Sa 6. Jan 2018, 21:14
ein Jahr später:
Alida war unruhig und ihre rechte Gesichtshälfte schmerzte von dem Schlag, dem sie von dem Wachmann abbekommen hatte. Sie konnte nicht schlafen, auch wenn die Sonne gerade dabei war aufzugehen und sie sich eigentlich in einem tiefen Schlaf befinden müsste. Die blonde Händlerin hatte sich schließlich von ihrem Lager im Geheimzimmer erhoben um eine Theorie zu überprüfen. Im Moment war der kainitische Fluch in ihrem Körper schwach, vielleicht sogar gebrochen und ein Gedanke ließ sie nicht los. Die Sonne. Die meisten ihrer Kräfte und Fähigkeiten waren versiegt, ihr Herz schlug schnell und ihr Magen knurrte – konnte es also sein, dass sie auch die Strahlen der Sonne unbeschadet würde anschauen können? Dass sie schon so sterblich war, dass der größte Bann ihrer Art ihr keinen Schaden mehr zufügen würde?“ Ihre Beine bewegten sich beinahe von selbst und sie verließ das Versteck. Bereits nach einem kurzen Stück Weg fand sie den ersten Sonnenstrahl der seinen Weg durch einen Riss in der Wand ins Innere des Hauses gefunden hatte. Der Strahl brannte nicht, fühlte sich beinahe warm an auf ihrer Haut und in dem Licht, welches ihr so lange versagt gewesen war tanzten kleine Staubflocken in der Luft. Das Licht war hell, beinahe blendend und auch wenn ihre Augen schon Jahrhunderte nicht mehr daran gewöhnt waren, brauchte sie doch nur einen kurzen Moment um sich an die Helligkeit zu gewöhnen. Ein Schritt, es würde nur einen Schritt in Richtung Tür brauchen um den blauen Himmel bei Tagesanbruch zu sehen. Die hölzerne Begrenzung schien beinahe ihren Namen zu rufen.
Alida stand eine Ewigkeit nur da, beobachtete das Spiel von Licht und Schatten auf ihren Fingern, die eigentlich unsichtbaren Staubkörner, die in der Wärme schwebten. Sie konnte es nicht fassen. Das war es, was jeder Kainit irgendwann in seiner Existenz schmerzlich vermisste, das, was Leben ausmachte: Sonnenlicht, der Tag mit allem, was er brachte, Helligkeit, Wärme, Herzschlag, Atem, das großartige Gefühl, wenn Hunger und Durst gestillt wurden, Gefühle, zu denen ein Kainit seit Jahrhunderten nicht mehr in der Lage war und die er mit all seinen Wegen, die er für sich wählte, heraufbeschwor um nicht den Sinn in seiner Existenz zu verlieren.
Es wäre ein leichtes sich in diesem Gefühl des Lebens, der Sterblichkeit, zu verlieren. Aber sie hatte es nicht geschenkt bekommen. Es war ein Fluch, wie auch immer angewandt. Draußen wurden die Kainiten Gents gefangen gehalten, vielleicht ‚versklavt‘ so wie man es Jorgen angetan hatte. Der Gedanke an Emilian schmerzte so sehr, dass sie die Hände aus dem Licht nahm und zu Fäusten ballte. Selbst als Kainit hätte sie in der Situation nicht handeln können… Aber als Sterbliche war sie fast komplett daran gehindert irgendetwas tun zu können. Sie sog tief die Luft durch die Nase, schloss die Augen und verkrampfte die Finger so, dass ihre Nägel schmerzhaft in die Handflächen schnitten.
Verdammt! Mehrmals atmete sie tief ein und aus. Dann spürte sie Wut in sich. Was auch immer da draußen vor sich ging: Es gab für jemanden wie sie Mittel und Wege. Sie war eine van de Burse gewesen, lange bevor sie den Kuss erhalten hatte und sie würde ganz sicher nicht aufgeben. Wer wusste, wozu man den Tag nutzen konnte? Es gab viele Möglichkeiten für eine Händlerin aus einflussreicher Familie mit den entsprechenden finanziellen Mitteln und ‚Freunden‘…
Die staubige Luft, die Alida beim Atmen in ihre Lungen zog, war trocken und kratzte ihr leicht in der Kehle. Versunken in ihren Gedanken hörte sie schließlich wie das einfach Holztor geöffnet wurde. Orangefarbenes, warmes Licht flutete in den kleinen Korridor und blendet Alida für einen Moment bis sie eine einsame Gestalt im Türrahmen ausmachen konnte. Ein Junge, sicherlich nicht älter als zehn oder elf Jahr, schaute sie mit überraschter Miene an. Die dunklen Locken kringelten sich um ein schmutziges Gesicht auf dem sich langsam ein vorsichtiges Lächeln bildete.
