „Das waren meine Leute.“ Der Finger deutet anklagend auf die ihm unbekannte Frau. „Und ihr wisst entschieden zu viel über mich. Viel mehr, als eurem beschaulichen Leben zuträglich wäre, soviel kann ich euch versichern.“ Er machte ein paar bedrohliche Schritte auf die Frau zu und kam mit ihr auf Augenhöhe. „Für was sind all diese Menschen heute Nacht gestorben? Und macht es kurz, denn ein paar Tote wird es wohl leider dennoch geben. Wenn der Galgen sie nicht erwischt; ich erwische sie bestimmt.“
Sie wich seinem Blick nicht aus, bewegte ihren Kopf aber ein Stück zurück. “Heute Nacht wurde in dieser Stadt eine uralte Schuld beglichen. Der Kainit Leif Thorson wurde von den Seinen für vergangene Verbrechen an den sterblichen Nachkommen seiner Söhne bestraft und gerichtet, ebenso wie die anderen Verräter an unserer Familie Brunhild und Erik. Eure Kirche war nicht unsere Schuld, das kann ich euch versichern. Mit dieser Nacht hat sich ein heiliger Eid erfüllt der vor über einem Jahrhundert ausgesprochen wurde.” Die Frau ließ ihn nicht aus den Augen und sprach leise weiter. “Ein ewiger Zirkel aus Hass, Blut und Tod ist damit endlich zum erliegen gekommen und ihr solltet euch in das was passiert ist nicht einmischen, wenn ihr nicht erneutes Blutvergießen herausfordern wollt.” Er war ihr so nah, dass er ihr schwach-blumige Parfum, sowie den Geruch von Salz und etwas das an Tannen erinnerte wahrnehmen konnte. “Diese Familie wird nie aufgeben wenn ihr sie jetzt herausfordert. Sie hat Leif über ein Jahrhundert gejagt und würde es bis zu ihrer völligen Vernichtung wieder tun wenn ihr ihnen einen Grund gebt.” Er hörte auch ohne die geschärften Sinne des Auspex ihr Herz rasen. “Lasst es heute Nacht enden. Verfolgt uns nicht, zieht eure Leute in die Stadt zurück und ihr werdet uns nie wiedersehen. Wenn nicht, kann ich für nichts garantieren. Der Anführer unserer Gruppe ist ein selbst für eure Verhältnisse mächtiger und grausamer Mann, der weder Gande noch Reue kennt.” Sie schluckte und schien sich für einen Moment sammeln zu müssen. Die enge körperliche Nähe zu Lucien machte ihr offensichtlich zu schaffen. “Die Kinder von Vidarr wissen in der Tat viel über euch und diese Stadt. Sehr viel mehr als gut für sie ist da gebe ich euch recht und sie werden nicht zögern dieses Wissen einzusetzen wenn sie müssen. Wollt ihr das? Für Jean, oder Florine? Marlene? Die van de Burses und andere Bewohner dieser Stadt? Wollt ihr diese Geißel wirklich über sie bringen? Lasst es hier enden und ich verspreche euch, dass der Verantwortliche für all das bezahlen wird.”
Die merkwürdige Frau, an der die Furcht klebte wie langsam dahinschleichender Schimmel hatte noch nicht einmal zu Ende gesprochen, da riss er schon eine behandschuhte Hand nach vorne und hielt sie in einem eisernen, würgenden Griff gefangen. Seine Augen glommen rötlich auf, als wollten sie die Abgründe der Finsternis dieser Nacht durchschneiden und sein Gesicht verzog sich zu einer widerwärtigen Fratze aus purem Hass. „Ihr kommt hier herein, zu mir und den Leichen meiner abgeschlachteten Leute und erzählt mir, das die sterblichen Nachkommen von Leif Thorson, eure verdammten Kinder von Vidarr, soeben Brunnhild und ihren Jungen, als auch ihn selbst ermordet haben um anschließend unsere Kirche in Brand zu stecken nur um eine Jahrhunderte alte Rechnung zu begleichen?“ Seine ledernen Handschuhe schlossen sich gefährlich um die zarten Auswüchse ihrer Halswirbel. Es trennte die Frau nur eine Haaresbreite von Tod oder Leben, während er angewidert ihren Duft einsog, als würde er ein giftiges Miasma einatmen. Dann lockerte sich sein Griff; kam schließlich zum Erliegen als seine Hand wieder an seine Seite glitt. Irgendetwas mochte ihn wohl zum Umdenken bewogen haben und die Chancen standen gut, dass es sich dabei um die dezente Warnung hinsichtlich seiner eigenen sterblichen Verbindungen handeln mochte. „Man sagt uns eine boshafte Freude nach andere zu quälen. Wir wären stur und gerissen, hinterlistig und blutdürstig; die Geißel der Menschheit. Es ist immer wieder witzig mitanzusehen, das wir gar keine mordenden Monster der kalten Nächte sein müssen, um den Menschen Angst zu machen. Die wahren Monster, spazieren hier täglich aus und ein; dazu braucht es uns Kainiten gar nicht.