Sa 29. Okt 2016, 14:58
Oktober 1223, Aachen
Hendrik drehte erneut seine Runde. Er hatte längst aufgehört zu zählen wie oft er in dem von vier hohen Mauern eingefassten Hof von Norden nach Süden und von Westen nach Osten geschritten war. Fast konnte er sich einbilden, dass man bereits seine Spur im Staub erkennen konnte, wenn man nur konzentriert genug hinsah. Er spürte, dass Wut in ihm aufstieg und es fiel ihm schwer sie zu unterdrücken.
So hatte er sich den Aufenthalt in der Kaiserstadt Aachen nicht vorgestellt.
Alida und Meister Belinkov waren Nacht für Nacht in der Pfalz bei irgendwelchen diplomatischen Verhandlungen zugegen, Lucien hatte einen wichtigen Auftrag annehmen müssen und sich auf die Suche nach dem Sohn des Kaisers gemacht und die Frau, die ihm eigentlich Gesellschaft leisten sollte, Anja, vertrat wie die meisten Erwachsenen die Ansicht, dass Jungen in seinem Alter nach neun Uhr gefälligst im Bett zu liegen hatten. Vor allem, da sie wichtigeres zu tun hatte als ihn auf seine nächtlichen Streifzüge zu begleiten.
Er trat heftig gegen einen halbvoll mit Fallobst gefüllten Eimer, der ihm im Weg stand, und verfluchte sich selbst dafür, dass er Lucien das Versprechen gegeben hatte, hier im Anwesen dieses russischen Händlers sitzen zu bleiben. Da draußen war die Stadt, alt und mächtig, Musik, Menschen, Gerüche, Gebell, hohe Mauern, dumpfes und helles Glockengeläut, altehrwürdige Paläste aus Zeiten, die längst vergessen waren. Er wollte hinaus…
Wieder setzte er wie ein Raubtier im Käfig zu einer neuen Runde an.
Erst das laute Zuschlagen einer Tür ungefähr eine Stunde später ließ ihn inne halten. Er spitzte die Ohren. Vielleicht war Alida wieder da? Oft benutzte sie einen Hinterausgang um unbemerkt zu bleiben, wie sie ihm erklärt hatte. Erwartungsvoll drehte er sich zum Hauptgebäude und stapfte der großen Tür entgegen. So leise er konnte, und er wusste, er war ganz gut darin, schob er sich durch die Tür und ging zu den Zimmern, die man Alida und Belinkov zugeteilt hatte. Von drinnen hörte er Stimmen, aber die Menschen sprachen so leise, dass selbst Hendrik nichts Genaues verstehen konnte. Dann glaubte er jedoch den Namen ‚Alida‘ gehört zu haben und schob die Tür ohne weiteres Zögern auf. Mitten in der Bewegung hielt er wie erstarrt inne.
In dem großen, ausladenden Raum, der mit dunklen, hart wirkenden Möbeln bestückt war, erkannte er Meister Belinkov. Der braunhaarige Mann hatte sein Handgelenk entblößt und hielt dessen verwundete Innenseite nach unten. Ein rotes Rinnsal sammelte sich und floss langsam und kontinuierlich in einen metallenen Becher, den er darunter hielt. Ihm gegenüber stand sein Hausvorsteher, Girland, den er oft Major Domus nannte, was auch immer das bedeuten mochte, und erstattete ihm in knappen Worten Bericht.
Die Stimme des Verwalters war ein tiefer, rauer Bass. „Das ist leider alles, was wir zum derzeitigen Zeitpunkt herausfinden konnten, aber ich erwarte noch die Berichte von drei weiteren Quellen bis morgen Nacht und ich gehe stark davon aus, dass sie ergiebiger sind als die bisherigen…“
Der, den er bisher immer nur Meister Belinkov genannt hatte, der aber, so wusste er ja mittlerweile, eigentlich Emilian hieß, nickte und sah irgendwie bedrückt aus. Seine Stimme war etwas höher als der tiefe Bass und klang kontrolliert über das stetige Tropfen des Blutes hinweg „Ja, Girland, das hoffe ich auch. Die ganze Sache will mir überhaupt nicht gefallen. Diese Risiken mögen unter den gegebenen Umständen überschaubar sein, aber ich habe ein ungutes Gefühl bei all dem.“
Girlands Blick ging in diesem Moment ebenso wie der seines Herren zu dem kleinen Jungen, der im Türrahmen stand und mit großen Augen das Treiben der beiden Männer betrachtete.