„Hallo“, sagte der Junge schlicht und trat einen Schritt auf Alida zu. Er schien kurz zurückzuschrecken als er das mitgenommene Gesicht der Händlerin sah, versuchte sich aber nichts anmerken zu lassen. Seine Stimme hatte einen komischen Klang, ganz so als wollte er mutig und erwachsen klingen. „Du musst keine Angst mehr haben. Die Wachen sind weg, du brauchst dich also nicht mehr zu verstecken.“ Er hielt eine Hand ausgestreckt. „Tut...tut dein Gesicht sehr weh? Ich weiß, wo es sauberes Wasser gibt.“
Alida lächelte dankbar bei dem freundlichen Angebot. Das musste einer der Jungen von Jeremiah sein. Sie besah sich den Knaben näher. Vielleicht hatte sie ihn irgendwann bei einem der Besuche im Genter Waisenhaus bereits gesehen? Erst vor drei Monaten hatte sie den Nosferatu gebeten ein paar seiner Kinder in Norwegisch und Englisch unterrichten zu lassen, damit man sie später auf den Schiffen und in den Kontoren in London oder Bergen einsetzen konnte. Irgendwie fühlte sie sich nun bei dem Gedanken schlecht. Fragte Jeremiah die Waisen überhaupt bevor er über ihr Schicksal bestimmte?
„Danke, das ist sehr freundlich von dir. Wasser wäre großartig. Die Stadtwache ist derzeit alles andere als freundlich. Wenn sie jeden ehrbaren Bürger verprügeln, der sich in den Straßen aufhält werden sie es hoffentlich eines Tages bereuen.“
Alida hatte den braunen Lockenschopf des Jungen in der Tat schon einmal zwischen Jeremiahs anderen Kindern herumlaufen sehen. Sie konnte sich sogar noch an die löchrige Fellweste erinnern, die eigentlich noch viel zu warm für diese Jahreszeit war, wahrscheinlich aber das einzige Kleidungsstück des Jungen darstellte. Der Geruch dieser legte eine solche Vermutung zumindest nah. Die kleine warme Hand umgriff die ihre und zog Alida vorsichtig in den Hof, der sich im Osten des Gebäudekomplexes befand. Während sie sich auf den Weg zu ihrem Ziel machten, sprach der Lockenkopf leise mit Alida. „Meine Mama hat damals immer gesagt, dass es falsch und ist Macht einzusetzen nur um zu zeigen, dass man welche hat. Die Stadtwache war wirklich grausam und ich hoffe Gott wird sie für ihre Gemeinheiten bestrafen.“
Warmes Licht umschlang sie von der gelb-orangenen Scheibe, die gerade die Genter Stadtmauern passiert hatte. Der Moment war beinahe magisch als ihre Sinne von der Wärme, dem Licht und der Helligkeit überflutet wurden. Vielleicht fühlte sich so ein Toreador dessen Wahrnehmung von der Schönheit der Welt in die Knie gezwungen wird. Der Junge aber zog sanft weiter an ihrer Hand und brachte sie zu einem Brunnen in der Mitte der Freifläche. Mit Anstrengung begann er an einer Kette zu ziehen, die über ein Rad gespannt war um Wasser zu schöpfen. "Setz dich auf den Rand ich bin gleich soweit." Der Kleine begann zu schwitzen, zog aber weiter fleißig an der Kette, wie wahrscheinlich schon viele Male zuvor.
