Genua September 1215 (Alida) Alida spürte das kühle Wasser, das ihre Füße umspülte. Sie lag, eine wollene Decke unter sich, auf dem steinernen Bootsanleger in der Nähe der alten römischen Villa, den Kopf auf Emilians Schoß, ließ die Füße ins Meer baumeln und betrachtete die hellen Sterne, die über ihnen ihre Kreise zogen. Kaum merklich stiegen die Sommersternbilder Schwan, Schütze und Delphin über den Horizont Richtung Zenit und wurden dabei von einem gelblichen Himmelskörper gekreuzt, in dem sie Jupiter vermutete. Sie atmete tief ein, ließ ihren Blick zu Emilian wandern, der konzentriert in einem Buch las und gedankenverloren mit einer ihrer Haarsträhnen spielte. Der Moment erschien ihr perfekt und tief in ihrem Inneren wünschte sie, sie könnte ihn anhalten.
Um die Kontore würden sie sich morgen wieder kümmern, es gab niemanden um den sie sich sorgen musste, niemand, der ihr Vorwürfe machte, niemand der sie brauchte. Alles schien von selbst zu laufen und es lief gut. Sie war hier und jetzt, sie war glücklich und mehr brauchte sie in diesem Augenblick nicht.
Über ihr spannte sich das helle Band der Milchstraße. „Ist es nicht seltsam, dass man hier fernab der Stadt die Sterne viel besser erkennen kann als es in Brügge je möglich wäre?“
Der braunhaarige Mann legte das Buch zur Seite und folgte ihrem Blick. „Es ist wahrscheinlich so wie im wahren Leben: wenn die anderen Lichter, die Ablenkungen um uns herum, verschwinden, können wir uns auf das Wesentliche konzentrieren.“ Er küsste sie auf die Stirn.
„Was glaubst du sind Sterne?“ fragte sie.
Er überlegte. „Für mich wahrscheinlich am ehestens Wegweiser in der Nacht. Wenn man sein Ziel nicht mehr vor Augen hat, verhelfen einem diese Punkte immer wieder es dennoch in der Finsternis zu finden… In der arabischen Welt gibt es die Mythologie, der Himmel sei eine Decke, die über der Welt läge und durch die winzigen Löcher könne man einen Hauch von Gottes Herrlichkeit erkennen.“
Sie lächelte. „Ein schöner Gedanke…“
„Und für dich?“
„Ich habe keine Ahnung. Aber eines weiß ich. Auch nach so vielen Jahren fühle ich mich in der Dunkelheit der Nacht nicht wohl. Seltsam, oder? Aber wenn über mir Sterne leuchten verschwindet dieses Gefühl.“
Er zog sie an sich und küsste sie. „Dann solltest du für immer hier bei mir bleiben. Im Süden ist das Wetter viel besser als in Flandern und unzählige sternklaren Nächte sind quasi für dich vorher bestimmt.“ Er schmunzelte.
„Das hättest du wohl gern?“
„Natürlich…“ Er ließ den Kopf in den Nacken zurücksinken, sah über den Horizont und schwieg.
Als er nach einer gefühlten Ewigkeit wieder zu seinem Buch greifen wollte, war das Geräusch von Schritten zu vernehmen, die zügig näher kamen. Alida wollte sich erheben, aber der braunhaarige Mann drückte sie mit einer sanften Bestimmtheit wieder nach unten, da er den Ankommenden am Schritt erkannte.
„Girland? Was gibt es?“
Der Ghul kam am Bootsanlegesteg zum Stehen und verbeugte sich leicht. „Verzeiht mir, Herr. Ein Bote ist eingetroffen, der euch einen Brief überbringen lässt. Ich gehe davon aus, dass ihr ihn gleich zu lesen wünscht?“
Emilian ließ sich das Dokument aushändigen und nickte. „Danke. Girland. Du kannst wieder zurück ins Haus gehen. Sollte die Botschaft wichtig sein, werde ich in zehn Minuten nachfolgen. Ansonsten kannst du den Boten wieder entlassen.“
Der ernste, hochgewachsene Diener verbeugte sich erneut und war genauso schnell wie er gekommen war wieder verschwunden.
Der Tzimisce betrachtete das Siegel und zog bei dessen Anblick eine Augenbraue in die Höhe Dann brach er es auf und begann zu lesen. Als Alida das Wappen der van de Burse erkannte, drei Geldsäcke in einem roten Band auf gelbem Grund richtete sie sich auf, setzte sich neben ihn und überflog gemeinsam mit ihm die Zeilen.
Werter Herr Belinkov
Verzeiht, dass ich die Dreistigkeit besitze mich an euch zu wenden. Ich bin vor drei Tagen in Genua angereist und es war mir aus zeitlichen Gründen nicht vergönnt meiner werten Base Alida vorherig eine Nachricht zu übermitteln. Ich vermutete sie in dem von unserer Familie angemieteten Anwesen, da ich sie dort jedoch nicht anzutreffen vermag, wende ich mich zunächst an euch. Ist euch ihr Aufenthaltsort bekannt, so möchte ich euch bitten mit mir in Verbindung zu treten.
Hochachtungsvoll
Frederik Christian van de Burse
Emilian seufzte, strich sich die braunen perfekt fallenden Haare aus der Stirn. „Mir scheint, all das, was du zurück lässt, holt dich auch hier wieder ein.“
Alida erhob sich nervös. „Wenn Frederik hier ist muss irgendetwas passiert sein. Er ist derzeit derjenige, der sich in Brügge um die Belange unserer Familie kümmert. Wenn er dort alles stehen und liegen lässt, stimmt etwas nicht.“
Emilian richtete sich neben ihr auf. „Soll ich mitkommen?“
Sie überlegte kurz. „Wenn du möchtest? Du kennst Frederik bereits. Er hat dir damals den Doppelgänger des ehemaligen flandrischen Thronfolgers Balduin gebracht.“
Ihr Erzeuger erinnerte sich und nickte. Er zog sie noch einmal an sich. „Dabei fing der Abend so schön an…“
Alida biss ihn spielerisch in die Oberlippe, fuhr mit der Zunge darüber, schmeckte sein Blut, süß und verheißungsvoll. Sie versuchte ihn aufzumuntern. „…wer weiß denn schon jetzt schon wie er endet?“ Aber insgeheim war ihr klar, dass Emilian Recht hatte. Die Vergangenheit, vor der sie erst vor kurzem geflohen war, war bereits jetzt allgegenwärtig.