Wütend verengten sich Girlands Augen wie die eines Vaters, der gerade seinen Sohn beim Klauen erwischt hatte und er kam mit breiten Schritten auf ihn zumarschiert.
Hendrik konnte sehen wie der breitschultrige Mann die Hände zu Fäusten ballte. Die Bestrafung für das unüberlegte Eindringen würde folgen. Der Junge musste schwer schlucken. „Ich wollte nur nachsehen, ob Alida schon da ist. Es tut mir leid…“
Eine kaum merkliche Geste mit der Hand ließen Girland innehalten. Fragend sah der Major domus zu dem Händler zurück.
Ein winziges Kopfschütteln begleitete dessen Worte. „Es ist gut, Girland. Danke. Lass uns einen Augenblick allein.“
Der Ältere verharrte einen Moment. „Herr.“ Dann verbeugte er sich knapp, trat an Hendrik vorbei, der ihm mit ängstlichem Blick hinterher sah, und schloss die Tür wieder hinter sich.
Der braunhaarige Mann sah Hendrik nachdenklich und abwartend an.
Der Junge trat nervös von einem Bein aufs andere, hob dann vorsichtig die Augen. „Ich… ich habe Alida gesucht.“
„Alida ist noch nicht hier. Sie hat eine wichtige Unterredung in der Pfalz. Ich hoffe, dass sie bis zum Ende der Nacht wieder hier bei uns sein wird.“
Hendrik nickte heftig. „Ja, das wäre gut.“ Unschlüssig, was er sagen sollte, verharrte er einen Moment, kaute hilflos auf seiner Unterlippe. Er musste doch etwas sagen! Er hatte Meister Belinkov noch nie allein gegenüber gestanden und doch schon so lange darauf gewartet und sich schon so oft ausgemalt, was er in diesem Augenblick sagen könnte. Irgendwie waren alle Worte aus seinem Kopf verschwunden. Er begann zu stammeln. „Wisst ihr… Ihr braucht keine Angst zu haben. Ich erzähle nichts weiter. Ich… Die Leute da draußen würden das alles eh nie verstehen.“
Er trat zögernd einige Schritte näher, nahm den schwachen, Geruch nach Blut wahr, der in der Luft hing. „Ihr wollt eurem Verwalter von eurem Blut geben. Das kenne ich schon. Ich habe, als ich nachts in die Küche gegangen bin, gesehen, wie Alida Marlene von ihrem gegeben hat. Ich habe Marlene später gefragt und sie hat gemeint, das Blut würde sie stärker machen.“ Er drückte die Lippen aufeinander, erinnerte sich an den besorgten Blick seiner Ziehmutter. „Und dass man damit vorsichtig sein muss. Sie hat gesagt, wenn man so etwas von einem Falschen annimmt, dann kann er Sachen von einem verlangen, die man eigentlich gar nicht tun möchte und man muss sie dennoch tun.“ Er suchte in dem Gesicht seines Gegenübers nach einer Regung, doch es ließ keinen Rückschluss darüber zu, ob ihn das Gesagte überhaupt tangierte oder es ihm missfiel.
