Werde fort und fort, der, der du bist — der Lehrer und Bildner deiner selbst!
(Nietzsche 1881)
Leif schritt durch die engen Straßen des Viertels. Es war Mitte Dezember und der stetig fallende Schnee der letzten Tage hatte die Stadt unter einem dicken, weichen Mantel begraben und nur die Schornsteine mit ihren rauchenden hellgrauen Wolken ließen aus der Ferne erkennen, dass sich Menschen noch immer in diesen Mauern aufhielten und mit Fäustlingen und Schal, der Wärme eines Kamins oder offenen Feuers und einem dicken, heißen Eintopf tapfer gegen die erstarrenden Kräfte des Winters ankämpften.
Mainz war eine alte Stadt, schon bei den Römern bekannt, und nach wie vor eine der mächtigen Domizile der Adeligen, Geistlichen und Reichen.
Mühsam zog der Salubri einen Fuß aus der vereisten Schneedecke in die er soeben eingebrochen war.
Leifs Ziel lag nur einen knappen Fußmarsch entfernt, doch kam er so langsam voran wie selten. Er sah die wehrhafte Festung vor sich.
Drinnen brannte Licht und es würde warm sein.
Leif hatte sich auf den Weg aus Brügge hierher gemacht um sich mit seinem Kind Charlotte über die Geschehnisse der letzten Monate auszutauschen. Viel war geschehen und viel gab es zu bereden. Diese altaussehende Frau, die doch in Wahrheit um so vieles jünger als er war, reiste in den letzten Jahren im Gefolge einiger einflussreicher Ventrue der Lehen des schwarzen Kreuzes, zu denen auch Carminus gehörte, mit. Der Hof der wahrhaft Mächtigen des Reiches befand sich selten in einer einzelnen Stadt und genau wie die Kaiser und Könige dieser Landstriche es seit Jahrhunderten taten, reiste auch der Schwarze Regent, Hardestadt, durch das, was er sein Reich nannte. Derzeit tagte der Hof in der Reichsstadt Mainz und man hatte ursprünglich beabsichtigt ein mehrtägiges Turnier mit anschließendem Gelage abzuhalten, das nun jedoch aufgrund des eiskalten Wetters abgesagt worden war. Nun war von all dem nur das Fest geblieben, das man heute feierte.
Charlotte wollte sich dort mit ihm treffen, war doch ein Zimmer in den Mauern der Burg derzeit das ihre und das Treiben am Hofe eine mitunter amüsante Ablenkung, die vielleicht die ein oder andere politische Information mit sich brachte, die sich als nützlich erweisen konnte.
Am Tor ließ man ihn mit dem Schreiben, das er bei sich führte, rasch ein und geleitete ihn durch die gerade angelegten Gänge. Schwere Wandbehänge vor den Fenstern hielten die Kälte draußen und Kohlepfannen, die man aufgestellt hatte und die orange glühten, spendeten wohlige Wärme. Leif spürte dicke weiche Teppiche unter seinen Stiefeln und konnte die Malereien an den weißgetünchten Mauern bewundern.
Der Festsaal war reich mit Mistel, Tanne und Christrose geschmückt und die Farben Grün, Weiß und Rot fanden sich auch an den Möbeln, den Stoffbahnen, die die Decke abspannten und den Tischdekorationen wieder. Leif wusste von Charlottes Berichten, dass sich die Sterblichen in den Räumlichkeiten im vorderen Teil aufhielten während der unsterbliche Teil hier zu feiern pflegte. Leif ließ den Blick über die Umgebung schwenken und erblickte einige ihm doch bekannte Gesichter, die ihn jedoch nicht bemerkten, da sie selbst in Gespräche verwickelt waren.
Leif mochte Schnee. Die weißen Flocken die wie schillernder Kristall leuchteten erinnerten ihn immer wieder an seine alte Heimat. So sehr man den Winter dort fürchtete, so respektierte man ihn auch für die Ruhe und die Kraft mit der er immer wieder über das Land hereinbrach. Als Junge hatte er beim ersten Schneefall oft die Nacht draußen in der Eiseskälte verbracht, um das Treiben der Flocken zu beobachtet bis er ganz kalt war. Sobald er es nicht mehr aushielt war er dann immer hereingegangen und hatte sich neben dem warmen Ofen zusammengerollt, um tief und selig zu schlafen. Heute fror er nicht mehr, aber frisch gefallener Schnee gab ihm noch immer ein Gefühl der Ruhe und Zufriedenheit.