„Deine Mama hat dir ein paar sehr wichtige Sachen beigebracht. Eine sehr kluge Frau…“
Alida tat wie befohlen. Ihr Körper schmerzte und dabei waren weniger die Blutergüsse, sondern die nicht ausreichend geheilten Schnittwunden problematisch. Sie sollte sich das kainitische Blut von Lucien besorgen. Vielleicht könnte es sie stärken. Ghule waren deutlich resistenter als normale Sterbliche. Sie dachte an Emilian, der alles andere als begeistert wäre, wahrscheinlich eher wütend vor Eifersucht, wenn sie ein Blutsband zu einem anderen Kainit eingehen würde.
Sie half dem Jungen den Eimer über den Brunnenschacht zu hieven und wusch sich die Schmutz- und Blutspuren von den Armen und dem Gesicht
Das Wasser tat gut. Es war angenehm kühl und hinterließ ein Gefühl von Entspannung und Sauberkeit auf ihrer Haut. Der Junge trank einen tiefen Zug und schien eine ganze Weile über etwas nachzudenken. Schließlich holte er ein kleines Paket aus der Innenseite der Tasche. Es war ein brauner Stoff in den ein zerbrochenes Stück Honigkuchen gewickelt war. Es war kaum mehr als ein Bissen, aber der Junge behandelte ihn respektvoll und vorsichtig. Ganz so als würde es sich um einen Schatz aus Gold, oder eine heilige Reliquie handeln. Er drückte Alida die Süßigkeit in die Hand. „Das habe ich vorgestern beim Fest von der Frau des Bäckers bekommen. Nimm es ruhig. Ich weiß nämlich, dass du zu alt bist um im Haus etwas zu essen zu bekommen.“ Er zog seine Hand zurück und begann zwei Keramikkrüge mit dem gerade geschöpften Wasser zu füllen. „Ich muss wieder gehen und beim Frühstück für die Kleinen helfen. Ich hoffe, dir geht es bald wieder besser.“ Der Junge verbeugte sich leicht vor Alida, bevor er vorsichtig die beiden Krüge aufnahm um wieder ins Innere des Waisenhauses zu verschwinden.
„Danke. Das kann ich aber leider nicht annehmen.“ Sie gab ihm den Kuchen mit einem Lächeln zurück. „Ich bin zwar viel zu alt um da drin was zu bekommen, das stimmt, aber ich hab erst vor ein paar Stunden ein gutes Frühstück in einem reichen Bürgerhaus ergattern können. Den hier hast du dir verdient. Ich hoffe, wir sehen uns wieder.“ Sie erkundigte sich noch nach dem Namen des Knaben, dann nahm sie sich einen Moment um sich zu sammeln. Das hier war Gent, nicht Brügge, aber dennoch verfügte ihre Familie hier über Geschäftsbeziehungen, die sie vielleicht nutzen konnte um etwas näheres heraus zu bekommen.
Der Junge, der im Übrigen Jan hieß nahm den Kuchen mit einem einfachen Kopfnicken wieder an und verabschiedete sich schließlich von Alida. Sie war wieder etwas vorzeigbarer und hatte dank ihres aktuellen Zustandes die Möglichkeit etwas mehr über die Geschehnisse der letzten Nacht herauszufinden und war dafür nicht einmal schlecht ausgerüstet. Ihrer Geldbörse war voll mit klingenden Münzen, die Kleider, die sie bei Frau Boorlut angezogen hatte, waren von ausnahmslos guter Qualität und auch wenn es Tag war kannte sie sich gut genug in Gent aus, um ihren Weg beinahe blind zu finden. Ihr Magen begann inzwischen aber zu knurren, also würde sie sich früher oder später noch nach einem kleinen Frühstück umsehen müssen. Ihr erster Weg ging zum Markt und auch wenn sie in dem Chaos, welches die letzte Nacht hinterlassen hatte, keinen ihrer üblichen Verbündeten fand, konnte sie doch ein paar Gerüchte aufschnappen. Nach allem was man erzählte, war in der letzten Nacht ein Nest von Unruhestiftern ausgehoben wurden, die sich wohl gegen Gräfin Johanna verschworen hatten. Diese hatten ein Feuer im Nordteil der Stadt gelegt, doch schließlich hatte man die Kabale schnell und ohne Gnade zerschlagen und die Verantwortlichen in den tiefsten Kerkern der Feste eingesperrt. Im Grunde konnte Alida sogar Erleichterung auf den Straßen Gents verspüren. Die im Umlauf befindlichen Gerüchte versprachen, dass die Probleme in der Stadt gelöst wurden und bald wieder Normalität und Wohlstand einkehren würden.