Der Mann nickte nach einer gefühlten Ewigkeit und trat ebenfalls näher an den Tisch heran. Er griff nach dem Silberpokal und stellte ihn auf einem etwas erhöhten Schrank auf. „Da hat sie Recht.“ Er tat einen seltenen tiefen Atemzug. „Hendrik? Alida hat mit mir über dich geredet. Sie hält viel von dir und sie mag es, dich um sich zu haben. Sie meint, du wärest ein besonderer Junge...“
Hendrik spürte wie sein Herz einen zusätzlichen Schlag tätigte, dann sprach Meister Belinkov weiter. „Magst du mir einen Gefallen tun? Ich möchte wissen, von welcher Art du bist. Bist du bereit mich sehen zu lassen?“
Unschlüssig zögerte Hendrik. „Ich verstehe nicht… Was wollt ihr denn sehen?“
„Einfach nur, wer du eigentlich bist.“
Der Junge sah auf. „Ich bin einfach nur ich, Hendrik.“ Er sah in die fragenden rotbraunen Augen, nickte schließlich. Auch wenn er nicht verstand, was der braunhaarige Mann meinte, so war der Augenblick doch zu kostbar um ihn zu verärgern.
Der Knabe spürte die Präsenz, die versuchte in seinen Geist einzudringen und erschrak als er zu begreifen begann worauf der Erwachsene hinaus gewollt hatte. Er wehrte sich, wollte niemanden, der sich in seinem Inneren umsah als befände er sich in einer unaufgeräumten Wohnung, die man am liebsten verbergen wollte… die Angst vor Zurückweisung, die Wut auf das ganze Unverständnis dieser ignoranten Welt, den zurückgedrängten Zorn, wenn er gehorchen musste, obwohl sich jede Faser in ihm dagegen sträuben wollte, die Liebe zu Marlene und Jean, die Sehnsucht nach Menschen, die ihn verstanden und akzeptierten so wie er war, die Geheimnisse und Gedanken, an denen er niemanden teilhaben ließ.
Hendrik spürte das Drängen der mentalen Kraft, zögerte ein letztes Mal, dann gab er nach.
Ebenso rasch wie das fremde Bewusstsein in seinem Inneren geforscht hatte, zog es sich auch wieder zurück.
Mit weit geöffneten Augen starrte er den Fleischformer ungläubig an. Seine Stimme zitterte leicht. „Das… war…“ Er verstummte
„Danke. Ich bin nun schlauer, vermag dich wohl etwas besser einzuschätzen.“ Meister Belinkov sah noch immer nachdenklich zu ihm hinunter als überlege er, was als nächstes zu sagen wäre. „Du hältst mich also für deinen Vater? Wie…“ Ein hauchdünnes fast amüsiertes Lächeln erschien auf seinem Gesicht. „… wie komme ich zu dieser Ehre?“
Hendrik tat einen hastigen Schritt zurück und stieß an die scharfen Kanten eines kleinen Tischchens. Ertappt und beschämt sah er zu dem Älteren. Seine Stimme war leise. „Weil ich weiß, dass euer Blut durch meine Adern fließt. Und das von Alida. Und weil ich die Kraft Haut zu formen von euch beiden habe.“ Er spreizte die Finger und sah auf seine Hand als gehöre sie jemandem anders. „Wir gehören doch zusammen, oder?“
Die Augen von Meister Belinkov sahen ihn erstaunt und ratlos an. Er hatte wohl mit allem gerechnet, aber nicht mit diesen Worten. Auch er fuhr mit den Zähnen über die Unterlippe bevor er weitersprach. „Einiges, was du gesagt hast, hat einen wahren Kern, aber so einfach ist es nicht… Ich bin das Oberhaupt einer Familie, die mir treu ergeben ist, Diener und Dienerinnen, seit Generationen an mich gebunden. Ich… ich eigne mich ganz sicher nicht zum Vater.“
Hendrik sah, dass Meister Belinkov an seinem Gesicht ablesen konnte, wie enttäuscht er über diese Worte war und trat einen Schritt zurück.