Es dauerte wohl eine Stunde bis sie das angemietete Haus im Zentrum Genuas erreichten. Es war ein typischer italienischer Gebäudekomplex an einem der belebten Marktplätze. Im Hof plätscherte ein kühler Brunnen in ein moosbewachsenes Marmorbecken und einzelne Palmen in Tonkübeln vermittelten die Atmosphäre eines südländischen Gartens.
Alida schritt mit ihrem Begleiter an den Wachmännern, die am Eingang postiert waren vorbei, nickte diesen zu, stieg die Treppe in den ersten Stock hinauf und betrat den Wohnbereich. Lydia, die Tochter der im Krieg um Brügge verstorbenen Köchin Annie, die Alida gebeten hatte mit nach Italien zu kommen, trat ihr mit besorgtem Gesicht entgegen. „Frederik ist im Wohnzimmer. Er ist vor drei Tagen angereist. Keinem von uns war mitgeteilt worden, dass er kommen würde.“
Alida legte ihr kurz eine Hand auf den Arm. „Danke, Lydia.“ Sie öffnete die große helle Tür und betrat ohne zu zögern den Raum. Emilian folgte ihr langsamer, fast vorsichtig und schloss die Pforte hinter sich.
Die blonde Händlerin erkannte ihren Cousin im hinteren Bereich des Wohnzimmers. Er saß an einem runden Tisch vor einem großen Richtung Innenhof gelegenen Fenster, studierte eine Karte der Stadt. Er trug einfache Kleidung, eine dunkle Weste über einem ausgewaschenen Leinenhemd. Als der braunhaarige Mann sie erblickte sprang er erleichtert auf, war in wenigen Sätzen bei ihr und schloss sie fest in die Arme. „Ich hab mir solche Sorgen gemacht. Die Diener haben gesagt, dass du schon seit Tagen nicht mehr hier warst. Wo um alles in der Welt warst du?“
Dann bemerkte er den Mann mit den wasserblauen Augen, der ebenfalls eingetreten war. „Meister Belinkov?“ Er kaschierte seine Verwunderung in einer gekonnten italienischen Verbeugung.
Alida schüttelte den Kopf. „Die Höflichkeiten sind eine Tugend aber im Moment keine Notwendigkeit. Das ist, wie du weißt, Sergej Belinkov. Ihr seid euch vor rund zehn Jahren schon begegnet. Ich vertraue ihm.“ Sie erkannte an seinem irritierten Blick ganz genau was er dachte. Alida war zwar immer rasch dabei jemandem ihr Vertrauen zu schenken und es wäre ihm in den seltensten Fällen in den Sinn gekommen, das zu kritisieren, aber sie war erst seit einem Monat in Genua und in seinen Augen war es unverzeihlicher Leichtsinn einem Fremden soweit zu vertrauen ihn in Familienangelegenheiten einzuweihen.
Alida sah ihn fest an. „Wenn du es wissen möchtest: Ich war bei ihm. Es ist alles in Ordnung.“
Er zog eine Augenbraue in die Höhe und Alida wusste, dass er diese Tatsache ganz und gar nicht ‚in Ordnung‘ fand. Sie seufzte und nahm an dem großen Tisch Platz. Mit einer Handbewegung lud sie die Männer ein, sich ebenfalls zu setzen. Frederik ließ sich ohne langes Zögern sofort in den Stuhl fallen, Emilian trat gemächlich näher und setzte sich erst nach einem Moment.
Der Blick der blonden Händlerin ging zu dem jungen Toreador. „Also? Was ist los?“
Frederik fuhr sich mit der Hand nervös durch die Haare.
„Es geht um Georg. Du hast ihn gebeten in Brügge zu bleiben, auf alles ein wachsames Auge zu haben, mich zu unterstützen. Du weißt so gut wie ich, dass es ihm alles andere als behagt hat, dass du gingst. Ich habe versucht ihm mit den mir zur Verfügung stehenden Mitteln… zu helfen.“ Alida versuchte den verräterischen Ausdruck, der um ihre Mundwinkel zuckte zu verbergen. ‚Sag es doch einfach, Frederik: Blut… was sonst? ‘ dachte sie, sprach den Gedanken aber nicht aus.