Er lächelte ein bisschen als er sich seinen Weg durch das Schneegestöber bahnte um dann dem Weg ins Innere der Burg folgen. Als er schließlich seinen Weg zum eigentlichen Festsaal gefunden hatte ließ er seinen Blick kurz über die Gäste gleiten. Er hatte Brügge verlassen müssen, zumindest für einen Moment und als sein Blick Charlotte streifte, spürte der Salubri einmal mehr Dankbarkeit und Erleichterung, dass sein Kind jene verhängnisvolle Nacht nicht in der Stadt verweilt hatte, auch wenn sie es so gerne gewollt hätte. Ein Fest, ähnlich wie dieses hatte sie verhindert und ihr damit das Unleben gerettet. Leif seufzte für einen Moment und folgte mit seinem Blick erst Carminus und dann Sebastian. Er war weder bei dem einen noch bei dem anderen überrascht, dass sie hier waren und für einen Moment wünschte er sich Theresa wäre mit ihm gekommen. Leif beschloss das Schauspiel noch ein wenig zu beobachten bevor er sich unter die Gesellschaft mischen würde.
Leif konnte laute Gespräche vernehmen unter die sich immer wieder heftiges Lachen und gegenseitige Zurufe mischten. Über allem lag die schwache Melodie einiger Musiker, die mit ihren perfekt gearbeiteten Instrumenten in einer Ecke musizierten. Leif erkannte auch ohen auf seine kainitischen Kräfte zurück zu greifen, dass man diesen Vampiren den Kuss geschenkt hatte um ihr Talent bis in alle Ewigkeit zu bewahren. Nach ihrem Tod hatten sie ihre Künste fast bis zum Göttlichen vervollkommnend.
Leif spürte die schwache und dennoch allgegenwärtige Präsenz dutzender Toreador, Ventrue, Brujah, die sie sich Nutze machten um ihren Einfluß zu verstärken, ihre Gespräche zu ihrem Zweck gelingen zu lassen oder einfach nur einige Augenblicke länger im Gedächtnis zu bleiben.
Der schwarze Monarch auf seinem Thron überblickte den weitläufigen Saal und besprach sich dann und wann mit Umstehenden. Die Präsenz dieses Mannes, das spürte Leif, war gewaltig und dirigierte fast unweigerlich in Gehorsam und Anerkennung, wenn man sich ihm näherte.
Carminus griff nach einem Becher und führte eine rote Flüssigkeit an die blassen Lippen während er zustimmend in die Richtung eines breitgewachsenen Hünen nickte.
Charlotte besprach sich mit ein paar Damen und anhand des leichtes Augenrollens, das wie Entzücken wirken konnte, erkannte Leif, dass sie sich mehr als langweilte.
Sebastian hatte sich von seinem Gesprächspartner abgewandt, der sich vor einem anderen Mann zur Begrüßung verbeugte und dann das Gespräch suchte, und sah sorgenvoll zu zwei Männern, die anscheinend gerade dabei waren einen heftigen Disput miteinander zu beginnen. Beide schienen erregt, wütend und nicht gewillt, dem anderen nachzugeben.
Den deutschen Hof machten so viele Dinge einzigartig, dass man ein Leben über die Struktur der schwarzen Lehen diskutieren könnte, aber im Moment genoss Leif auf eine gewisse Art und Weise einfach nur das Schauspiel. Noch bevor die beiden Streithähne aneinandergeraten waren, hatte Leif schon seinen Weg ins Innere des Saals gefunden. Er trug für seine Verhältnisse sehr teure Kleidung, die ihm Charlotte hatte zukommen lassen. Das Hemd war mit Samt und Brokat bestickt, während seine Hose von feinen Goldfäden durchwoben war. Es war sicherlich nicht seine bevorzugte Garderobe, aber Leif wusste das Kleider eben Leute machten. Er fand sich neben Sebastian ein und beäugte den Tremere kurz bevor er ihm mit einem kurzem Seufzen ansprach. “Unsere Wege kreuzen sich wohl immer wieder, Sebastian. Deutschland also? Ich wusste schon, ihr seid nicht einfach so verschwunden.” Leif konnte sich ein kleine Spitze nicht verkneifen, auch wenn ihm die Präsenz des Tremere eigentlich herzlich egal war.