Der Former tat einen langen Atemzug, dann trat er auf die Tür zu und entschloss sich weiter zu sprechen. „Begleite mich ein Stück, Hendrik. Du möchtest endlich diese einengenden Mauern verlassen und ich könnt‘ ein wenig Ablenkung gut gebrauchen. Wenn du willst, darfst du mich Emilian nennen.“ Ein zögerndes, aufmunterndes Lächeln huschte über die Züge des Erwachsenen, doch der Knabe zauderte. „Komm schon, du solltest doch wissen, welche Art von Geschöpf du dir zum Vater wünschst, oder?“
Hendrik konnte darauf nichts erwidern und folgte ihm.
Sie gingen durch die Straßen der alten Stadt und Hendrik bemerkte, dass sich Emilian angestrengt bemühte seinen Schritt an den des Kindes anzupassen.
In vielen Fenster war Kerzenschein zu erkenne, was für den Reichtum der Bewohner sprach. Die Häuser erschienen in recht gutem Zustand, die stroh- und schindelgedeckten Dächer geflickt, die Straßen reinlicher als in anderen Städten. Wahrscheinlich weil der Kaiser gerade in Aachen weilte, ging es dem Knaben durch den Kopf. Da musste man doch vorher sauber machen, oder?
Emilians Worte waren so leise, dass sie von anderen nächtlichen Wanderern nicht vernommen werden konnten. „Alida hat mir erzählt, dass viele ihrer Freunde der Meinung sind, du solltest mehr erfahren… Das, was wir die Wahrheit nennen, ist eine seltsame Sache, mächtig, gefährlich, beängstigend und, …da gebe ich Alida Recht, nichts für kleine Kinder.“ Er musterte Hendrik prüfend. „Du bist kein gewöhnliches Kind… Du bist ein Wiedergänger, so wie ich einer war, bereits seit deiner Geburt zugleich an diese und die Welt der Dunkelheit gebunden. Und auch für einen Wiedergänger bist du etwas Besonderes, denn die Kinder von Wiedergängern sind eigentlich, so lange sie jung sind, nicht in der Lage das zu tun, was du kannst, was ich kann: zu formen.“ Für einen Moment streifte sein Blick über die nächtlichen Straßen und verlor sich in der Dunkelheit. „Kein einziger meiner eigenen Wiedergängerfamilie ist dazu in der Lage. Sie haben andere Talente.“ Ein leichtes Bedauern lag in seiner Stimme.
Hendrik fasste sich ein Herz und richtete das Wort an den Former an seiner Seite. „Konntet ihr das als ihr in meinem Alter wart?“
Das Lächeln einer alten Erinnerung war auf dessen Gesicht zu erkennen. „Ja, und das galt als ausgesprochene Begabung.“
Die Fragen schossen Hendrik alle gleichzeitig durch den Kopf. Tausend Mal hatte er sich gewünscht mehr zu erfahren, endlich die Dinge zu verstehen, die man ihm verschwieg und die doch irgendwie so offensichtlich waren. Und nun war es ausgerechnet dieser Mann, den er für seinen Vater hielt, der ihm die Antworten in Aussicht stellte, auf die er gewartet hatte. Er zwang sich dazu, nichts zu überstürzen, auch wenn es ihm schwer fiel. „Wie war das mit eurem Vater? Konnte er das mit dem Formen auch?“
„Er konnte, aber er mochte es nicht sonderlich. Ich habe nur ein oder zwei Mal gesehen, wie er diese Kräfte angewendet hat.
Der Junge sah zu Emilian auf, dessen Blick nach vorne gerichtet war. „Und? Wie war er so?“
„Er war der beste Vater, den man sich nur vorstellen konnte.“
Hendrik drückte die Lippen aufeinander. Ein seltsames Sehnen lag in seiner Stimme „Das muss sehr schön gewesen sein.“
Ein langes Schweigen folgte in dem mehr lag als die Stille, die ab und an durch die nächtlichen Geräusche der Stadt unterbrochen war.
Der Junge folgte dem dunkel gewandeten Mann weiter durch die Stadt. Sie gingen an Parks, Burgen und Palästen vorbei, wanderten einige hundert Meter über die hohe Stadtmauer bis ein entrüsteter, dienstbeflissenerer Wachmann sie deftig gestikulierend wieder hinunterschickte und überquerten kleine Flüsse über mächtige Brücken.
