Vampire: Die Maskerade


Eine Welt der Dunkelheit
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 Betreff des Beitrags: Familienangelegenheiten
BeitragVerfasst: Sa 22. Aug 2015, 16:36 
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Brügge, September 1215

Marlene griff nach dem Apfel, riss ihn vom Ast ab und legte ihn in den Korb zu den anderen. Dann sah sie noch einmal genauer hin und nahm ihn wieder heraus. Das Fleisch war wurmstichig und begann sich bereits braun zu verfärben und zu faulen.
In diesem Herbst war die Ernte alles andere als gut. Sie warf die Frucht über die Schulter auf den Misthaufen zum Großteil der diesjährigen Apfelernte. Obwohl der Tag warm gewesen war, legte sich die für den September typische Nachtkälte über die Häuser, Gärten und Kanäle Brügges.

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Die Dämmerung war so weit fortgeschritten, dass sie kaum noch etwas erkennen konnte, und sie ging zurück ins Gebäude. Sie stellte den Korb in der Küche auf den Tisch, holte zwei mit roter Flüssigkeit gefüllte Krüge und zwei tönerne Becher aus der Vorratskammer und stellte sie im Wohnzimmer auf einen schmalen Tisch. Dann schritt sie unruhig durch die Zimmer des kleinen Hauses. Sie warf einen Blick hinaus auf die Gasse, dann hinüber zum niedrigen gegenüber gelegenen Anwesen von Lucien. Drinnen brannte kein Licht und wahrscheinlich besprachen er und Jean sich gerade in der Stadt am Westtor über die Belange der Stadtwache.
Sie ertappte sich dabei, wie sie wieder ziellos durch die Gänge schritt. Sie hasste es zu warten. Warum musste sich ihr Bruder ausgerechnet heute verspäten?

Schließlich ertönte das erlösende Klopfen an der Eingangspforte und in weniger als einem Atemzug hatte sie die Tür aufgerissen. Sie erkannte das finstere Gesicht im ersten Moment nicht, trat dann jedoch zur Seite und grinste um die Besorgnis aus ihrer Miene zu vertreiben. „Du siehst echt bescheiden aus, Bruderherz. Komm rein.“
Der blasse Mann wischte sich mit der freien Hand die strähnigen Haare zurück und verzog gespielt empört die Lippen.

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„Nicht jeder hier in dieser Stadt ist mit blühendem Leben gesegnet. Aber danke, das du mich heute ausnahmsweise nicht in der Kälte vor der Tür stehen lässt.“ Der griesgrämige Ausdruck wich einem Lächeln und er schritt Richtung Wohnstube. Auf einem Arm hatte er das Bündel wegen dem er gekommen war. Sein Blick wanderte nach links und rechts. „Ist Jean nicht da?“
„Mit Lucien bei einer wichtigen Besprechung.“ Marlene fuhr sich über die Lippen. „Ich glaube, er ist ganz froh, heute Abend wo anders sein zu können. Er ist zwar einverstanden, aber irgendwie ist ihm die ganze Sache nicht so recht geheuer.“
Frederik nickte und sein Gesicht wirkte noch blasser, die Schatten unter seinen Augen noch dunkler. „Kann ich verstehen. Geht mir irgendwie ähnlich obwohl das ja nun wirklich nicht der erste Fall einer ungewollten außerehelichen Schwangerschaft in unserer Familie ist. Nur hab ich irgendwie gehofft, dass du und ich nicht unbedingt in ausgerechnet solche Probleme hinein gezogen werden würden.“
Marlene nickte auf die gleiche Art wie ihr Bruder. „Nun ja: Erstens kommt es anders und zweitens als man denkt, oder so ähnlich. Nicht wahr?“ Sie trat näher an Frederik heran. „Dann zeig mal her!“
Ihr Bruder zog das Tuch zur Seite und enthüllte das Gesicht und die Hände eines schlafenden Säuglings.

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Marlene fuhr dem Kleinen vorsichtig mit den schmalen Fingern über den Haarflaum. „Ein ganz normales Kind. Irgendwie hab ich mit etwas Erschreckenderem gerechnet. Ein Monster, wie Alyssa erwähnt hat, sieht in meinen Augen anders aus…“
Frederik lachte tonlos auf. „Wie sieht denn ein Monster aus? Wie ich? Wie Alida oder Lucien? Das Kind hat in irgendeiner Art unser Blut in seinen Adern.“
Sie rollte gespielt gelangweilt die Augen. „Seit wann gehörst du zu den Selbstzweiflern, Bruderherz?“
Frederik seufzte. „Ja, Marlene… Dich hat die Welt der Dunkelheit schon als kleines Kind angezogen. Ich weiß… Hier!“
Er übergab ihr den Säugling, der blinzelnd die Augen aufschlug und ließ sich dann in einen der weichen Sessel sinken. Marlene nahm am anderen Ende Platz und betrachtete gebannt das winzige Kind. Dann sah sie zu Frederik. „Nichts für ungut, aber du siehst wirklich nicht gut aus. Ich war in letzter Zeit nicht so häufig zu Hause. Alles in Ordnung?“
Frederik holte tief Luft und ließ sie langsam wieder zwischen den zusammengebissenen Lippen entweichen. „Es ist alles andere als einfach den ganzen Laden alleine zu schmeißen. Seit Alida weg ist wächst mir die Arbeit über den Kopf ohne dass ich was dagegen tun kann. Alyssa ist aufgrund der langen Schwangerschaft und Geburt nicht in der Lage gewesen uns zu unterstützen und der alte Georg rennt den ganzen Tag ziellos und laut fluchend durchs Haus. Er ist absolut frustriert darüber, dass Alida das Kontor in Genua allein aufbauen will und ihn nicht mitgenommen hat. Dann soll ich noch Alidas Aufgaben im Rat übernehmen, in die ich mich erst mal einarbeiten muss. Die anderen Familienmitglieder geben ihr Bestes und ich bin mir sicher, dass wir es wie immer hinbekommen werden, aber es ist nicht einfach. Und der Kleine da setzt dem Ganzen in dieser Woche irgendwie noch die Krone auf, weil ich mir Sorgen um dich und Jean sowie die ganze Familie mache.“
Marlene griff nach seiner Hand und nickte langsam. Mehrere Minuten verstrichen, in denen sich nur die neugierigen Augen des Säuglings zu bewegen schienen. Dann sah die blonde Frau ihren Bruder an. „Ich schau, dass ich in nächster Zeit häufiger zu Hause sein kann. In Ordnung?“
Frederik lachte laut und schüttelte den Kopf. „Untersteh dich! Ich vertreib dich mit Hilfe der ganzen fauligen Apfelernte, wenn du dich in den nächsten Wochen daheim blicken lässt.“ Er deutete auf das Kind. „Der Kleine wird dich brauchen. Und Jean auch. Lucien ist sicherlich auch nicht erbaut?“
Sie grinste. „Mitnichten.“ Dann blickte sie wieder zu dem Kind, berührte die winzigen Finger, die sich sofort um ihren Daumen schlossen. „Aber der Kleine braucht eine Familie. Wie heißt er eigentlich?“
Frederik zuckte mit den Schultern. „Alyssa hat ihm keinen Namen gegeben, wollte das du das tust. Sie meinte nur, Christian oder Frederik sollten es bitte nicht sein.“
Marlene lachte erneut. „Verstehe. Von denen haben wir eh schon genug.“ Sie sah ihren Bruder zweideutig an, blickte dann erneut zu dem Säugling „Wie wäre es mir Henrik?“
„Henrik?“ Er probierte den Klang erneut aus. „Henrik van de Burse. Klingt passend, finde ich. Oder wird er ein Sabatier?“
Marlene grinste. „Gott bewahre. Lucien würd persönlich vorbei kommen und mich an den Pranger führen und auspeitschen lassen. So gern er mich vielleicht auch hat. Schauen wir mal, was die Zukunft so bringt. Apropos ‚bringt‘: Auf dem Tisch gibt’s Wein für mich und wunderbar alkoholhaltigen Lebenssaft für dich. Jean konnte letztens im Hospital eine Sonderlieferung für Lucien abzweigen. Zwei Schläger waren so hagelvoll, dass sie weder geradeaus gehen noch sich gegenseitig ernsthaft verletzen konnten. Leif hat die beiden Streithähne zur Ader gelassen und Jean dachte da an seinen geliebten ‚Onkel‘, der ja immer wieder aufs Neue bedauert wie sehr er ab und an seinen Humpen Bier vermisst. Bedien‘ dich. Für unseren Hauptmann ist noch genug übrig“
Frederik sah sie einen Moment lang prüfend an, goss ihr etwas von dem Rotwein ein. Dann griff er nach dem anderen Krug und lehrte ihn mit einem einzigen Zug. „Danke.“ Er grinste.
Marlene schüttelte gespielt missbilligend den Kopf. „Wehe du fängst jetzt an, deinen Frust im Alkohol zu ersäufen.“
Frederik zuckte nur die Schultern. „Geht leider nicht mehr. Sei also unbesorgt, Schwesterherz.“
„Also: Auf den neuen van de Burse…“
Frederik seufzte und stimmte dann mit ein. „…auf den neuen van de Burse. Auf Henrik. Was auch immer die Zukunft uns bringen mag…“

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Verfasst: Sa 22. Aug 2015, 16:36 


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 Betreff des Beitrags: Re: Familienangelegenheiten
BeitragVerfasst: Sa 22. Aug 2015, 21:57 
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Sommer 1220

Marlene hörte wie die Tür aufgerissen und gleich danach wieder laut zugeschlagen wurde. Sie steckte den Kopf aus der Küche und sah wie der kleine Junge im Hausgang stand und sich sammelte. Wütend ballte er die Fäuste, wandte, als er die blonde Frau erkannte, den Blick ab, fuhr sich mit den schmutzverkrusteten Händen durchs Gesicht um die verräterischen Tränen wegzuwischen. ‚Jungen weinen nicht!‘ war der stete Spruch von Jean und Lucien. Der Junge biss die Zähne aufeinander.
Marlene schenkte ihm ein aufmunterndes Lächeln und versuchte mit Mühe die zerrissene Hose, die blauen Flecken und die aufgeplatzte blutige Lippe des Kindes zu übersehen. „Na, Henrik? Bist du draußen schon fertig mit Spielen? Ist sowieso schon fast stockdunkel. Wird Zeit fürs Bett.“
Die Stimme des Kindes war brüchig. „War eh langweilig draußen… Aber ich will nicht ins Bett! Ich bin nicht müde.“
Marlene wusste, dass er Recht hatte. Man konnte ihn zwar spätabends ins Bett legen aber an Schlafen dachte der Knabe vor Mitternacht nie.
Sie zeigte zur Küche. „Kommst du mit?“ Sie ging voraus, stellte einen Becher Milch auf den Tisch, den Henrik, der sich auf einen Stuhl gesetzt hatte, jedoch nicht anrührte. Er starrte auf den tönernen Krug ohne wirklich hinzusehen.
Vorsichtig legte ihm Marlene die Hand auf die Schulter. Ihre Stimme war sacht. „Henrik? Mit wem hast du dich dieses Mal wieder geprügelt?“
Sie hörte das unterdrückte Schluchzen, dann drückte sich der kleine Junge bereits verzweifelt an sie und vergrub seinen Kopf an ihren Bauch. „Ich wollte Olaf nicht hauen. Aber er ist so böse und gemein. Er hat mich die ganze Zeit gehänselt.“
„Olaf?“ Obwohl sie eigentlich nicht wollte, musste Marlene doch leise lachen. „Der dicke Sohn des Zuckerbäckers ist doch drei Jahre älter als du…“
Die Stimme des Kindes war kaum zu verstehen. „Er ist so was von dumm... Der ist mies zu jedem und vor allem zu mir. Er hat mich mit einem Stock verdreschen wollen. Da hab ich mit dem Holzschwert von Jean zurück gehauen.“ Wieder gingen die Worte in Schluchzen unter.
Marlene fuhr ihm über die braunen Locken. „Pscht. Wird ja alles wieder gut.“ Sie drückte das weinende Kind zurück auf den Stuhl und nahm einen Lappen, den sie kurz in eine Schüssel mit Wasser tauchte. Damit fuhr sie dem Kind über Gesicht, Arme und Beine und entfernte den gröbsten Dreck. „Dir ist schon klar, dass du heute noch in den Waschzuber darfst?“
„Lucien ist manchmal, wenn er aus dem Wald kommt viel dreckiger und der muss auch nicht baden.“ Ein schüchternes Lächeln machte sich auf dem Gesicht des Kindes breit und Marlene erkannte unter dem Schmutz wieder die vertrauten Züge.

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„Lucien geht bestimmt auch baden, aber dann liegst du schon im Bett und bekommst nichts mehr davon mit.“
Der Junge schüttelte vehement den Kopf. „Glaub ich nicht. Manchmal bin ich bis nach Mitternacht wach.“
Marlene seufzte. „Was Lucien so alles macht geht ‚nen kleinen Kerl wie dich eigentlich eh nix an. Verstanden?“
Henrik nickte aber an der Art wie er die Lippen aufeinander presste wusste sie sofort, dass er flunkerte.
Marlene fasste ihn mit der Hand unterm Kinn, wischte eine dünne getrocknete Blutspur fort und sah ihm dann fest in die Augen. „Henrik? Keine Schlägereine mehr. Wenn dich irgendein Dummkopf da draußen provoziert, dann lass ihn stehen und komm zurück nach Hause. Das musst du lernen! Das ist wichtig.“ Ihr Ton war ernst.
Sie wusste, wie der Junge sich mit anderen prügelte. Es bedurfte nur einiger gemeiner Kleinigkeit, und Henrik, der sich ungerecht behandelt fühlte, gab ein paar Widerworte und wenige Augenblicke später gingen die Kinder mit den Fäusten aufeinander los. Henrik war für sein Alter ausgesprochen hartnäckig, kämpfte wie wild und hörte für gewöhnlich erst dann auf wenn einer von beiden am Boden lag.

Ein heftiges Klopfen an der Tür ließ sie erneut seufzen. Sie sah Henrik noch ein Mal fest an. „Das wird dann wohl die Frau vom Zuckerbäcker, Olafs Mutter, sein. Oder wenn ich besonders viel Glück habe, der Zuckerbäcker selbst. Ich geh mal schauen und versuch das wieder gerade zu biegen. Du gehst derweil zu Jean! Hörst du?“
Henrik nickte, den Blick Richtung Haustür, doch er presste fest die Lippen aufeinander. Marlene schob den kleinen Jungen zur Hintertür. „Jean ist im Stall und versorgt die Pferde. Er braucht Hilfe. Na los.“ Die Aussicht auf eine sinnvolle Tätigkeit mit den Tieren und seinem Ziehvater wirkte Wunder und das Kind lief los.
Die blonde Frau wandte sich um, holte tief Luft und trat dann zu dem wütenden, immer heftiger werdenden Klopfen am Hauseingang. Was war es diesmal? Blaue Flecken, zerrissene Kleidung? Eine gebrochene Nase? Ein ausgeschlagener Zahn? Sie seufzte.


Henrik hielt erst im Laufen inne als er an der großen Stalltür angekommen war. Mühsam schob er das schwere Holz zur Seite und quetschte sich ins Innere.
Drinnen war es schon finster, was dem Kind aber wie gewöhnlich wenig ausmachte. Er sah im Halbdunkeln eh besser als zur hellen Mittagszeit. Er erkannte Jean am Ende des Stalls, der im Licht einer Stalllaterne sein schwarzes Pferd bürstete.
Das Geräusch am Eingang ließ den braunhaarigen Mann aufblicken. „Henrik? Was machst du denn hier?“
Der kleine Junge näherte sich langsam, sah respektvoll zu den drei Pferden, die zu seiner Rechten angebunden waren und ihn um Mannshöhe überragten. „Ich wollt dir hier im Stall helfen. Marlene ist an der Haustür und redet mit Olafs Mutter, der Zuckerbäckerin.“ Erklärend und schuldbewusst fügte er hinzu. „Ich hab ihn gehauen.“
Jean legte die Bürste zur Seite, trat ein paar Schritte auf den Jungen zu und nahm ihn hoch.

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Er drückte ihm einen Apfel in die Hand. „Du willst helfen. Dann sollten wir mal damit anfangen, die Pferde zu füttern. Findest du nicht? Äpfel mögen unsere ganz besonders gern. Das haben sie sich bei Ajax abgeschaut.“
Der kleine Junge nickte wissend und hielt der Stute den Apfel auf der ausgestreckten Hand entgegen. Als ihre großen Zähne sich näherten und nach dem Apfel suchten, zog Henrik ängstlich die Finger weg.
Jean lachte. „Gut gemacht.“ Dann setzte er das Kind auf ein großes, hohes Fass. „Fall ja nicht runter!“ Er griff erneut zur Bürste und drehte sich zu einem der Pferde um.
Mehrere Minuten vergingen schweigend. Henrik ließ die Beine vom Fass baumeln, sah auf seine Füße. Ab und an warf er einen mulmigen Blick zu den großen Tieren rührte sich aber keinen Zoll vom Fleck.
Seine Stimme war leise als er wieder sprach. „Du? Jean? Was ist eigentlich ein Bastard?“
Jean blickte verwundert hinter dem Pferderücken auf. „Warum willst du das denn wissen?“
Der Junge druckste herum. „Olaf, der dicke Sohn vom Zuckerbäcker, hat mich so genannt…“
Jean legte die Bürste zur Seite, trat zu einem anderen Fass gegenüber von Henrik und schwang sich hinauf. Er musterte das Gesicht des Knaben bevor er antwortete. „Ein Bastard ist jemand dessen Eltern bei seiner Geburt nicht verheiratet waren.“
Der Kleine kaute nachdenklich auf seiner Unterlippe. „Marlene und du? Ihr seid doch verheiratet. Seid ihr nicht meine Eltern?“
Jean schüttelte den Kopf. Sein Blick verdüsterte sich als er zum ersten Mal ein solches Gespräch mit dem Jungen führen musste. „Nein. Marlene und ich sind nicht deine richtigen Eltern. Wir sind deine Zieheltern.“
Der Junge blickte den braunhaarigen Mann fragend an. „Und mein richtiger Papa? Meine echte Mama? Haben die mich nicht gewollt?“
Jean schluckte schwer. „Du gehörst jetzt zu uns Henrik. Wir wollen dich bei uns. Das ist das, was zählt.“ Er sah ihn fest an. „Verstanden?“ Er zwinkerte dem Knirps zu.
„Warum will mich meine richtige Mama nicht? Hab ich was falsch gemacht?“
Jean schüttelte den Kopf. Warum um alles in der Welt war Marlene in einer solchen Situation nicht da um ihm bei den Erklärungen zur Seite zu stehen?
„Henrik? Du hast nichts falsch gemacht. Manchmal passieren Dinge nun einmal so wie sie passieren.“
Der Junge ballte die Fäuste. „Ich finde das so gemein. Meine echte Mama ist gemein. Warum mag sie mich nicht?“
Jean versuchte das Gespräch zu retten. „Wir beide, Marlene und ich, wären sehr traurig, wenn du plötzlich nicht mehr da wärst und lieber bei anderen Menschen leben würdest.“
Henrik sah Jean mit großen ängstlichen Augen an. „Ich auch.“
Luciens jüngeres Ebenbild lächelte dem Knaben aufmunternd zu.
Der Kleine strich sich die Locken zurück. „Du? Jean? Warum heißt ihr eigentlich Sabatier und ich van de Burse? Ich möchte auch so heißen wie ihr.“ Er sah zu Boden.
Jean überlegte lange bevor er antwortete. „Ich habe als ich jünger war auch nicht Sabatier geheißen.“ Ein Lächeln legte sich um seine Mundwinkel. „Den Namen Sabatier tragen zu dürfen ist eine Ehre für uns, die man sich erst verdienen muss.“
Henrik sah seinen Ziehvater mit großen Augen an. „Wirklich?“
Jean nickte. „Du kannst schon anfangen zu üben in dem du dich vorerst nicht mehr mit anderen Kindern prügelst.“
Henrik nickte nachdenklich. „Ist es schlimm ein Bastard wie ich zu sein?“
Jean beugte sich zu ihm und zerwuschelte ihm die Haare. „Manch einer denkt das vielleicht, aber verlass dich drauf: Das ist es nicht. Ich bin auch einer.“ Ein Grinsen begleitete sein Geständnis.
Der Mund des Jungen öffnete sich erstaunt. „In echt?“
Wieder nickte Jean mit dem Kopf. „Aber klar. Weißt du was? Nicht nur ich. Lucien ist auch ein Bastard. Du siehst also: Fast so was wie beste Familientradition.“ Er lachte und schwang sich vom Fass, hob dann den Jungen hinunter. „So, jetzt füttern wir die Pferde fertig und dann gehen wir mal rüber zu Ajax und schauen, ob der auch einen Apfel gebrauchen kann. Aber vorerst sollten wir rein gehen und Marlene gegen die Zuckerbäcker unterstützen. Findest du nicht.“
Der Junge lächelte zaghaft.

