So 26. Mär 2017, 16:18
Alida suchte in ihrer Kammer nach den paar Habseligkeiten, auf die sie in der Eile nicht verzichten wollte: Gewand zum Wechseln, ein weiter Umhang, die Tasche, die immer bereit lag und die Dinge enthielt, die man außerhalb von Brügge gebrauchen konnte: Feuerstein, Nadel und Faden, Verbandsmaterial, den Wetzstein für ihre Klinge. Sie riss mit beiden Händen die Schranktüren auf und starrte auf die dunkle, fast schwarze Rüstung aus dem Osten, fuhr kurz, fast andächtig inne haltend, dann prüfend, über die Verschlüsse. Sie liebte dieses Geschenk ihres verhasst-geliebten Mentors Andrej.
Sie schlüpfte aus dem Kleid, griff nach dem wattierten Wams und legte dann die vertrauten Metallteile an. Wie immer saß dieser Rüstschutz wie eine zweite Haut, das allerbeste, was die Widergängerschmiedekunst Russlands hervorgebracht hatte. Sie zog die Schnalle, zu und legte erneut das Kleid darüber an. Ihre Gedanken streiften den meist rot gewandeten Andrej mit dem fast immer leicht spöttischen Lächeln und sie fragte sich wie es möglich war jemanden gleichzeitig so zu verachten und dann doch zu schätzen und zu bewundern wie sei es bei diesem Mann tat. Andrej hatte mit dem von ihm unterstützen Angriff auf Brügge allen Zorn auf sich gezogen zu dem sie fähig war. Am liebsten hätte sie damals auf ihn gespuckt. Und doch hatte er sie durch sein Handeln und seine Entscheidungen bei Ceoris enger an den Osten, die Drachen und sich selbst gebunden als sie je für möglich gehalten hätte. Sie schüttelte sacht den blonden Schopf um die Gedanken zu vertreiben. Sie würde zu keiner Lösung kommen und es gab in dieser Nacht wichtigerer Dinge, über die sie sich den Kopf zerbrechen musste.
Sie nahm an ihrem Schreibtisch Platz, griff nach Pergament, Tinte und Feder und verfasste eine Nachricht an Emilian. Seufzend wünschte sie sich, er wäre hier anstatt in Gent. Sie drückte danach ihr Siegel auf den heißen roten Wachs und fügte das zweite, das ihrer Familie, hinzu.
Ein letzter Blick streifte die geliebte Einrichtung ihres Zimmers, dann schloss sie die Tür hinter sich. Sie hastete die Stufen hinunter und verharrte erst als sie Hendrik auf den untersten Stufen sitzen sah. Florine saß neben ihm, stupste ihn an und bedrängte ihn eindringlich mit ihren Fragen. „Nun sag schon!“
Hendrik hatte die Arme in einer seltsam verspannten Pose vor der Brust verschränkt und schüttelte vehement den Kopf ohne sie anzuschauen. Das Geräusch von Alidas Schritten auf der Treppe ließ beide wie ertappt zusammen fahren. Sie sahen die blonde Frau an.
Ein Blick in Hendriks vor Angst geweitete Augen ließ Alida sofort ahnen, was los war.
„Florine? Geh in die Küche zu Berta und lass uns einen Moment allein.“ Kurz stand das kleine Mädchen ein wenig unschlüssig neben ihrem Ziehbruder, ganz eindeutig nicht dazu bereit ihn jetzt alleine zu lassen, dann jedoch, nach einem letzten langen Zögern, drehte sie sich herum und rannte Richtung Küche davon.
Alida seufzte und reichte Hendrik ihre Hand. „Komm mit…“ Er hatte den Blick abgewandt, ließ sich dennoch von ihr nach oben ziehen und folgte ihr dann mit hängenden Schultern. Die Händlerin peilte das nächstbeste Zimmer, dasjenige, das neben dem Versammlungsraum lag, an und trat ein. Überall lagen ineinandergelegte Bücher herum, die Verbindungsbrücken zwischen Regalen, Stühlen und Tischen bildeten, Holzstücke führten in die Tiefe und wieder hinauf. An den bunten Murmeln, die noch auf dem Boden verteilt herum lagen, konnte sie sich denken, dass die beiden Kinder hier ihre „Rennbahnen“ gebaut hatten um die roten, gelben und blauen Glaskugeln über lange Strecken über alle möglichen Hindernisse hinweg durch das Zimmer rollen zu lassen.