Normalität und Wohlstand? Alida musste sich zusammen reißen um sich die bösen Bemerkungen zu verkneifen, die ihr auf der Zunge lagen. Das Land stand kurz vor einem Bürgerkrieg, Unschuldige wurden inhaftiert oder ermordet und wer auch immer sonst sein Unwesen trieb, er war gut darin.
Das Anwesen der Familie Boorlut, zu dem sich Alida schließlich zurückziehen wollte, war noch immer in Aufruhr. Diener rannten wie kopflose Hühner hin und her, manchmal hörte sie dumpf laute Diskussionen aus einem der endlosen Räume des Anwesens. Alles in allem herrschte eine gewisse Anspannung und Ungewissheit. Beinahe hätte man sie nicht eingelassen, aber einer der Diener erkannte sie sofort. Sie wurde wieder in ihr altes Zimmer geführt, das selbe in dem noch immer die Reste des vorherigen Mahls standen. Es war ganz offensichtlich, dass die üblichen Abläufe im Haushalt Boorlut gestört waren. Trotzdem hatte Alida das erste Mal nach langer Zeit das Gefühl durchatmen zu können und als die Anspannung endlich abfiel, kam auch beinahe sofort eine tiefe Müdigkeit, die sich in ihrem Körper breit machte.
Alida verschlang die reste der nächtlichen Mahlzeit, breitete sich auf dem weichen Bett aus und schloss die Augen. Sie fragte sich, ob das, was gerade in Gent vorging sich wohl auch auf andere Städte ausbreitete. Waren ihre Familie und Freunde in Brügge, dessen Kainiten und Ghule sicher? Oder wurde auch dort bereits eingetrieben und weggesperrt? Wer steckte hinter all dem?
Trotz der Müdigkeit gelang es ihr erst nach einigen Minuten einzuschlafen.
Kurz nachdem Alidas Kopf das Kissen berührte, fiel sie in einen tiefen Schlaf. Bilder blitzen noch kurz vor ihren geschlossenen Augen auf. Gerrit, der sich vor Schmerzen am Boden gekrümmt hatte, als sich sein Körper verwandelte. Ein blutroter Brunnen, tief unter den Eingeweiden der Genter Burg Gravensteen. Emilian, den man zusammen mit seinen Leuten ohne Beweise abgeführt hatte wie einfache Kriminelle. Dann schließlich war da Schwärze, eine Schwärze, die solange vorhielt bis sie von der seidigen Stimme einer Frau geweckt wurde. „Alida? Alida van de Burse, komm zu mir.“ Die Stimme schien ihr merkwürdig vertraut und doch dauerte es einen Moment bis sie ihre Augen öffnen konnte. Sie war nicht mehr dort, wo sie eingeschlafen war. Oder etwas doch? Die Überraschung wich. Sie war in einem dunklen Raum, aber ihr Körper schwerelos. Es fühlte sich beinahe an als wäre dies ein Traum und sie sich bewusst, dass es sich um einen solchen handelte. Die Stimme half ihr sich zu konzentrieren und schließlich sah Alida das Gesicht einer bekannten Gestalt. Die flammend roten Haare umspielten das schöne Gesicht, während Wildblumen und Kornähren ihren Kopf schmückten. Dóchas stand vor ihr. Der Gott oder die Göttin des Todes, die sie vor beinahe einem Jahr getroffen hatte. Ihr Gesicht war ohne jede Emotion wie schon zuvor, auch wenn Alida das Gefühl hatte Anspannung und Verärgerung spüren zu können.