„Es ging ihm schon bald nach deiner Abreise nicht gut und sein Zustand verschlechterte sich rasch. Er rang oft nach Luft, fasste sich immer wieder schmerzgeplagt an die Brust. Ich hab zuerst nach einem gewöhnlichen Arzt schicken lassen und als dieser nicht weiter wusste, Leif geholt.“ Er blickte seine Cousine an und dann mit einem fragenden Blick in Belinkovs Richtung. Alida nickte nur bestätigend, dass er weiter sprechen konnte. „Leif untersuchte ihn lang, testete ihn mit allem was ihm zur Verfügung steht aber zu guter Letzt teilte er mir die Diagnose mit, die er eh seit seiner ersten Berührung der kalten Haut gekannt hatte: Georg stirbt, Alida. Er ist alt, uralt. Und du weißt das um einiges besser als ich. Er war bereits uralt als ich noch ein kleines Kind war. Es ist sein Herz, das nicht mehr in der Lage ist so zu schlagen, wie es notwendig wäre und kein kainitisches Blut der Welt wird diese Tatsache ändern können.“
Alida öffnete leicht den Mund bei dem Entsetzen, das sich in ihr ausbreitete. Sie ballte die Hände zu Fäusten und spürte den Schmerz in ihren Handflächen. Sie war nicht dumm. Sie wusste, dass es eines Tages so kommen würde. Dass es immer so kam. Dass fast jeder, den sie liebte gehen musste. Aber noch nicht. Nicht so. „Was ist dann geschehen?“
Frederik massierte nervös mit dem Daumen seine Finger auf der Tischplatte. „Er hat sich eines Tages einfach auf und davon gemacht. Ich hab zwei Nächte benötigt um herauszufinden, wohin er wollte, denn es war ihm wohl klar, dass ich alles in meiner Macht stehende getan hätte um ihn aufzuhalten und das wollte er verhindern. Sein Ziel war Genua und er hat sich anscheinend einer Pilgergruppe nach Rom angeschlossen, die wahrscheinlich so viel Mitleid hatte, den alten Mann auf ihrem Ochsenkarren mitfahren zu lassen. Da die Tage nach wie vor länger sind als die Nächte hatte er einen ausgesprochenen Vorsprung, den ich nicht zu verringern vermochte. Ich bin vor drei Tagen hier eingetroffen und da ich keine vorherige Ankündigung meines Kommens abliefern konnte, habe ich vom Haushofmeister der Baronessa, Cato, nur ein Bleiberecht in Genua für vier Nächte erhalten können. Morgen muss ich die Stadt verlassen haben.“
Alida sah ihn irritiert an. „Warum tut er das? Warum setzt er das bisschen Zeit, das ihm noch bleibt aufs Spiel?“
Emilian an ihrer Seite holte tief Luft, atmete lange aus und fixierte sie dann mit seinen hellblauen Augen. „Warum wohl, Alida? Weil er dich noch ein letztes Mal sehen will bevor er stirbt!“
Man hatte sich darauf geeinigt getrennt zu suchen. Alida würde sich um die Spitäler Genuas kümmern. Wenn ein alter Mann irgendwo ohne Familie aufgefunden wurde, brachte man ihn am ehesten in ein nahe gelegenes Kranken- oder Armenhaus. Und wenn er schon nicht dort war, dann gäbe es vielleicht jemand, der Informationen zu seinem Aufenthaltsort hätte. Emilian hatte sich entschlossen die Kainiten der Stadt aufzusuchen, allen voran Cato und im Anschluss die Baronessa. Diese Kainiten waren die einzigen, die von den Brügger Untoten getroffen worden waren und von denen Georg vielleicht die eine oder andere Information haben mochte. Da sich Frederik in keinster Weise in der gigantischen mittelalterlichen Metropole auskannte, nahm der braunhaarige Tzimisce ihn auch in der Hoffnung die Aufenthaltsgenehmigung des jungen Toreador verlängern zu können, mit.
Man hatte sich verabschiedet und vereinbart um Mitternacht an der Kathedrale San Lorenzo zusammen zu treffen um die Informationen, die man erhalten hatte, auszutauschen
Frederik schritt schweigend neben dem braunhaarigen Mann her und beäugte dessen Äußeres kritisch. Das Gesicht war von fast unmenschlicher Perfektion, ebenso die Haare und die hellen Augen. Die Züge waren anziehend aber es war die absolute Ebenmäßigkeit, die ihm etwas Künstliches verlieh. Der Tzimisce kannte den Weg und ging ohne lange nachzudenken oder sich umzuschauen weiter. Frederik hatte ein ums andere Mal Schwierigkeiten mitzuhalten. Häufig stolperte er über Unrat, unachtsam abgestellte Kisten oder andere Dinge, die ihm den Weg versperrten und über die der Mann aus dem Osten mühelos hinüberstieg. Schließlich musste der Brügger Händler fast rennen.
„Vermaledeit! Wie macht ihr das, Belinkov? Woher wisst ihr immer genau wo ihr hintreten müsst?“
Der Tzimisce verlangsamte seinen Schritt, blickte sich um. Seine Stimme war so leise, dass nur sein Begleiter sie vernehmen konnte und seinen Mund umspielte ein fast abfälliges Schmunzeln. „Ihr gehört dem Clan der Rose an, Frederik. Da sollte es euch doch vertraut sein, dass es nicht notwendig ist Dinge zu sehen um zu wissen, dass sie da sind.“
Der dunkelblonde Toreador stieg im letzten Moment über einen übel riechenden Nachttopf und verzog das Gesicht. „Ähm… ja, durchaus.“ Er hastete wieder an die Seite des Begleiters. „Woher kennt ihr Alida eigentlich? Habt ihr sie hier in Genua kennen gelernt?“
Belinkov schmunzelte. „Aha, jetzt kommen wir zu den Fragen, die euch wirklich interessieren, junger Van de Burse. Beantwortet mir doch im Gegenzug zunächst eine Frage, die mich brennend interessiert. Ihr seid der Urenkel von Frederik van de Burse, Sohn von Christian van de Burse, nicht wahr?“
Frederik stutzte. „Ja, Christian van de Burse, Alidas Bru…” Er sprach nicht weiter.
Belinkov warf ihm einen Blick zu. „Wie war euer Urgroßvater denn so?“
Der junge Mann zog irritiert über diese Frage eine Augenbraue in die Höhe. „Ich habe nicht viele Erinnerungen an meinen Urgroßvater Frederik. Er starb als ich noch ein kleines Kind war. Er war liebenswürdig, herzlich, ruhig, ein begeisterter Leser von alten Büchern wie fast alle Mitglieder unserer Familie und ein noch leidenschaftlicher Schachspieler. Er hat gemeinsam mit mir immer die Figuren über das schwarz-weiße Brett geschoben und versucht mir die Regeln zu erklären obwohl ich dafür noch viel zu jung war.“
Belinkov lachte fast herzlich. „Tatsächlich? Er hat Schach gespielt?“ Er schmunzelte in sich hinein als würde er über etwas lang Vergangenes nachdenken. „Woher ich deine „Cousine“ kenne? Alida und ich kannten beide ihren Erzeuger. Ich glaube, so beschreibe ich die Umstände am treffendsten.“
Wieder schritten die beiden Männer lange schweigend nebeneinander her. Sie erreichten schließlich ein großes Haus, dass in die Häuserzeilen der Stadt integriert war, doch anhand des Verputzes und der Stuckverzierungen war sofort zu erkennen, dass dies das Anwesen eines reichen Mannes sein musste.