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 Betreff des Beitrags: Re: Familienangelegenheiten
BeitragVerfasst: Mi 14. Okt 2015, 19:47 
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Der kleine Junge fuchtelte mit einem Stock in der Luft herum, hüpfte auf einen schmalen Mauersims und vertrieb Schattenmonster und unsichtbare Drachen zurück in die nächtliche Finsternis. Mit stolz geschwellter Brust sah er zu Jean, der wenige Meter hinter ihm ging und ihm gutmütig zulächelte. Er steckte sich das Stück Holz an die linke Seite seines Gürtels wie sein Ziehvater und Lucien es auch trugen und war in Windeseile zurück an Jeans Seite.
Dieser hatte ihn nachdem sein Dienst beendet war im Anwesen der Van de Burse abgeholt. In den Nachmittagsstunden wurden die Kinder des Hauses dort von einem alten Lehrer unterrichtet und Marlene hatte darauf bestanden, dass er auch hinging.
Henrik mochte den alten, leicht senilen und halb blinden Lehrer, doch einige der anderen Kinder konnte er nicht leiden. Beim Gedanken an Niclas, einen der älteren Jungen, fuhr seine Hand spontan zurück zum Stock. Wie gern hätte er dem arroganten Kerl, der sich für etwas Besseres hielt, weil er der Erstgeborene war, seinen Vater kannte und immer schneller und lauter die Antworten herausposaunte als alle anderen, gezeigt, wie er mit seinem hölzernen Schwert kämpfen konnte.
Bastard? Pah!
Doch er ballte die Hand zur Faust und steckte sie zurück in die Tasche. Er hatte Jean versprochen sich nicht mehr zu schlagen.
Der kleine Junge sah hinaus in die Nacht und sog die Luft durch die Nase ein. Ein seltsamer Geruch wurde vom Wind zu ihm geweht und er hielt zögernd inne. Süß, nach Heidekraut und schwerer dunkler Erde, nach Ton, leblos und kalt.
„Was ist denn, Henrik?“ fragte ihn Jean.
Henrik wusste nicht, was er sagen sollte und biss kurz die Lippen aufeinander. „Nichts.“
Luciens Ebenbild lächelte ermutigend. „Schau mal. Wir sind schon fast zu Hause. Marlene hat eine Kerze für uns ins Fenster gestellt.“
Henrik sah auf. Er liebte es, wenn sie das tat. Ein Zeichen, dass sie da war und dass Jean und er erwartet wurden.

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Er wollte schon loslaufen als ein lauter Schrei, der sofort im Keim erstickt wurde durch die Nacht gellte. Jean fuhr herum und hielt bereits in der gleichen Sekunde sein Schwert in der Hand. Er sah sich um, hielt nach der Ursache des Rufs Ausschau.
Henrik schluckte. Bei seinem Ziehvater sah das viel gefährlicher, ernster und eindrucksvoller aus… Das hier war anders als sein Spiel mit dem Holzstock.
Jean sank auf die Knie und fasste ihn fest an den Schultern. „Henrik? Lauf nach Hause! Ich muss nachschauen, was da passiert ist.“
Er sah ihm fest in die Augen. „Hast du mich verstanden?“
Der Junge wollte antworten, aber da hatte sich Jean schon umgedreht und war losgerannt. Er hetzte in die Richtung aus der er ein Geräusch vernommen hatte.
Henrik tat einen Schritt hinter ihm her, wollte ihm nachlaufen. Das war die falsche Richtung. Wusste Jean das nicht? Das Geräusch war nur eine Katze, die bei einem unvorsichtigen Sprung einen Tonkrug umgeworfen hatte. Warum hatte er das nicht gehört?

Henrik sah zu dem weiß getünchten Haus, zu der Kerze, die hell leuchtete. Marlene würde sich vielleicht schon Sorgen machen, dass sie so lange aus blieben. Dann roch er wieder den seltsamen Duft und fast in der gleichen Sekunde durchschnitt erneut ein unterbrochener, kurzer Schrei die Schwärze der Nacht.
Henrik wusste, er sollte nach Hause gehen. Aber stattdessen griff er nach seinem Stock, hielt ihn wie ein Schwert vor sich und trat einige Schritte in die dunkle Seitengasse. Der Duft wurde stärker und er wusste, dass der Weg ihn zu der Wahrheit führen würde. Er schluckte, kaute nervös auf seiner Unterlippe, setzte jedoch mit allem Mut, den er aufbringen konnte einen Fuß vor den anderen.
Die Seitengasse öffnete sich in einen unbeleuchteten Hinterhof eines seit dem Krieg verlassenen Bauerngehöfts. Henrik konnte den abgebrannten verkohlten Dachstuhl erkennen und dann sah er es: Wenige Meter vor ihm kauerte eine Gestalt, deren bleiche Haut sich hell gegen die Nacht abhob. Sie hatte ihre langen weißen Fänge in den Hals eines muskulösen Mannes gerammt und statt, wie Henrik zuerst gedacht hatte, ihn zu küssen, saugte sie an ihm. Am Boden zu ihrer Rechten lag bereits ein weitere hagerer Mann, den er nur durch seine Kleidung als ein menschliches Geschöpf ausmachen konnte. Sie genoss diesen Akt sichtlich und das dunkelrote Blut lief an ihrem Kinn entlang und tropfte auf ihre Brust und das wehrlose Geschöpf in ihren Armen.
Henriks Augen weiteten sich vor Furcht als der Blick der grünen Pupillen auf sein Gesicht fiel. Er ließ den Stock fallen, wollte rennen, einfach weglaufen, aber seien Füße waren wie versteinert. Ein sanftes wissendes Lächeln breitete sich auf den Zügen des Todesengels aus, das ganz im Gegensatz zu seinem Tun stand. Er umschlang sich selbst mit seinen Händen, wollte sich schützen. Vor dem, was er sah und vor dem, was kommen musste.
Die bleiche Frau trank weiter und immer weiter. Das Fleisch des Mannes begann einzufallen, seine kräftigen Muskeln schrumpften, sein Gesicht war schon nach wenigen Atemzügen nichts weiter als ein mit hautbespannter Schädel.
Sie ließ ihr Opfer lautlos zu Boden gleiten und schritt mit kaum zu vernehmenden Schritten auf ihn zu. Wie eine Spinne, die die Fliege, die ihr ins Netz gegangen war bis auf den letzten Tropfen ausgesaugt hatte. Ihr Lächeln glich einer göttlichen Verheißung.
Sie sank vor ihm auf die Knie und strich ihm zärtlich über die braunen Haare. Ihre Stimme war kaum mehr als ein rauer Hauch und sie sprach mit einem Akzent, den er nie zuvor vernommen hatte.
„Na, mein Kleiner? Welche Art von Monster bist denn du?“
Henrik schien sich aus seiner Erstarrung lösen zu können und er schüttelte den Kopf. Seine Stimme war so leise, dass sie kaum zu hören war. „Ich bin kein Monster!“
Die schlanke Gestalt lachte leise und schenkte ihm erneut das liebliche Lächeln. „Aber natürlich, mein Kleiner, bist du das. Schau!“
Sie senkte den Blick und strich mit ihren kalten Fingern über seine Haut.
Henriks Augen folgten ihr und er betrachtete ungläubig die verkrümmten Fetzen, die einst seine Oberarme gewesen.
Dann gelang es ihm sich endgültig zu lösen und er schrie.


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 Betreff des Beitrags: Re: Familienangelegenheiten
BeitragVerfasst: Mi 18. Nov 2015, 21:59 
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Alida kaute nachdenklich auf ihrer Unterlippe. Schließlich griff sie nach dem weißen Turm und verschob ihn zögernd einige Felder nach vorne. Fragend blickte sie ihr zu ihrem Gegenüber.
Emilian verkniff sich nur mit Mühe ein siegessicheres Grinsen. „Alida? Schau mich nicht so an. Schon vergessen? Du spielst hier gegen mich. Wenn ich dir sagen würde, welcher Zug der sinnvollste ist, dann wäre es kein Spiel sondern eine Lehrstunde.“ Er setzte einen Läufer und schlug mühelos einen ihrer Bauern. Entschuldigend zuckte er mit den Schultern bevor er fortfuhr. „Also, ich würde vorschlagen, wenn ich gewinne erhalte ich deine flandrische Tuchlieferung vom letzten Monat. Ich geb‘ dir dafür…“ er überlegte kurz bevor ein hämisches Lächeln auf seinem Gesicht erschien. „… meine Stahllieferung, die die Hispanier in Auftrag gegeben haben.“
Alida gab einen Laut der Empörung von sich. „Vergiss es. Du willst ja nur wieder sehen, wie ich bei ihrer anzüglichen Verhandlungsstrategie komplett durcheinander komme und mich über den Tisch ziehen lasse.“ Aufgebracht schlug sie seinen Läufer mit einem Springer.
Die rot-braunen Augen blitzen schelmisch. „Alida? Lass dich nicht aus der Ruhe bringen! Weder bei vulgären obszönen spanischen Verhandlungspartnern, noch bei mir beim Spiel.“ Er setzte seine Dame zwei Felder nach vorne, nahm ihren weißen Springer vom Brett und brachte seine Figur damit gefährlich nahe an ihren König heran.
Sie schüttelte den Kopf über ihre eigene vorschnelle Handlung, dann funkelte sie ihn gespielt böse an. „Das ist deine Taktik, Emilian, oder? Mich aus dem Konzept bringen damit du leichtes Spiel mit mir hast?!“
„Tse, tse, tse. Alida? Du weißt doch. Alles ist Taktik.“ Wieder grinste er. „Gut. Wenn ich gewinne erhalte ich einfach dein flandrisches Tuch und erspare dir den Stress mit den Spaniern. Wenn du gewinnst…hm…“ Wieder überlegte er und blickte dabei konzentriert aufs Spielfeld. „Wie wäre es mit meiner Salzlieferung aus Lübeck? Die dürfte nicht gerade wenig abwerfen. Vor dem Winter müssen die Bauern noch eine Menge einpökeln.“
Die blonde Frau nickte. „Wenn ich dazu noch die Hälfte deiner Pelze aus Livland bekomme, bin ich einverstanden. Du weißt doch: Der nächste Winter kommt bestimmt und da sollen es die Leute in Genua ja schön warm haben.“ Alida verschob ihren König und brachte ihn damit in Sicherheit.

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Kurz verzog er missmutig die Lippen, dann grinste er wieder. „Einverstanden.“ Sein Blick suchte den ihren. „So schlimm sind die Spanier ja nun auch wieder nicht. Wenn du sie mit den drei Mauren aus Al-Andalus vom letzten Frühjahr vergleichst. Der eine von ihnen hat mir zwanzig Esel und zehn Dromedare für dich geboten. Dazu großzügigerweise noch eine ganze Ladung Schafsfliese. Was für ein Angebot.“
„Da kann ich ja richtig froh darüber sein, dass ich nicht dir gehöre und du mich demnach gar nicht verkaufen kannst.“ Sie verzog den Mund.
Er lehnte sich in seinem Sessel zurück und grinste sie anzüglich an. „Das derzeitige Oberhaupt deiner Familie ist Frederik van de Burse. Vielleicht sollte ich ihn fragen, ob du zum Verkauf stehst?“ Er beugte sich näher zu ihr heran, musterte sie amüsiert und rückte diesmal mit einem schwarzen Läufer vor.
„Und du glaubst Frederik würde auch nur eine Sekunde über dein Angebot nachdenken?“ Alida entschloss sich dazu einen Bauern zu opfern um Zeit zu haben ihren König wieder in Sicherheit zu bringen und schob diesen zwischen die Figuren.
Emilian nickte langsam. „Du weißt doch: Jeder hat seinen Preis… vielleicht zwei voll beladene Hansekoggen? Ich könnte auch eine Kirche stiften und sie von den modernsten und geistreichsten italienischen Künstlern bauen lassen. Extra von Italien für die Toreador in Brügge eingeschifft. Na? Nach allem was ich gehört habe, machen es sich Liliane und Frederik zum Ziel die Stadt in eine glanzvolle, beeindruckende Weltstadt zu verwandeln. Eine prächtige, reiche Kathedrale im Zentrum der Stadt würde sich vortrefflich machen.“
Alida warf eine der weißen Spielfiguren, die bereits aus dem Spiel genommen worden waren nach ihm, doch er fuhr unbeirrt fort. „Frederiks Position in der kainitischen Welt wäre gestärkt und er müsste die Stadt nicht mit blonden weiblichen Familienangehörigen teilen, denn du wärest dann hier bei mir in Genua. Und ob ich dich dann je wieder gehen lassen würde: Das steht in den Sternen.“ Er ignorierte den von Alida vorgeschobenen Bauern und versetze seinen schwarzen Turm direkt in Zugweite ihres Königs. „Schach“
Die blonde Händlerin zog scharf die Luft ein. Die Figur ganz hinten hatte sie nicht beachtet. Verdammt.
Wieder begann sie auf ihrer Unterlippe zu kauen und versuchte einen Ausweg aus dieser schier ausweglosen Situation zu finden. Der braunhaarige Mann lehnte sich betont lässig im Sessel zurück, verschränkte die Hände vor seinem Gürtel und schloss die Augen als wolle er sich einen kurzen Mittagsschlaf gönnen.
Sie vergrub das Kinn in der Hand und überlegte.


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 Betreff des Beitrags: Re: Familienangelegenheiten
BeitragVerfasst: Sa 21. Nov 2015, 20:16 
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Ein leises Klopfen riss sie aus ihren Gedanken. Emilian erhob sich rasch aus dem Sessel und legte ihr in einer beruhigenden Geste kurz die Hand auf die Schulter. „Bleib nur hier und denk über deinen nächsten Zug nach. Ich geh nachschauen, was los ist.“ Er schritt Richtung Tür um Girland zu öffnen und sich leise mit dem Major domus zu unterhalten.
Nach ungefähr zwei Minuten stand er wieder neben ihr, sah sie zögernd an „Deine Leute aus Brügge sind hier. Euer Hauptmann, Jean, Marlene und ihr Ziehsohn.“
„Hendrik?“ Ungläubig sah sie ihn an. Warum sollten sie sich ohne Ankündigung auf den weiten Weg nach Italien gemacht haben. Furcht breitete sich auf ihrem Gesicht aus.
Emilian griff nach ihren Fingern und schüttelte, als habe er ihre Gedanken gelesen, den Kopf. „Es geht ihnen nach der einmonatigen Reise gut und es sind keine Katastrophen geschehen, die man nicht wieder beseitigen könnte“ Er zog sie aus dem Sessel. „Der Gangrel ist auf dem Weg nach Sizilien, soll dort irgendeinen Auftrag erfüllen, aber das wird er dir wahrscheinlich später selbst berichten. Derzeit sind er und Jean dabei die Pferde abzusatteln. Sie wollen rein kommen sobald die Tiere versorgt sind. Anscheinend trauen sie meinen Männern nicht so recht über den Weg.“ Er versuchte ein schiefes Schmunzeln, das ihm irgendwie nicht recht gelingen wollte und wurde wieder ernst.
„Mit dem Jungen, Hendrik, ist irgendetwas passiert. Sie vermuten fleischformerische Kräfte, denn die Arme des Kindes sind entstellt und er kann sie nur noch mit Mühe bewegen.“ Alida hörte die Zweifel in seiner Stimme. „Marlene und der Junge warten im Arbeitszimmer. Soll ich sie holen lassen?“
Sie schüttelte den Kopf und befand sich fast im gleichen Augenblick auf dem Weg zur Tür. Erst als sie nach der Türklinke griff bemerkte sie, dass er nicht gefolgt war. Sie wandte sich um und sah das traurige Zögern in seinem Blick. Sie wusste genau was er dachte.

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Alida machte auf dem Absatz kehrt und versuchte seine trüben Gedanken zu vertreiben. Sie griff nach seiner Hand und küsste ihn auf die Wange.
„Ich möchte, dass du sie kennen lernst.“ Emilian nickte langsam. Dann folgte er ihr.

Das Wiedersehen mit Marlene verlief so freudig wie Alida es erwartet hatte. Sie drückte die junge Frau fest an sich, bemerkte den schwachen Duft nach Apfelblüten, Brunnenkresse und Wasserminze und spürte im gleichen Moment die tiefe Sehnsucht nach ihrer Heimatstadt Brügge wie einen Stich ins Herz.