In der Luft lag der Geruch von Gewürzbrot mit aromatischem Zimt und Nelken, aber Hendrik nahm all das nur am Rand wahr. Er war völlig gefesselt von den Schilderungen und Erklärungen, die er zu hören bekam. Emilian sprach von Unsterblichen, die an die Nacht gebunden waren und deren Existenz an das Blut der Lebenden gekoppelt war, von dunklen Mächten, die darauf lauerten deren Seele zu verführen und in all den Jahren genug Zeit für dieses Unterfangen hatten um oftmals Erfolg zu haben. Von den Eigenheiten, die es mit sich brachte nicht mehr an Luft, Wärme und Sonne gebunden zu sein. Er schilderte das Leben der Wiedergänger im Osten, wo er geboren war, die Gefahren, die es mit sich brachte Teil dieser Welt zu sein, Gefahren, geschaffen durch Niedertracht, Neid, Angst und den Kampf ums Überleben.
Irgendwann hielt Emilian im Laufen inne und sah nach vorne. Hendriks Blick folgte dem seinen und er konnte vor sich die mächtige Kathedrale ausmachen, die er bereits von der Stadtmauer aus hatte erspähen können. Seine Augen strahlten. „Das muss der Hohe Dom sein.“
Emilian nickte. „Ich nehme stark an, du willst hinein?“
Ein heftiges, hoffnungsvolles Nicken war die Antwort.
Sie traten näher und konnten einen griesgrämig dreinblickenden Wachmann vor einem schmalen Seitenportal sitzen sehen. Kirchen, das wusste Hendrik, mussten in Zeiten der Not Asyl gewähren, aber das bedeutete noch lange nicht, dass man jeden in das Haus Gottes einlassen musste, wie er immer wieder etwas erstaunt feststellen konnte. Vor allem nicht diejenigen, die tatsächlich in Not waren.
Der Händler an seiner Seite sprach den Wächter in Deutsch an, das Hendrik, wenn er sich bemühte fast verstehen konnte. „Verzeiht, guter Mann, ich bin ein vielbeschäftigter Kaufmann und leider ist es mir nicht gelungen vor Sonnenuntergang meine Geschäfte beenden zu können. Morgen reisen wir bereits wieder nach Amsterdam und mein…“ Er überlegte kurz. „… Sohn wünscht sich nichts sehnlicher als dieses prächtige Bauwerk noch ein letztes Mal bewundern zu können. Wäret ihr so freundlich uns zu so später Stunde die Pforte Gottes zu öffnen? Es wird nicht allzu lang dauern.“ Er unterstrich seine Worte mit einem kleinen Säckchen klimpernder Münzen, das den Wachmann sofort zu besonderer Eile antrieb und wie selbstverständlich das Seitentor öffnete. Mit mehreren Verbeugungen schloss er die Tür heimlich wieder hinter ihnen.
Der braunhaarige Mann an seiner Seite grinste Hendrik verschwörerisch an. Ganz offensichtlich schien es ihm, genau wie dem Knaben auch, Spaß zu machen sich nachts verbotenerweise in dunklen Kirchen herum zu treiben. Es war fast ganz finster, aber das machte dem Jungen nicht viel aus. Er wunderte sich immer wieder darüber wie blind die meisten Menschen doch nachts durch die Straßen tappten. Dabei musste man sich doch eigentlich nur ein wenig konzentrieren um alles genauer zu sehen… Oder etwa nicht?
Er blickte sich in dem prächtigen Kirchenschiff um.
Hendrik sah die hohen Säulenarkaden, Marmor und Gold im schwachen Schein des ewigen Lichts. Hoch über ihnen blickten die Engel und Apostel richtend zu ihnen hernieder, aber irgendwie sahen sie so aus als hätten sie wichtigeres zu tun als sich für die Belange von zwei nächtlichen Wanderern zu kümmern.