Belinkov sah ihn an. „Das ist das Anwesen von Cato Tutti, aber das wisst Ihr sicher? Ihr ward ja bereits vor einer Dekade hier.“ Der Tzimisce trat näher zur Tür, als ein seltsames Gefühl im Nacken Frederik herumfahren ließ. Er griff nach der Schulter seines Begleiters um ihn am Weitergehen zu hindern und schüttelte den Kopf. Dann deutete er in die spärlich beleuchtete Dunkelheit eines weiten Platzes. „Dort drüben. Richtung Marktplatz.“ Belinkov sah ihn fragend an, folgte ihm jedoch. Frederik blickte sich auf dem weiten Platz um. Sein Gefühl verstärkte sich, aber dennoch erspähte er nichts, das seinem Instinkt einen Sinn gegeben hätte. Er ging vorsichtig über die großen Steinfliesen und näherte sich dem Brunnen in der Mitte des Areals. Dann hörte er die schweren Atemzüge. Mit zwei Sätzen war er um den Brunnen herum und blickte in das fahle Gesicht des vertrauten Verwalters. Seine Lippen waren bläulich, die Gefäße an seinem Hals traten hervor. Frederik sank neben dem alten Mann auf die Knie und in seiner Stimme lag sowohl Freude als auch Verzweiflung. „Verdammt, Georg. Warum um alles in der Welt hast du so einen Mist gemacht?“ Belinkov trat in die Nähe der beiden Männer und verschränkte die Arme vor der Brust. Er stand reglos da und musterte den alten Mann von oben bis unten mit einer für Frederik absolut unverständlichen stoischen Ruhe. Georg öffnete die Augen und erkannte den jungen Toreador. „Frederik? Es tut gut dich zu seh‘n.“ Er atmete schwer ein. „Die Wachen von diesem Kainit Tutti haben mich weggejagt, haben sich geweigert mir nur die kleinste Auskunft zu geben…“ Seine Stimme war nur ein Hauch. Er ließ seine Augen kurz über den fremden künstlich wirkenden Mann wandern, aber da er ihn nicht kannte, blickte er wieder in die grauen Pupillen des van de Burse. „Es ist meine Pflicht mich wenigstens noch mal zu verabschieden. Findest du nit?“ Er hustete.
Frederik musste sich bemühen nicht wie ein Kind los zu weinen. „Ja, vielleicht. Aber Alida wäre sicher auch für dich nach Brügge zurückgekommen.“
„Ja, das wär sie. Aber zu spät...“ Er schloss erneut die Augen.
Frederik hörte das bedrohliche Röcheln. Er zog Georg nach oben und hob ihn hoch. Obwohl der Verwalter der van de Burse einst von stattlicher Statur gewesen war, hatte er nun nur noch das Gewicht eines Kindes. Er drückte den schwachen Körper an sich. „Wohin, Belinkov?“
Der Tzimisce nickte nachdenklich. „Lasst uns zurück zu eurer Bleibe gehen und einen Arzt rufen.“ Frederik erkannte in den wasserblauen Augen dass sein Begleiter ganz genau wusste, dass ein Arzt nicht viel aus zu richten vermochte. Er atmete, obwohl er es eigentlich nicht musste, tief ein und folgte dem Fremden durch die nächtlichen Straßen.
Frederik legte Georg auf einer Liege, die an der Wand des Wohnzimmers stand, ab und rannte hinaus um Lydia so schnell wie nur möglich zum nächstbesten Arzt zu schicken. Er bat einen anderen Diener zur Kathedrale San Lorenzo zu gehen und dort auf Alidas Ankunft zu warten. Dann kehrte er mit einem Krug Wasser und einem weißen Tuch zurück in den Raum. Belinkov hatte offensichtlich die Fenster geschlossen, stand mit verschränkten Armen an den runden Tisch gelehnt da und betrachtete ruhig die fahle schwache Gestalt. Georg bemerkte den Blick der hellen auf ihn fixierten Augen. „Was is? Habt ihr noch nie nen Sterbenden gesehen?“
Belinkov kaute nachdenklich auf seiner Unterlippe, eine Geste, die Frederik in genau der gleichen Art und Weise immer wieder bei Alida beobachtete. „Doch, ich habe schon viel zu oft Sterbende gesehen, mein alter Freund. Aber ich hätte nicht gedacht, dass du einer derjenigen sein würdest.“
Frederik, der schon näher treten wollte, verharrte mitten in der Bewegung bei den weiterem Worten des Tzimisce. „Und um ehrlich zu sein: wäre ich allein durch die nächtlichen Straßen gewandelt, ich hätte dich nie erkannt. Im Moment ist nicht mehr allzu viel von dir übrig.“
Die hellen Pupillen des alten Mannes weiteten sich. „Wer seid ihr?
Belinkov trat näher, zog einen Stuhl heran und nahm direkt neben dem Alten Platz. Er beugte sich zu ihm hinunter. „Was denkst du denn, Georg?“
Frederik wagte nicht sich zu rühren. Alidas alter Freund wich soweit es ihm möglich von der unheimlichen Begegnung fort. „Ich kenn euch nit, wer auch immer ihr sein wollt.“
Belinkov seufzte lang. „Wir waren zwar nie die engsten Vertrauten, du und ich, aber du kannst mir glauben, dass ich dich im Osten mitunter wirklich vermisste habe. Besser deine gelegentlichen Anfeindungen als die Freundschaft so manch eines Kainiten…“ Er deutete eine winzige Verbeugung an. „Gestatten? Emilian Victorovich…“
Georg zuckte zurück als hätte man ihn geschlagen. „Das is nit möglich. Ich weiß wie der Junge ausgesehen hat und ihr habt wirklich nit die kleinste Ähnlichkeit mit ihm.“
Die folgenden Worte sprach der Tzimisce wohl eher zu sich selbst. „Alida wollte es mir auch nicht glauben als ich es ihr gesagt habe. Ihr Brügger scheint ein misstrauisches Volk zu sein…“
Er wartete eine Weile schien auf eine Reaktion des Verwalters zu warten und legte dann die Hände ineinander. „Vielleicht sollte ich es dir ein wenig leichter machen?“ Plötzlich begann seine Gestalt zusammen zu sinken, so dass die viel zu große Kleidung wie eine Decke um die schmalen Schultern fielen. Die perfekt sitzenden Haare wichen einem struppigen braunen Schopf und das Blau der Iris macht einem warmen Rotbraun Platz. Der scheinbar achtjährige Junge sah auf seine zarten kurzen Finger, dann wieder zu dem alten Mann. Die Stimme war die eines Kindes. „Glaubst du mir jetzt?“
Georg versuchte sich mit Mühe im Sofa aufzurichten. „Emilian? Wie kann das sein?“
Der jungenhafte Tzimisce schwieg und sah zu dem alten Mann.