Der Hexer zuckte bei Leifs Worten kaum merkbar zusammen. Es schien ihn Überwindung zu kosten sich zu der vertrauten Stimme umzuwenden. Leif sah die aufgesetzte Beherrschung in den Zügen des braunhaarigen Mannes als sich der Angesprochene verbeugte.
„Leif Thorson, Ratsmitglied des Brügger Stadtrates. Welche Ehre.“ Die Betonung war ein wenig übertrieben, aber mit Achtung ausgesprochen. Er ließ ein kurzes Nicken in die Richtung seines vorherigen Gesprächspartners folgen, der sich sogleich auf den Weg zu den mit Blut gefüllten Kelchen machte und dabei die restlichen Mitglieder der kleinen Gesprächsgruppe dazu aufforderte ihm zu folgen. Heiler und Hexer standen allein in der Nähe einer Säule. Sebastian trat noch ein wenig näher an die Musikanten heran um sich durch die klangvollen Akkorde eindeutig zu versichern, dass kein anderer dem Gespräch folgen konnte.
„In der Tat, Leif. Unsere Wege kreuzen sich in dieser Nacht erneut. Und ja: Noch bin ich nicht verschwunden.“ Ein schiefes Lächeln zuckte um seine Mundwinkel.
Immer freundlich, immer verschwiegen, korrekt und ohne jede echte Aussage. Das war es, was ihm an Sebastian so sehr störte und die Reaktion von Sebastian war einmal mehr wie er sie sich ausgemalt hatte. Leif lächelte ihm trotzdem zu und senkte leicht das Haupt. Es gab keinen Grund für Streit in dieser eh schon mehr als giftigen Viperngrube. “Ich erinnere mich durchaus, dass ihr geht und kommt wie der Wind. In der Tat. Ich hoffe, ihr seid gut ausgerüstet für das kalte Wetter draußen.” Leif lenkte seinen Blick auch auf die Streithähne und suchte auch einmal nach Charlotte im Getümmel, während er sich trotzdem Sebastian zuwandte falls dieser etwas zu sagen hatte.
„Ich bin als Berater hier. Sowohl für die Belange der Tremere als auch für Fragen die Ländereien von Flandern betreffend. Wobei ich weder besonders erpicht darauf bin meinen Clansältesten als auch dem schwarzen Monarch Rede und Antwort zu stehen.“ Er machte eine umfassende Geste. „Alles was Rang und Namen hat, ist hier zugegen. Ich konnte dieses Spiel schon vor hundert Jahren, zu Lebzeiten, nicht leiden, aber man kommt wohl über Kurz oder Lang nicht drum rum, zieht man es nicht vor als Gangrel einsam die Wildnis zu durchwandern.“
Leif war ehrlich von der Offenheit, sowie Direktheit des Tremere überrascht. Er hörte Sebastian aufmerksam zu und nickte sogar zwischendurch kurz. Der Ton des Salubri kam inzwischen ohne Hohn oder Spott aus. “Ich weiß, was ihr meint. Der ganze Zirkus ist meist eh nur das Vorspiel zu den eigentlichen Gesprächen, die hinter vorgehaltener Hand stattfinden. Es ist manchmal schmerzhaft, wenn man sieht, wie die Dinge sich entwickeln und man nichts dagegen tun kann, und man muss trotzdem ruhig bleiben um seine Chance bei den nächsten Gesprächen nicht zu vergeuden.” Leif schwieg und richtete einmal mehr seinen Blick auf die Anwesenden. Dann straffte sich der Salubri. “Nun denn, ich muss weiter und entschuldigt, wenn ich das so direkt formuliere, aber mögen die Gespräche und Verhandlungen von eurem Haus und Clan immer von Pech und Panne verfolgt sein.”
Sebastian biss sich auf die Lippen. Für den Bruchteil einer Sekunde war jegliche Regung aus seinen Zügen gewichen bevor er leise antwortete: „Das wäre nicht in deinem Sinne, Leif, aber in vielem hoffe ich, wenn du so willst: bete ich, du behältst mit deinem Wunsch recht.“
Sein Blick ging erneut zu den beiden Kontrahenten, die miteinander stritten.