Dann erkannte er den steinernen Thron und ging staunend näher. Er sah zu Emilian und deutete auf den Stuhl. „Das muss der Königsthron sein. Hier wurde Karl, der Große, gekrönt und später die deutschen Könige. Das hat mir mal ein guter Freund erzählt. Aber er mochte diesen Karl nicht, weil der die Germanen gezwungen hat ihre alten Götter zu verbannen und unseren Gott anzunehmen. Mein Freund findet, die alten Götter sind viel besser und dass keiner das Recht hat für jemand anderen zu bestimmen, woran er zu glauben hat.“
Emilian nickte. „Ein schlauer Mann, dein Freund. Bei der zweiten Aussage stimme ich ihm definitiv zu.“ Er fuhr mit den Fingern über den kalten Marmor. „Karl muss ein sehr vielschichtiger Mann gewesen sein, zum einen unbeirrbarbar und grausam, zum anderen wohlwollend und fürsorglich. Er soll viel getan haben, das dem Reich und seinen Bewohnern zugutekam.“ Emilian grinste Hendrik an und deutete auf den Thron. „Bitte sehr!“
Ungläubig und mit leichtem Entsetzen sah der Junge an ihm hoch. „Ich kann mich doch nicht auf den Thron des Kaisers setzen.“
Emilian zuckte mit den Schultern. „Warum nicht? Es ist niemand hier. Außerdem sind wir keine Bewohner des deutschen Reiches. Also ist der Frevel dann auch nur halb so groß.“ Sein Schmunzeln wurde noch breiter.
Hendrik zögerte noch eine Sekunde, dann stieg er die wenigen Stufen hinauf und ließ sich auf dem Thron nieder.
Emilian sah zu ihm hinauf, sah fast klein aus dort unten. „Und wie fühlt es sich an? Eine Minute auf dem Stuhl des deutschen Kaisers?“
Der Junge überlegte. „Unbequem.“
Der braunhaarige Mann begann zu lachen. „Oh ja, Macht kann sehr unbequem sein.“
Hendrik erhob sich wieder. „Ich denke, ich wäre gerne König. Ihr nicht? Ich könnte bestimmen und alle müssten das machen, was ich sage. Da könnte man dann Dinge schaffen, die wirklich wichtig sind.“
Emilian reichte ihm die Hand und der Junge sprang mit einem behänden Satz wieder hinunter. „König? Nein. Ganz gewiss nicht. Es ist schon schwierig zu wissen, was wirklich wichtig ist und was dir nur als wichtig erscheint. Als Herrscher verlangt jeder deine vollste Aufmerksamkeit. Tag und Nacht gibt es Probleme, die schwer zu lösen sind. Jeder will seine Ziele durchsetzen und wird versuchen Einfluss auf dich auszuüben. Aber du kannst es nicht jedem recht machen. Hörst du auf den einen, wird der andere sich zurückgestuft fühlen und dir seine Unterstützung entziehen. Du kannst versuchen, deine Ziele mit Gewalt durchzusetzen, eine künstliche Einheit zu kreieren. Aber dann giltst du als Tyrann.“
Hendrik nickte nachdenklich und fragte sich im Stillen, ob der Sohn des Kaisers vielleicht deswegen weggelaufen war. War es dann richtig, wenn Lucien ihn suchte und zurückbrachte?
Der Kainit ging durch die Säulenreihen und machte an einem schmalen Aufgang halt, der offensichtlich nach oben führte. Er ließ Hendrik die schmale Wendeltreppe hinaufsteigen und folgte dann.
Nach unzähligen Stufen, er war mittlerweile längst aus der Puste, öffnete der Junge eine dunkle Tür aus Eichenholz und fand sich auf der Umgehung eines mächtigen Kirchturmes wieder. Unter ihnen leuchteten die Häuser schwach in der nächtlichen Dunkelheit, über ihnen blitzten die Sterne miteinander um die Wette. Es war kühl dort oben und ein heftiger Wind zauste ihm die Haare ins Gesicht. Hendrik trat an die Balustrade, stemmte die Füße in zwei schmale Simse und zog sich ein Stück nach oben, damit er besser sehen konnte. Es gelang ihm nur mäßig.