Überrascht sah Alida das bekannte Gesicht an. Auf ihrer Zunge lagen Fragen wie „Geht es dir gut? Ist alles in Ordnung?“, aber sie erschienen ihr mehr als lächerlich in Anbetracht des Wesens ihres Gegenübers. „Du? Ich hätte nicht gedacht, dich wieder zu sehen. Zumindest nicht so rasch…“
Die Gestalt überlegte lange bevor sie sprach, schien die Worte von Alida zu überdenken bevor sie vorsichtig ihre nächsten wählte. „Unsere Pfade sind verwoben, vielleicht mehr als mir zu Beginn bewusst war. Doch warum arbeitest du gegen mich? Was habe ich getan um deinen Verrat zu verdienen?“
Alidas Stirn legte sich in Falten. „Wie so oft bei unseren Begegnungen weiß ich nicht, wovon du sprichst. Du bist ein Gott und dein Ziel ist die Erschaffung des ewigen Paradieses deiner Vorstellung ohne Hunger, Krieg und Tod. Wie könnte ich mich dir in den Weg stellen?“
„Du bist in mein Allerheiligstes eingedrungen, hast meinen Altar entweiht und jemand deiner Art hat mich in diesen Käfig gesperrt.“ So emotionslos das Auftreten von Dóchas war, so sehr war doch die Unzufriedenheit zu spüren, welche unter der Oberfläche brodelte. „Du wolltest dich uns nicht anschließen und doch hätte ich nie gedacht, dass du dich gegen uns stellst.“
Alida schüttelte den Kopf. „Der Raum unter der Burg mit dem Blutbrunnen ist dein Allerheiligstes? Dort wo die von meinem Blut, sogar Freunde von mir, gefangen gehalten werden?“
„Sie haben ihre Rolle zu erfüllen und anstelle als Parasiten des Lebens zu fungieren, helfen sie die neue Welt auf den Weg zu bringen. Sie werden aber nicht konsumiert, wenn du das fürchten solltest.“ Das weiße Kleid der Rothaarigen schien sich in einem nicht vorhanden Wind zu bewegen. „Du selbst hast mir gesagt, dass euer Wesen es voraussetzt immer auf Kosten anderer zu leben. Das ihr nie wirklich gut sein könnt.“ Sie lächelte beinahe triumphierend, die erste wirkliche Emotion in dem jungen Gesicht. „Ich habe eine Möglichkeit gefunden.“
Alida schwieg und hörte der Ausführung der Göttin zu.
„Ihre Essenz, pures Leben was sie gestohlen haben, wird mir helfen einen echten Körper zu erschaffen. Einen Avatar, der in der Lage ist meine Essenz in sich aufzunehmen.“
Alida schluckte bevor sie hinzufügte. „Das erspart mir meine nächste Frage, ob du bereits körperlich in diese Welt gelangt bist.“ Sie sah das schöne, unbewegte Gesicht an. „Wer immer dich in einen Käfig gesperrt hat, ich war es nicht. Du bist ein Gott, du solltest es wissen. Ich weiß, dass du die Meinung vertrittst, dass Opfer gebracht werden müssen um deinen Traum vom ewigen Paradies zu schaffen, aber diejenigen, die du dir als Opfer ausgesucht hast, sind wohl meistens nicht unbedingt in der Lage oder willens sich deinem Willen zu fügen. Auch ich würde mich nicht bereiterklären leblos und in Starre für Ewigkeiten an eine Mauer gekettet zu werden um mich anzapfen zu lassen.“ Sie schwieg einige Sekunden. „Damit kommen einige Fragen auf: Wer hat es geschafft dich in einen Käfig zu sperren und warum? Um dich aufzuhalten oder um deine Kräfte für seine eigenen Ziele zu missbrauchen? Hast du meine Blutsbrüder und -schwestern abführen lassen oder ist das auch das Werk eines anderen? Sorgst du für die Unruhen, die in Flandern ausbrechen? Ist das Teil deines Plans?“
„Es erfordert Zeit und Vorbereitung um einen Körper zu erschaffen, der in der Lage ist die Macht und die Erinnerungen eines Gottes in sich aufzunehmen ohne zu vergehen.“ Dóchas lief hin und her, ein Tier gefangen in einem Käfig. „Göttlichkeit bedeutet nicht Allmacht oder Allwissenheit, Alida. Ich und jene die sind wie ich, sind ebenso an die Gesetzte dieser Welt gebunden wie du oder andere Sterbliche.“ Die Frau blieb schließlich stehen. „Die Barriere hindert mich daran zu sehen und mich zu bewegen. Ich bin in sie eingeschlossen und auf die Hilfe meiner Jünger angewiesen. Alleine meinen Weg im Traum zu dir zu finden wäre sonst nicht möglich.“ Alida hatte das Gefühl, dass sich mehrere Puzzleteile zu einem ganzen verbanden. Die Barriere war in der Tat geschaffen worden um die Burg abzuriegeln, allerdings nicht um ungebetene Besucher von außen auszuschließen, sondern um das was sich darin befand einzusperren. „Ich weiß, das du mit dem Weg nicht einverstanden bist, aber das Wohl vieler ist wichtiger als das Wohl einiger weniger. Einiger weniger Monster und ja da gehören auch die Kainiten Gents dazu. Wir sind zu weit gekommen und jeder der unser Geschaffenes zerstören will, wird den Zorn jener spüren, die meine Vision teilen.“
Alida spürte, dass sie instinktiv die Lippen aufeinanderpresste. Die Androhung der Göttin schloss sie, das war ihr mehr als bewusst, eindeutig mit ein auch wenn das der rothaarigen Frau nicht klar sein mochte. Selbstverständlich würde sie nicht untätig zusehen, wie dieses Wesen oder seine Anhänger im Namen der Glückseligkeit mordeten, folterten und unterdrückten, wenn sie es verhindern konnte. „Du hast mir meine anderen Fragen nicht beantwortet. Ist alles, was hier in Flandern geschieht dein Werk?“ Sie wiederholte auch die anderen Fragen.