Sie konnte sich ein Schmunzeln nicht verkneifen. „Lasst das bloß nicht Georg sehen. Wahrscheinlich bekommt der einen Tobsuchtsanfall und fällt danach tot um.“
Ein schwaches Nuscheln war die Antwort. „Eher unwahrscheinlich. Der ist schon untot…“
Alida schob Hendrik zu einem Stuhl und ließ sich dann gegenüber nieder sinken. „Du hast gelauscht.“
Er hob den Blick und sah sie fast flehentlich an. „Ich wollte nicht lauschen, aber ihr wart zu laut und dann habt ihr über Marlene und Jean geredet und…“
Sie legte ihm die Hand auf den Arm. „Ist ja gut…“
„Wird sie da unten im Süden sterben? Und Frederik? Ist das, was Lucien gesagt hat, wahr?“
Alida überlegte einen Moment, was sie antworten sollte. „Ich reise noch heute Nacht dorthin und ich werde alles, was ich kann tun, damit ihnen nichts passiert.“
Hendrik sah sie verängstigt an. Seien Stimme überschlug sich fast. „Und wenn doch was passiert? Oder wenn dir was passiert?“
Alida versuchte ihn zu beruhigen. „Ich bin in dem, was ich tue, nicht schlecht. Mir passiert so leicht nichts. Das versprech‘ ich dir.“
Der Junge schien nach wie vor alles andere als überzeugt. Alida legte ihm aufmunternd die Hand auf die Schulter und er ließ es geschehen. „Versprochen“ Sie zögerte eine Weile. „Hast du verstanden, warum Jean nichts davon wissen darf?“
Hendrik biss die Lippen fest aufeinander. „Das ist nicht richtig, Alida. Er muss es doch wissen…“
Sie widersprach. „Nein! Es reicht, wenn ich gehe. Jean wird hier gebraucht und er wird Marlene vielleicht nicht helfen können…“
Sie sah den Widerwillen und die Verzweiflung in seinen Augen. „Aber…“
Alida weigerte sich mit dem Zwölfjährigen zu besprechen, was passieren konnte, wenn sich Jean tatsächlich in eine verseuchte Stadt wagte in der Krankheit und Tod zu regieren begannen. Sie weigerte sich die Worte auszusprechen, die er vielleicht verstehen, aber mit Sicherheit nicht verarbeiten konnte. Sie rückte näher und nahm ihn einfach nur fest in die Arme. Kurz schien er sich wehren zu wollen, dann verharrte er.
Sie sah Hendrik an. „Bleib kurz hier, ja? Ich muss etwas mit Georg besprechen. Wartest du hier?“ Zögernd nickte der Junge während sie nach draußen schritt.
Sie fand den Obersten Verwalter der van de Burse in einer Schreibstube im zur Straße gewandten Teil des Gebäudes. Rasch schilderte sie ihm das, was Lucien Leif und ihr berichtet hatte und ihren Plan gemeinsam mit dem Heiler noch heute Nacht gen Süden zu reisen. Auch in seinen Augen konnte sie für einen kurzen Moment das Entsetzen erkennen, das jeden Bürger des 13. Jahrhunderts sofort erfasste, wenn von Seuchen und Epidemien die Rede war, gegen die man hilf- und machtlos war. Rasch fasste er sich jedoch wieder und begann sofort seine Gedanken in Worte zu fassen. „Ich such‘ Lucien auf un‘ biet‘ ihm meine Unterstützung an. Wir müssen den kleinen Rat einberufen, überlegen wie wir die kurze Zeit, die wir haben, nutz‘n. Die Versorgung der Bürger muss gewährleistet sein, wir müssen die Abwässer im Auge behalt‘n un‘ dafür Sorge tragen, dass die Krankenhäuser so gut wie möglich mit allem versorgt sin‘.“
Alida nickte, dann zog sie den Brief hervor und hielt ihn Georg hin. „Der hier ist an Emilian. Ich möchte, dass du dafür Sorge trägst, dass er ihn erreicht. Und ich möchte, dass Hendrik zu ihm nach Gent reist. Er hat das Gespräch vorhin belauschen können und ich weiß nicht, ob er Jean gegenüber Stillschwiegen bewahren wird.“