Der braunhaarige Mann hinter ihm zögerte einen Moment, hob ihn dann nach oben, so dass er sich, die Füße in die Tiefe baumelnd, auf die breite Steinbrüstung setzen konnte und kletterte dann ebenfalls hinauf. Er ließ sich neben dem Jungen nieder. „Höhenangst scheinst du offensichtlich nicht zu haben.“
Hendrik zuckte mit den Schultern. „Ich fall schon nicht runter. Ich pass auf. Außerdem bist du ja hier.“ Er war ohne Zögern zu der persönlichen Anredeform gewechselt. „Emilian? Das mit dem Formen und Verändern? Du hast damals in Italien gesagt, dass ich das noch nicht tun darf. Dass das nichts für kleine Kinder ist. Heute hast du gesagt, dass ich kein kleines Kind, sondern ein Wiedergänger bin…“ Er sah erwartungsvoll in die Richtung des Kainiten, knetete gedankenverloren seine Finger. „Darf ich damit anfangen?“
Emilian zögerte und sah zu seinen eigenen Füßen, die in mehr als hundert Metern Höhe in der Luft baumelten. „Du bist kein kleines Kind, aber ich denke, dass es dennoch etwas früh ist. Bevor du anfangen kannst dich zu verändern, musst du erst einmal wissen, wer du eigentlich bist. Wie willst du sonst je herausfinden, wie du eigentlich als Erwachsener aussehen würdest? Das eigene Gesicht ist etwas, das man jemandem wie dir nie nehmen kann.“
„Hm, ich könnte die Veränderungen ja immer gleich wieder rückgängig machen. Außerdem find ich nicht, dass das so wichtig ist. Ich bin nicht so hübsch und ich wär‘ gern größer…“ Er analysierte die unnatürlich rot-braunen Augen seines Gegenübers. „Siehst du noch so aus wie du damals ausgesehen hast, oder hast du dich selbst verändert?“
Sein Gegenüber hielt die Hände in den kräftigen, kühlen Nachtwind, der ihnen um die Ohren blies. „Ich habe fast alles verändert. Ich war nicht so wirklich glücklich, wie ich war.“
„Warst du hässlich?“
Emilian überlegte. „Nein, nur zu jung.“ Er seufzte. „Wenn du vollends in die Nacht geholt wirst, dann alterst du nicht mehr. Dein Geist entwickelt sich weiter, aber dein Körper bleibt so wie er ist. Manchmal ist das gut. Für mich war es das nicht.“
„Wie alt warst du denn?“
Die rotbraunen Augen wanderten zu Hendrik. „Acht.“
Der Junge war überrascht. „Ich bin acht.“
Der Erwachsene nickte und Hendrik sagte: „Ich könnte auch diesen Kuss bekommen. Dann wär‘ ich auch unsterblich. Ich kann sicher auch lernen mich selbst erwachsen zu machen. Dann muss ich nicht so lange warten.“
Emilian begann herzlich zu lachen und schüttelte dann den Kopf.