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Marlene löste sich langsam aus der Umarmung und schob einen kleinen Jungen, der sich schüchtern hinter ihr versteckt hatte, nach vorne. Die zerzausten braunen Locken hingen ihm ins Gesicht und er sah zuerst zu seiner Ziehmutter, dann zu der blonden fremden Frau und ihrem Begleiter.
„So Alida, das hier ist Hendrik.“ Marlene beugte sich zu dem Kind herunter und lächelte ihm aufmunternd zu. „Hendrik? Das ist Alida, von der ich dir erzählt habe. Sie ist eine Freundin von uns und Lucien. Du kannst ihr vertrauen.“
Zögernd machte der Kleine einen Schritt nach vorn, erwiderte etwas unentschlossen Alidas Lächeln und streckte ihr die Hand entgegen, wie man es ihm beigebracht hatte. Er zuckte nicht zurück als seine Finger ihre tote Haut berührten, sondern musterte sie lange. „Du fühlst dich genauso kalt an wie Lucien.“
Alida lachte. „Ja, manche Leute scheinen wohl kalte Finger zu haben, nicht wahr?“ Sie deutete auf den braunhaarigen Mann hinter sich. „Das ist Sergej Belinkov, ein guter Freund.“

Es wurden höfliche Floskeln ausgetauscht und schließlich führte man die Gäste in den Wohnbereich und ließ sich auf den gemütlichen orientalischen Möbeln nieder, die vor einem hohen Fenster standen. Das helle Licht des fast vollen Mondes fiel hindurch und beleuchtete draußen die Terrasse, die zum Meer hin führte.
Marlene berichtete von der Reise und deren eigentlichen Grund: Die Verstümmelung des Jungen. Obwohl sich das Kind zierte, redete die junge Frau beruhigend auf es ein und schob schließlich seine Hemdsärmel nach oben damit die beiden Tzimisce sich selbst ein Bild machen konnten. Alida gab der Vermutung der Brügger Recht. Es sah wirklich aus wie grobe Wunden durch brutales Fleischformen. Die Haut war ausgedünnt, wirkte wie verbrannt, die Muskeln waren verschoben und der Oberarmknochen bog sich merkwürdig nach innen.
Als Alida den Jungen fragte wie das passiert war, biss dieser nur fest die Lippen aufeinander und sah beschämt zu Boden. Die blonde Frau sah unschlüssig zu Marlene, dann zu Emilian. Ihr Erzeuger war im Gegensatz zu öffentlichen Versammlungen oder Geschäftstreffen bei denen er sich gewandt und ausgesprochen erfahren auf dem politischen Parkett bewegte bei dieser Familienzusammenkunft ungewöhnlich still und zurückhaltend. Es dauerte sicher eine halbe Minute bis er auf ihren fragenden Blick reagierte.
Er schüttelte kaum merklich den Kopf. „Das wird sich ‚heilen‘ lassen.“ Er sah schließlich zu dem Kind, dann zu Marlene. „Darf ich versuchen, zu erfahren, was der Junge gesehen hat.“
Marlene wartete eine Antwort von Hendrik ab, als diese aber nicht folgte und er nach wie vor auf seine Schuhspitzen blickte, stieß sie ihn sacht an. „Hendrik? Darf er?“
Der Junge sah in die bittenden Augen seiner Ziehmutter und nickte schließlich zögernd.
Alida wusste genau, was ihr Erzeuger zu tun beabsichtigte. Sie spürte, wie er seine Präsenz ausweitete, sich auf das ängstliche Gesicht des Knaben konzentrierte, in seinen Geist eindrang und nach den Antworten auf nicht gestellte Fragen suchte. Den einzigen Widerstand, den die blonde Tsimiske bemerkte waren die kindlichen Finger, die sich zu Fäusten ballten.
Dann zog sich Emilian wieder zurück.
Hendrik sah den Mann, der ihm gegenüber saß, mit großen hellen Augen an. In seinem Blick lag eine Mischung aus Furcht, Bewunderung, Verständnislosigkeit und Erleichterung.
Marlene strich ihm über die braunen Locken und flüsterte beschwichtigend. „Das hast du gut gemacht. Das war sehr tapfer.“
Der Junge wich schließlich dem Blick des Mannes aus und musterte ausweichend den großen Raum.
Die rotblonde Frau warf einen Blick zu Alida und Belinkov und erlaubte Hendrik dann sich im in allen möglichen unterschiedlichen Stilen eingerichteten Zimmer umzusehen.
Erleichtert sprang der Junge auf und begann den Raum zu erkunden. Anfangs noch vorsichtig und skeptisch fuhr er bald mit den zarten Fingern über bunte Seidenstoffe und dunkelblaues Brokat, zupfte ein paar Blüten und Blätter von einer orientalischen Pflanze, griff nach einem bereits aufgeschlagenen Buch mit farbenfrohen Zeichnungen aus der nordischen Mythologie und blieb schließlich andächtig vor den handgeschnitzten Holzfiguren des Schachbretts stehen. Marlene rief ihm vorsichtshalber hinterher. „Hendrik? Das ist nicht unser Spiel von zu Hause. Lass die Figuren bitte stehen.“
Der Junge drehte sich zu ihnen um und verzog die Lippen kurz enttäuscht zu einem Schmollmund. Dann ging er zurück zu dem Buch und ließ sich davor nieder. Alida hörte wie er die Seiten umblätterte.

Emilians war nachdenklich und seine Stimme leise als er weitersprach. „Er hat es selbst getan. Er hat eine Kainitin dabei beobachtet wie sie zwei Männer austrank und tötete. Das hat ihn so erschüttert, dass er seine Oberarme mit den Händen umfasst hat und gar nicht mitbekam wie er die Kräfte gewirkt hat.“
„Was?“ Marlenes Gesicht verriet Unverständnis und Fassungslosigkeit.
Emilian kaute kurz auf seiner Unterlippe, wartete ab bevor er weitersprach. „Hendrik ist ein Wiedergänger. Wir Tzimisce sind meist sehr stolz auf unsere Wiedergängerfamilien und nur in wenigen wird die Gabe des Fleischformens vererbt. Ich selbst entstamme einer solchen Familie aber es ist untypisch, dass ein Kind in so jungen Jahren schon in der Lage ist diese Fähigkeiten auszuüben. Wiedergänger verfügen über ihr eigenes schwaches kainitisches Blut, das sie stärkt und lange, lange leben lässt. Kein Wiedergänger muss je von einem Sterblichen trinken.“
Alida sah Marlene an, dass diese Erkenntnisse für sie in diesem Moment nur schwer zu verstehen waren. Emilian deutete zu einem unbestimmten Punkt vor der Tür. „Ich verfüge selbst über eine ausgezeichnete Wiedergängerfamilie aber leider besitzt kein einziges Mitglied die Fähigkeit zu verändern.“
Marlene sah zu dem Jungen, der sich über einen Vogel mit Heiligenschein zu wundern schien.

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Sie seufzte lang und ließ sich erschöpft im Sessel zurück sinken. „Nun ja: wenigstens kein Monster. Das ist ja schon mal was.“
Alida lachte auf. „Vor allem kein Monster im Vergleich zu denjenigen mit denen du sonst so die Nacht verbringst, Marlene.“
Die junge Frau grinste wissend zurück. „Da magst du Recht haben. Des Nachts sind aber mitunter viel interessantere Gestalten unterwegs als tagsüber. Das war mir schon als kleines Mädchen bewusst.“
Alida nickte. „Interessanter und gefährlicher.“

Man ging schließlich wieder zu den alltäglichen Kleinigkeiten über. Marlene berichtete von den letzten Ereignissen in Flandern, von den politischen Gerüchten um die Adeliges der Grafschaft und die jeweiligen Stadträte, erörterte kurz die derzeitige Lage der Stadt, erzählte von neuen Kainiten, die sich kurz oder auch länger in Brügge niedergelassen hatten.
Irgendwann begann die junge Frau über neue Handelswege in den Westen von Frankreich zu sprechen und zum ersten Mal fing auch der braunhaarige Tzimisce an sich an dem Gespräch zu beteiligen. Schließlich ließen sich die beiden Unholde und die junge Frau lang und breit über Handelswege und –beziehungen aus, besprachen Preisverfall und neue Märkte und den vor fünf Jahren neugegründeten Kontor in Genua:
Sie waren in ihrem Element.

Plötzlich sprang Marlene, sich rasch entschuldigend, auf und eilte hinter dem braunhaarigen Jungen her, der sich auf einen der gepolsterten Stühle gekniet hatte um besser an das Schachbrett heranzukommen.
Sie griff ihn unter den Armen und nahm ihn hoch. „Du? Ich hab doch gesagt: Das ist nicht unser Spiel. Da sollst du nicht einfach die Figuren verschieben.“
Hendrik sah entschuldigend und reumütig zu seiner Ziehmutter und dann zu den beiden Kainiten. „Ich hab nur eine Figur versetzt. Die weiße Dame. Schwarz ist jetzt Schach und in der nächsten Runde Schachmatt. Wegen dem…“ Das Wort fiel ihm ein wenig schwer. „…Zugzwang.“
Emilian erhob sich mit ungewohnter Geschwindigkeit und eilte zum Schachtisch. Ungläubig starrte er auf die Holzfiguren. Alida folgte ihm und sah über seine Schulter auf das Brett. Indem der fünfjährige Junge eine einzige Figur verrückt hatte, war das Spiel entschieden: In zwei Zügen hatte Weiß gewonnen.
Alida begann schallend zu lachen. Emilian nahm den schwarzen König vom Brett und hielt die weiße Dame daneben. Er musterte die beiden Spielfiguren. Sein Blick wanderte zu Marlene, die mit dem Kind auf dem Arm unschlüssig da stand, dann zu Alida.
Marlene presste etwas ratlos die Lippen aufeinander. Sie blickte Alida an und zuckte entschuldigend mit den Schultern. „Mögt ihr mich für ein paar Minuten entschuldigen? Wir werden nach Lucien und Jean sehen. Die beiden müssten schon längst hier sein.“
Alida nickte und die rotblonde Frau verließ rasch mit dem Jungen auf dem Arm das Zimmer.

Alida sah zu ihrem Erzeuger, der die weiße Dame zurück aufs Brett setzte. Er wandte sich zu ihr um und ein schmales Lächeln breitete sich auf seinen Zügen aus. Dann begann er zu lachen.
„Dann darf ich dir wohl hiermit zu einer gewonnen Winterladung Pelze und Salz gratulieren. Herzlichen Glückwunsch! Ich hätte nicht gedacht, dass deine weiße Fraktion gewinnt.“ Er grinste verschmitzt. „Für dich sollte man das Spiel neu gestalten, Alida. König und Dame brauchst du, die Türme deiner Stadt sind unersetzlich für dich, deine Bauern beziehungsweise Arbeiter sind genauso wichtig. Du brauchst die Pferde als Symbol für die Handelskarawanen. Aber für dich sollte man die Figuren des Läufers umändern in ‚Familie‘. Damit gelingt es auch dir das Spiel zu deinen Gunsten schließlich zu gewinnen.“
Er nahm ihre Hand, küsste ihren Handrücken und drückte ihr dann den schwarzen König in die Finger. „Der gehört dir.“

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Der Weg zum Ziel beginnt an dem Tag, an dem du die hundertprozentige Verantwortung für dein Tun übernimms.
Dante Alighieri


Zuletzt geändert von Alida am So 22. Nov 2015, 11:36, insgesamt 1-mal geändert.

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BeitragVerfasst: So 22. Nov 2015, 01:14 
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mehrere Stunden später:

Alida spürte das schwache Prickeln auf ihrer Haut. Der Morgen begann zu dämmern und in ungefähr einer Stunde würde die Sonne aufgehen. Es war eine lange Nacht geworden. Sie hatte das Wiedersehen mit den Brüggern genossen, die vertraute Sprache in den Ohren, die Gespräche über Wichtiges und Unwichtiges mit Leuten, die sie kannten und sie dennoch oder genau deshalb mochten: Luciens Gegrummel und seinen ernsthaften Stolz, den aufmerksamen Blick den Jean immer wieder in die Richtung von Hendrik und Marlene sowie ab und an auch zu Lucien warf, das helle Lachen ihrer rotblonden Nichte, die Kommentare über längst vergangene Geschichten, die andere Menschen nie verstehen konnten und die nur diesen kleinen Kreis zum Schmunzeln bringen konnten.
Emilian hatte versucht ein guter Gastgeber zu sein, aber sie hatte als Einzige bemerkt, wie schwer es ihm gefallen war.
Nun lag sie eng an ihn geschmiegt im breiten Bett in seinen eigenen Räumlichkeiten, die außer Girland fast niemand betreten durfte. Sie hatte sich wie jede Nacht entkleidet, war zu ihm unter eine dünne Decke gekrochen, hatte von ihm getrunken, so wie er von ihr. Selten war er so schweigsam gewesen.

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Alida spürte die Berührung seiner Finger am Rücken unter ihrer Haut als wäre diese nichts als ein Kleidungsstück, das man hochschieben und unter das man mit der Hand fahren konnte. Er glitt mit den Fingerspitzen über jede einzelne Rippe. Sie ließ ihn gewähren und drehte sich zu ihm um. Dann fuhr sie sich kurz mit der Zunge über die Lippen bevor sie sprach.
„Ich hatte einen sehr angenehmen Abend. Es war schön, meine Leute wieder zu sehen.“
Emilian sah sie mit den rotbraunen Jaspisaugen an und versuchte ein schwaches Lächeln, das ihm nicht recht gelang. Als er nichts erwiderte fuhr sie fort.
„Ich habe das Gefühl, dir ging es dabei anders.“
Er drehte sich auf den Rücken, verschränkte die Arme hinter seinem Kopf, sah zur Decke und wich ihrem Blick aus. „Das weißt du doch, Alida…“
Alida nickte unmerklich. „Ja, aber ich möchte, dass du es aussprichst.“
Er seufzte, wandte sich wieder zu ihr und fixierte sie. „Ich wusste immer, dass diese Nacht kommen würde, aber ich habe gehofft, dass es nicht so bald wäre. Du hast Lucien gehört, der immer wieder betont hat, dass es Zeit wird, dass du nach Brügge zurück kehrst, Marlene, die deiner Nichte Evelyn so ähnlich sieht, die davon berichtet, dass die Arbeit, die in Brügge erledigt werden muss, zwar gelingt, aber alle Beteiligten an ihre Grenzen treibt und dann der Junge… er wird jemanden brauchen, der für ihn da ist, jemand, der ihm erklärt zu was er eines Tages fähig sein wird. Zum Guten wie zum Schlechten, denn jede Macht die er erhält zahlt ein Wiedergänger mit einem hohen Preis. Und dazu ist keiner deiner Familie im Stande. Du wirst nach Brügge zurückkehren. Dahin wohin du gehörst… Und auch wenn ich dich gern daran hindern würde, es vielleicht sogar in meiner Macht stehen würde das zu tun, so kann ich es doch nicht.“ Er schwieg wieder.
Alida strich ihm vorsichtig über das kalte Gesicht. „Du gehörst auch nach Flandern. Von allen Orten an denen du je warst ist Brügge der einzige, den du Heimat nennst. Und Hendrik könnte deinen Rat bei weitem mehr gebrauchen als meinen, denn mein Wissen über Wiedergänger beruht nur auf dem, was du mir erzählt hast.“
Der braunhaarige Mann seufzte lang. „Alida? Ich kann nicht nach Brügge. Das wäre zu früh. Es würde möglicherweise zu viele Fragen aufwerfen. Und bedenke ein paar Gegebenheiten: Deine kainitischen Verbündeten wären mit einem recht linientreuen Unhold etwas überfordert, Georg würde mir wohl am liebsten einen Pflock ins Herz rammen und mich mit der nächsten Handelskarawane zurück nach Genua befördern lassen und deine Familie würde sich auch umschauen, wenn ich bei euch aus- und einginge. Alida? Du hast den Via consilium gewählt, ich den Via mercatoris. Du würdest mir nie verzeihen, wenn ich eines deiner Familienmitglieder so behandeln würde wie ich es gewohnt bin. Und ich mir dann auch nicht.“ Er lachte tonlos auf.
Alida schüttelte traurig den Kopf. „Du hast es damals auch gekonnt.“
Emilian sog tief die Luft ein. „Das ist 120 Jahre her. Ich habe mich verändert, du hast dich verändert. Die Welt um uns herum ist nicht mehr die gleiche. Ich hab einen Weg gefunden, der mir mein Überleben gesichert hat. Ich bin ein Tzimisce und viele unseres Clans vertreten die Meinung, dass man seinen Körper genauso wie seine Seele vernändern, anpassen muss. So lange bis man sich selbst gefunden hat." Emilian veränderte seine Gestalt um seine Worte zu unterstreichen. "Du hasst diese Kräfte nach wie vor.“

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Seine Stimme klang tiefer und leise als er weiter sprach. „Ich liebe dich, habe es getan seit ich dich zum ersten Mal gesehen habe als du dich damals mit dem trotzigem Stolz einer Frau aus dem Bürgertum gegen die adelige Obrigkeit gestellt hast um meinen Leuten zu helfen. …aber ich habe Angst, dass ich alles zerstöre wenn ich nach Flandern gehe.“
Sie küsste ihn auf die blassen Lippen. „Vielleicht ist es einfach an der Zeit, dass wir uns beide verändern.“
Emilian zog fragend die Augenbrauen zusammen. „Was meinst du?“
Alidas Antwort kam zögernd „Du lernst wieder wie es ist im Haus der van de Burse ein- und auszugehen und ich lerne wie es ist … nicht mehr an einen Körper gebunden zu sein.“
Emilian sah sie skeptisch an. „ Du hasst es. Über alle Maßen. Soviel ist mir mittlerweile bewusst.“
Alida sah ihn fest an. „Manche Dinge müssen sich ändern.“
Das fremde Gesicht ihres Erzeugers beugte sich zu ihr und küsste sie auf die Stirn. „Und du glaubst, du könntest es wollen?“ Noch während er sprach zerflossen seine Züge und seine Stimme wurde rauer. Uralte Augen sahen sie an. Der Schädel war kahl. Dann wechselte er in den Körper eines mittelalten Mauren, dann nahm seine Haut den dunklen Ton der Menschen von Konstantinopel an.
Schließlich blickte sie in eine seltsam veränderte Art ihres eigenen Spiegelbildes. Sie hörte ihre eigene Stimme in ihrem Ohr.
„… nicht mehr zu jeder Sekunde in diesem Körper. Könntest du das, meine Alida?“ Ihr Doppelgänger lachte.