"Nein. Ich würde es bevorzugen, wenn kein sinnloses Blut in diesen Landen vergossen wird. Aber es gibt immer jene die sich gegen eine neue Ordnung auflehnen wollen. Ich beschütze jene die mir treu sind und verteidige jene die ihnen wichtig sind."
„Wer hat dann die Kainiten von Gent abführen lassen, wenn ihr es nicht wart?“
„Du verstehst mich falsch. Es war ein notwendiger Schritt für unser Ziel, aber ich freue mich nicht über die Gewalt. Manchmal ist sie aber notwendig. Du solltest dich nach Brügge zurückziehen, Alida van de Burse.“
„Ich bin derzeit nicht in der Lage mich nach Brügge zurück zu ziehen. Du und deine Verbündeten, ihr habt schon jetzt für soviel Chaos und Leid in diesem Land gesorgt, und ihr rechtfertigt das mit einer potentiellen Aussicht auf ein Paradies? Dochas, du bist ein Gott und damit lass dir eines gesagt sein: Du verstehst die Menschen nicht. Deine Anhänger machen das, was sie tun nicht in der Aussicht auf ein Paradies, sondern weil du ihnen etwas versprichst, was sie wollen. Würdest du ihnen etwas wegnehmen, wärest du ihr größter Feind. Die Gräfin oder ihre Berater gehören auch zu deinem Kreis der Eingeweihten, oder? Sonst könntest du dich im Schloss nie ausbreiten und dort dein Allerheiligstes aufbauen. Was bekommt sie von dir? Einen Nachkommen, der nicht nach der Geburt verstirbt? Ist dir bewusst, was in diesem Land vor sich geht? Heere sammeln sich um gegeneinander zu kämpfen, Bruder gegen Bruder, Schwester gegen Schwester, Menschen fliehen um sich und ihr Habe zu retten. Bauern bekommen ihr letztes Hemd abgenommen, Handwerker werden angekettet um Waffen zu schmieden… Glaubst du, dass alles enden wird, wenn alle abgeschlachtet wurden? Die Menschen werden genau so weiter machen wie zuvor. Wir begehren, das, was wir uns wünschen und was wir bei anderen sehen, wir kämpfen um zu erlangen, was wir wollen, wir töten um unsere Verbündeten und Angehörigen zu schützen oder zu versorgen und wir werden niemals damit aufhören…“ Fast schmerzlich senkte sie die Stimme. „Das wirklich traurige ist, dass du gute Absichten hast. Du möchtest eine Welt, die besser ist als das, was wir jeden Tag erleben. Aber dabei wird alles nur noch schlimmer. Ich wünschte du wüsstest einen besseren Weg um für ein Paradies zu kämpfen, denn es wäre die Sache wohl wert. Aber ein Paradies auf dem Boden von Leichen, Ungerechtigkeit und Unterdrückung wird es nie geben.“
Dóchas hörte Alida aufmerksam zu und schüttelte am Ende jedoch nur bedauernd mit dem Kopf. „Ich höre wenigstens zu. Johanna, sie hat gebetet für ein Kind. Laut und verzweifelt, voller Angst und Einsamkeit. Aber ich habe geantwortet. Ich habe die Klagerufe so vieler beantwortet, die keinen Platz in dieser Welt hatten. Ich habe ihnen meine Gunst geschenkt, so wie ich Johanna meine Gunst geschenkt habe. Ich habe ihr das Kind gegeben, was sie sich so sehr gewünscht hat und noch so vieles mehr. Sie wird den Körper gebären durch den ich diese Welt betreten werde. Als Mutter eines Gottes wird sie die erste unter Gleichen werden.“ Dóchas legte ihre roten Haare über eine Schulter und fuhr dann fort. „Die Veränderung wird kommen, Alida, und du kannst noch immer ein Teil davon sein. Es gibt genug, die meine Vision teilen. Sei eine davon und nutze die Chance diese neue Welt zu gestalten!“ Es klang beinahe wie ein Aufruf, wie ein Appell.