Georg betrachtete das Dokument als handle sich um glühend heißes Eisen. „Du erwartest nit wirklich, dass ich ‚nen zwölfjährigen Jungen un‘ ‚ne Nachricht an Luciens Wachen vorbei nach Gent schmuggeln werd‘, oder? Wenn du befürchtest, dass Hendrik seinem Ziehvater berichtet, was er mal wieder unerlaubt mitgehört hat, dann schick ihn doch zu ‚nem Teil der van de Burse, der nit in diesem Anwesen wohnt. Mildred nennt mittlerweile ‚n ansehnliches Häuschen im Zentrum mit drei Dienern ihr eigen.“
Alida schüttelte vehement den Kopf. „Hendrik kennt und vertraut Mildred nicht genug… Und die Nachricht ist dafür da Emilian zu warnen.“
Georg verschränkte die Arme demonstrativ. Die Haltung war eindeutig. „Alida? In diesen Zeiten hab‘ ich wirklich Wichtigeres zu tun als ‚ne Nachricht zu überbringen un‘ ‚nen unbelehrbaren Jungen durch die Gegend zu verfrachten.“
Alida beugte sich zu ihm vor. „Georg? Das schuldest du ihm… Emilian muss in der Lage sein, seine Familie in Sicherheit zu bringen, Vorkehrungen zu treffen.“
Georg reckte wütend das Kinn nach vorne und trat auf sie zu. „Ich schuld‘ ihm gar nix.“
Alida blitzte ihn an. „Er ist auch dein Erzeuger!“
Einen Moment verharrte Georg, seufzte dann. Ganz offensichtlich wollte er nicht mit ihr streiten. Seien Stimme hatte die Schärfe verloren als er weitersprach. „Dein Erzeuger hat in ‚nem sentimentalen Moment das Gefühl gehabt ‚ne alte Schuld begleichen zu müssen un‘ wahrscheinlich dir ‚nen Gefallen tun wollen in dem er deinen alten Diener nit hat sterben lassen. Ich versuch‘ so wenig mit diesem…“ Er schien einen Moment überlegen zu müssen. „Kainskind zu tun zu haben wie nur möglich.“ Georg griff eindringlich nach ihrem Arm. „Alida? Er hat mehr als nur Verbindungen in den Osten. Ich weiß, dass er mit zum Kreis der Verbündeten von Andrej Rustovich zählt.“
Alida schwieg und Georg sprach voll Inbrunst auf sie ein. „Verdammt! Alida. Dieser Unhold ist für den Krieg um Brügge verantwortlich, für das sinnlose Abschlachten, Niederbrennen, Vernichten… Hast du das vergessen?“
Sie schüttelte vehement den Kopf. „Nein, das habe ich nicht. Aber die Dinge sind mittlerweile anders. Die Drachen haben auch ihre guten Seiten.“
„Gute Seiten? Hast du vergessen wie viele damals dabei drauf gegangen sin‘?“ Er griff nach ihren Schultern und sah sie fest an. „Alida? Das hier ist deine Familie: Die Van de Burse. Familie, Ehre, Pflicht! Ihnen gilt deine Loyalität! Hast du das vergessen?“ Er schüttelte den Kopf. „Du knüpfst Verbindungen in den Osten… Glaubst du nit, ein Voivode der Voivoden fordert ein, was er von ‚nem guten, treuen Tsimiske zu fordern hat? Was passiert, wenn er eines Tages was fordert, was deiner Familie, den van de Burse, schaden mag? Wem gilt dann deine Loyalität?“ In seinen Augen blitzte die Herausforderung.
„Mein Herz und Blut gehören immer zu allererst meiner Familie, meinen Freunden und Brügge.“
Georg nickte. „Un‘ wenn dem Osten das nit gefällt?“ Er lachte tonlos auf. „Dieser Voivode der Voivoden hat nach allem, was ich weiß, keine Kosten und Mühen gescheut um seinen eigenen Bruder und dessen Familie abzuschlachten, weil sie gegen seine Interessen gehandelt haben… Was würd‘ er da erst mit jemand wie dir machen? Un‘ was mit deinen Freunden und Vertrauten um dich auf deinen Platz zu verweisen?“
Alida schwieg.
Georg schüttelte erneut den Kopf. Sein Blick hatte etwas Trauriges, das fast schwerer zu ertragen war als seine Wut. Er sah sie an und riss ihr schließlich das versiegelte Dokument aus der Hand. „Ich kümmer‘ mich darum! Un‘ um Hendrik.“ Ganz offensichtlich hatte er sich entschlossen das Thema zu beenden. Der Blick seiner hellen Augen musterte sie ein letztes Mal, dann machte er auf dem Absatz kehrt und verschwand in Richtung Ausgang.
Alida schloss für einen Moment die Augen und atmete tief ein.
Zuletzt geändert von Alida am Mi 29. Mär 2017, 22:19, insgesamt 1-mal geändert.