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Irritiert biss Alida in die Hand ihres Erzeugers, mit der er sie festgehalten hatte. Ihre Stimme hatte einen wütenden Unterton. „Das ist mein Körper. Hör auf damit!“
Ihr Spiegelbild zuckte amüsiert mit den Schultern. „Es ist nur ein Körper. Wenn auch einer der mir sehr gut gefällt. Vor allem die Frau, die sich für gewöhnlich darin aufhält.“ Der Doppelgänger grinste verschmitzt.
Schließlich sprach er weiter. „... ein anderer Körper... vielleicht das hier?“ Das Lächeln verschwand aus dem Gesicht im gleichen Maße indem sich die Züge veränderten. Der Körper ihres Gegenübers veränderte sich erneut, nahm gigantische Formen an, fügte Muskeln zu unnatürlichen aber mächtigen Gebilden zusammen, verstärkte und verlängerte Knochen, ließ sie spitz zulaufen und zu gefährlichen Waffen werden.
Voller Entsetzen erstarrte Alida. Das grausame Lächeln kam ihr mehr als bekannt vor, die schwarzen Augen, die sie aus dunklen, tiefen Augenhöhlen anstarrten wie eine leichte Beute, die sehnigen, kräftigen krallenbewehrten Hände, die ein Schwert genauso tödlich schwangen wie sie zupacken und eine Kehle zerquetschen konnten, eine Freundin in zwei Teile hackten.
Volgar!
Das Gesicht, das ihr entgegenblickte war dem Albtraum des Brügger Krieges zum Verwechseln ähnlich. Aber Volgar war doch vernichtet!? Sie selbst hatte sich mit Leif endgültig darum gekümmert. Mit Bogen und Schwert. Oder etwa nicht?
Mit einem Satz sprang Alida aus dem Bett, riss die Decke vor sich. Sie wankte rückwärts bis sie mit dem Rücken an die Wand stieß.
Ihr Erzeuger bemerkte erst in diesem Moment, dass er zu weit gegangen war.
Sofort nahm er die vertrauten Züge von Belinkov an und setzte sich auf. „Alida? Es tut mir leid. Ich wusste nicht, dass es dich so verschrecken würde.“
Alida schluckte schwer und versuchte sich zusammen zu reißen. „Du sahst aus wie Volgar. Als er…“
Emilian nickte und streckte bittend die Hand nach ihr aus.
Mühsam ging Alida zurück zum Bett und legte sich zaudernd auf das Laken. Der braunhaarige Mann küsste sie behutsam auf die Lippen und fuhr ihr mit der Hand beruhigend über den Rücken. „Das ist die Kampfgestalt unseres Clans. Man mag behaupten, was man mag aber wir Tzimisce sind im Vergleich zu anderen Clans erbärmliche Kämpfer. Manch einer hat ein Gespür für Tiere, manch einer bemerkt etwas mehr als der andere. Und wieder ein anderer kann sein Gesicht wandeln. Im Kampf taugen diese Fähigkeiten nichts. Diese Gestalt jedoch macht einen zu einem ernstzunehmenden Gegner, mag vielleicht das einzige sein, das einen im Kampf vor der Vernichtung bewahrt…“
Alida versuchte die Furcht, die bei den Erinnerungen an den Krieg um Brügge und den Schlachter aus den Reihen der Unholde in ihr aufgekommen war hinunter zu schlucken, doch es gelang ihr nur schwerlich.
Ihr Gegenüber versuchte ein schwaches Lächeln. „Und es ist schon um einiges beeindruckender als die Wahrheit, oder?“
„Was meinst du?“
Emilian kaute zögernd auf seiner Unterlippe, dann schmolz der Körper von Belinkov dahin und hinterließ die kindliche Gestalt, die ihr so vertraut war. Emilian setzte sich mit dem Rücken zur Wand und sah sie lange schweigend an.

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Die Stimme war die gleiche, die sie schon im vorletzten Jahrhundert vernommen hatte. „Eindrucksvoller und vor allem effizienter als dieser Körper.“
Alida griff nach seinen Händen. „Ich habe dich immer so gemocht.“
Das Lächeln mit dem er sie anblickte hatte nichts Kindliches an sich. „Ja, so wie du einen Knaben wie Hendrik gern hast.“
Sie nickte. „Ja, ich hab ziemlich lange gebraucht bis ich begriffen habe, dass du um einiges mehr als ein hilfsbedürftiges Kind warst. Sieh es mir bitte nach. Ich musste damals selbst so viel Unbegreifliches lernen… Ich habe nur das gesehen, was vor meinen Augen lag und nicht das dahinter.“ Sie lehnte sich zurück auf die Matratze und legte ihren Kopf in seinen Schoß. Emilian fuhr mit seinen Fingern über ihre Wangen, die Augenbrauen, die Stirn, durch ihre blonden Haare und begann gedankenverloren mit einer Strähne zu spielen.
„Ich möchte, dass du lernst wie man die Zulu Gestalt anwendet. Sie ist der sicherste Schutz für dich sollte es irgendwann im Kampf einmal tatsächlich um Unleben oder Vernichtung gehen. Diese Fähigkeit mag dann die Entscheidung treffen.“
Sie schloss ungläubig die Augen. „Du willst also, dass ausgerechnet ich mich in eine Variante von Volgar verwandle? Welch wunderbare Vorstellung.“
Sie spürte die Berührung des kindlichen Munds auf ihren Lippen. „Wenn dich das vor der Vernichtung bewahrt ist mir alles recht, Alida.“
Ihre Antwort kam prompt. „Und wenn du mit mir zurück nach Flandern kommst ist mir alles recht. Die Nächte im Norden ohne dich wären sehr einsam.“
Emilian lachte leise. „So wie die Nächte im Süden ohne dich. Vielleicht versuch ich’s zunächst mal in Gent. Das ist nicht weit entfernt von Brügge und die Stadt soll recht vielversprechend für uns Händler sein.“
Mehrere Minuten schwieg er, hing seinen Gedanken nach. Alida spürte wie die bleierne Müdigkeit, die jeder Sonnenaufgang mit sich brachte, langsam von ihr Besitz ergreifen wollte. Dann vernahm sie erneut die Stimme des Jungen. „Alida? Morgen empfängt Sergej Belinkov zwei Abgesandte eines bedeutenden Tzimisce Fürsten, Vladimir Rustovich.“ Sie konnte sein Seufzen mehr spüren als dass sie es hörte. „Er sucht nach Verbündeten gegen einfallende Ventrue aus dem Lehen des schwarzen Kreuzes und rivalisierende Tzimisce und Belinkov gewährt ihm hin und wieder in gewissem Rahmen Unterstützung.“ Er lachte kurz auf. „Vielleicht kann ich eines Tages den ein oder anderen Gefallen bei ihm einfordern. Wer weiß…?“ Wieder ließ er einige Zeit verstreichen. „Alida…? Rustovich ist einer der bedeutendsten Männer des Ostens. Ich möchte, dass du morgen mit mir bei dem Empfang dabei bist. An meiner Seite… Ich bin mir sicher, dass die Abgesandten einen entsprechenden Bericht abliefern werden. Ich denke, das kann sich durchaus positiv auswirken. Glaubst du, du schaffst das?“
Alida schluckte. „Abgesandte von Rustovich? Das war doch einer von denjenigen, der deinen Vater durch fünf verschiedene Länder gejagt hat?“
„Ja, von dem spreche ich. Aber Alida? Mein Vater ist seit über hundert Jahren tot und daran hatte Rustovich keinen Anteil. Er ist viel zu sehr in den Kämpfen um seine Heimat eingebunden als dass er sich derzeit irgendwelche anderen Scharmützel leisten könnte. Ventrue, gesetzlose Gangrel, Tremere und ihre Gargylen, Werwölfe und andere Unholde setzen ihm zu und er braucht jede Unterstützung, die er bekommen kann. Es heißt er verfolgt eisern jeden Feind, aber er vergisst nie einen Freund. Wir werden sehen…“
Alida nickte zuerst zögernd, dann bestimmter. „Ja, ich bin morgen dabei. Ich gönne mir einen eindrucksvollen Auftritt mit unnatürlichen tizianroten Locken, ewig langen Beinen und blutroten Augen.“
Der Junge begann zu lachen. „Alida? Du beginnst zu verstehen…“
Er legte seine Finger auf ihren Hals, fuhr die Mulde über ihrem Schlüsselbein nach. „Egal wo oder wann wir sind, Alida, unsere Vergangenheit holt uns immer wieder ein. Wenn du willst verfolgt sie uns: in Form deiner Familie und deiner Freunde, in Form von solch schicksalshaften Audienzen. Ich hoffe für dich und mich, dass irgendjemand da oben im Himmel oder wo auch immer er sitzen mag, einen guten Plan hat und das Schicksal uns gewogen sein wird.“
Alida zog das kindliche Gesicht zu sich herunter und küsste ihn auf die Lippen. „Und wenn nicht? Dann hast du sicher noch irgendwo einen Plan parat.“
Emilian lächelte. „Ich gebe mir Mühe.“

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 Betreff des Beitrags: Re: Familienangelegenheiten
BeitragVerfasst: So 23. Okt 2016, 17:19 
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Brügge September 1223

Alida war wieder zu Hause. Viele Monate hatte die Reise vom Osten zurück in den Westen von Europa gedauert und der Sommer hielt die flachen Landstriche Flanderns fest in seinem Griff. Welch Kontrast zu den eisigen Höhen der karpatischen Gebirgszüge. Noch immer fröstelte sie innerlich, wenn sie sich an die vergangenen Erlebnisse erinnerte.
Frederik hatte die Fenster weit geöffnet und die warme Luft strömte in die Mitte des Esszimmers.

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Draußen plätscherte das Wasser der Kanäle wie es seit Jahrhunderten geschah, Pferde wieherten in ihren Ställen, ein paar Besoffene grölten laute Sauflieder bis irgendwo Fensterläden geöffnet wurden und eine ebenso erboste Stimme zu keifen begann. Ton schepperte, zerbrach auf den Pflastersteinen und im selben Moment wurde es wieder still. Offensichtlich hatte jemand seinen Nachttopf nach den Ruhestörern geschmissen.
Alida atmete tief ein und versuchte sich wieder auf die Worte ihres Neffen zu konzentrieren. Frederik versuchte einen möglichst komprimierten Zusammenblick über die Ereignisse der letzten Monate abzuliefern, über die Entschlüsse des kleinen und großen Rates, die politischen Belange Flanderns und der umliegenden Königreiche und die Begebenheiten innerhalb der Familie.

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Alida machte schließlich eine abwehrende Handbewegung. „Wir sollten uns den Rest für morgen aufheben. Ich bin zu erschöpft und nicht in der Lage mir noch einen Ratsbeschluss oder eine Hochzeit oder was auch immer zu merken.“
Frederik zog fragend eine Augenbraue in die Höhe, doch Marlene, die es sich auf einem der Stühle bequem gemacht hatte, lachte nur auf. Sie strich ihrer kleinen Tochter, die auf ihrem Schoß saß, über die Locken und grinste breit. „Wunder‘ dich nicht, Frederik, Alida wird halt einfach alt. Sie lässt nach. Vor fünf Jahren hätte sie dich mittlerweile schon mit zig Fragen gelöchert und ständig nachgeharkt. Sei froh. So hast du wenigstens kurz deine Ruhe…“
Alida grinste zurück. „Wartet nur bis morgen. Dann schauen wir mal wie weit es mit der Ruhe bestellt ist.“ Marlene ließ die kleine Florine, die in ihren Armen zu quengeln begann, hinunter. Das Mädchen sah Alida mit großen skeptischen Augen an, umarmte ihre Puppe noch fester und stapfte dann zu Marlene zurück.

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Alida war fast ein halbes Jahr fortgewesen und das Kind war gewachsen und erkannte sie schon nicht mehr. In solchen Momenten wurde ihr doch ein ums andere Mal bewusst wie schnell die Zeit eigentlich voranschritt.
Frederik ergriff erneut das Wort. „Berta hat nach Georg und Konstantin schicken lassen. Ich bin mir sicher, die beiden werden sich freuen zu hören, dass du wieder da bist und noch alle Körperteile dran sind.“
Alida lächelte. „Wo sind die beiden eigentlich?“
Frederik sah nachdenklich drein bevor er schließlich antwortete. „Ich bin mir sicher, sie sitzen wieder zusammen, grübeln und machen sich Gedanken darüber wie man eine Kanalisation so umbaut, dass sie die Abwässer schneller nach draußen fördert, wie man Gebäude billiger und dennoch sicher errichten kann, wie man ein Viertel kreiert, in dem sich Seuchen weniger schnell ausbreiten können. Konstantin ist derjenige mit den verrückten Ideen und es gelingt ihm unseren guten Verwalter damit von der Arbeit abzuhalten.“ Er grinste.
Alida zuckte mit den Schultern. „So haben beide eine sinnvolle Beschäftigung. Was ist mit Hendrik?“ Ihr Blick wanderte zu Marlene. „Ich kann mir kaum vorstellen, dass der Junge mittlerweile dazu übergegangen ist zeitig ins Bett zu gehen.“
Marlene lachte. „Eher trocknen die Kanäle in Brügge aus… Ich schätz mal, er dürfte bei den Ställen sein.“ Sie griff nach einem Becher Wein und nahm einen Schluck. „Vor ungefähr einem Monat kam eine Ladung von dem norwegischen Händler, Jorgen Kormak aus Kristiansand. Als besonderes Geschenk hat er ein Fohlen aus seinem Gestüt für dich mitgeschickt.“
Frederik lachte verhalten. „Ja, mit dem kleinen Hinweis, dass es Zeit wird, die Handelsbeziehungen wieder etwas zu vertiefen. Soll heißen: ‚Ihr habt euch lang nicht gemeldet. Ändert das, oder ich such mir neue Handelspartner‘. Als Gegengeschenk hab ich vier Rollen flandrisches Tuch und zwölf Ellen Seide nach Skandinavien gesandt. Mit einer Liste von Waren an denen wir besonderes Interesse haben. Ich bin mal gespannt, was davon er wohl liefern kann. Das Tier sieht recht brauchbar aus. Ich schätze mal, es ist eines von den ausdauernden Pferden für die Feldarbeit.“
Marlene sah zu Alida. „Hendrik ist wirklich angetan von dem Fohlen, wollte es schon Ajax Zwei taufen.“
Alida begann zu lachen. „Na, dann geh ich vielleicht mal nach Hendrik und dem Pferd schauen. Ich bin gleich wieder da.“ Sie nickte den anderen zu.
Florine begann sofort zu protestieren. „Will auch mit zu Henri und zum Pferdi.“
Marlene schüttelte den Kopf. „Da gehen wir morgen wieder hin. Du darfst jetzt ins Bett.“
Erneut begann das Mädchen zu quengeln, aber Alida schenkte den beiden Erwachsenen nur ein breites Grinsen und machte sich auf den Weg in Richtung Stallungen. Es war so schön wieder diesen alltäglichen Kleinkram genießen zu können. Kleine Probleme mit mehr oder weniger einfachen Lösungen.

Sie verließ das Haupthaus und schritt über den ausladenden Vorhof des Anwesens. Sie öffnete das breite Scheunentor und schlüpfte ins Innere des Stalls. Der Geruch von trockenem Stroh, Pferdedung, Hafer und Lehmboden stieg ihr in die Nase und sie hörte das leise Schnauben einiger Tiere. Dennoch spürte sie fast auf Anhieb, dass sich Hendrik nicht hier aufhielt. Sie ging den Hauptgang entlang und öffnete die Tür in den Gartenbereich, der zu der kleinen Koppel führte. Sie lehnte sich gegen die Holzblanken und spähte über den abgezäunten Bereich, ließ den Blick über die ruhenden Pferde und die Umgebung wandern. Dann fiel ihr eine Bewegung am Rand der Koppel auf und sie konzentrierte sich. Erst war in der nächtlichen Schwärze nichts auszumachen, dann schälte sich der Umriss eines kleinen Jungen hervor: Hendrik. Der Knabe war auf einen der niedrigen Obstbäume geklettert und warf ab und an einen Apfel zu einem hellbraunen Fohlen hinab. Alida konnte seine leisen Worte hören mit denen er auf das Tier einredete. „Jetzt gibt’s aber nur noch einen für dich. Wenn man zu viele isst bekommt man Bauchweh. Das ist bei euch Pferden bestimmt auch so…“
Alida war nähergetreten und sah nach oben. „Hallo, Hendrik.“
„Alida?“ Der Knabe grinste von einem Ohr zum anderen und hangelte sich mit einer für die Dunkelheit ungeheuerlichen Geschwindigkeit wieder nach unten.

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Erleichtert sah er sie an. „Ich wusste, dass du wieder kommen würdest!“ Er kam mit einem Sprung auf der lehmigen Erde auf, zögerte nur eine Sekunde, dann drückte er sie fest an sich. Alida hielt für einen Moment verwundert inne, dann strich sie Hendrik über die dunkelblonden Haare. Sie kannte und mochte den Jungen seit langem, aber Hendrik war von Natur her eher reserviert und skeptisch und Freude zeigte er für gewöhnlich durch ein zögerliches Lächeln und nicht durch eine heftige Umarmung.
Er sah strahlend zu ihr hoch. „Weißt du, alle haben ganz schön viel getuschelt. Und alle hatten viel Angst um dich. Weil du ja nicht wirklich gesagt hast, wo du hin bist.“
Der Junge löste sich aus der Umarmung und streckte dem Fohlen einen Apfel entgegen, den es, sich vorsichtig nähernd, langsam fraß.
Alida drückte die Lippen aneinander. „Es tut mir leid, Hendrik. Ich wollte nicht, dass sich irgendjemand Sorgen macht.“
Hendrik schüttelte nur den Kopf und grinste. Alida zog einen länglichen Gegenstand aus ihrer Tasche und reichte ihn an den Jungen weiter. „Das hab ich dir mitgebracht.“ Er zog das dünne Tuch zur Seite und erblickte ein Schiff, das in einer Glasflasche zu schwimmen schien.