Alida spürte, wie ihr selbst im Traum schlecht wurde. Mühsam sprach sie weiter: „Was wird geschehen, wenn das Kind geboren wird und du derweil in deinem Gefängnis sein wirst?“
"Meine unsterbliche Essenz wird mit der des Kindes verschmelzen, damit ich auf dieser Welt wandeln kann. Es wird in meinem Allerheiligsten geboren werden, gestärkt von purer Lebenskraft. Ein wahrer Gott, der auf Erden wandelt." Sie lächelte nun zum ersten Mal wirklich in diesem verqueren Traum. "Euer Gott war die Antwort, Alida van de Burse. Die Antwort für meine Suche nach einem echten Leben, denn auch Jesus Christus hat sich in diese Welt gebären lassen. Es ist eine Hintertür. Ein Schlupfloch, welches die kosmischen Regeln nicht bricht sondern nur beugt."
Alida zog skeptisch die Augenbrauen in die Höhe. „Dann weißt du sicher, wie Jesus wieder von dieser Welt schied, oder?“ Es war eine rhetorische Frage, die keiner Antwort bedurfte. „Eines mag ich dir auf jeden Fall versprechen, Gott des dunklen Paradieses: ich werde diejenigen, die dich gefangen halten suchen. Was wirst du mit den Kainiten Gents und Flanderns tun? Lässt du sie in deine blutigen Mauern einbauen oder hast du andere Pläne?“
"Du siehst mich immer noch als das Monster, welches du in mir sehen willst." Sie schüttelte beinahe bedauernd den Kopf. "Ich verdenke es dir nicht. Du bist als Kind Kains von so viel Falschheit, von so viel Gefahr, Schmerz und Verrat umgeben - du musst immer und überall das Schlechteste und die potentielle Gefahr sehen um zu überleben. Sorge dich nicht. Sobald sie meine Geburt in diese Welt befeuert haben, wird ihnen die Freiheit wiedergeschenkt. Die Freiheit und die Option sich unserer Sache anzuschließen. Ich kann sie belohnen und auch dich, Alida. Ich kann dich und die deinen belohnen wie kein anderer. Spürst die nicht dieses Echo der Sterblichkeit, welches durch deinen Körper fließt? Ein echtes, wahres Leben? Ohne Fluch, ohne Erbsünde? Sobald ich diese Welt betrete kann ich dich permanent zurückholen. Du könntest neu beginnen, mit deinem Geliebten. Ihr könntet eine Familie gründen und als Wächter des Paradieses fungieren, damit dieses nicht zu jenem dunklen Ort wird, den du so fürchtest." Dóchas streckte Alida eine Hand hin. "Ich verlange nicht das du mir vertraust. Du sollst mir lediglich eine Chance geben."