Georg versuchte sich ein wenig in den Kissen aufzurichten. „Wie ist das möglich? Du hast mit Alida gesprochen? Sie weiß davon?“
Das Kind nickte, nahm dann wieder die erwachsene, souverän wirkende Gestalt des Tzimisce Händlers an. „Georg? Was glaubst du denn, warum sie hier in Genua ist?“
Die ausgemergelte Gestalt öffnete den schmalen Mund um ihn dann wieder langsam zu schließen.
Emilian seufzte. „Meine Geschichte ist zu lang um sie hier und jetzt zu erzählen und sie ist nicht für diesen Abend gedacht.“
Georgs Faust griff nach Emilians Ärmel und verkrampfte sich darin. „Das hast du nicht getan. Sag, dass du es nicht getan hast! Du hast sie nicht zu dir gelockt.“
Emilian wich zurück. „Ich habe sie nicht gelockt.“ Er schüttelte heftig den Kopf. „Georg? Nur weil sie dich in all den Jahrzehnten nur als Ziehbruder an ihrer Seite wollte, bedeutet das nicht, dass ich zu irgendwelchen Tricks greifen müsste damit sie zu mir kommt. Das war ihre freie Entscheidung.“
Entrüstung machte sich in den Augen des alten Mannes breit. „Und du hast sie an dich gebunden um sie hier zu behalten, hab ich recht? So wie damals…“
Der braunhaarige Mann nickte zögernd, fast schuldbewusst. „… und sie mich an sich, wenn du es so willst...“
Georg ballte die Faust, holte aus um ihn zu schlagen doch für den Kainit war es ein leichtes den schwachen Schlag abzuwehren. Wut breitete sich auf seinen perfekten Zügen aus und er fuhr den Alten an. „Du hast kein Recht zu entscheiden, wer sich an wen bindet! Du hast in mir immer nur eine Bedrohung gesehen, ganz gleich, was ich getan habe, einen gefährlichen Dämon oder gar Schlimmeres. Warum? Weil du das Gefühl hattest ich würde sie dir wegnehmen???“ Er schrie fast. „Ich habe das erreicht, was ich wollte, ich kann das Leben führen, das ich möchte und ich habe härter dafür gekämpft als du dir je vor zu stellen vermagst. Es liegt nicht an dir in dieser Nacht Kritik zu äußern, alter Mann.“
Die so unterschiedlichen Männer wichen auseinander und wirkten plötzlich beide auf ihre Art kraftlos, Georg in den Kissen der Liege, Emilian auf seinem Stuhl. Dann sah der Kainit den Sterbenden wieder lange und nachdenklich an. Seine Stimme hatte sich beruhigt. „Warum hast du sie in all den Jahren nie um den Kuss gebeten? Sie hätte ihn dir gewährt. Ich kenne dich gut genug, du glaubst weder an einen allmächtigen Gott noch an ein glückliches ewiges Leben im Himmel.“
Georg sah nach oben Richtung Decke. „Sie hat jemanden gebraucht, der tagsüber nach dem Rechten geseh’n hat. Jemand auf den sie sich verlassen konnt…“ Die Sekunden verstrichen und schienen sich zu Minuten auszudehnen. Der trübe Blick des alten Mannes legte sich auf Emilians Züge. „Und sag mir, wie hätte es ausgesehen, wenn ich nach all den Jahren in denen ich die verdammungswürdigen kainitischen Kräfte verflucht hab nach dem Kuss gefragt hätt‘?“
Das Geständnis entlockte dem Kainit ein schwaches Lächeln: „Also dein Stolz? Du hast dich für etwas Besseres gehalten…?“
Das Seufzen des Alten war schwach. „Vielleicht… weil ich die Wahl hab abzulehnen und ihr nit…aber nit nur aus diesem Grund“ Eine Erinnerung erschien vor Georgs innerem Auge und seine Züge verdunkelten sich. „Du hast mich wie ein Stück Fleisch zerlegt und seziert. Auch wenn ich mich nit daran erinnern kann weil du geschickt dafür gesorgt hast… Die Schmerzen, die mich bei jeder ungelenken Bewegung all die Jahre gepeinigt haben sind Andenken genug.“
Die Stimme des Jüngeren war fast stoisch in ihrer Ruhe: „In meinen Adern fließ das Blut der Fleischformer. Das ist es, was ich bin. Wir sind in der Lage das zu verändern, was ist. Das ist es, was wir tun, wann immer uns danach beliebt.“ Frederik spürte den gespielten hochmütigen Gleichmut, der dem Alten jedoch entging.