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Fasziniert beobachtete er die hölzerne Konstruktion. „Das ist toll. Wie macht man so was? Da muss man ganz schön lange dünne Finger für haben, oder?“ Alida schmunzelte. „Kann schon sein. Manche Leute haben sehr lange Finger.“
Hendrik fuhr über die glatte Fläche der Flasche, sah sie dann lang an bevor er leise sprach: „Du hast Meister Belinkov geholfen, oder?“
Alidas Stirn legte sich fragend in Falten. „Wie kommst du darauf?“
Hendrik zuckte mit den Schultern. „Na ja. Du warst zuerst bevor du aufgebrochen bist in Gent und da wohnt Meister Belinkov. Das hat mir seine Dienerin, Anja, erzählt. Und davor warst du in Italien bei ihm.“ Er schwieg einen Moment überlegend. „Du hast ihn lieb, oder? Auch wenn ihr nicht vor Gott verheiratet seid.“
Alida schloss langsam wieder den vor Staunen geöffneten Mund. „Kannst du ein Geheimnis bewahren, Hendrik?“ Der Junge nickte und sie antwortete nach einem Zögern. „Ja, das tue ich. Und du hast recht. Ich war weit, weit weg im Osten um ihn zu suchen.“
Wieder huschte ein Strahlen über sein Gesicht. „Das ist gut.“ Er fuhr dem Pferdchen mit den Fingern durch die dunkle Mähne. „Wenn du das nächste Mal nach Gent reitest, nimmst du mich dann mit?“
Wieder verharrte Alida kurz und musterte den Jungen fragend. „Warum möchtest du das denn? Immerhin dauert die Reise recht lang.“
Hendrik mied verlegen ihren Blick und kaute auf seiner Unterlippe. „Na ja, er ist ein netter Mann… er hat mir damals als ich noch klein war geholfen… Er kann Dinge, die sonst kein anderer, den ich kenne, vermag.“
Alida nickte langsam. Vielleicht war es gut, wenn Emilian dem Jungen beibrachte seine eigenen Kräfte besser unter Kontrolle zu bekommen. Aber ein Gespür sagte ihr, dass es eigentlich einen anderen Grund gab, warum Hendrik mit wollte. „Gibt es noch…“
Ihre Frage wurde plötzlich durch einen lauten Freudenruf unterbrochen.
„Alida! Du bist wieder da.“ Georg kam mit weiten Schritten auf sie zu und schloss sie fest in die Arme. Hinter ihm, das konnte sie erkennen, trat ein junger Mann von wahrscheinlich fünfzehn Jahren heran, der breit grinste: Konstantin. Ein kurzer Blick ging zu Hendrik, der steif die Begrüßung beobachtet und sie erkannte einen Schatten auf den kindlichen Zügen. Konstantin trat näher heran, knuffte den Jungen auf die Schulter und verwuschelte ihm dann das Haar. „Na, Kleiner?“
Hendrik wehrte den Größeren ab. „Ich bin nicht klein.“
Konstantin zwinkerte ihm zu. „Nein, bist du nicht. Aber kleiner als ich.“ Dann trat der junge Mann zu Alida und klopfte ihr freundlich auf die Schulter. „Gut, dass du wieder da bist.“
Georg sah zur Koppel und zu dem Fohlen. „Den Neuzugang aus Norwegen hast du offensichtlich schon kennengelernt. Scheint ein vielversprechendes Tier abzugeben.“
Hendrik strich dem Tierchen über die Nüstern. „Es mag Äpfel.“
Georg seufzte. „Jedes Pferd mag Äpfel, Hendrik. Was machst du überhaupt schon wieder hier draußen? Um die Uhrzeit gehören Jungen wie du ins Bett. Das weißt du doch.“
Hendrik sah den hochgewachsenen Mann nicht an, sondern grummelte nur leise wie zu sich selbst. „Ich habe auf Alida gewartet.“
Georg schüttelte den Kopf. „Henrik? Wenn du die ganze Nacht über wach bleibst, bist du in der Früh noch müde. Euer Hauslehrer findet es alles andere als erbaulich, wenn du in jeder seiner Unterrichtsstunden einschläfst.“

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Hendrik protestierte mit einer plötzlichen Heftigkeit. „Der Lehrer erzählt uns keine wichtigen Dinge, sondern nur Gebete an die Heiligen für dieses und jenes. Letztens wollte er uns einen Psalm lehren, mit dem das Einschlafen erleichtert werden soll. Ich hab‘ zu ihm gesagt, dass Lindenblüten dazu gut geeignet sind und er hat mich nur ausgelacht. Und alle anderen Schüler haben mitgelacht. Über mich. Der Mann hat einfach keine Ahnung. Er meint, alles, was Andersgläubige sich ausdenken ist falsch, dabei nutzt er selbst ein geschliffenes maurisches Glas, wenn er etwas vorlesen will. Er hat noch nie was davon gehört, dass man mit einem Zehnersystem statt den römischen Ziffern rechnen kann und als ich ihn letztens gefragt habe, wie das funktioniert hat er mich einhundert Ave Marias Beten lassen. Er ist einfach nur dumm.“
Georg ging auf die Knie und sah Hendrik fest an. Er sprach mit ihm wie mit einem kleinen Kind. „Hendrik? Euer Lehrer ist ein gebildeter, studierter Mann und er kostet die Familie einen ordentlichen Batzen Geld. Es mag gut sein zu wissen, dass Lindenblüten beim Schlafen helfen, oder es Rechensysteme gibt, die einem die Geschäfte erleichtern mögen, aber du darfst nicht vergessen, dass euer Lehrer euch das beibringt, was jeder wissen muss… Allgemeinbildung. Damit du bei anderen Christen nicht als ungebildet giltst“
Hendrik ballte die Fäuste. „Wenn’s aber doch falsch ist?!“
Georg schloss genervt die Augen. Alida wurde klar, dass er solche Diskussionen wahrscheinlich schon häufiger hatte führen müssen.
Konstantin sprang in die Presche. „Geht ihr ruhig schon zurück ins Haus. Ich kümmer‘ mich um Hendrik.“ Der Knabe warf ihm einen bitterbösen Blick zu, presste aber fest die Lippen aufeinander und schwieg.
Alida sah den kleinen Jungen noch ein mal an und beschloss im Stillen, sich den Lehrer morgen näher anzuschauen. Sie wollte ihm etwas Aufmunterndes sagen. „Das nächste Mal nehm ich dich mit nach Gent, versprochen.“



Hendrik wartete bis die blonde Frau mit dem Gutsverwalter ins Haupthaus verschwunden war, dann trat er voller Wucht gegen den Pfosten der Koppel, so dass das Holz knarrte. Das Fohlen stob ängstlich in hohem Bogen auf und davon. Wieder trat der Junge wütend nach der Umzäunung.
Konstantin beobachtete ihn, lehnte sich dann gespielt lässig an den danebenstehenden Balken, begutachtete seine Fingernägel und meinte beiläufig: „Sag Bescheid, wenn du fertig bist, ja?“
Hendrik funkelte ihn wütend an. „Das ist sowas von ungerecht. Der Lehrer ist ein einfältiger Idiot und Georg behandelt mich dafür wie ein kleines, dummes Kind.“ Wieder folgte ein Tritt.
Der junge Mann schwang seine Beine ins Innere der Koppel und nahm auf der Umzäunung Platz. „Ich schätze mal, noch ein paar Tritte und der Pfosten ist hin. Vielleicht kracht dann das ganze Gerüst zusammen, ich flieg auf die Nase und die Pferde bekommen endlich mal richtigen Auslauf. Ich glaub, der Salat und die Erdbeeren werden ihnen besonders schmecken. Was denkst du? Vielleicht der Rhabarber?“ Er grinste herausfordernd.

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Hendrik boxte ihn auf die Schulter, konnte sich jedoch ein Lachen nicht verkneifen. „Du bist genauso doof. Nur damit du’s weißt.“ Dann setzte er sich neben den Älteren.
Konstantin antworte mit einem Schulterzucken. „Versuch mal, dich selbst nicht so ernst zu nehmen. Ist vielleicht besser für die Gesundheit.“ Er deutete zu Hendriks Fuß.
„Schau mal, das hat mir Alida mitgebracht.“ Der Junge zog die Flasche aus seiner Jackentasche hervor und überreichte sie Konstantin, der sie in den Händen drehte und anerkennend nickte. „Das ist eine hervorragende Arbeit. Das Schiff ist wunderbar… fast wie echt.“
Hendrik nahm das Geschenk zurück. „Ich frag mich wie das Schiff da rein gekommen ist.“
Nach kurzem Nachdenken folgte die Antwort. „Lange Finger, eine ganz besonders gewiefte Konstruktion oder Magie…?“
Hendrik verzog die Lippen zu einem Strich. „Der blöde Lehrer meint, Magie wäre etwas für böse Hexen und Teufel, Ausgeburten der Hölle… Ich glaub, er hat einfach keine Ahnung.“
Konstantin pflückte einen Apfel von den niedrig hängenden Zweigen des Baumes und rollte ihn in die Richtung des noch immer verängstigten Pferdchens, das vorsichtig näher schritt und an der Frucht schnupperte. „Manche Leute haben Angst vor den Dingen, die sie nicht verstehen. Hältst du mich für böse?“
Hendrik schüttelte heftig mit dem Kopf und antwortete prompt. „Natürlich nicht. Du bist einer der nettesten Leute, die ich kenne.“
Konstantins Lippen verzogen sich zu einem nachdenklichen Lächeln, dann rieb er sacht die Fingerspitzen aneinander. Funken stoben auf, die die Form eines Drachens annahmen und sein Gesicht erhellten. Im selben Augenblick war die Zauberei bereits wieder verschwunden.
„Erzähl’s keinem weiter!“
Hendrik sah mit großen Augen nach den Funken und streckte die Finger danach aus. „Das ist wunderschön. Sowas kannst du?“ Konstantin zuckte nur etwas verlegen mit den Schultern. Der Junge sah mehrere Minuten schweigend in die Schwärze der Nacht bevor er wieder weiter sprach. „Ich kann solche Dinge nicht. Das, was ich kann ist böse und ich hab verboten bekommen es wieder zu tun.“ Der junge Mann aus Byzanz sah ihn kritisch an und zog eine Augenbraue in die Höhe.
Einen Moment kaute Hendrik zögernd auf der Unterlippe, dann griff er mit den Fingern der Rechten zu seinem linken Handrücken und drehte die Haut zu einem Wirbel, der in exakt dieser Position stehen blieb. Danach hielt er seinem Freund die Hand hin und sah ihn ängstlich und zurückhaltend an. So als erwarte er, dass der andere sich jeden Moment abwenden und fortgehen würde.

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„Ich kann Haut und Fleisch in alle möglichen Richtungen verschieben. Aber man hat mir gesagt, dass ich zu jung für solche Kräfte bin und sie nicht kontrollieren kann. Ich war noch sehr klein, als ich es zum ersten Mal getan habe und ich war nicht in der Lage es rückgängig zu machen…“ Er zog seine Finger zurück und fuhr mit der Handfläche über den Kreisel, der wieder verschwand und weiche, glatte Haut zurückließ. Wieder zögerte Hendrik einen Moment. „Ich glaube, ich kann das von meinen Eltern.“
Konstantin sah ihn fragend an. „Ich dachte immer, keiner wüsste, wer deine Eltern sind?“
Der Junge schüttelte den hellbraunen Schopf. „Sie wissen es, glaub ich, schon, aber keiner will es mir sagen. Ich denke, Alida ist meine Mutter.“
Konstantin drehte sich zu ihm. „Alida?“
Hendrik nickte. „Ja. Sie kann das mit dem Formen ebenso wie ich. Sie und Meister Belinkov haben mich damals wieder ‚gesund‘ gemacht. Alida ist um den Zeitpunkt meiner Geburt verschwunden und hat danach fünf Jahre in Genua bei Meister Belinkov gelebt. Das weiß ich, weil ich damals dort war. Ich glaube, meine Eltern haben sich nie zu mir bekannt, weil sie nicht verheiratet sind und das als Schande gilt.“
Konstantins Stirn legte sich in Falten. „Ich kenne Alida und hätte sie nicht für jemanden gehalten, der zu viel Wert auf die Meinung der Leute gibt. Ich denke, sie würde zu dir stehen, wenn sie in einer solchen Lage wäre.“
Der achtjährige Junge rieb nervös die Finger aneinander und Konstantin konnte sehen, wie sich die Haut kurzzeitig miteinander verband und dann wieder löste. „Ich habe vor ein paar Wochen ein Gespräch zwischen Georg und Frederik belauscht. Sie waren sauer darüber, weil ich nicht nachts im Bett liegen will und irgendwann meinte Frederik nur. ‚Georg, ich denke, wir werden da nicht viel ändern. Alidas Blut fließt durch seine Adern.‘ Georg hat ihn fast wütend angeschaut und geantwortet: ‚Ja, und damit auch das Blut eines anderen Fleischformers.‘“ Hendrik schwieg.
„Dann glaubst du, Meister Belinkov ist dein Vater?“
Hendrik nickte. „Ich weiß nicht, warum die beiden nicht verheiratet sind und sie mich nicht wollten aber ich glaub, dass es so ist.“ Hendrik hob den Kopf und reckte das Kinn nach vorne. „Aber ich finde es heraus. Weißt du, wenn ich ihr Kind bin dann müssen sie mich doch mögen, oder? Haben deine Eltern dich geliebt?“
Konstantin nickte zögernd. Seine Stimme war leise und eindringlich als er weitersprach. „Entscheidend ist eines: Wer DU bist! Dass du das weißt. Du hast hier Leute, die dich lieben, ein Zuhause. Es gibt so viele Menschen da draußen, die all das nicht haben.“
Der Knabe biss die Lippen aufeinander. „Du hast recht, aber das macht’s nicht einfacher.“
Der Ältere nickte und seufzte.
Hendrik sah entschlossen zum Haus hinüber und sein Gesicht nahm einen eisern entschlossenen Ausdruck an. „Weißt du was? Ich bekomm sie bestimmt dazu, dass sie mich mögen. Sein Kind muss man doch lieb haben, oder?“
Konstantin sah mit melancholischem Schweigen wie Hendrik, sich selbst durch heftiges Nicken bekräftigte und zurück zum Anwesen und damit zu seiner Familie ging. Was sollte man schon sagen, wollte man den Jungen nicht enttäuschen?

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Der Weg zum Ziel beginnt an dem Tag, an dem du die hundertprozentige Verantwortung für dein Tun übernimms.
Dante Alighieri


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 Betreff des Beitrags: Re: Familienangelegenheiten
BeitragVerfasst: Sa 29. Okt 2016, 14:58 
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Hendrik drehte erneut seine Runde. Er hatte längst aufgehört zu zählen wie oft er in dem von vier hohen Mauern eingefassten Hof von Norden nach Süden und von Westen nach Osten geschritten war. Fast konnte er sich einbilden, dass man bereits seine Spur im Staub erkennen konnte, wenn man nur konzentriert genug hinsah. Er spürte, dass Wut in ihm aufstieg und es fiel ihm schwer sie zu unterdrücken.

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So hatte er sich den Aufenthalt in der Kaiserstadt Aachen nicht vorgestellt.
Alida und Meister Belinkov waren Nacht für Nacht in der Pfalz bei irgendwelchen diplomatischen Verhandlungen zugegen, Lucien hatte einen wichtigen Auftrag annehmen müssen und sich auf die Suche nach dem Sohn des Kaisers gemacht und die Frau, die ihm eigentlich Gesellschaft leisten sollte, Anja, vertrat wie die meisten Erwachsenen die Ansicht, dass Jungen in seinem Alter nach neun Uhr gefälligst im Bett zu liegen hatten. Vor allem, da sie wichtigeres zu tun hatte als ihn auf seine nächtlichen Streifzüge zu begleiten.
Er trat heftig gegen einen halbvoll mit Fallobst gefüllten Eimer, der ihm im Weg stand, und verfluchte sich selbst dafür, dass er Lucien das Versprechen gegeben hatte, hier im Anwesen dieses russischen Händlers sitzen zu bleiben. Da draußen war die Stadt, alt und mächtig, Musik, Menschen, Gerüche, Gebell, hohe Mauern, dumpfes und helles Glockengeläut, altehrwürdige Paläste aus Zeiten, die längst vergessen waren. Er wollte hinaus…
Wieder setzte er wie ein Raubtier im Käfig zu einer neuen Runde an.

Erst das laute Zuschlagen einer Tür ungefähr eine Stunde später ließ ihn inne halten. Er spitzte die Ohren. Vielleicht war Alida wieder da? Oft benutzte sie einen Hinterausgang um unbemerkt zu bleiben, wie sie ihm erklärt hatte. Erwartungsvoll drehte er sich zum Hauptgebäude und stapfte der großen Tür entgegen. So leise er konnte, und er wusste, er war ganz gut darin, schob er sich durch die Tür und ging zu den Zimmern, die man Alida und Belinkov zugeteilt hatte. Von drinnen hörte er Stimmen, aber die Menschen sprachen so leise, dass selbst Hendrik nichts Genaues verstehen konnte. Dann glaubte er jedoch den Namen ‚Alida‘ gehört zu haben und schob die Tür ohne weiteres Zögern auf. Mitten in der Bewegung hielt er wie erstarrt inne.
In dem großen, ausladenden Raum, der mit dunklen, hart wirkenden Möbeln bestückt war, erkannte er Meister Belinkov. Der braunhaarige Mann hatte sein Handgelenk entblößt und hielt dessen verwundete Innenseite nach unten. Ein rotes Rinnsal sammelte sich und floss langsam und kontinuierlich in einen metallenen Becher, den er darunter hielt. Ihm gegenüber stand sein Hausvorsteher, Girland, den er oft Major Domus nannte, was auch immer das bedeuten mochte, und erstattete ihm in knappen Worten Bericht.
Die Stimme des Verwalters war ein tiefer, rauer Bass. „Das ist leider alles, was wir zum derzeitigen Zeitpunkt herausfinden konnten, aber ich erwarte noch die Berichte von drei weiteren Quellen bis morgen Nacht und ich gehe stark davon aus, dass sie ergiebiger sind als die bisherigen…“
Der, den er bisher immer nur Meister Belinkov genannt hatte, der aber, so wusste er ja mittlerweile, eigentlich Emilian hieß, nickte und sah irgendwie bedrückt aus. Seine Stimme war etwas höher als der tiefe Bass und klang kontrolliert über das stetige Tropfen des Blutes hinweg „Ja, Girland, das hoffe ich auch. Die ganze Sache will mir überhaupt nicht gefallen. Diese Risiken mögen unter den gegebenen Umständen überschaubar sein, aber ich habe ein ungutes Gefühl bei all dem.“
Girlands Blick ging in diesem Moment ebenso wie der seines Herren zu dem kleinen Jungen, der im Türrahmen stand und mit großen Augen das Treiben der beiden Männer betrachtete.

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Wütend verengten sich Girlands Augen wie die eines Vaters, der gerade seinen Sohn beim Klauen erwischt hatte und er kam mit breiten Schritten auf ihn zumarschiert.
Hendrik konnte sehen wie der breitschultrige Mann die Hände zu Fäusten ballte. Die Bestrafung für das unüberlegte Eindringen würde folgen. Der Junge musste schwer schlucken. „Ich wollte nur nachsehen, ob Alida schon da ist. Es tut mir leid…“

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Eine kaum merkliche Geste mit der Hand ließen Girland innehalten. Fragend sah der Major domus zu dem Händler zurück.
Ein winziges Kopfschütteln begleitete dessen Worte. „Es ist gut, Girland. Danke. Lass uns einen Augenblick allein.“
Der Ältere verharrte einen Moment. „Herr.“ Dann verbeugte er sich knapp, trat an Hendrik vorbei, der ihm mit ängstlichem Blick hinterher sah, und schloss die Tür wieder hinter sich.