Alida zwang sich nicht zurück zu weichen. „Ich würde dir gerne helfen, einen Ort aufzubauen, für den sich alles lohnt. Einen Ort ohne Hunger, Tod, Hass, Missgunst. Aber nicht zu dem Preis, den du verlangst. Wäre es möglich, es wäre wohl schon geschehen.“ Sie sah den Gott an und versuchte das Mitleid aus ihrem Blick zu vertreiben. „Ich sehe dich nicht als Monster an. Ich kenne genug Monster und wenn man nur genug sucht, erkennt man Himmel und Hölle in jedem von ihnen. In dir wie in mir. Darin gleichen wir uns…“
„Dann hast du deine Wahl getroffen und es schmerzt mich zu sehen, dass wir wohl auf unterschiedlichen Seiten kämpfen werden.“ Die Rothaarige zog ihre Hand zurück. „Dann gibt es nicht mehr viel was es zwischen uns zu besprechen gibt. Bis auf eine Sache. Einen Handel.“ Der Ausdruck von Dóchas war zu purer Emotionslosigkeit zurückgekehrt. Ganz so als wäre die Freude von zuvor, die Freude über den neuen Körper von der Enttäuschung Alida nicht als Verbündete gewinnen zu können, neutralisiert worden. „Ich habe gesehen, dass dir das eine Kind Kains viel bedeutet. Der den sie Emilian nennen. Oder Belinkov. Oder einen seiner anderen vielen Namen, die sich hinter noch mehr Gesichtern verbergen. Ich bin bereit ihn an dich übergeben zu lassen, wenn du mir hilfst meinen Käfig niederzureißen.“
Alida spürte mit einem Mal pure Wut in sich aufsteigen. Ihre Stimme, die sie zwischen den Zähnen hervorpresste, war schneidend. „Sind das die Angebote, die du deinen sogenannten ‚Anhängern‘ machst? Lass diejenigen, die ich liebe, aus dem Spiel! Lass ihn frei, wenn du nach wie vor der gütige Gott sein möchtest, den du in dir selbst siehst. Ich habe niemals die Absicht gehabt deine Vernichtung anzustreben, dazu würde ich mich nie in der Lage sehen, aber wenn ihm auch nur ein Haar gekrümmt wird, bin ich die erste, die sich zur Not mit allen unsterblichen oder sterblichen Magi und religiösen Fanatikern der Welt verbündet um dir die Tore zurück zu dem Ort aus dem du gekommen bist, zu öffnen.“
„Ich verstehe euch Sterbliche nicht. Du nennst dich Händlerin, willst aber selbst nicht handeln. Das ist verwirrend. Du bist nicht meine Anhängerin, also habe ich dir ein Angebot gemacht, das uns beide profitieren lässt.“ Sie schüttelte mit dem Kopf. „Ich verstehe nicht, warum du mir drohen musst, denn ich drohe dir nicht. Ich habe etwas, was du willst und du hast etwas was ich will. Von Zerstörung oder Verletzungen war nie die Rede.“
„Du nimmst mir etwas weg, das nicht dir ist und erpresst mich damit ich es zurück bekomme… Du drohst mir damit, jemanden, den ich liebe seiner Freiheit zu berauben und ihn all den Grausamkeiten deiner Anhänger auszuliefern. Wollt ihr es wieder so machen wie bei Andros? Keine Drohung??? Bei einem hast du recht: Du verstehst uns Menschen nicht und deshalb wirst du scheitern. Egal ob du als Gott durch die Straßen wandelst, als Geist in den Gedanken der Menschen spukst oder in deine Welt hinter den Schleiern zurückkehrst. Ob dein Scheitern gut oder schlecht für die Welt sein mag, das vermag ich nicht zu sagen. Aber ich werde nicht helfen, das, was gut ist in dieser Welt zu opfern für etwas, das nicht sein kann und das ich nur als schlecht erlebe. Du unterbreitest mir einen Handel, der das nur bestätigt.“ Sie sah die rothaarige Frau fest an. „Es wird Zeit, dass du gehst. Warte in deinem Käfig auf deine unselige Geburt durch die verzweifelte, unglückliche Johanna und möge der Herr in seiner Weisheit uns vor allem Bösen bewahren, das kommen mag…“
„Ich werde in der Tat gehen. Es gibt eine Menge über das ich nachdenken muss. Dein Zorn verletzt mich und ich wünschte, wir würden so nicht auseinander gehen. Ich habe dich sehr gern, Alida van de Burse, aber so sei es denn. Du wirst deinen Geliebten zurückbekommen. Sieh es als eine Geste, eine die zeigt, dass ich verstehen möchte. Auch wenn mir deine Wut zeigt, dass es nun wohl zu spät ist.“ Kurze Zeit später verschwand die rothaarige Frau und Alida wachte auf. Schweißgebadet und schnell atmend, in einem Bett im Hause Borluut.