Georgs Stimme triefte vor Verachtung: „Wie kannst du es wagen dich über andere zu stellen? Dein Leben höher einzuschätzen als das der Sterblichen um dich herum? Was für ein Dämon bist du, dass du so handelst? Alida hat etwas Besseres verdient als dich!“
Emilian verzog das Gesicht als hätte man ihn geschlagen. Er schien nach Worten zu suchen „Diese Tat damals an dir hat mich alles gekostet, was mir je wichtig war. Und wahrscheinlich habe ich sie genau deshalb vollbracht. Weil klar war, dass es danach kein Zurück geben würde. Niemand würde mich mehr aufhalten, wenn ich ginge… nicht mal Alida.“ Der Tzimisce lachte humorlos auf und sah aus dem Fenster. „Und ja, die Dämonen, die mich dazu trieben sind nach wie vor meine nächtlichen Begleiter und werden es wohl bis zum Ende meiner Nächte sein. Man nennt sie Zorn, Stolz, Neid, Neugier… “
Georg fixierte den jünger wirkenden Mann. Er wirkte müde „Emilian. Sieh mich an! Was willst du noch von mir? Warum gehst du nicht und lässt mich in Ruhe sterben?“
Emilian suchte lange nach den passenden Worten. „Zum einen würde es mir Alida wohl nicht verzeihen… und zum anderen haben wir beiden noch eine offene Rechnung zu begleichen.“
Der Greis schüttelte den Kopf. „Was meinst du?“
„Ich habe damals etwas begonnen, was damals zu groß für mich war. Das was ich zerstört habe, kann ich wieder herstellen…“
Diesmal war es an Georg mit einem trockenen Lachen, das in einen Hustenanfall überging, die Bemerkung zu kommentieren. „Dafür ist es wahrlich ein wenig spät, findest du nicht? Ich glaub, die Beine brauch‘ ich nicht mehr so wirklich.“
Emilian fuhr mit seinen eiskalten Fingern über die verschwitzte heiße Haut des Alten. „Das liegt allein an dir, Georg. Das ist deine Entscheidung. Ich bin hier um dir das Angebot zu machen, das du dir nie von Alida erbeten wolltest weil du in uns etwas Unmenschliches, Böses siehst. Weil unsere Existenz in deinen Augen etwas Verdammungswürdiges hat. Weil du dich…“ er lachte kurz. „… genau wie ich auch für etwas Besseres hältst. Du bist nicht besser als wir Kainiten und auch nicht schlechter. Und wenn es dein Stolz ist, der dich hindert, dann überlege, ob du ihn nicht überwinden willst. Ob du mein Angebot annimmst obliegt allein dir.“
Frederik verstand nicht wirklich wovon dieser Belinkov, der aus welchen Gründen auch immer nun Emilian genannt wurde, sprach doch Georg schien zu begreifen.
Der Alte ließ den Kopf tiefer in die Kissen sinken, blickte zur Decke und atmete aus. Er lag so still, dass Frederik fast der Überzeugung war, dies wäre sein letzter Atemzug gewesen, doch dann blickte der Verwalter der van de Burse wieder zu dem Kainit hinüber und ein entschlossenes Nicken folgte. Emilian hielt ihm seine Hand hin wie um einen Vertrag zu besiegeln und Georg schlug mit letzter Kraft ein.
In dem Moment wo sich die Männer berührten schien die Kraft des Tzimisce auf den Greis zu wirken, doch es schien für den Sterbenden zu viel zu sein und er verlor endgültig das Bewusstsein. Während der Unhold mit der Rechten die Verbindung zu Georg hielt, fuhr er mit der Linken kaum merklich über die alte faltige Haut. Von einer erschreckenden Faszination gebannt trat Frederik näher. Die Gesichtszüge des Alten wurden ebenmäßig. Wo am Kopf vorher nur noch einige wenige graue Strähnen zu erkennen waren wuchsen bräunliche Haare und sogar Bartstoppeln, die sich über die Wangen und das Kinn ausbreiteten, die abgezehrten Muskeln wurden fester, gewannen an Kraft. Dann erst wurde dem jungen van de Burse bewusst, was der Tzimisce tat: er schuf dem ohnmächtigen alten Greis einen jungen unversehrten Körper. Ein Blick auf den blassen Kainiten verriet ihm wie sehr diesen die Disziplin anstrengen musste. Dann hielt der Fleischformer plötzlich inne, musterte nachdenklich sein Werk und nickte.
Frederik konnte sich die Frage nicht verkneifen: „Was habt ihr mit ihm gemacht? Wer ist das?“
Emilian schenkte ihm ein müdes Lächeln. „Du kennst euren eigenen Gutsverwalter nicht, Frederik? Er war, oh… Entschuldigung. .. ist… ein gutaussehender Bursche, nicht wahr?“
Er griff erschöpft zum Handgelenk des Ohnmächtigen führte es zum Mund und begann daran zu saugen. Fast zeitgleich schien die Kraft langsam in den ausgelaugten kainitischen Körper zurück zu strömen während Georg blasser und blasser wurde… Der junge Toreador überlegte ob er dazwischen gehen sollte. Emilian trank viel zu schnell, zu heftig und viel zu große Mengen als dass selbst der kräftigste Sterbliche diese Prozedur überstanden hätte, doch er verharrte nach wie vor wie erstarrt und hielt sich zurück. Was hier geschah war etwas zwischen diesen Männern, er war nur ein zufälliger Zuschauer.
Dann biss sich der Tzimisce das Handgelenk auf und hielt der Gestalt, die einst Georg gewesen war die blutüberströmte Haut hin. Zunächst rührte sich der Mann nicht, doch bei der ersten Berührung der Tropfen suchten seine Lippen nach dem roten Blutfluss und er begann zu trinken.
Frederik stand nur da und schüttelte ungläubig den Kopf. Die Bewegung erregte die Aufmerksamkeit des Tzimisce und er drehte sein Gesicht in dessen Richtung. Fragend zog er eine Augenbraue hoch.
Der van de Burse schluckte. „Warum habt ihr das getan? Ihr habt ihm seinen jungen Körper zurückgegeben, oder? Ihr hättet ihm nicht den Kuss schenken müssen. Warum habt Ihr ihn nicht einfach so wie bisher weiter leben lassen?“
Emilian schüttelte langsam den Kopf und betrachtete Alidas alten Freund, der mit jedem Schluck kräftiger wurde und stärker saugte. „Die Fähigkeit des Fleischformens ist keine Heildisziplin. Sie kreiert, formt Vorhandenes um, mag im besten Fall verbessern. Aber sie kann nicht heilen. Georgs Körper hat ihm über 150 Jahre treue Dienste geleistet und auch meine Kräfte reichen nicht aus um diese Zeit merklich zu verlängern. Georg blieb nur diese eine Wahl.“ Er verzog das Gesicht als das Saugen an seinem Handgelenk zu schmerzhaft wurde. Dann nahm er seine Hand zurück und heilte die Wunde.