“ Eine lange und getragene Pause folgte, in der er sich weder rührte noch einen einzigen Atemzug tat. Seine grauen Augen lagen mit einer fast wahnhaften Starre auf der Frau und durchbohrten sie wie Dolche. „Warum dann noch eine Warnung? Warum soll ich erfahren, dass ihr gute Leute ermordet habt, für eine dumme Vendetta die mit dieser Stadt oder diesem Land nicht im Geringsten etwas zu tun hat? Was veranlasst euch dazu mich zu warnen? Die Menschlichkeit und Nächstenliebe kann es wohl nicht sein, den die schwimmt gerade in ihren eigenen Gedärmen oder verbrennt zu einem Haufen Knochen und Asche. Wollt ihr Vergebung? Erlösung?“ Lucien lachte verächtlich auf. „Da solltet ihr mich besser kennen.“
Als Lucien sie am Hals packte weitete sie vor Schreck die Augen, schien sich dann aber ihrem Schicksal zu ergeben. Als der Hauptmann sie wider aller Erwartungen losließ ging die blonde Frau vor Überraschung in die Knie, atmete tief ein und aus und fuhr sich mit der linken Hand über den Hals. Sie schaute nach oben und sog die rettende Luft ein, bevor sie sich wieder aufrappelte. Ihre Stimme klang rauer und zwischen manchen Worten musste sie husten. “Ich tue was ich tue nicht für euch. Ich tue es nicht einmal für mich. Ich tue es für meine Kinder.” Sie richtete sich wieder zu voller Größe auf und blickte mit Entschlossenheit zu dem Gangrel. “Ich habe vier Söhne und ich würde alles tun damit sie in einer besseren Welt aufwachsen als ich. Fern von Schwüren, Hass und einer das ganze Leben überschattende Aufgabe. Ihr habt mit eigenen Augen erleben müssen zu was meine Leute in der Lage sind und ich werde nicht tatenlos zusehen wie meine Nachkommen zu solchen Monstern werden. Lieber sterbe ich bei dem Versuch es zu verhindern.” Ihre schlanken weißen Hände glitten noch einmal über den geschunden Hals auf welchem Lucien, selbst in der Dunkelheit schon blaue Flecken ausmachen konnte. “Es geht nicht um Menschlichkeit oder Vergebung. Es geht nur um den puren Egoismus einer Mutter, die alles dafür tut ihre Söhne zu beschützen. Doch damit das Wirklichkeit werden kann muss dieser Wahnsinn hier in dieser Nacht enden. Macht euch keinen Kampf zu eigenen der nicht der eure sein muss. Unschuldige sind zu Schaden und Tode gekommen oh ja. Zu viele, aber bedenkt Lucien Sabathier wie viel mehr Unschuldige werden Grausamkeiten erfahren, wenn dieser Kreis nicht endlich durchbrochen wird?”
Sein Kopf bewegte sich langsam hin und her, als er weiterhin ausdruckslos in ihr Gesicht starrte, wie sie da so geschunden und beinahe schon verzweifelt vor ihm auf die Knie sank. Er hatte kein Erbarmen oder Nachsicht mit dieser Frau, denn ihre Leute hatten es mit seinen Wachen und der eigenen Familie auch nicht gehabt. Idealisten würden behaupten, er müsse sich nun beherrschen und zeigen, das er ‚besser‘ wäre als die Teufel die Leif Thorson, Brunnhild und Erik ermordet hatten aber die Friedhöfe waren voll von Idealisten. Er glaubte ihr diese Geschichte, auch wenn es ihn schmerzte nur einen Augenblick an all das Leid und die unnötigen Tode zu denken, die in jener Nacht verübt worden waren. Sie hatte keinen Grund zurückzukommen und auch nur irgendeiner einzigen Seele die Wahrheit über diesen Alptraum zu berichten und doch war sie gekommen; wandte sich sogar an den Hauptmann der Stadtwache, einem Blutsäufer. Niemand wäre so dumm, außer einer Mutter, die um das Leben ihrer Kinder bangte. Vor seinem Auge, sah er sich schon das Heft anheben, um ihr mit einem Schlag den Kopf von den Schultern zu schlagen aber er tat es nicht, denn sie hatte nicht gelogen, das sagte ihm die kleine Stimme, die mittlerweile kein abgrundtief diabolischer Schatten aus den Untiefen der Hölle war. „Könnt ihr mir bei eurem Leben und dem eurer Kinder versprechen, dass der Mörder und Anführer dieser Kinder von Vidarr seine gerechte Strafe erhalten wird?“ Seine Augen verengten sich zu kleinen Schlitzen. „Und welche Strafe sollte ihm wohl widerfahren, von der ihr sprecht, wenn es nicht der Tod sein darf, um diesen Kreislauf aus Töten und immer wieder Töten zu durchbrechen? Wie wollt ihr mir…“ Er setzte erneut an, diesmal ganz besondere Betonung in seine Worte legend: „… MIR Genugtuung verschaffen und MEINEN Blutdurst stillen? Ihr habt einen Freund ermordet…“ Erwartungsvoll sah er sie an.