„Es dauert bei weitem länger sich selbst zu formen als erwachsen zu werden. Ich rate dir abzuwarten. Wir Drachen, so nennt man uns Former auch, wählen diejenigen für den Kuss gerne aus den Reihen unser eigenen Wiedergängerfamilien und vielleicht gehörst du eines Tages dazu. Aber es gibt so vieles, was wichtig ist, was du niemals verpassen solltest: erwachsen werden, auf eigenen Beinen stehen, ein Mädchen, das du liebst, eigene Kinder…“
Hendrik verzog das Gesicht. „Erwachsen sein und mir nicht immer anhören zu müssen, was ich alles nicht darf, das wäre gut. Aber ich brauche kein Mädchen und auch keine Kinder…“ Er schien über seine eigenen Worte nachzudenken und ließ eine Erklärung folgen. „Ich kenne nur meine Cousinen von den van de Burse. Und die verstehen fast nie etwas richtig und machen sich über mich lustig, wenn der Lehrer gemein zu mir ist, weil ich seine blöden Psalmen nicht auswendig gelernt habe. Florine ist lieb, aber die ist noch zu klein und wird vielleicht später mal genauso wie die anderen Mädchen… Und die meisten Kinder sind einfach nur gemein. Ein paar nicht. Ich hab einen Freund, der heißt Emil. Eigentlich dachte ich, dass er auch dumm ist, aber das ist gar er nicht.“
Der Kainit musste lächeln. „Viele Dinge sind anders als man im ersten Moment annimmt. Dafür muss man genauer hinschauen.“
Einige Minuten verstrichen während beide hinab auf die Dächer Aachens blickten und ihren eigenen Gedanken nachhingen. Gedanken an die Vergangenheit, das, was gerade geschah und durch jede einzelne Handlung in jeder einzelnen Sekunde beeinflusst werden konnte und die Zukunft, dieses unbestimmte, im Nebel liegende Konstrukt, in dem man so vieles erkennen konnte, um doch jedes Mal aufs Neue zum Guten wie zum Schlechten überrascht zu werden, wenn man näher heran kam.
Emilian war es schließlich wieder, der sprach. „Weißt du, Hendrik: Ich mache dir einen Vorschlag. Ich werde dich lehren, was ich weiß und was ich für richtig halte. Und du versprichst mir, dass du nichts davon ohne meine Erlaubnis anwenden wirst.“
Hendrik sah den Erwachsenen freudestrahlend an und nickte dann heftig. „Hoch und heilig versprochen. Ich werd‘ das nicht vergessen.“ Es gab noch etwas, was der Junge ansprechen, wollte, aber er zögerte. Schließlich nahm er seinen Mut zusammen. „Emilian? Bist du jetzt eigentlich mein Vater?“
Der Kainit schien seine Antwort zu überdenken. „Ich bin nicht das, was man im herkömmlichen Sinne darunter versteht. Ich habe mich nicht mit der Frau, die dich geboren hat, vereint… Aber mit einem hast du wohl recht: Mein Blut und das von Alida fließt durch deine Adern. Du bist mir in vielerlei Hinsicht ähnlich und wenn es für jemanden wie mich tatsächlich sowas wie ein Kind gäbe, jemanden, der einen Teil von Alida und von mir in sich hat, dann wärest das du. Ohne uns wärest du nicht der, der du bist.“ Er lachte kurz auf. „Aber, wie ich schon gesagt habe, Hendrik. Ich bin vieles, Familienoberhaupt, Händler, Former, Tyrann… Ich hab in meinem Leben einiges ganz gut gemacht, auf vieles bin ich alles andere als stolz, hab aber daraus gelernt. Hendrik? Du möchtest mich gewiss nicht zum Vater, denn dazu eigne ich mich nicht.“
Der Junge verengte nachdenklich seine Augenbrauen. So leicht gab er nicht klein bei.
„Doch, das würdest du. Du könntest es versuchen! Und wenn du wirklich zu viel falsch machst, dann kann ich dir das ja sagen.“
Emilian begann zu lachen. Gegen so viel kindliche Logik kam er nicht an. „Ich werde mit Alida reden. Aber sag später, wenn alles schief gelaufen ist, nicht, ich hätte dich nicht gewarnt.“
Hendrik begann sich vorsichtig aufzurichten um wieder von der Balustrade zu steigen. Eine heftige Windboe riss an ihm und brachte ihn zum wanken. Weit unter sich sah er die Straßen der Stadt, hatte das Gefühl in die Tiefe gerissen zu werden, doch Emilian hielt ihn zurück.
Hendriks brachte nur mit Mühe etwas hervor. „Ich glaube, du wärest ein guter Vater für mich.“