Der braunhaarige Mann sah Hendrik nachdenklich und abwartend an.
Der Junge trat nervös von einem Bein aufs andere, hob dann vorsichtig die Augen. „Ich… ich habe Alida gesucht.“
„Alida ist noch nicht hier. Sie hat eine wichtige Unterredung in der Pfalz. Ich hoffe, dass sie bis zum Ende der Nacht wieder hier bei uns sein wird.“
Hendrik nickte heftig. „Ja, das wäre gut.“ Unschlüssig, was er sagen sollte, verharrte er einen Moment, kaute hilflos auf seiner Unterlippe. Er musste doch etwas sagen! Er hatte Meister Belinkov noch nie allein gegenüber gestanden und doch schon so lange darauf gewartet und sich schon so oft ausgemalt, was er in diesem Augenblick sagen könnte. Irgendwie waren alle Worte aus seinem Kopf verschwunden. Er begann zu stammeln. „Wisst ihr… Ihr braucht keine Angst zu haben. Ich erzähle nichts weiter. Ich… Die Leute da draußen würden das alles eh nie verstehen.“

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Er trat zögernd einige Schritte näher, nahm den schwachen, Geruch nach Blut wahr, der in der Luft hing. „Ihr wollt eurem Verwalter von eurem Blut geben. Das kenne ich schon. Ich habe, als ich nachts in die Küche gegangen bin, gesehen, wie Alida Marlene von ihrem gegeben hat. Ich habe Marlene später gefragt und sie hat gemeint, das Blut würde sie stärker machen.“ Er drückte die Lippen aufeinander, erinnerte sich an den besorgten Blick seiner Ziehmutter. „Und dass man damit vorsichtig sein muss. Sie hat gesagt, wenn man so etwas von einem Falschen annimmt, dann kann er Sachen von einem verlangen, die man eigentlich gar nicht tun möchte und man muss sie dennoch tun.“ Er suchte in dem Gesicht seines Gegenübers nach einer Regung, doch es ließ keinen Rückschluss darüber zu, ob ihn das Gesagte überhaupt tangierte oder es ihm missfiel.
Der Mann nickte nach einer gefühlten Ewigkeit und trat ebenfalls näher an den Tisch heran. Er griff nach dem Silberpokal und stellte ihn auf einem etwas erhöhten Schrank auf. „Da hat sie Recht.“ Er tat einen seltenen tiefen Atemzug. „Hendrik? Alida hat mit mir über dich geredet. Sie hält viel von dir und sie mag es, dich um sich zu haben. Sie meint, du wärest ein besonderer Junge...“
Hendrik spürte wie sein Herz einen zusätzlichen Schlag tätigte, dann sprach Meister Belinkov weiter. „Magst du mir einen Gefallen tun? Ich möchte wissen, von welcher Art du bist. Bist du bereit mich sehen zu lassen?“
Unschlüssig zögerte Hendrik. „Ich verstehe nicht… Was wollt ihr denn sehen?“
„Einfach nur, wer du eigentlich bist.“
Der Junge sah auf. „Ich bin einfach nur ich, Hendrik.“ Er sah in die fragenden rotbraunen Augen, nickte schließlich. Auch wenn er nicht verstand, was der braunhaarige Mann meinte, so war der Augenblick doch zu kostbar um ihn zu verärgern.
Der Knabe spürte die Präsenz, die versuchte in seinen Geist einzudringen und erschrak als er zu begreifen begann worauf der Erwachsene hinaus gewollt hatte. Er wehrte sich, wollte niemanden, der sich in seinem Inneren umsah als befände er sich in einer unaufgeräumten Wohnung, die man am liebsten verbergen wollte… die Angst vor Zurückweisung, die Wut auf das ganze Unverständnis dieser ignoranten Welt, den zurückgedrängten Zorn, wenn er gehorchen musste, obwohl sich jede Faser in ihm dagegen sträuben wollte, die Liebe zu Marlene und Jean, die Sehnsucht nach Menschen, die ihn verstanden und akzeptierten so wie er war, die Geheimnisse und Gedanken, an denen er niemanden teilhaben ließ.
Hendrik spürte das Drängen der mentalen Kraft, zögerte ein letztes Mal, dann gab er nach.
Ebenso rasch wie das fremde Bewusstsein in seinem Inneren geforscht hatte, zog es sich auch wieder zurück.
Mit weit geöffneten Augen starrte er den Fleischformer ungläubig an. Seine Stimme zitterte leicht. „Das… war…“ Er verstummte
„Danke. Ich bin nun schlauer, vermag dich wohl etwas besser einzuschätzen.“ Meister Belinkov sah noch immer nachdenklich zu ihm hinunter als überlege er, was als nächstes zu sagen wäre. „Du hältst mich also für deinen Vater? Wie…“ Ein hauchdünnes fast amüsiertes Lächeln erschien auf seinem Gesicht. „… wie komme ich zu dieser Ehre?“
Hendrik tat einen hastigen Schritt zurück und stieß an die scharfen Kanten eines kleinen Tischchens. Ertappt und beschämt sah er zu dem Älteren. Seine Stimme war leise. „Weil ich weiß, dass euer Blut durch meine Adern fließt. Und das von Alida. Und weil ich die Kraft Haut zu formen von euch beiden habe.“ Er spreizte die Finger und sah auf seine Hand als gehöre sie jemandem anders. „Wir gehören doch zusammen, oder?“
Die Augen von Meister Belinkov sahen ihn erstaunt und ratlos an. Er hatte wohl mit allem gerechnet, aber nicht mit diesen Worten. Auch er fuhr mit den Zähnen über die Unterlippe bevor er weitersprach. „Einiges, was du gesagt hast, hat einen wahren Kern, aber so einfach ist es nicht… Ich bin das Oberhaupt einer Familie, die mir treu ergeben ist, Diener und Dienerinnen, seit Generationen an mich gebunden. Ich… ich eigne mich ganz sicher nicht zum Vater.“
Hendrik sah, dass Meister Belinkov an seinem Gesicht ablesen konnte, wie enttäuscht er über diese Worte war und trat einen Schritt zurück.
Der Former tat einen langen Atemzug, dann trat er auf die Tür zu und entschloss sich weiter zu sprechen. „Begleite mich ein Stück, Hendrik. Du möchtest endlich diese einengenden Mauern verlassen und ich könnt‘ ein wenig Ablenkung gut gebrauchen. Wenn du willst, darfst du mich Emilian nennen.“ Ein zögerndes, aufmunterndes Lächeln huschte über die Züge des Erwachsenen, doch der Knabe zauderte. „Komm schon, du solltest doch wissen, welche Art von Geschöpf du dir zum Vater wünschst, oder?“
Hendrik konnte darauf nichts erwidern und folgte ihm.

Sie gingen durch die Straßen der alten Stadt und Hendrik bemerkte, dass sich Emilian angestrengt bemühte seinen Schritt an den des Kindes anzupassen.

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In vielen Fenster war Kerzenschein zu erkenne, was für den Reichtum der Bewohner sprach. Die Häuser erschienen in recht gutem Zustand, die stroh- und schindelgedeckten Dächer geflickt, die Straßen reinlicher als in anderen Städten. Wahrscheinlich weil der Kaiser gerade in Aachen weilte, ging es dem Knaben durch den Kopf. Da musste man doch vorher sauber machen, oder?
Emilians Worte waren so leise, dass sie von anderen nächtlichen Wanderern nicht vernommen werden konnten. „Alida hat mir erzählt, dass viele ihrer Freunde der Meinung sind, du solltest mehr erfahren… Das, was wir die Wahrheit nennen, ist eine seltsame Sache, mächtig, gefährlich, beängstigend und, …da gebe ich Alida Recht, nichts für kleine Kinder.“ Er musterte Hendrik prüfend. „Du bist kein gewöhnliches Kind… Du bist ein Wiedergänger, so wie ich einer war, bereits seit deiner Geburt zugleich an diese und die Welt der Dunkelheit gebunden. Und auch für einen Wiedergänger bist du etwas Besonderes, denn die Kinder von Wiedergängern sind eigentlich, so lange sie jung sind, nicht in der Lage das zu tun, was du kannst, was ich kann: zu formen.“ Für einen Moment streifte sein Blick über die nächtlichen Straßen und verlor sich in der Dunkelheit. „Kein einziger meiner eigenen Wiedergängerfamilie ist dazu in der Lage. Sie haben andere Talente.“ Ein leichtes Bedauern lag in seiner Stimme.

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Hendrik fasste sich ein Herz und richtete das Wort an den Former an seiner Seite. „Konntet ihr das als ihr in meinem Alter wart?“
Das Lächeln einer alten Erinnerung war auf dessen Gesicht zu erkennen. „Ja, und das galt als ausgesprochene Begabung.“
Die Fragen schossen Hendrik alle gleichzeitig durch den Kopf. Tausend Mal hatte er sich gewünscht mehr zu erfahren, endlich die Dinge zu verstehen, die man ihm verschwieg und die doch irgendwie so offensichtlich waren. Und nun war es ausgerechnet dieser Mann, den er für seinen Vater hielt, der ihm die Antworten in Aussicht stellte, auf die er gewartet hatte. Er zwang sich dazu, nichts zu überstürzen, auch wenn es ihm schwer fiel. „Wie war das mit eurem Vater? Konnte er das mit dem Formen auch?“
„Er konnte, aber er mochte es nicht sonderlich. Ich habe nur ein oder zwei Mal gesehen, wie er diese Kräfte angewendet hat.
Der Junge sah zu Emilian auf, dessen Blick nach vorne gerichtet war. „Und? Wie war er so?“
„Er war der beste Vater, den man sich nur vorstellen konnte.“
Hendrik drückte die Lippen aufeinander. Ein seltsames Sehnen lag in seiner Stimme „Das muss sehr schön gewesen sein.“
Ein langes Schweigen folgte in dem mehr lag als die Stille, die ab und an durch die nächtlichen Geräusche der Stadt unterbrochen war.

Der Junge folgte dem dunkel gewandeten Mann weiter durch die Stadt. Sie gingen an Parks, Burgen und Palästen vorbei, wanderten einige hundert Meter über die hohe Stadtmauer bis ein entrüsteter, dienstbeflissenerer Wachmann sie deftig gestikulierend wieder hinunterschickte und überquerten kleine Flüsse über mächtige Brücken.

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In der Luft lag der Geruch von Gewürzbrot mit aromatischem Zimt und Nelken, aber Hendrik nahm all das nur am Rand wahr. Er war völlig gefesselt von den Schilderungen und Erklärungen, die er zu hören bekam. Emilian sprach von Unsterblichen, die an die Nacht gebunden waren und deren Existenz an das Blut der Lebenden gekoppelt war, von dunklen Mächten, die darauf lauerten deren Seele zu verführen und in all den Jahren genug Zeit für dieses Unterfangen hatten um oftmals Erfolg zu haben. Von den Eigenheiten, die es mit sich brachte nicht mehr an Luft, Wärme und Sonne gebunden zu sein. Er schilderte das Leben der Wiedergänger im Osten, wo er geboren war, die Gefahren, die es mit sich brachte Teil dieser Welt zu sein, Gefahren, geschaffen durch Niedertracht, Neid, Angst und den Kampf ums Überleben.

Irgendwann hielt Emilian im Laufen inne und sah nach vorne. Hendriks Blick folgte dem seinen und er konnte vor sich die mächtige Kathedrale ausmachen, die er bereits von der Stadtmauer aus hatte erspähen können. Seine Augen strahlten. „Das muss der Hohe Dom sein.“
Emilian nickte. „Ich nehme stark an, du willst hinein?“
Ein heftiges, hoffnungsvolles Nicken war die Antwort.
Sie traten näher und konnten einen griesgrämig dreinblickenden Wachmann vor einem schmalen Seitenportal sitzen sehen. Kirchen, das wusste Hendrik, mussten in Zeiten der Not Asyl gewähren, aber das bedeutete noch lange nicht, dass man jeden in das Haus Gottes einlassen musste, wie er immer wieder etwas erstaunt feststellen konnte. Vor allem nicht diejenigen, die tatsächlich in Not waren.
Der Händler an seiner Seite sprach den Wächter in Deutsch an, das Hendrik, wenn er sich bemühte fast verstehen konnte. „Verzeiht, guter Mann, ich bin ein vielbeschäftigter Kaufmann und leider ist es mir nicht gelungen vor Sonnenuntergang meine Geschäfte beenden zu können. Morgen reisen wir bereits wieder nach Amsterdam und mein…“ Er überlegte kurz. „… Sohn wünscht sich nichts sehnlicher als dieses prächtige Bauwerk noch ein letztes Mal bewundern zu können. Wäret ihr so freundlich uns zu so später Stunde die Pforte Gottes zu öffnen? Es wird nicht allzu lang dauern.“ Er unterstrich seine Worte mit einem kleinen Säckchen klimpernder Münzen, das den Wachmann sofort zu besonderer Eile antrieb und wie selbstverständlich das Seitentor öffnete. Mit mehreren Verbeugungen schloss er die Tür heimlich wieder hinter ihnen.
Der braunhaarige Mann an seiner Seite grinste Hendrik verschwörerisch an. Ganz offensichtlich schien es ihm, genau wie dem Knaben auch, Spaß zu machen sich nachts verbotenerweise in dunklen Kirchen herum zu treiben. Es war fast ganz finster, aber das machte dem Jungen nicht viel aus. Er wunderte sich immer wieder darüber wie blind die meisten Menschen doch nachts durch die Straßen tappten. Dabei musste man sich doch eigentlich nur ein wenig konzentrieren um alles genauer zu sehen… Oder etwa nicht?
Er blickte sich in dem prächtigen Kirchenschiff um.

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Hendrik sah die hohen Säulenarkaden, Marmor und Gold im schwachen Schein des ewigen Lichts. Hoch über ihnen blickten die Engel und Apostel richtend zu ihnen hernieder, aber irgendwie sahen sie so aus als hätten sie wichtigeres zu tun als sich für die Belange von zwei nächtlichen Wanderern zu kümmern.
Dann erkannte er den steinernen Thron und ging staunend näher. Er sah zu Emilian und deutete auf den Stuhl. „Das muss der Königsthron sein. Hier wurde Karl, der Große, gekrönt und später die deutschen Könige. Das hat mir mal ein guter Freund erzählt. Aber er mochte diesen Karl nicht, weil der die Germanen gezwungen hat ihre alten Götter zu verbannen und unseren Gott anzunehmen. Mein Freund findet, die alten Götter sind viel besser und dass keiner das Recht hat für jemand anderen zu bestimmen, woran er zu glauben hat.“

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Emilian nickte. „Ein schlauer Mann, dein Freund. Bei der zweiten Aussage stimme ich ihm definitiv zu.“ Er fuhr mit den Fingern über den kalten Marmor. „Karl muss ein sehr vielschichtiger Mann gewesen sein, zum einen unbeirrbarbar und grausam, zum anderen wohlwollend und fürsorglich. Er soll viel getan haben, das dem Reich und seinen Bewohnern zugutekam.“ Emilian grinste Hendrik an und deutete auf den Thron. „Bitte sehr!“
Ungläubig und mit leichtem Entsetzen sah der Junge an ihm hoch. „Ich kann mich doch nicht auf den Thron des Kaisers setzen.“
Emilian zuckte mit den Schultern. „Warum nicht? Es ist niemand hier. Außerdem sind wir keine Bewohner des deutschen Reiches. Also ist der Frevel dann auch nur halb so groß.“ Sein Schmunzeln wurde noch breiter.
Hendrik zögerte noch eine Sekunde, dann stieg er die wenigen Stufen hinauf und ließ sich auf dem Thron nieder.
Emilian sah zu ihm hinauf, sah fast klein aus dort unten. „Und wie fühlt es sich an? Eine Minute auf dem Stuhl des deutschen Kaisers?“
Der Junge überlegte. „Unbequem.“
Der braunhaarige Mann begann zu lachen. „Oh ja, Macht kann sehr unbequem sein.“
Hendrik erhob sich wieder. „Ich denke, ich wäre gerne König. Ihr nicht? Ich könnte bestimmen und alle müssten das machen, was ich sage. Da könnte man dann Dinge schaffen, die wirklich wichtig sind.“
Emilian reichte ihm die Hand und der Junge sprang mit einem behänden Satz wieder hinunter. „König? Nein. Ganz gewiss nicht. Es ist schon schwierig zu wissen, was wirklich wichtig ist und was dir nur als wichtig erscheint. Als Herrscher verlangt jeder deine vollste Aufmerksamkeit. Tag und Nacht gibt es Probleme, die schwer zu lösen sind. Jeder will seine Ziele durchsetzen und wird versuchen Einfluss auf dich auszuüben. Aber du kannst es nicht jedem recht machen. Hörst du auf den einen, wird der andere sich zurückgestuft fühlen und dir seine Unterstützung entziehen. Du kannst versuchen, deine Ziele mit Gewalt durchzusetzen, eine künstliche Einheit zu kreieren. Aber dann giltst du als Tyrann.“
Hendrik nickte nachdenklich und fragte sich im Stillen, ob der Sohn des Kaisers vielleicht deswegen weggelaufen war. War es dann richtig, wenn Lucien ihn suchte und zurückbrachte?
Der Kainit ging durch die Säulenreihen und machte an einem schmalen Aufgang halt, der offensichtlich nach oben führte. Er ließ Hendrik die schmale Wendeltreppe hinaufsteigen und folgte dann.
Nach unzähligen Stufen, er war mittlerweile längst aus der Puste, öffnete der Junge eine dunkle Tür aus Eichenholz und fand sich auf der Umgehung eines mächtigen Kirchturmes wieder. Unter ihnen leuchteten die Häuser schwach in der nächtlichen Dunkelheit, über ihnen blitzten die Sterne miteinander um die Wette. Es war kühl dort oben und ein heftiger Wind zauste ihm die Haare ins Gesicht. Hendrik trat an die Balustrade, stemmte die Füße in zwei schmale Simse und zog sich ein Stück nach oben, damit er besser sehen konnte. Es gelang ihm nur mäßig.

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Der braunhaarige Mann hinter ihm zögerte einen Moment, hob ihn dann nach oben, so dass er sich, die Füße in die Tiefe baumelnd, auf die breite Steinbrüstung setzen konnte und kletterte dann ebenfalls hinauf. Er ließ sich neben dem Jungen nieder. „Höhenangst scheinst du offensichtlich nicht zu haben.“
Hendrik zuckte mit den Schultern. „Ich fall schon nicht runter. Ich pass auf. Außerdem bist du ja hier.“ Er war ohne Zögern zu der persönlichen Anredeform gewechselt. „Emilian? Das mit dem Formen und Verändern? Du hast damals in Italien gesagt, dass ich das noch nicht tun darf. Dass das nichts für kleine Kinder ist. Heute hast du gesagt, dass ich kein kleines Kind, sondern ein Wiedergänger bin…“ Er sah erwartungsvoll in die Richtung des Kainiten, knetete gedankenverloren seine Finger. „Darf ich damit anfangen?“
Emilian zögerte und sah zu seinen eigenen Füßen, die in mehr als hundert Metern Höhe in der Luft baumelten. „Du bist kein kleines Kind, aber ich denke, dass es dennoch etwas früh ist. Bevor du anfangen kannst dich zu verändern, musst du erst einmal wissen, wer du eigentlich bist. Wie willst du sonst je herausfinden, wie du eigentlich als Erwachsener aussehen würdest? Das eigene Gesicht ist etwas, das man jemandem wie dir nie nehmen kann.“
„Hm, ich könnte die Veränderungen ja immer gleich wieder rückgängig machen. Außerdem find ich nicht, dass das so wichtig ist. Ich bin nicht so hübsch und ich wär‘ gern größer…“ Er analysierte die unnatürlich rot-braunen Augen seines Gegenübers. „Siehst du noch so aus wie du damals ausgesehen hast, oder hast du dich selbst verändert?“
Sein Gegenüber hielt die Hände in den kräftigen, kühlen Nachtwind, der ihnen um die Ohren blies. „Ich habe fast alles verändert. Ich war nicht so wirklich glücklich, wie ich war.“
„Warst du hässlich?“
Emilian überlegte. „Nein, nur zu jung.“ Er seufzte. „Wenn du vollends in die Nacht geholt wirst, dann alterst du nicht mehr. Dein Geist entwickelt sich weiter, aber dein Körper bleibt so wie er ist. Manchmal ist das gut. Für mich war es das nicht.“
„Wie alt warst du denn?“
Die rotbraunen Augen wanderten zu Hendrik. „Acht.“
Der Junge war überrascht. „Ich bin acht.“
Der Erwachsene nickte und Hendrik sagte: „Ich könnte auch diesen Kuss bekommen. Dann wär‘ ich auch unsterblich. Ich kann sicher auch lernen mich selbst erwachsen zu machen. Dann muss ich nicht so lange warten.“
Emilian begann herzlich zu lachen und schüttelte dann den Kopf.