Der eine trug die reiche, aber einfache Gewandung der Scholaren, der andere eine Ausgehuniform, die wohl vor 50 Jahren als modern gegolten hatte. Ging man nur nach Äußerlichkeiten, dann standen sich hier ein Tremere oder Kappadozianer und ein Brujah oder Ventrue gegenüber. Die Art und Weise wie beide ihre Standpunkte deutlich machten und ihr Gesprächsthema vertrieben jedoch Leifs Zweifel. Es mussten ein Hexer und ein Gelehrter sein.
Leif drehte sich scharf zu Sebastian um und kam ihm dann ganz nah. Nur Millimeter trennten seinen Mund von dem rechten Ohr des Tremere. “Seht ihr, Sebastian, und das ist das Problem. Ihr habt eure Geheimnisse so unendlich gern, dass ihr lieber sterben würdet, als einmal Klartext und nicht in Rätseln zu reden. Ihr wärt erheblich sympathischer, wenn ihr nicht immer denken würdet, dass die Last der Welt auf euren Schultern liegt.”
Leif vernahm deutlich die fast hohe, dünne Stimme des Tremere. „Die Einhörner sind ein Clan der Teufelsanbeter. Erst vor kurzem wurde ein Nest von ihnen in einer Festung in Spanien ausfindig gemacht und niedergebrannt. Diejenigen, die flohen, konnten meine Clansbrüder, ausforschen und ihre dämonischen Verse sollen wie Gift in unseren Ohren geklungen haben.“
Der Brujah hielt dagegen: „Das ist Schwachsinn. Wenn das wirklich Salubri gewesen sein sollen, dann sicher keine Teufelsanbeter. Ich habe Geschichten gehört, dass sie diejenigen waren, die damals in Rom am erbittertsten gegen die Baali vorgingen.“
„Ja, damals in Rom. Aber von denen ist mittlerweile keiner mehr übrig. Diejenigen, die diese Nächte durchstreifen, spucken auf Kain, beten satanische Riten und zeigen durch ihr Äußeres, das vermaledeite dritte Auge, jedem Sterblichen ihr wahres, kainitisches Wesen. Sie sind ein Fluch für diejenigen, die unbescholten durch die Sterblichen zu wandeln gedenken.“
Leif hörte wie Sebastian neben ihm schwer schluckte und einen lautlosen Fluch ausstieß. Leif konnte erkennen, dass sich auch Charlotte nach ihnen umwandte.
Die dröhnende Antwort des Brujah folgte.
„Die Salubri sind ein tugendhafter Clan. Wenn es einen hier gäbe, der würde es euch bestätigen. Ihr könntet alten Geschichten lauschen, die…“
Der Hexer fiel ihm verächtlich lachend ins Wort: „Geschichten? Ich geb‘ nicht viel auf Geschichten. Mir ist die Wahrheit lieber. Wo sind sie denn, deine Einhörner. Verkriechen sich in den hintersten Winkeln, weil sie fürchten, dass ihren Machenschaften auf den Grund gegangen wird.“
Der Brujah baute sich bedrohlich vor dem schmalgewachsenen Hexer auf. Seine Stimme war ein eisiges Brüllen. „Du Mitglied der niederen Clans, du Usurpator, wagst es, so zu sprechen? Nach allem, was eure Ältesten getan haben?“ Er ballte die Fäuste und man sah ihm an, dass er kurz vor einer Raserei stand. Aber auch bei dem anderen schien nicht viel zu fehlen.
Leif wartete auf keine Reaktion des Tremere und sprang direkt in die Auseinandersetzung der Streithähne. “Aber, aber meine Herrn!” Er lächelte breit, zeigte seine weißen Zähne und verbeugte sich ein kleines Stück. “Welch gemeiner Streit hier doch geführt wird! Die Salubri waren schon immer Einzelgänger und eine Nacht wird niemals helfen diesen Streit mit allem, was ihr anbringt zur Gänze aufzuklären. Besinnt euch eures Ranges und vergesst nicht, dass der ehrenwerte Hardestadt dieser Versammlung beiwohnt, bevor ihr euch ganz in eurem Streit vergesst.” Leif zeigte auf den Brujah. “Ihr hoher Clan, ihr solltet es besser wissen und ihr…” jetzt zeigte Leif auf den Tremere. “Ihr solltet eine Einladung in den Lehen des Schwarzen Kreuzes ernster nehmen als euch so zu verhalten. Keines der Kinder Kains hat hier gewonnen, keines!”