Die Frau wartete voller Geduld bis der Hauptmann zu Ende gesprochen hatte. Ihr Gesicht war noch immer ausdruckslos und nur gelegentlich war ein Spur von Furcht oder Zweifel darin zu lesen. Erst als er das Versprechen von ihr verlangte wurde ihr Blick wieder eisenhart und entschlossen. “Ich verspreche euch bei meinem und dem Leben meiner Kinder, dass ich alles in meiner Macht stehende tun werde um Ragnarsson seiner Strafe zuzuführen. Er muss getötet werden, ganz sicher sogar. Für manche Verbrechen gibt es nur diese eine Strafe, aber der seine wird so vollstreckt werden, dass es gerecht ist. Darauf gebe ich euch mein Wort.” Die blonde Frau schlung bei seinen letzten Worten ihre weißen Arme um die Schultern und lächelte zum ersten Mal leicht. “Wisst ihr Hauptmann, manchmal geht es nicht darum was wir wollen oder um unsere eigene Genugtuung. Meistens geht es auch nicht um Gerechtigkeit, sondern einfach nur darum das Beste mit dem Blatt zu machen welches uns das Leben austeilt.”
Die Minuten dehnten sich in unendliche Längen, wie lange, klebrige Fäden am Rad der Zeit das sich unaufhörlich durch die Jahrhunderte wälzte und auf seinem Wege vor nichts und niemandem Halt machte. Eine getragene, quälende Endlosigkeit, starrte er sie nur ausdruckslos an obgleich dem aufmerksamen Beobachter eine hilflose Gleichgültigkeit, gar Ohnmacht in seinem Blick auffallen würde. Dem Hauptmann der Nachtwache, schien diese Entscheidung nicht leicht zu fallen und wer ihn kannte, der wusste das es kaum etwas gab das ihm schwerer fallen könnte. Ihr Lächeln wurde nicht erwidert und weder verbal oder mithilfe einer noch so verschwindend kleinen Gestik, konnte man erahnen was der Gangrel in diesem Augenblick dachte oder welchen Bedeutungsgehalt er ihren Worten beimaß. Schließlich wandte er sich von ihr ab und tat ein paar Schritte weiter in den Raum hinein, wo er abrupt stehen blieb, ohne sich noch einmal zu ihr umzudrehen. Seine Stimme war durch das anhaltende Geräusch des prasselnden Regen und der immer noch schlagenden Kirchenglocke, kaum mehr als ein undeutliches Raunen. „Innerhalb einer Woche, werdet ihr mir den Kopf von Ragnarson zukommen lassen. Es wird ein Begleitschreiben auf meinem Tisch landen, wo ihr mir schildern werdet, wie er sein Ende fand und durch wen. Sollte dies nicht passieren, muss ich annehmen das ihr gelogen habt.“ Eine knappe Pause folgte. „Sollte ich herausfinden, das eure Geschichte eine Lüge war und sollte jemals wieder einer eurer Sippe seinen Fuß in meine Stadt setzen, so werde ich euch alle jagen, jeden einzelnen. Ich werde euch finden und dafür sorgen, dass ihr und eure Kinder und Kindeskinder, alle Verwandten und Angehörigen in ihrem eigenen Blut ersaufen. Es wird dann niemand mehr da sein, der noch eine Blutrache schwören kann; niemand der auch nur ansatzweise etwas über eure Legende berichten könnte. Ihr werdet nicht einmal mehr eine Fußnote im endlosen Strom der Zeit sein.“ Eine weitere Pause folgte. „Und jetzt schert euch aus meiner Stadt. Ich will euch allesamt nie wiedersehen.“ Bevor sie aufstehen konnte, fügte er etwas brüchig hinzu. „Und bevor Ragnarson stirbt, sagt ihm das ich in der Hölle auf ihn warten werde. Dort werde ich dann beenden, zu was ich jetzt nicht in der Lage bin. Geht jetzt.“