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„Es dauert bei weitem länger sich selbst zu formen als erwachsen zu werden. Ich rate dir abzuwarten. Wir Drachen, so nennt man uns Former auch, wählen diejenigen für den Kuss gerne aus den Reihen unser eigenen Wiedergängerfamilien und vielleicht gehörst du eines Tages dazu. Aber es gibt so vieles, was wichtig ist, was du niemals verpassen solltest: erwachsen werden, auf eigenen Beinen stehen, ein Mädchen, das du liebst, eigene Kinder…“
Hendrik verzog das Gesicht. „Erwachsen sein und mir nicht immer anhören zu müssen, was ich alles nicht darf, das wäre gut. Aber ich brauche kein Mädchen und auch keine Kinder…“ Er schien über seine eigenen Worte nachzudenken und ließ eine Erklärung folgen. „Ich kenne nur meine Cousinen von den van de Burse. Und die verstehen fast nie etwas richtig und machen sich über mich lustig, wenn der Lehrer gemein zu mir ist, weil ich seine blöden Psalmen nicht auswendig gelernt habe. Florine ist lieb, aber die ist noch zu klein und wird vielleicht später mal genauso wie die anderen Mädchen… Und die meisten Kinder sind einfach nur gemein. Ein paar nicht. Ich hab einen Freund, der heißt Emil. Eigentlich dachte ich, dass er auch dumm ist, aber das ist gar er nicht.“
Der Kainit musste lächeln. „Viele Dinge sind anders als man im ersten Moment annimmt. Dafür muss man genauer hinschauen.“
Einige Minuten verstrichen während beide hinab auf die Dächer Aachens blickten und ihren eigenen Gedanken nachhingen. Gedanken an die Vergangenheit, das, was gerade geschah und durch jede einzelne Handlung in jeder einzelnen Sekunde beeinflusst werden konnte und die Zukunft, dieses unbestimmte, im Nebel liegende Konstrukt, in dem man so vieles erkennen konnte, um doch jedes Mal aufs Neue zum Guten wie zum Schlechten überrascht zu werden, wenn man näher heran kam.
Emilian war es schließlich wieder, der sprach. „Weißt du, Hendrik: Ich mache dir einen Vorschlag. Ich werde dich lehren, was ich weiß und was ich für richtig halte. Und du versprichst mir, dass du nichts davon ohne meine Erlaubnis anwenden wirst.“
Hendrik sah den Erwachsenen freudestrahlend an und nickte dann heftig. „Hoch und heilig versprochen. Ich werd‘ das nicht vergessen.“ Es gab noch etwas, was der Junge ansprechen, wollte, aber er zögerte. Schließlich nahm er seinen Mut zusammen. „Emilian? Bist du jetzt eigentlich mein Vater?“
Der Kainit schien seine Antwort zu überdenken. „Ich bin nicht das, was man im herkömmlichen Sinne darunter versteht. Ich habe mich nicht mit der Frau, die dich geboren hat, vereint… Aber mit einem hast du wohl recht: Mein Blut und das von Alida fließt durch deine Adern. Du bist mir in vielerlei Hinsicht ähnlich und wenn es für jemanden wie mich tatsächlich sowas wie ein Kind gäbe, jemanden, der einen Teil von Alida und von mir in sich hat, dann wärest das du. Ohne uns wärest du nicht der, der du bist.“ Er lachte kurz auf. „Aber, wie ich schon gesagt habe, Hendrik. Ich bin vieles, Familienoberhaupt, Händler, Former, Tyrann… Ich hab in meinem Leben einiges ganz gut gemacht, auf vieles bin ich alles andere als stolz, hab aber daraus gelernt. Hendrik? Du möchtest mich gewiss nicht zum Vater, denn dazu eigne ich mich nicht.“
Der Junge verengte nachdenklich seine Augenbrauen. So leicht gab er nicht klein bei.

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„Doch, das würdest du. Du könntest es versuchen! Und wenn du wirklich zu viel falsch machst, dann kann ich dir das ja sagen.“
Emilian begann zu lachen. Gegen so viel kindliche Logik kam er nicht an. „Ich werde mit Alida reden. Aber sag später, wenn alles schief gelaufen ist, nicht, ich hätte dich nicht gewarnt.“
Hendrik begann sich vorsichtig aufzurichten um wieder von der Balustrade zu steigen. Eine heftige Windboe riss an ihm und brachte ihn zum wanken. Weit unter sich sah er die Straßen der Stadt, hatte das Gefühl in die Tiefe gerissen zu werden, doch Emilian hielt ihn zurück.
Hendriks brachte nur mit Mühe etwas hervor. „Ich glaube, du wärest ein guter Vater für mich.“

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 Betreff des Beitrags: Re: Familienangelegenheiten
BeitragVerfasst: Mi 9. Nov 2016, 19:23 
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Text ebenfalls unter Die Einigkeit macht der Tyrann, die Freiheit das Volk gepostet


Alida trat durch den geheimen Hintereingang des Anwesens des russischen Händlers, mit dem ihr Erzeuger befreundet war und der ihnen derzeit Unterkunft gewährte. Im kleinen Hinterhof, in dem sie herauskam, bot sich ihr ein seltsames Schauspiel. Zwei Frauen standen um ein wohl zwanzigjähriges Mädchen, das sich ängstlich gegen eine Hauswand presste, in dem sie schließlich Anja erkannte.

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Die eine hielt mehrere Handtücher, die andere eine Schale heißes Wasser in den Händen. Beide sahen sie zu Boden und mieden jeden Blickkontakt mit dem Mädchen oder sonst jemanden. Ihnen gegenüber befand sich Girland, der begann mehrere lange, dünne Weidenruten zu einem straffen Bündel zusammen zu binden. Mit einem Schlucken biss Anja die Zähne aufeinander, wandte sich um und entblößte einen Teil ihres Rückens, den sie dem Major Domus entgegenstreckte. In ihrem Blick lagen unterdrückte Panik und der Wunsch wegzulaufen.
Alida sog scharf die Luft ein und trat mit raschen Schritten hinzu. Sie konnte sich ohne langes Nachdenken sofort zusammen reimen, dass das hier eine Bestrafung werden würde für irgendeine Nachlässigkeit, die Anja wohl begangen hatte. Alida griff nach Girlands Arm bevor er weiter machen konnte und sprach ihn in Flandrisch, das keine der Frauen verstehen konnte, an. „Meister Girland. Hört doch bitte auf! Ich werde mit dem Herrn reden und dann wird sich schon eine Lösung finden.“
Girland blieb einen Moment reglos stehen, sah sie fest an. „Frau Alida? Wenn ihr wirklich etwas Gutes tun wollt, dann dreht euch um und geht ins Haus.“ Seine Stimme war hart und es musste ihm ebenso schwer fallen ihr diese Anweisung zu geben wie die Bestrafung selbst durchzuführen.
Alida blieb einen Moment unschlüssig stehen, keiner der Anwesenden sah sie an. Das gebrummte, harsche „Bitte“ des Major Domus klang eher wie ein Befehl als wie ein Wunsch. Sie unterdrückte das Kopfschütteln und ließ es zu einem mühsam erzwungenen Nicken werden, dann ging sie in die Richtung, in der ihre Zimmer lagen.
Noch auf dem Weg dorthin vernahm sie das sausende Geräusch der scharfen Weidenruten und das schmerzerfüllte Aufstöhnen des jungen Mädchens. Alida zuckte bei jedem Schlag zusammen.

Mühsam stieß sie die Zimmertür auf und strich sich erschöpft das strähnige rote Haar nach hinten, das sie sich in den frühen Abendstunden ebenso wie das Gesicht geformt hatte. Sie sah in das große, jedoch kahl und nüchtern eingerichtete Zimmer. Am Ende konnte sie Hendrik gegenüber von einem geschlossenen, warmen Kamin ausmachen. Er saß über die Landkarte, die er zum Geburtstag geschenkt bekommen hatte, gebeugt und zeigte auf einen Punkt an deren rechten Ende. „Und da… Ich glaube, da würde ich auch gern mal hinreisen.“

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Etwas verwundert hörte sie die vertraute Stimme von Emilian, der im Schatten neben dem Jungen saß, und mit den Augen dessen Finger folgte. „Da oben ist es eisig kalt. Mir würde es dort wahrscheinlich nicht gefallen.“
Hendrik hakte sogleich nach. „Wo möchtest du denn gerne hin?“

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Ihr Erzeuger deutete auf einen Punkt der Karte und Hendrik lachte auf. „Das ist aber gar nicht weit. Du kannst dich auf den Weg machen und spätestens morgen bist du da.“
„Manche Reisen bewältigt man nicht in einem Tag, auch wenn das Ziel eigentlich ganz nah erscheint.“
Hendrik wollte etwas erwidern, doch er sah überrascht zur Tür, erkannte Alida und kam nach einem bestätigenden Nicken von Emilian, der ihm damit zu verstehen gab um wen es sich handelte, erfreut auf sie zu gerannt. Er drückte sich an sie. „Du bist wieder da.“ Irgendetwas, das konnte sie im Strahlen seiner Augen erkennen, musste ihn ungemein glücklich gemacht haben. Auch Emilian erhob sich, blieb jedoch zögernd an dem grob gezimmerten Tisch stehen. Ein kaum merkliches, schwaches Lächeln erschien auf seinen Lippen. Seine feste Stimme richtete sich an den Jungen, der schon den Mund geöffnet hatte um zu erzählen. „Hendrik? Tu mir den Gefallen und geh zu Bett. Die Nacht war lang und ich habe noch ein paar Dinge mit Alida zu besprechen.“ Einen Moment zögerte Hendrik, dann nickte er jedoch eifrig, wie um es dem Erwachsenen recht zu machen, und drückte sich aus der Tür hinaus.
Alida sah ihm ungläubig hinterher und ging dann auf ihren Erzeuger zu. „Ich bin erstaunt. Ich habe noch nicht oft erlebt, dass Hendrik freiwillig in dieser Sache gehorcht hat.“ Ihr Blick wanderte zu Emilian. Er sah so müde aus wie sie sich fühlte, als er die Landkarte wieder zusammen rollte und sie in ihrer Bulle verstaute. Die blonde Frau nahm ihm gegenüber Platz und griff nach seiner kalten Hand, fuhr ihm mit den Fingern über den Handrücken. „Alles in Ordnung?“
Er nickte, sah sie dann eindringlich an. „Ich bin froh, dass du wieder da bist.“
Sie deutete nach draußen. „Emilian? Girland bestraft Anja draußen in dem er sie die Rute spüren lässt.“
So wie vorhin Anja, presste nun auch ihr Erzeuger gezwungenermaßen die Lippen aufeinander, schwieg aber. Alida sah ihn fester an. „Das kannst du doch nicht zulassen!“
„Doch!...“ Er sog tief die Luft ein. „Anja hat meine Befehle offen missachtet und ohne mit jemand anderem Rücksprache zu halten statt auf Hendrik zu achten eigene Recherchen bezüglich der Zuverlässigkeit meiner Spione am deutschen Hof unternommen. Eine zugegebenermaßen gute, sinnvolle Tätigkeit, aber sie hatte eine andere wichtige Aufgabe, deren Missachtung den Jungen möglicherweise in Gefahr gebracht hätte. Ich bin ein Former und wie ein solcher bestrafe ich Vergehen…“ Sie wusste genau, was er meinte. „… normalerweise mit zeitlich begrenzten Entstellungen als permanente Ermahnung und Warnung für die anderen. Anja jedoch ist Girlands Tochter. Ich könnte es ihm nicht antun, sie so rumlaufen zu lassen. Also habe ich ihm aufgetragen, sie selbst zu bestrafen. Die Schmerzen werden vergehen und die Narben kann ich ohne Mühe verschwinden lassen.“
„Gibt es keine andere Möglichkeit?“
„Alida? Ich erwarte, benötige hundertprozentige Zuverlässigkeit meiner Leute. Ich muss mich auf jeden verlassen können, und sie kennen die Strafen auf solche Vergehen. Anja hat das Maß einmal zu oft überschritten, aber sie wird es lernen…“
Alida musste erneut schlucken. Aber mittlerweile hatte sie sich an so vieles gewöhnen müssen.
Emilian sah sie mit müden Augen an. „Es ist gut, dass du unbeschadet wieder hier bist. Wie war der Abend?“
Sie überlegte, wie sie am sinnvollsten antwortete. „Ich habe Andrej heute kaum zu Gesicht bekommen. Er sitzt in harten Verhandlungen mit Hardestadt und keiner der beiden Gegner scheint einen Deut von seinen Forderungen abzuweichen… Was hat Hendrik hier bei dir gemacht?“
Bei der Frage erschien ein nachdenklicher Ausdruck auf seinen Zügen. Er stellte die lederne Bulle auf den Boden. „Ich habe mir die Zeit genommen ihn näher kennen zu lernen. Näher als das, was im ersten Moment offensichtlich ist.“
Alidas helle Augen verengten sich missmutig. „Du hast dich in seinem Kopf umgesehen?“
Ihr Erzeuger nickte, als wäre das nichts von weiterem Belang. „Ja, mit seinem Einverständnis. Er ist ein außergewöhnlicher, kleiner Kerl.“ Er zögerte bevor er weiter sprach. „Der Junge ist mir, als ich jünger war, sehr ähnlich. Er ist Wiedergänger wie ich früher und von der Welt der Dunkelheit angezogen wie eine Motte vom Licht. Er hat die seltene Gabe schon in so frühen Jahren in der Lage zu sein zu formen. “
Alida hörte ihm mit leichter Skepsis zu. Worauf wollte er hinaus? „Ja, das ist er.“
„Ich konnte das damals auch… Meine Mutter war begeistert, machte mich diese Begabung doch zu einem der aussichtsreichsten Kandidaten für den späteren Kuss, die größte Ehre, die einem Wiedergänger widerfahren kann. Mein Vater jedoch fand, ich wäre zu jung. Er verbot es mir und ich habe ihm selbstverständlich gehorcht. Er war das Oberhaupt der Familie, mein Held, und niemals hätte ich auch nur ein einziges Wort von ihm in Frage gestellt.“ Irgendetwas schien ihn zu beschäftigen, dass war Alida bewusst. Er sprach weiter. „War dir bewusst, dass er dich und mich für seine Eltern gehalten hat?“
Alidas Augen weiteten sich. „Er hat was?“
Emilian nickte zustimmend. „Er hat für sich zwei und zwei zusammen gezählt und seine Gabe als Erbe seiner Eltern betrachtet. Hendrik ist ein Wiedergänger, so wie ich es war, und Wiedergänger sind in der Regel schon in der Zeit ihrer Jugend grob mit den Gesetzten ihrer Kainiten vertraut. Ich habe ihm die Dinge über die Welt der Dunkelheit erklärt, die ich für richtig gehalten habe.“
Alida hatte Mühe den Mund zu schließen. „Was? Emilian? Das ist nicht der Osten, in dem du deine Kindheit verbracht hast, in dem ein Voivode seine Nachbarn und seine eigene Bevölkerung tyrannisiert und alle das als selbstverständlich ansehen… Das ist der Westen, Hendrik ein Kind aus Flandern. Er ist ein achtjähriger Junge.“
Emilian schüttelte sacht den Kopf als würde er ihr etwas erklären, dass sie verstehen musste, auch wenn es ihr schwer fallen würde. „Nein, so einfach ist das nicht. Er hat unser Blut in sich. Er gehört in unsere Welt und er stellt seine Fragen, sucht sich seine Antworten, ob wir sie ihm geben wollen oder nicht. Das ist nun einmal so, ob du es nun für richtig oder für falsch halten magst.“ Es schien ihm schwer zu fallen, ihr das zu sagen, weil er wusste, dass sie es nicht gutheißen konnte. Er zögerte einen Moment bevor er weiter sprach. „Hendrik kommt dem, was ich als Kind als Familie kennen lernen durfte, am nächsten. Er ist mir ähnlich, wobei in ihm jedoch soviel Leidenschaft und Impulsivität sind, dass er sich permanent zur Ruhe und zum Nachdenken zwingt um nicht über zu reagieren und die Kontrolle zu verlieren. Er braucht solche, die ihn verstehen, ihm zuhören, Lehrer, die ihm seinen möglichen Platz in der Nacht zeigen können.“
In seinen Worten war gleichzeitig eine unausgesprochen Frage, die Alida zum Schlucken brachte. Sie konnte erahnen worauf er hinaus wollte. Deshalb wandte sie ein: „Er ist noch so jung und er hat Marlene und Jean.“
Emilian machte eine langsame verneinende Handbewegung. „Seine Zieheltern sind für ihn da, und sie sind, nach allem, was ich gehört habe, wunderbare Leute, aber sie können ihm nicht das geben, was er braucht. Das ist unsere Aufgabe: meine und deine.“
Alida sah ihn schweigend an als er fortfuhr. Er nagte einen Moment an seiner Unterlippe und es fiel ihm sichtlich schwer weiter zu sprechen. „Du hast mir viel erzählt, Alida… Du warst es, die Alyssa damals dazu gedrängt hat das Kind auszutragen, das sie nicht haben wollte. Sie ist davon ausgegangen einem Monster das Leben zu schenken und du bist nicht eingeschritten. Wahrscheinlich weil du ihn wolltest: als van de Burse, als Kind, als Widergänger. Du hast dafür gesorgt, dass es dem Jungen so gut ging, wie nur möglich, aber du bist weg gegangen. Zu mir in den Süden. Alida? Ich denke, es wird Zeit, dass du die Verantwortung übernimmst dich um ihn zu kümmern. Er hat genug von dir und mir in sich und er begreift. Hendrik ist in der Lage Stillschweigen zu bewahren. Überlass das nicht länger allein Marlene, sondern trag selbst deinen Teil dazu bei.“
Alida atmete schwer ein. Solche Ansprachen war sie von ihrem eher nachdenklichen Erzeuger nicht gewohnt. „Warum Hendrik? Du hast deine eigene Widergängerfamilie immer um dich, aber für keinen von ihnen bist du etwas anderes als der gestrenge Herr…“
Emilian nickte langsam. Natürlich würde sie darüber nachdenken. Er sah hinab auf die grobe Maserung der Kiefernholzplatte um ihrem Blick auszuweichen. „Weißt du… Desto näher du jemanden an dich heran lässt desto angreifbarer wirst du und desto schmerzhafter ist es, denjenigen zu verlieren. Hendrik ist anders als die Mitglieder meiner Wiedergängerfamilie. Nicht nur, weil er zu formen vermag so wie ich als Kind.. Ich habe ihm gesagt, dass ich mich nicht für die Vaterrolle eignen werde, dass es nicht gut enden wird, aber er hat mich aufgefordert es dennoch zu versuchen. Eine komische Vorstellung… Mein eigener Vater, Victor,…“ Er suchte ihre Augen und blinzelte sie mit den rot braunen Pupillen an. „… er war der beste Vater, den man sich nur hätte vorstellen können. Er hat alles getan um seine Familie, mich und all seine Leute zu schützen. Bei Nacht und wenn es wirklich sein musste auch in dunklen Kellern bei Tag. Aber Alida?“ Emilian sog tief die Luft ein.