Entsetzt beobachtete Frederik wie sich Georgs junger Körper in Todesqualen wandt und schließlich nach einem letzten Aufbäumen reglos liegen blieb. Emilian bemerkte seine Reaktion, und sein Tonfall wies einen fast traurigen Gleichmut auf. „So ist es immer. Kein schöner Anblick, nicht wahr?“
Emilian trat näher an Georg heran. „Hilf mir ihn festzuhalten! Er wird rasen. Also gib ihm von deinem Blut. Er würde es uns nie verzeihen wenn er vor lauter Hunger in seiner ersten Nacht die Tochter der alten Annie anfallen oder einem Passanten unten auf dem Marktplatz die Kehle herausreißen würde.“
Der junge Mann blickte ihn kurz an, beugte sich über den reglosen Körper und gehorchte. Er hielt die nunmehr kräftigen Schultern und muskulösen Arme des neugeborenen Kainiten vorsorglich fest, förderte mit einem Biss das Blut an seinem Unterarm hervor und starrte das so fremde, völlig unbekannte und zugleich irgendwie auch vertraute Gesicht des Mannes an, dass er seit seinen frühesten Kindheitstagen gekannt hatte. Georg öffnete die Augen und fixierte Emilian.
Seine Stimme klang gänzlich fremd in Frederiks Ohren, passte jedoch vollkommen zu dem Körper. „Was hast du gemacht, Emilian?“
„Das weißt du doch, mein alter Freund. Ich habe meine Schuld beglichen. Wir sind quitt“ Dann begann die Raserei von Georg Besitz zu ergreifen.
Um Mitternacht war Alida wie vereinbart an der Kathedrale St. Lorenzo angekommen und hatte den Boten auf den Stufen des Gotteshauses angetroffen. Seine Nachricht hatte sie bis ins Mark erschüttert und sie rannte so schnell es ihr möglich war durch die leeren Straßen. Während sie mitten in der Nacht gottesfürchtige Nonnen aus dem Schlaf klingelte um sich nach einem alten flandrischen Mann zu erkundigen, lag ihr ältester Freund bei ihr zu Hause und verstarb. Hätte sie irgendwo ein Pferd gesehen, sie hätte keine einzige Sekunde gezögert es zu stehlen um rascher voran zu kommen. Am liebsten hätte sie sich den Frust und die Verzweiflung von der Seele geschrien. Sie erreichte das Anwesen, rannte an dem Wachmann vorbei, der nach wie vor seinen Dienst versah und ihr schon in den Weg getreten war nur um sie im letzten Moment zu erkennen und auszuweichen. Sie rutschte um ein Haar auf den feuchten Steinfliesen in der Nähe des leise plätschernden Brunnens aus, fing sich und stürzte die Stufen in den ersten Stock hinauf. Als Alida in der Eingangshalle ankam erblickte sie Frederik. Ihr ‚Vetter‘ erhob sich und trat auf sie zu. Sein zutiefst erschütterter Gesichtsausdruck ließ ihr das Blut in den Adern gefrieren. Sie blieb vor ihm stehen griff nach seinen Händen, sah ihn eindringlich an. „Frederik? Wo ist er? Lebt er noch?“
Frederik schluckte. „Es geht ihm gut. Er…“ Der braunhaarige Toreador suchte verzweifelt nach den richtigen Worten und sein Blick wanderte für eine Sekunde zur Tür des Wohnzimmers.
Alida schritt zu der Pforte. „Ist er da drin?“ Sie griff nach der Türklinke, doch Frederik hielt sie zurück. Seine Stimme war leise. „Alida? Er will dich nicht sehen.“
Ihre Augen weiteten sich. „Frederik? Was soll das? Mein bester Freund stirbt und er will mich nicht sehen? Ist das ein schlechter Scherz?“ Sie schüttelte seine Hand ab und drückte den Türgriff nach unten. Es war abgeschlossen.
Frederik versuchte sie zu sich zu drehen. „Vielleicht solltest du seinen Willen respektieren? Möglicherweise will er dich später sehen?“
Alida verstand nichts mehr. „Verdammt! Welche Zeit bleibt denn noch?“ Sie hieb mit den Fäusten auf die Tür ein. „Georg? Mach auf!“ Ihr ‚Vetter‘ versuchte sie in die Arme zu nehmen, sie festzuhalten, aber sie stieß ihn von sich, hämmerte erneut gegen das Holz. „Emilian? Wenn du da drin bist, dann lass mich zu ihm.“ Sie wartete auf eine Antwort, aber im Zimmer schien Grabesstille zu herrschen.
Frederik probierte erneut zu ihr zu treten. „Bitte. Alida. Lass es.“ Sie kämpfte gegen die Tränen an, hieb ein letztes Mal voller Wucht auf die Tür, hörte wie Holz splitterte und ließ dann verloren ihren Kopf gegen den Türpfosten gleiten.
Plötzlich wurde die Tür vor ihr mit Wucht aufgerissen. Erschrocken fuhr sie zur Seite. Ihr gegenüber stand der dunkelblonde Mann, der geöffnet hatte. Sie sah sich im Raum nach Georg um, erkannte ihn aber nirgends. Emilian stand neben dem runden Tisch und betrachtete sie mit betroffenem Gesichtsausdruck, kaute auf seiner Unterlippe und schien auf irgendetwas zu warten. Ihr Blick wanderte erneut zu dem fremden Mann. Sie hatte das Gefühl, dass sie ihn schon mal irgendwo gesehen hatte. Sie durchforstete ihre Erinnerung nach dem dunkelblonden, blassen Mann mit der geraden Nase, der kleinen Narbe auf der Stirn. In dessen Blick lag Unsicherheit, Wut und ein seltsamer Ausdruck, den sie nicht zu deuten vermochte, der ihr Angst machte. Er wandte die Augen ab und Alida wusste, was es war: Selbstverachtung. Dann überkam sie die Erkenntnis wie ein Schock. Sie trat einen Schritt nach hinten und rempelte gegen Frederik, der in ihrem Rücken stand. Sie versuchte sich zusammen zu reißen, ging vorsichtig auf den alten Freund zu, den sie so seit wohl hundert Jahren nicht mehr gesehen hatte, wollte ihn in die Arme nehmen, doch der Mann wandte sich von ihr ab.