Das Lächeln war genauso schnell verschwunden wie es gekommen war. Auch die Frau vor ihm schwieg eine Zeit, schien jedes seiner Worte genau zu durchdenken und abzuwägen, dann schüttelte sie ihr Haupt sachte. “Der Kopf von Ragnarsson steht euch nicht zu Hauptmann. Er ist nicht eure Beute, andere haben lange vor euch Anspruch darauf erhoben und ich kann euch sowieso nichts geben über das ich keine Verfügungsgewalt habe.” Sie ging einige Schritte in Richtung Tür drehte sich dann aber noch einmal um. “Ein Wort der Warnung. Leistet keine Schwüre die ihr nicht gedenkt einzuhalten oder in der Lage seid auszuführen, denn ihr seht zu was es uns gemacht hat. Auch eure Drohungen solltet ihr euch überlegen, denn genau das was ihr beschreibt ist schon einmal geschehen. Meine Sippe, mit allen Kindern, Kindeskindern, Angehörigen und Verwandten sind in ihrem eigenen Blut ersoffen. Jenes Ereignis welches all diesen Wahnsinn erst ausgelöst hat. Ihr wärt töricht euch mit den Kindern anzulegen ohne auch nur zu ahnen wozu sie in der Lage sind. Es gibt mehr Mächte zwischen Himmel und Erde als ihr euch vorstellen könnt. Ich hoffe für euch und uns das sich unsere Wege nie wieder kreuzen mögen Hauptmann. Von mir werdet ihr weder Korrespondenz noch etwas anderes erhalten. Unsere Wege trennen sich hier und das ist zum Besten von allen die uns wichtig sind.” Die Worte die sie sprach waren weder Warnung noch Drohung, sondern hatten einen beinahe beschwörenden Unterton.
Weiterhin verharrte er regungslos in der von ihm eingenommenen Position ohne sich ihr zuzuwenden. Er hatte genug von ihren Worten und von ihrem Gesicht und selbst als sie ihm offenbarte, seine Wünsche, die er ja beinahe schon als zu befolgende Befehle formulierte ausschlug, rührte er sich nicht, sondern nahm ihre Bedenken stillschweigend zur Kenntnis. „Vorsicht…“, raunte er gepresst. „Ich habe eine besondere Schwäche dafür mir Dinge anzueignen, die mir nicht zustehen. Nennt es einen Wesenszug, der die Jahrzehnte überdauert hat.“ Dumm war es von ihm, sie ziehen zu lassen. Dumm und unverantwortlich aber er spürte instinktiv, dass sie ihm die Wahrheit offenbart hatte und darüber hinaus vermutlich noch etwas mit auf diesen kalten, einsamen Weg gegeben hatte, das ihm selbst der ermordete Leif ans tote Herz gelegt hätte: ‚Mach nicht denselben Fehler, den ich einst beging.‘ Leicht senkte er den Kopf und schloss die Augen. „Wir haben einiges zu verlieren ihr und ich; noch. Aber es mag der Tag kommen, an dem sich dies zumindest bei mir drastisch ändern dürfte. Und sollte dieser Tag kommen, wird nichts was ihr sagt irgendetwas daran ändern, was ich zu tun gedenke, solltet ihr euer Versprechen nicht halten. Bis dahin vergesst euer Wort nicht, denn wenn ihr alle längst zu Staub geworden seid, werde ich noch immer hier sitzen… und warten.“ Nachdem sie das Wachhaus ohne ein weiteres Wort zu verlieren verlassen hatte, dauerte es eine gute Weile bis wieder Bewegung in den Hauptmann kam. Schwer ließ er sich auf den Holzschemel sinken, der unlängst des Tisches mit den wild verstreuten Spielkarten stand. Dort vergrub er das Gesicht in den Händen und fuhr sich über das Gesicht. Und inmitten dieser dämmrigen Dunkelheit, die nur von ein wenig Fackellicht erleuchtet und vom prasselnden Regen und Dröhnen der Glocken erfüllt wurde, sah man einen leicht rötlichen Glanz in seinen Augen, den er vor anderen, nicht nur aus ganz offensichtlichen Gründen, stets verbarg. Sachte hob er den Kopf an die Decke und starrte müde in die finstere Leere. „Jetzt hast du mich mit all diesem Dreck hier sitzen lassen…“ Leiser fügte er hinzu: „Ruhe in Frieden alter Freund… ich werde dich vermissen.“ Schluckend, wischte er sich mit dem Handschuh über die Augen und würgte den Kloß in seinem Hals hinunter.
Hintergrundmusik - https://www.youtube.com/watch?v=_jklo0tXItU