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„Er hat versagt. Alle wurden sie abgeschlachtet, meine Mutter erstochen, er selbst dem Feuertod überantwortet, du erdolcht. Er konnte nichts tun, musste alles geschehen lassen… Ich will das nicht. Ich will nicht versagen. Niemals. Ich will nicht, dass irgendjemand mir das, was mir am meisten bedeutet, für immer vernichten kann. Und deshalb kann ich auch niemals auch nur annähernd so wie mein Vater sein. Ich plane Intrigen, schmiede Pläne, versuche Gefahren aus dem Weg räumen zu lassen bevor sie aufkeimen können, aber das alles reicht nicht aus.“
Alida griff nach seinen Händen und er drückte ihre Finger so fest, dass sie schmerzten. Sie hörte ihm einfach nur zu als er weiter sprach. „Das da in der Pfalz von Aachen… dieses Intrigenspiel zwischen Andrej und Hardestadt. Ich kann nichts tun um dich zu schützen. Du hast mal gesagt, dass ich immer versuche vorauszuschauen und zu planen um die Gefahr rechtzeitig zu erkennen… Alida? Ich habe Spione in den Mauern der Pfalz, aber sie können in der kurzen Zeit zu wenige Informationen zusammen tragen. Ihre Hinweise belaufen sich auf ein paar Fluchtwege und wer gerade Ränkespiel oder Liebelei mit wem betreibt.“
Alida sah die Furcht in seinen Augen und versuchte einen beruhigenden Klang in ihre Stimme zu legen, auch wenn ihr gar nicht danach war. „Andrej ist sich seiner Sache recht sicher. Auch wenn er dem Abschluß von Verträgen eher kritisch gegenüber steht, da er Hardestadts Sturheit und seinen Stolz kennt, vermutet er, dass es keinen Hinterhalt geben wird so lange Hardestadts Kind Ludmilla von Mähren in Rustovichs Gewalt ist. Ein Hinterhalt käme einem Todesurteil ihr gegenüber gleich und angeblich hält er große Stücke auf sie.“
Emilian seufzte und zog seine Hand zurück. Er fuhr ihr mit den Fingern übers Gesicht und holte die vertrauten Züge der jungen, blonden Händlerin behutsam wieder hervor. „Andrej ist ein guter Fleischformer und er ist in vielerlei Hinsicht noch um einiges gewiefter als ich im Ränkeschmieden. Er wäre, so vermute ich, jederzeit in der Lage zu entkommen. Aber wie es dann um dich steht, das weiß ich nicht.“ Er wartete einen langen Moment. „Alida? Tu mir den Gefallen und geh nicht mehr an den Hof. Er will, dass du das zwielichtige Spiel am Königshof lernst und er möchte uns wahrscheinlich beide dazu bringen eindeutig Stellung für uns Drachen zu ergreifen, aber der Preis ist zu hoch. Bleib einfach hier. Vielleicht ist er vor den Kopf gestoßen, wenn du nicht erscheinst, aber ich werde es ihm irgendwann erklären, und er wird verstehen, da bin ich sicher.“
Alida seufzte lang. „Du weißt, dass das so ohne weiteres nicht geht.“ Sie sah die Enttäuschung in seinem Blick und entschied sich einzulenken. „Ich verspreche dir, ich gehe nur morgen ein letztes Mal an den Hof, rede mit deinem Onkel und dann reisen wir ab nach Flandern. Du, ich, Hendrik und deine Leute… Zufrieden?“ Ihre Finger suchten die seinen und sie schenkte ihm ein aufmunterndes Lächeln. Obwohl er die Mundwinkel nach oben zog, konnte Alida die Sorge erkennen, die er trotz ihrer Antwort nicht aus seinem Kopf verbannen konnte.

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 Betreff des Beitrags: Re: Familienangelegenheiten
BeitragVerfasst: Di 25. Apr 2017, 15:01 
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Georg hielt das Pergament, das Alida aufgesetzt hatte, in der Rechten. Mit Widerwillen sah er auf das Siegel, das Alida daruntergesetzt hatte und warf das gegerbte Leder schließlich auf einen niedrigen Schrank im Flur. An Emilian, das Kind aus dem Osten, das er zu Recht stets mit Misstrauen beäugt hatte, das sich selbst, indem es sein Können durch schauerliche Praktiken perfektioniert hatte, wider der Natur zum Mann geformt hatte, seinen Erzeuger. Er fröstelte und versuchte den Gedanken zu vertreiben.

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Ihm widerstrebte die Vorstellung zutiefst dafür Sorge zu tragen, dass Hendrik sicher in Gent ankam. Der Junge hatte das kainitische Blut des Ostens in seinen Adern, das so oft in den seltsamen, meist abartigen Widergängerfamilien Russlands zu finden war. Er hatte Geschichten gehört von Müttern, die sich selbst mit einem scharfen Messer in die Brust schnitten um ihren Säugling zusätzlich zur Milch mit der eigenen Vita zu stillen. Was von all dem trug Hendrik in sich?
Es würde Zeit kosten für eine sichere Reise zu sorgen. Vor allem wenn die Tore wirklich bereits verschlossen waren. Er schnaubte. Als ob es hier in Brügge nicht genug zu tun gäbe… wenn wirkliche eine Seuche in Flandern ausbrechen würde. Nicht auszudenken. Er hatte in der Zeit seines langen Lebens genug Missernten und Seuchen erlebt. Hungersnöte führten unweigerlich zu Krankheiten und umgekehrt. Er erinnerte sich an so viele, die das Fleckfieber, ein steter Begleiter von Hunger und Elend, dahingerafft hatte und mit Grauen dachte er an die hungernde Landbevölkerung, die in kilometerlangen Bettelzügen von Kloster zu Kloster zog, immer auf der Suche nach Essbarem wie eine Heuschreckenplage und dabei die Seuchen von Tor zu Tor schleppte. In diesen Jahren brach alle soziale Ordnung zusammen, Raubzüge waren an der Tagesordnung und da die Felder nicht mehr bestellt werden konnten, hielt die Not auch in den weiteren Jahren an.
Georg schluckte. Verdammt! Er hatte keine Zeit zu verlieren. Es gab genug Vorbereitungen zu treffen.
Mit festem Schritt ging er zur Wohnstube in der Hendrik wartete. Er riss die Tür auf und trat ein. Ein kurzer, suchender Blick streifte den Raum und bestätigte den Verdacht, der sich sofort in ihm geregt hatte: Hendrik war fort.
Wütend ballte er die Fäuste, dann wandte er sich um. Konnte der Junge nicht ein einziges Mal das tun, worum man ihn gebeten hatte? Tief sog er die Luft ein, suchte nach dem Geruch des Jungen. Er lag noch immer wie ein feiner Nebel im Raum: das schwache Schwelen wie von niederbrennendem Feuer, der Geruch von Papier und Leder, Stroh, Stall und Pferd, das kindliche Aroma von Florine, die, wann immer man sie ließ, versuchte die Erlaubnis für die gleichen Absonderlichkeiten wie ihr Ziehbruder zu ergattern. Ihr Duft hing längst in den Haaren des Knaben. Und dann ein anderer, kaum wahrnehmbarer kalter Geruch nach rohem Fleisch, der ihm unweigerlich Übelkeit verursachte. Georg ging schneller.

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Er ließ die Pforte zum Anwesen der van de Burse hart hinter sich ins Schloss fallen, dann sputete er durch die dunklen Straßen Brügges. Er wusste, es würde nicht lange dauern der Spur zu folgen.
Obwohl Hendrik sich in Sicherheit wähnte als er über eine schulterhohe Mauer von einem Garten auf das Pflaster der dunklen Straße sprang, zuckte er heftig zusammen als er sich plötzlich Georg gegenübersah, der mit ineinander verschränkten Armen und versteinertem Gesichtsausdruck auf ihn wartete. Der Junge sah so aus als würde er sich jeden Moment dazu entscheiden, die Flucht zu ergreifen.

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Georg zögerte keine Sekunde länger und griff nach dem Hemdkragen des Knaben. „So, Hendrik, es reicht! Was verstehst du nicht, wenn dir jemand aufträgt zu warten?“
Der Zwölfjährige versuchte sich zu befreien, doch Georg zog noch fester und griff nach seinem Arm. Hendrik wand sich. „Das ist nicht richtig! Ihr wollt nicht, dass Jean weiß, was in Geraldsbergen passiert. Das könnt ihr nicht machen! Er muss selbst entscheiden können, was er tun will.“
Georg schüttelte den Kopf. „Und da willst du dich auf den Weg durch die Stadt machen, ihn suchen und ihm alles, was du belauscht hast, erzählen?“
Hendrik presste wütend die Zähne aufeinander. „Ja, genau das, will ich tun.“
Georg schnaubte verächtlich. „Es wäre wohl besser, wenn man das nächste Mal das Zimmer abschließt. Dann geht man sicher, dass du mal gehorchst. Dass du gehorchen musst, denn nur mit freundlichem Bitten scheint man bei dir ja nicht weiter zu kommen.“
Hendrik sah aus als würde er jeden Moment nach Georg treten wollen. Auf seinem Gesicht lag pure Verzweiflung. „Marlene stirbt vielleicht und keiner von uns wird sie je wiedersehen. Jean muss ihr doch helfen…“
Der Verwalter der Van de Burse riss Hendrik mit einem Ruck nach oben, so dass dessen Gesicht nur eine Armeslänge von seinem entfernt war. „Und hast du dein Handeln mal weitergedacht? Was passiert, wenn du ihm das mitteilst? Jean wird Florine und dich hier bei Marlenes Familie, den van de Burse, lassen und sofort nach Geraldsbergen aufbrechen. Wenn dort wirklich eine Seuche ausgebrochen ist, Marlene schwach und sterbend darniederliegt, er an ihrem Lager weilt, sie pflegt, ihre Hand hält… was wird dann geschehen?“ Hendrik hörte auf sich zu wehren während Georg mit harter Stimme weiter sprach. „Er wird ebenfalls erkranken und wahrscheinlich auch sterben… Niemand wird mehr an seinem Lager sitzen. Dafür wartet die kleine Florine jedoch jeden Tag auf ihren Vater, rennt bei dem Getrappel jedes Hufschlages vor die Tür um irgendwann einsehen zu müssen, dass niemand mehr da sein wird, der sich um sie kümmert.“ Er ließ Hendrik los, stieß ihn fast von sich. Der Junge machte einen Schritt nach hinten und sah den braunhaarigen Mann mit Bestürzung an. Es war nicht so, dass er sich dazu keine Gedanken gemacht hätte, aber nun in so eindringlichem Maße die möglicherweise grauenhaften Folgen seines vermeintlich guten Handelns vorgehalten zu bekommen, schien auch für ihn ein Schock zu sein.
Der Zwölfjährige schüttelte den Kopf. „Warum bist du so? Warum bist du immer so gemein? Das machst du nur bei mir.“

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Der Verwalter sah das Kind, das vor ihm stand, an. Statt einer ruppigen Antwort überlegte er tatsächlich einen kurzen Augenblick. „Du bist ein Junge, der über Fähigkeiten verfügt, die er nicht haben sollte, Möglichkeiten, die einem Sterblichen nicht zustehen sollten. Du bist nicht in der Lage, sie zu kontrollieren, sie sinnvoll einzusetzen. Das, was du tust, ist eine Gefahr für dich und die Menschen um dich herum und du lässt dir von niemandem etwas sagen. Du belauschst Gespräche ohne zu verstehen, was vor sich geht, bildest dir Urteile ohne eingeweiht zu sein, widersprichst deinen Lehrern, bist in der Lage deine Haut in grauenhafte Formen zu verschieben. Die Inquisition hätte vor 10 Jahren wegen ihrer Vermutungen fast einen Teil der van de Burse hinrichten lassen, darunter Marlene, Jean, Alida und mich. Was glaubst du, passiert, wenn sie von einem Jungen mit dem Namen van de Burse hören, der so groteske Fähigkeiten hat?“ Er machte eine Pause. „Ich versuche seit fast 150 Jahren jede größere Gefahr von der Familie van de Burse abzuwenden. Ich bin schon damals gescheitert als wir die Gefahr aus dem Osten mitgebracht haben, als all das begann, was wohl besser nie geschehen wäre. Und nun, so kommt mir vor, beginnt alles von Neuem. Der Osten versucht mit Gewalt in Flandern Fuß zu fassen, führt Krieg, schlachtet unzählige Brügger Bürger ab und versucht es zu guter Letzt mit Einschmeicheln und Freundschaftsangeboten sein Ziel zu erreichen. Natürlich schicken sie dafür jemanden, dem Alida vertrauen wird…“
Das von Hendrik geflüsterte Wort „Emilian“ beachtete Georg nicht weiter. Der Erwachsene sah den Knaben an. „Wie soll man Menschen schützen, wenn sich das Blut aus dem Osten bereits im Kern des Menschen selbst verankert? Im Kreis derer, die den Namen van de Burse tragen… Du trägst es in dir, ob du das willst oder nicht. Du bist anders. Und es heißt, du wärest böse.“
Hendrik sah erschüttert aus, aber er ballte dennoch die Fäuste und versuchte den Blick weiter zu heben. „Ich bin nicht böse.“
Georg zögerte erneut, sprach dann jedoch mit leiser Stimme weiter. „Noch bevor du geboren warst, hat der beste Medicus der Stadt deiner Mutter prophezeit, dass in ihr ein Monster heranwachsen würde.“
„Der beste Medicus der Stadt ist Leif…“
Georg widersprach nicht. „Das war einer der Gründe, wegen denen sie eigentlich einen Trank nehmen wollte, der die Folgen dieser einen unüberlegten Nacht, endgültig wegwischen würde. Alida war es, die auf sie eingeredet hat damit sie das Kind doch noch ausgetragen hat. Alida hatte schon immer ein zu mildes Urteilsvermögen, wenn es um Gefahren geht, die mit unschuldigen Gesichtern daherkommen… ein untoter, kleiner Junge mit harmlos wirkenden, doch blutroten Augen, dem sie unter den Mitgliedern ihrer Familie ein Heim geben will, der sich als Unhold entpuppt, ein friedlich schnurrendes grotesk zusammen gesetztes Geschöpf, das sie aus den Hallen der ehemaligen Feinde mitbringt, und die Aussicht auf ein ‚Monster‘, das sie zu den Mitgliedern ihrer Familie zählt…“
„Ich bin kein Monster!“ Hendrik schwieg und Tränen glitzerten in seinen Augen, die er hastig mit Zorn über sich selbst, über so viel Schwäche, wegwischte.

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Der Junge musste sich sammeln bevor er die nächste Frage hervorstieß. „Wer ist meine Mutter?“
Der Verwalter schüttelte den Kopf. „Es ist nicht wichtig, Hendrik. Und sie wollte nie, dass du es weißt…“
Hendrik sah ihn an. Die Wut wich einer zögernden Verzweiflung. „Wer ist sie? Ich will es wissen.“
Georg seufzte. „Alyssa.“
Hendriks Augen verengten sich ungläubig. „Tante Alyssa?“ Leiser fügte er mehr zu sich selbst hinzu. „Ich dachte immer, sie würde mich mögen…“
Georg trat einen Schritt näher und fixierte den Knaben, der mit hängenden Schultern vor ihm stand. „Das hat sie auch.“ Er schwieg einen Moment. „Hör zu, Hendrik. Ich weiß nicht, was von den Dingen, die gesagt wurden, wahr ist. Aber ich habe einst einen Schwur geleistet, dass ich auf diese Familie aufpassen werde als wäre sie meine eigene. Ich werde nicht zulassen, dass du oder irgendjemand Schande oder Verderben über diese Familie bringt. Weder jetzt noch irgendwann.“
Er wechselte das Thema. „Ich wurde gebeten, dafür zu sorgen, dass du nach Gent gebracht wirst. Vielleicht bist du dort in den nächsten Tagen tatsächlich besser aufgehoben.“
Ungläubig starrte Hendrik Georg an. Er war noch immer viel zu perplex um die richtigen Worte zu finden. In seinem Kopf ratterten tausend Gedanken gleichzeitig.
Georg griff nach der Schulter des Knaben und drückte ihn mit Bestimmtheit in Richtung des Anwesens der van de Burse und Hendrik folgte. Er führte ihn zurück in die Wohnstube, in der der Junge noch vor wenigen Stunden mit Florine Murmeln über Türme aus Büchern und selbstgebaute Brücken hatte kugeln lassen. Dann sprach der Erwachsene ihn wieder an und er versuchte einen versöhnlicheren Ton zu finden. „Ich werde jemanden organisieren, der dich nach Gent bringt, wo du in den nächsten Tagen bleiben kannst. Nach allem, was ich gehört habe, bist du doch bisher immer recht gerne dort gewesen.“

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Hendrik zögerte kurz mit einer Antwort, dann sah er den Mann, der ihn um mehrere Köpfe überragte, fest an. Ein harter Ausdruck lag in seinen hellen Augen. „Ich gehöre hierher… Zu Marlene und Jean, zu Florine, zu Lucien, zu Onkel Frederik. Und zu Leif und Alida. Du kannst mich nicht wegschicken. Du bist nicht mal ein van de Burse!“
Georg zuckte bei Hendriks letztem Satz unmerklich zusammen. Er schien sich einen Augenblick sammeln zu müssen, dann wandte er sich ab und ging ohne ein weiteres Wort zu verlieren nach draußen. Er griff nach der Türklinke, schloss die Tür hinter sich. Seine Hand fuhr zum Schlüssel, berührte das kalte Metall und verharrte. Eine kurze Drehung und die Tür wäre verriegelt. Dann ließ er die Hand wieder sinken und ein langer Seufzer entwich seinen untoten Lungen. Er machte den ersten Schritt, spürte den alten, schneidenden Schmerz, der sich seit Jahrhunderten von seinen Oberschenkeln bis in die Fersen ausbreitete, der ihn begleitete wann immer er einen Fuß vor den anderen setzte. Er ignorierte ihn und setzte seinen Weg fort.

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Der Weg zum Ziel beginnt an dem Tag, an dem du die hundertprozentige Verantwortung für dein Tun übernimms.
Dante Alighieri


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