Alidas Stimme war leise: „Ich dachte schon du wärest gestorben ohne, dass ich noch ein letztes Mal mit dir hätte reden können… ich hätt‘ den Gedanken nicht ertragen.“
Er schluckte, räusperte sich um zumindest ein wenig Stimme hervor zu bekommen. „Alida? Geh einfach! Lass mich allein.“
Sie sah ihn an, doch er hatte den Blick abgewandt, fixierte einen Punkt jenseits des Fensters. Sie sah zu Emilian, zu Frederik aber beide standen abwartend da ohne einen Ton zu sagen. Sie holte tief Luft, schluckte, machte auf dem Absatz kehrt und rannte fieberhaft die Treppen hinab. Sie blickte kurz Richtung Haupttor, das zum Marktplatz hinaus lief, drehte sich um und lief in einen kleinen Hinterhof, der zu den Stallungen führte. Auch dort plätscherte ein kleiner Brunnen. Alles war überrankt mit grünen großblättrigen Pflanzen. Alida trat auf den Brunnen zu, griff mit beiden Händen fest an das schmale Marmorbecken und blickte in das Wasser. Sie fuhr mit den Händen hinein, zerstörte ihr blasses Spiegelbild und spritzte sich die kühle Flüssigkeit ins Gesicht. Vielleicht konnte man einfach aus diesem komischen ihr völlig irreal vorkommenden Traum erwachen? Ihre ganze Existenz war nichts anderes als eine unrealistische Geschichte und nur die abergläubigsten Menschen würden nicht laut loslachen, würde sie ihnen während einem Festgelage ihre Lebensgeschichte präsentieren. Ihre Gedanken kehrten zurück zu dem Nachmittag vor so vielen Jahrhunderten, an dem ihr Bruder Christian aufgeregt mit Neuigkeiten nach Hause zurückgekehrt war. „Ich hab mit einigen Mitgliedern des Hanserates reden können, die mir ein paar gute Hinweise gegeben haben. Also, Alida: Was denkst du, wo sollten wir als nächstes eine Handelsniederlassung gründen? Es gibt zwei bisher noch kleine aber aufstrebende Städte, die vielversprechend sind: Lübeck im Herzogtum Holstein oder das weiter entfernte Windau, das uns den Markt in die östlichen Lande eröffnen könnte?“ Alida hatte nicht lange gezögert, gegrinst und „Windau“ geantwortet. „ich wollte schon immer mal in die baltischen Königreiche.“
Sie schluckte schwer. Alles hätte so anders verlaufen können… Sie sah in das klare Wasser des Brunnens, dann auf ihre Hände. Vielleicht konnte man einfach aufwachen? Sie spürte das kainitische Blut in den Fingerspitzen, den Händen, Emilians Blut, spürte die seltsame Kraft, deren Anwendung sie so verabscheut hatte. Ihre Hände sahen nach wie vor gleich aus… dann umfasste sie mit den Fingern ihre Oberarme und spürte im selben Moment in dem sie sich wie durch Ton in ihre Haut fraßen den beißenden brennenden Schmerz.
Jemand riss sie herum, griff nach ihren Händen und hielt ihre Finger fest umschlossen. Sie blinzelte und spürte den durchdringenden Blick ihres Erzeugers, der sie fixierte. Er schüttelte langsam den Kopf. Alida atmete tief ein, seufzte und bemerkte erst in dem Moment, in dem Emilian es nicht mehr aushielt und schmerzlich das Gesicht verzog, dass ihre Kraft noch immer wirkte. Seine Haut war rot, wo sich ihre Finger in sein Fleisch gebrannt hatten.
Entsetzt zog sie die Hände zurück. „Es tut mir so leid…“
Er sah sie mit einer unbestimmten Traurigkeit an und blickte auf ihre Oberarme. „Warum hast du das getan?“
„Ich dachte, wie befreiend es wäre einfach aus diesem Albtraum aufzuwachen. Ich wünschte, ich könnte zurückkehren und alles ungeschehen machen. Wenn ich nie in diese gottverlassene Stadt im Osten gekommen wäre… alles wäre anders.“
Er trat einen Schritt auf sie zu, nahm sie in die Arme und hielt sie fest. „Vielleicht. Wer weiß das schon? Unsere Entscheidungen machen uns zu dem was wir später sind. Christian hätte dich wahrscheinlich einem seiner befreundeten Mitstudenten oder einem Händler zur Frau gegeben. Du hättest deinem Gatten drei oder vier Kinder geschenkt, wärest eine brave Hausfrau und Mutter geworden… Hätte dich das glücklich gemacht?“
„Es hätte andere nicht unglücklich gemacht.“
Emilian lachte leise. „Alida? Mit dem was du tust sorgst du doch dafür, dass die Menschen um dich herum glücklich werden können. Deine Geschwister Christian und Maria, Evelyn und Frederik, wenn du so willst… wären sicher glücklich zu wissen, dass du noch da bist und ab und zu ein Auge auf ihre Kinder und Kindeskinder wirfst.“ Sie spürte seine Worte an ihrem Ohr. „Du triffst jeden Tag Entscheidungen, Richtige und Falsche, das ist das Schicksal, deines wie meines.“ Er schwieg lange. „Das mit Georg war meine Entscheidung. Er wird mit der Zeit drüber hinweg kommen. Ich denke, es wäre für alle besser, wenn du behaupten würdest, du hättest ihm den Kuss geschenkt. Das verhindert unnötige Fragen.“
Alida nickte. „Und was wird jetzt, Emilian?“
Sie fing den Blick der rot- braunen Jaspisaugen auf. „Keine Ahnung… wir treffen weiterhin unsere Entscheidungen. In jeder einzelnen Nacht. Zum Guten wie zum Schlechten. Du die, die du für richtig hältst, ich die, die ich für richtig halte. Und im Moment entscheide ich mich dafür, dich nicht gehen zu lassen.“ Auch als er hoffnungsvoll lächelte spürte Alida einen bitteren Nachgeschmack bei seinen Worten.
Sie erwiderte ein wenig zögernd sein Lächeln, küsste ihn auf die kühlen Lippen und eines wurde ihr bewusst: Er wusste in dieser Hinsicht ganz genau was er wollte, und sie würde sich ihm, selbst wenn sie es wollte, nicht widersetzen können. Sie hatte sich an ihn gebunden, und das war ihre Entscheidung gewesen.